Wir schreiben das Jahr 2066. Durch die Klimaerwärmung versinken die Ränder der irdischen Kontinente. Afrika, die Wiege der Menschheit, dörrt aus und droht ein gigantisches Grab zu werden. Die auftauenden Permafrostböden verwandeln Sibirien in einen 7.000 km breiten Morast. Riesige Flüchtlingsheere sind in Bewegung. Spanien wird durch unübersehbare, unaufhaltsame Massen, hungriger und durstiger afrikanischer Flüchtlinge überschwemmt. Das Land versinkt in einem grausigen, blutigen Bürgerkrieg. Die europäischen Streitkräfte verschanzen sich in den Pyrenäen, so versuchend die Flüchtlingsströme aufzuhalten.
Im Mittelmeer schwimmen Nussschalen, wie Blätter im Herbst auf einem Teich, gefüllt mit ausgemergelten, dunkelhäutigen Gestalten. Unzählige leere Blicke starren in eine ungewisse Zukunft. Von europäischen Kriegsschiffen aus werden sie zu Tausenden erbarmungslos versenkt. Aber es sind viele Tausende, zu viele um sie alle zu versenken! Jede Nacht und jeden Tag landen an den europäischen Stränden die Verzweifelten, Erbitterten, neben den angeschwemmten Leichen. Sie bewaffnen sich mit Knüppeln. Sie haben nichts mehr zu verlieren. Sie werden von einem glühenden Hass gegen die arroganten Europäer angetrieben, den ehemaligen Kolonialherren, die sie immer ausgebeutet und abgeschlachtet und verkauft hatten und die sie jetzt in Afrika verhungern und verdursten lassen wollten.
Die Industrienationen USA, Russland, Indien und China haben bereits drei Expeditionen zum Nachbarplaneten Mars geschickt mit dem Ziel, eine dauerhafte Siedlung zu errichten; der Mars soll besiedelt werden. Den Namen für die erste Menschenansiedlung auf dem Mars spendete der Astronom ‚Tycho Brahe’. Mit der dritten Expedition waren Mitglieder einer religiös-fundamentalistischen Gruppe namens „Eden“ angekommen. Sie wollen den Mars mit Hilfe von, Sauerstoff produzierenden, irdischen Cyanobakterien in eine „neue Erde“ umwandeln und auch eine „neue Menschheit“ gründen. Ein erster Versuch war bereits schief gelaufen. Die Cyanobakterien waren mutiert. Sie befielen menschliche Haut wie Geschwüre um von der Körperwärme zu profitieren. Die Außenstation Eden stand deshalb unter Quarantäne.
„AAAAAAAAAAAAAHHHHH!!!!!!!!!!!“ Ein langgezogener Schrei drang aus der Krankenstation. Lidia schwitzte. Sie saß nackt auf einem Krankenbett, die Arme abgestützt. Der geschwollene Leib drückte ihr gegen das Zwerchfell, behinderte die Atmung und presste Magensäure nach oben. Es tat so weh! Lin Piao, der chinesische Arzt von Tycho Brahe, hatte ihr ein großes Glückssymbol mit brauner Kräuterpaste auf den Bauch gemalt. Er sang und brummte beruhigend auf sie ein, während er ihre Ohren mit Akupunkturnadeln pikste um sie zu entspannen. ENTSPANNEN! Was für ein absurder ..... „AAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHH!!!!!!!!!!!“ Lidias schöne, langen Haare in der Farbe von dunklem Nussholz, hingen strähnig und durchgeschwitzt an ihr herunter. Die grauen, leicht schrägstehenden, mandelförmigen Augen blickten ein wenig ängstlich und unsicher. Lin Piaos faltiges Gesicht war in Bewegung, dauernd entstanden hier Falten, dort Falten, ganz kunterbunt. Er summte fröhlich, beruhigend, sang ein chinesisches Wiegenlied, brummte. Verdammt, verdammt, verdammt! Da sollte jetzt wirklich ein Kopf von der Größe eines Fußballs durch ihre Scheide gequetscht werden? Und dann auch noch ein Kind von Alex Gillespie, dem „Jesus“ von diesen Eden-Irren!! Wie hatte sie nur so blöd sein können, so scheiß hormongesteuert; er sah gut aus, war charismatisch, geheimnisvoll, woher sollte sie schließlich wissen ... „AAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHH!!!!!!!!!!!“ Diese scheiß Wehen kamen nun schon ohne Unterbrechung!
Alex Gillespie saß, sehr würdevoll, im Kartenraum. Mit einer Größe von 1,80 cm und dem durchgedrückten, athletischen Rücken, ragte er aus der Gruppe der sieben, übriggebliebenen ‚Neuen Menschen’ heraus. Sein helles, schön geschnittenes Gesicht blickte melancholisch, visionär in die Runde. Der Platz zu seiner Linken war leer. Früher war dort immer, klein, mit einem dicken Kopf und kurzen, braunen Haaren, der Biologe Manuel Lustig gesessen, Alexs treuester Anhänger. Manuel Lustig war mit fünf weiteren ‚Neuen Menschen’ zur Eden-Außenstation aufgebrochen. Dort jedoch mutierten einige der Cyanobakterien, mit denen die ‚Neuen Menschen’ den Mars in eine zweite Erde oder vielmehr in eine Erde-Zwo-Null verwandeln wollten. Es hatte sich ein neuer Bakterienstamm gebildet, der nicht mehr das sichtbare Licht sondern Körperwärme für seinen Energiehaushalt nutzte und entstellende Geschwüre auf der Haut bildete. Lustig und die Anderen waren, die Haut voller roter Wucherungen, von der Bewegung abgefallen.
„Lidia, mein Kind!“ So durfte sie nur Lin Piao, einer der Erstangekommenen und eine absolute Respektsperson, nennen. Niemand anders hätte die Worte „Mein Kind“ aussprechen können ohne zumindest ein Ohr abgerissen zu bekommen. „Vorsicht, vielleicht kitzelt es.“ Lin Piao kicherte, während er ihren Bauch betastete. „Hmmm, ............ Hmmm, AAAAh, ......... Hmmmm.“ machte er. „Lass mich mal deinen Muttermund anschauen.“ Ergeben lehnte Lidia sich zurück und zog die Beine an. „Lidia, Lidia, ich glaube jetzt ist es so weit!“ Lidia wurde ein bisschen schummrig. O.K. jetzt ging es also los.
Sergeij Rjazanow, ein blonder, naiver Riese, der einzige, der sogar sitzend und mit krummen Rücken größer als Alex war, ergriff das Wort. „Vielleicht sollten wir uns das mit den Cyanobakterien noch mal überlegen, was meinst du Alex?“ Rjazanow war Pilot und Maschinenführer, ein Techniker und absoluter Nichtbiologe. Seine Frage stellte er in einem Tonfall wie, na ja, entschuldige, du weißt ja das ich mich damit nicht auskenne, erklär mir einfach warum ich das nicht verstehe. Alex lächelte milde. Seine dunklen Locken hatte er sich mittlerweile schulterlang wachsen lassen, so dass er wirklich den Jesusbildern des alten Meisters Raffael glich. „Sie waren leicht vom Glauben abzubringen. Leben ist eben vielfältig. Wir sollen das Leben nur fördern, ihm zum Durchbruch verhelfen, nicht bestimmen wie es auszusehen hat. Der neue Bakterienstamm, Anabeana Lustig, ist nicht tödlich.“ Das stimmte. Manuel Lustig hatte den Bakterienstamm nach sich selbst benannt. Er war nicht tödlich. Nur entstellend. Daher beruhigten diese Worte Alexs Anhänger nicht sehr.
Lin Piao drehte sich herum und rief etwas in den Nebenraum. Svetlana Ajvazova, auch sie eine Erstangekommene, eine von den ‚Four Nations’, wie sie genannt wurden, weil sie sich aus den vier Raumfahrernationen zusammensetzten, hatte es sich nicht nehmen lassen, bei der ersten außerirdischen Geburt als Helferin zu fungieren. Eigentlich war sie Physikerin. Lin Piao hatte sie zwei Monate auf ihre Tätigkeit als „Hilfshebamme“ vorbereitet, sie hatte gepaukt und geübt, wiederholt, ihre Aufgabe sehr ernst genommen. Trotzdem betrat sie den Behandlungsraum wie eine Filmschauspielerin, den Kopf hoch erhoben, wie immer eine Hochsteckfrisur, bei der seitlich elegante Kringel, ihrer dunkelblonden Haare, das schöne, ovale Gesicht, mit dem sinnlichen Mund, rahmten. Sie war bester Laune.
Jetzt konnte sich Mabel Crouch nicht mehr länger zurückhalten. Temperamentvoll warf sie sich für Alex in die Bresche. „Was seid ihr nur für Kleingeister!“ Schalt sie die Runde. Ihre schwarzen Locken wippten angriffslustig, die grünen Augen glühten wie bei einer Katze. „Sind wir hier auf einem Sonntagnachmittag-Mädchenpensionats Ausflug oder wollen wir etwas ganz NEUES erschaffen?!“ Die Frage war natürlich rhetorisch. Mabel erweckte den Eindruck dass jeglicher Widerspruch sofort Ohrfeigen nach sich ziehen würde. Ihr, normalerweise eher mütterlicher, Gesichtsausdruck war dem einer kriegerischen Amazone gewichen. „Wir arbeiten hier für die SCHÖPFUNG und nicht für irgend einen Gartenbauverein – schon vergessen?“
Alexs Blick ruhte wohlgefällig auf Mabel. DAS war eine Frau. DIE hatte den richtigen Charakter, Mut und Entschlossenheit, welche man braucht, um etwas WIRKLICH Neues zu erschaffen, beim Schöpfungsakt für eine neue Welt. „Anabeana Lustig ist nicht tödlich!“ wiederholte er. „Man kann sich ganz leicht davor schützen in dem man in der Schleuse einen einfachen Schutzanzug anzieht.“ Für die Eden-Außenstation kam diese Erkenntnis zu spät. Sie war völlig verseucht worden und stand jetzt unter Quarantäne. Alex fasste sich an das verschnörkelte E, dass er an einer Kette um den Hals trug, das Symbol der Edenbewegung. Die Kritiker der Bewegung bezeichneten es spöttisch als "Spaghetti". „Die NATUR, und nur um die geht es hier, hält sich nicht mit solchen Kleinigkeiten auf. In der NATUR gehen andauernd Rassen unter und neue entstehen. WIR sind die Eindringer, die schöpfende Hand einer Welt-Zwo-Null! Wir können keine Rücksicht nehmen. Und für weichliche Umfaller und Bedenkenträger schon gar nicht.“ Alex machte eine dramatische Pause. Absolute Stille war unter seinen Anhängern eingetreten. „Wir gehen einen Schritt weiter. Heute Nacht wird es einen großen Staubsturm geben. Wir werden auf dem Kraterrand, oberhalb von Tycho Brahe, Cyanobakterien ausbringen. Die NATUR wird sie mit der Hand des Staubsturms nehmen und über den Mars verteilen. Damit haben wir unumkehrbare Tatsachen geschaffen. Das ist der erste entscheidende, unbarmherzige, machtvolle Schritt in die neue Welt! Ich erwarte von euch, dass jeder seine Pflicht tut und zwar rücksichtslos! WIR sind die schöpfende Hand! WIR erschaffen die Welt neu! Nur dann dürfen wir uns NEUE Menschen nennen, nur dann sind wir BESSER als die verrottete, untergehende Menschheit auf der Erde.“ Alex hatte sich in Rage geredet. Aber es wirkte. Seine Jünger und Jüngerinnen blickten ihn ganz ergriffen an, die Hände auf dem Herzen um ihre Verbundenheit mit ihm zu demonstrieren. Alex schenkte Mabel einen vertraulichen Blick. Sie sollte ihm in seinem Privatraum folgen. Jetzt hatte sie wieder die mütterlichen Gesichtszüge, welche sie normalerweise vor sich hertrug. Ergeben und dankbar senkte sie ihre Lider.
„Lidia, du sitzt ja schon. Möchtest du so sitzen bleiben? Dann lehn dich mal an und dann machen wir mal das rechte Bein da rauf.“ Fügsam machte Lidia alles mit. So kannte sie sich eigentlich gar nicht. Aber Lin Piao war eben eine, sehr einfühlsame, Vertrauen verströmende Respektsperson. Auch eine beruhigend summende und singende und brummende. Was sollte sie auch noch groß rumzicken. Dafür war es jetzt zu spät. Wie bei einer Achterbahn, wenn der Wagen, oben angekommen, kippt und man unwiederbringlich auf dem Weg ist ....
Alex Gillespie lag auf seinem Bett, als die Türe aufging und Mabel Crouch seinen Privatraum betrat. Mehr als einen Raum für den persönlichen Gebrauch wurde nur den ‚Four Nations’ zugebilligt. Ein Umstand der Alex ärgerte, schließlich war ER hier die Vorsehung, der Eindringer, die Zukunft. Aber das würde sich auch noch ändern. Mabel setzte sich an den spartanischen Tisch und wartete, bis das Wort an sie gerichtet wurde. Sie schlug die Beine, die in dunkelblauen Trainingshosen steckten, übereinander. Unter dem weißen T-Shirt zeichneten sich ihre weichen, büstenhalterbefreiten, Brüste ab. Bei den ‚neuen Menschen’ verachtete man solche unnatürlichen Kleidungsstücke wie Büstenhalter. Da die Schwerkraft auf dem Mars auch nur 38 % der irdischen betrug, waren sie auch weniger notwendig. Das verschnörkelte, an eine liegengelassene Spaghetti erinnernde E, goldglänzend, lag schwer in einer Kuhle dazwischen. Alex sah ihr, bestimmend und anerkennend, in die Augen. Mabel senkte ihren Blick. „Du hast der Vorsehung einen Dienst erwiesen. Die NATUR hat dich berührt, damit die ängstlichen Schafe bei der Herde bleiben und sich nicht zerstreuen.“ Mabel erschauerte. Was hatte sie schon groß getan. Sie hatte nur die Wahrheit gesprochen und jetzt, jetzt wurde das von Alex Gillespie, dem neuen Messias, dem Eindringer, Erschaffer einer Welt-Zwo-Null, einer neuen, BESSEREN Menschheit, anerkannt! Wilde Gefühle und Leidenschaften begleiteten ihre schrillen Gedanken und strudelten durch Hirn und Körper.
„AAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHH!!!!!!!!!!!“ „Schau mal, ich kann das Köpfchen schon sehen, da hat’s aber jemand eilig! Hecheln jetzt, Lidia, Kindchen, hecheln, daaaaaaaaa müssen wir jetzt ein wenig bremmmmmmsen, schöööön hecheln.“ Lidia hechelte wie ein Hund und ließ die Zunge heraushängen. Ich seh’ bestimmt schön blöd aus, dachte sie dabei.
„Mabel, ich habe eine wichtige Aufgabe für dich.“ Freudig erregt riss sie ihre Augen auf. Die grüne Iris strahlte tatendurstig. Eine - WICHTIGE - Aufgabe!!! „Mabel, wir sind die Vollstrecker der NATUR, die schöpfende Hand einer neuen Zeit. Wir müssen fruchtbar sein für die neue Welt-Zwo-Null. Es ist sehr wichtig, ...“ seine Augen bekamen einen ernsten Ausdruck „ ... dass wir uns vermehren.“ Alex machte eine Pause um seine Worte wirken zu lassen. „Stark vermehren!“ Mabel stutzte. Vermehren? Sie stutzte nur kurz. „Mabel, pass auf. Wir sind keine Faschisten. Bei uns kann jeder mit jedem schlafen. Wir müssen nur darauf achten, dass wir richtig verhüten. Verstehst du mich?“ Mabel verstand nicht. „O. K. In der ersten Generation ist es noch egal wer mit wem Kinder kriegt. Ab der zweiten Generation müssen wir die Verwandschaftsverhältnisse beachten.“ Das leuchtete Mabel ein. „Mabel, ich lege das in deine, tatkräftigen, Hände. Achte einfach darauf, wer mit wem Kinder kriegt. WIR sind nur noch acht der ‚neuen Menschen’. Wir müssen darauf achten, dass sich keine Erbkrankheiten, gerade bei uns, verbreiten!“ O.K. Mabel hatte verstanden. Jeder darf mit jedem schlafen. Nur beim Kinderkriegen war ein bestimmtes Raster einzuhalten. Mein Gott, was war denn schon dabei! Sie waren die Erschaffer einer Menschheit-Zwo-Null!! Mabel spürte, wie Alex ihr das T-Shirt über den Kopf zog. Sie war glücklich. Alex Gillespie, der neue Messias, der Eindringer, hatte sie erwählt!!!
„AAAAAAAAAAAAAAAAAAIIIIIIIIIIIIIIIIHHHHH!!!!!!!!!!!“ „Gut machst du das Lidia sehr gut, schööööönen Buckel machen“ „AAAAAAAAAH!“ „Ja, weiter pressen, pressen, pressen...“ „AAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHH!!!!!!!!!!!“ „Jaaaaaaaaaaaaa gaaaaaaaaaanz gut machst du das, Kindchen, Lidia, da kommt unser Köpfchen, jaaaaaaaaa, ganz schön ist das.“ Mit seinen Händen stützte Lin Piao, der faltige Chinese, den faltigen, bläulichen Kopf des ersten Marsgeborenen. Die Wehen pausierten. In Svetlana Ajvazovas schönem, schauspielerinnenhaften Kopf kreisten die Algorithmen:
Der-Kopf-ist-geboren-das-Gesicht-ist-blau-normales-Stauungszeichen-die-Frotteetücher-sind-im-Wärmeschrank-die-Wehen-pausieren-das-ist-normal-die-Absaugung-ist-betriebsbereit .... Ihre schönen schwarzen Augen blickten wachsam, die rosige Zungenspitze leckte die sinnlichen Lippen.
„AAAAAAAAAAAAAAAAAAIIIIIIIIIIIIIIIIHHHHH!!!!!!!!!!!“ „Jaaaaaaaaaaaa, jetzt kommt die erste Schulter .........“ Lin Piaos Hände machten die bogenförmige Bewegung des Köpfchens mit und unterstützten. „Jaaaaaa-aaaa------a .........................“ In Lin Piaos Gesicht eruptierten zweihunert Falten auf der Stirne. Die zweite Schulter des Kindes blieb im Becken hängen! Svetlanas schwarze Augen weiteten sich.
Der angekündigte Sturm stellte sich in der Marsnacht ein und er war apokalyptisch. Aber das war gar nichts Besonderes. Auf dem Mars war jeder zweite Staubsturm apokalyptisch. Man gewöhnte sich daran. Der Sturm riss und fraß an dem Bakterienrasen, der auf dem Kraterrand, oberhalb von Tycho Brache von den ‚neuen Menschen’ aufgebracht worden war. Er fraß sich satt. Und er spie die sauerstoffscheißenden Cyanobakterien wieder aus, vier Wochen lang, über den Mars verteilt.
„Lidia. Hör genau zu.“ Die Stimme des chinesischen Arztes hatte einen ernsten, glasklaren Klang bekommen. „Die zweite Schulter deines Kindes ist im Becken hängen geblieben. Wir werden jetzt versuchen sie zu befreien. Svetlana. Nimm das Becken.“ Lidia durchfuhr es eiskalt. Eine Schulter war steckengeblieben! Aber die ernste, glasklare, kompetenzströmende Stimme von Doktor Piao nagelte ihre Aufmerksamkeit fest, so dass sie nicht in Panik geraten konnte. Svetlana hatte Lidias Becken mit beiden Händen umfasst. Sie machte kreisförmige Bewegungen, versuchte die Beckenschaufeln gegeneinander zu verbiegen damit sich die Schulter befreien konnte.
„Svetlana. Wir rücken die Liege von der Wand. Wir machen das mit den Beinen.“ Lin Piao wandte sich an Lidia. „Leg dich mit dem Rücken auf die Liege, Lidia. Die Beine stellst du seitlich an, so.“ Ein leichtes Gefühl von Panik kroch wie Rauch unter einem Türschlitz hindurch und begann Lidias Gefühle zu vergiften. Svetlana Ajvazova löste die Bremsen an den Rädern der beweglichen Liege und rollte sie von der Wand weg. Sorgfältig, mit tatkräftigen, beherrschten Bewegungen bremste sie die Räder wieder ein. Sie positionierte sich am rechten Bein. Ihr Gehirn war blank und aufmerksam. Das Summen der Algorithmen verstummte. Der Notfall war da. Plan A hatte versagt, jetzt kam Plan B. Sie dachte nicht darüber nach, ob Lin Piao auch noch eine Plan C hätte, falls das, was sie gleich probieren würden, nicht funktionierte. „Lidia. Wir werden jetzt deine Beine nehmen und ein bisschen herumschwingen. Lass ganz locker, lass uns nur machen.“ Er nahm das linke Bein in beide Hände. „Svetlana. Mach mir alles nach, aber zeitversetzt.“ Lin Piao nahm Lidias linkes Bein und schob es in die Richtung von Lidias, ängstlich-ergebenen, schweißnassen Gesicht, bis sich das Becken leicht von der Liege hob. Dann zog er das Bein in die Gegenrichtung und nach unten und ließ es nach hinten durchschwingen. Svetlana machte es ihm nach, zeitversetzt. „So, jetzt noch mal.“ Das Becken verdrehte nach links, verdrehte sich nach rechts, die Bauchdecke wurde hin und her, gespannt und gelockert, ........ bis ........ „Die Schulter kommt.“ Lin Piaos Stimme klang trocken, heiser. Lidia versuchte sich aufzusetzen, unterstützt durch Svetlana Ajvazova. Sie versuchte, über ihren schlaffen, aber immer noch weitfaltigen, Bauch hinwegzusehen. Lin Piao tauchte zwischen ihren Beinen in die Höhe, fünfhundert Lachfalten strahlten in seinem freundlichen, glücklichen Gesicht und er reichte Lidia mit seinen Händen ein schmieriges, violettbraunhäutiges, verschrumpeltes, faltiges Wesen. Lidia brach in Tränen aus. „Es ist ein Junge!“ Svetlana hatte seine Hoden entdeckt. Lin Piao rubbelte ihm den Rücken bis der erste Marsgeborene ein wimmerndes, helles, irgendwie ärgerlich klingendes, Meckern ertönen ließ.
Mit einer Art Fesselballon konnten die menschlichen Marsbewohner den Krater von Olympus Mons verlassen und in der Tharsis Region, am Fuße dieses größten Berges im Sonnensystem, landen. Auf diese Art brachten sie drei der vier „Lederstrumpf“ Erkundungsroboter an den Fuß des Vulkans. Offiziell hatten die Erkundungsroboter komplizierte Namen die sich von noch komplizierteren Abkürzungen herleiteten. Auf Tycho Brahe waren sie aber nach dem berühmten Waldläufer der, immer noch populären, Erzählung Fennimore Coopers, umbenannt worden. Die Lederstrümpfe 1 bis 3 rollten nun autonom über den felsigen Marsboden. Ihre Energie erhielten sie durch Solarzellen welche flügelartig an der Oberfläche angebracht worden waren. Die Lederstrümpfe waren autonome Robots, konnten also selbst entscheiden wohin sie fuhren. Man konnte ihnen natürlich auch Befehle erteilen oder eine grobe Richtung vorgeben oder eine Aufgabe stellen, wie zum Beispiel: „Suche ein Methanfeld“ oder so etwas. Und dann konnte man sie monatelang sich selbst überlassen. Es war sehr praktisch und zeitsparend. Niemand musste dafür abgestellt werden, Tag für Tag, Stunden damit totzuschlagen die Erkundungsroboter zu steuern. Wenn sie etwas fanden rührten sie sich von selbst. Sie gaben in regelmäßigen Abständen ihre Position durch. Die Routen wurden aufgezeichnet. So erfuhren die Menschen auf Tycho Brahe allmählich immer mehr über ihre Umgebung. Die Lederstrümpfe ruckelten und rollten um Felsbrocken herum, rutschten Staubhänge herunter, scharrten hier ein bisschen im Sand, bohrten dort, analysierten Gestein, reckten ihre Kameraaugen in die Höhe, suchten nach markanten Geländemarken, geduldig, unermüdlich, wochen- und monatelang.
Lederstrumpf 1 wackelte gerade um einen besonders großen Felsen herum als er etwas Ungewöhnliches bemerkte. Seine vier Kameraaugen waren einzeln, an beweglichen Tentakeln, angebracht. Das gab ihm das Aussehen eines Mischwesens aus fliegender Riesenheuschrecke und Weinbergschnecke auf Rädern. Die vier Sehtentakel zitterten noch leicht nach, als Lederstrumpf 1 ruckartig anhielt. Suchend drehten sie sich, schlangengleich, in verschiedene Richtungen. Servomotoren surrten. Mit einem leisen Klicken wechselte Lederstrumpf 1 seine Farbfilter. Er führte einen ausführlichen Selbsttest durch, denn diese Farbe durfte es auf dem Mars eigentlich nicht geben. Fünf Minuten später lag das Ergebnis vor. Keine Funktionsstörungen. Also stellte er noch einmal scharf.
Grün! Alle vier Tentakel streckten sich in die Richtung des ungewöhnlichen Befundes. Hektisch wechselte Lederstrumpf 1 in jedem seiner Kameraaugen noch einmal alle Farbfilter durch. Kein Zweifel. Abermals Grün. Der Felsbrocken vor ihm war unzweifelhaft grün. Lederstrumpf 1 rollte näher heran. Mit einem leisen Surren klappte sein Untersuchungsarm heraus und kratzte an der Oberfläche. Aha. Der grüne Belag ließ sich abkratzen. Er hatte eine schleimige Konsistenz. Lederstrumpf 1 setzte sich mit dem Kartenraum auf Tycho Brahe in Verbindung. Er hatte Leben auf dem Mars gefunden.
Bericht über einen Fund:
Bakterien, Farbe Grün.
Vermutlich zur Photosynthese fähig.
Möglicherweise vergleichbar mit irdischen Cyanobakterien vom Typ Anabaeana.
Tag der Veröffentlichung: 13.03.2009
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