Wir schreiben das Jahr 2065. Durch die Klimaerwärmung versinken die Ränder der irdischen Kontinente. Afrika und Teile von Zentralasien trocknen aus und setzen riesige Flüchtlingsheere in Bewegung. Eine neue Völkerwanderung beginnt, die, genau wie vor tausendfünfhundert Jahren, zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führt. Die Industrienationen USA, Russland, Indien und China haben bereits drei Expeditionen zum Nachbarplaneten Mars geschickt mit dem Ziel, eine dauerhafte Siedlung zu errichten; der Mars soll besiedelt werden. Den Namen für die erste Menschenansiedlung auf dem Mars spendete der Astronom ‚Tycho Brahe’. Er hatte im 16. Jahrhundert, noch vor der Erfindung von astronomischen Fernrohren, die Marsbahn auf zwei Bogenminuten genau vermessen und ihn damit endgültig der Mythologie entrissen und in die Menschenwelt geholt. Mit der dritten Expedition waren Mitglieder einer religiös-fundamentalistischen Gruppe namens „Eden“ angekommen. Sie wollen den Mars mit Hilfe von, Sauerstoff produzierenden, irdischen Cyanobakterien in eine „neue Erde“ umwandeln und auch eine „neue Menschheit“ gründen.
Nichts wird so heiß gegessen wie es gekocht wird. Die Biologin Lidia Finkelstein machte sich klar dass sie gar nicht wusste, wer alles zu der Eden-Gruppe gehörte und wer nicht.
Sie strich sich nachdenklich über ihre mandelförmigen, leicht schräg stehenden, grauen Augen. Ihr ebenmäßiges, perfekt symmetrisches Gesicht, mit dem schönen Mund, wirkte müde, nach der sehr einsamen, schlaflosen Nacht. Die, normalerweise sorgfältig gekämmten, Haare in der Farbe von dunklem Nussholz standen in allen Richtungen ab. Lidia trug es altmodisch lang. Eigentlich waren zur Zeit Kurzhaarfrisuren en vogue, waren auch praktischer, insbesondere in den Wohnstollen und Raumanzügen auf dem Mars! Aber Lidia hatte da ihren eigenen Kopf. Sie war mittelgroß und eine schöne Frau.
Mit Alex Gillespie hatte es gleich gefunkt, sie hatte sich sofort von dem großen, dunkellockigen, gutaussehenden und charismatischen Mann angezogen gefühlt. Sie verliebte sich in ihn; sie schliefen miteinander. Leider war Alex der Anführer der religiös fundamentalistischen Eden-Gruppe. Lidia wurde wieder schlecht. War es der Gedanke an Alex, an ihre völlig unmögliche Liaison oder war es die beginnende Schwangerschaft? Gedankenverloren strich sie sich über ihren Bauch. Wurde der etwa schon dicker? Sie müsste jetzt schon im zweiten Monat sein.
Sergeij Rjazanow war wie sie mit der zweiten Marsexpedition angekommen. Ein riesiger, breitschultriger, blonder Russe, einer an den man sich anlehnen konnte. Lidia hatte das Zeichen der Eden-Leute, ein verschnörkeltes, altertümliches E das ein bisschen einer gekochten Spaghetti auf einem Tellerrand glich, bei ihm auf dem Unterarm entdeckt als sie sich gerade Hilfe gegen Alex holen wollte. Das hatte sie total in Panik versetzt. Sie hatte Sergeij ohne nachzudenken auf ihrer Seite gesehen. Aber wenn schon der naturvernünftige, freundliche Sergeij zu diesem Spinnerhaufen gehörte, dann konnte man das bei Niemandem von vorneherein ausschließen! Vielleicht waren es trotzdem nicht viele?
Aber in diesem Punkt machte sich Lidia falsche Hoffnungen. Das gesamte „Volk von Tycho Brahe“, wie sich die Marsimmigranten selbst nannten, versammelte sich regelmäßig zu den Mahlzeiten im großen, zentralen Versammlungsdom, eine zwölf Meter hohe, natürliche, längliche Höhle. Die erste Ankunft lag nun schon vier Jahre zurück, die zweite zwei Jahre. Während einer so langen Zeit schleift sich Kleiderdisziplin ziemlich ab. Deshalb versammelte sich zu den Mahlzeiten normalerweise ein bunter Haufen von, mittlerweile dreißig, Menschen, angetan mit allen möglichen Kleidungsstücken. Jogginghosen, Außenanzughosen, T-Shirts in den verschiedensten Farben, nicht alle sauber, nicht alle geflickt. Heute hob sich ein Teil von diesem bunten Haufen auffällig ab. Vierzehn Männer und Frauen erschienen in einheitlich dunkelblauen Trainingshosen und weißen T-Shirts. Soweit Lidia das erkennen konnte, begrüßten sie sich untereinander, in dem sie sich die rechte Hand aufs Herz legten. Bei vieren entdeckte Lidia Halsketten mit dem geschwungenen E. Sie setzten sich alle zusammen an eine Seite des dreiseitigen, rundeckigen, großen Tisches an dem alle Platz nahmen. Alex saß ziemlich genau in der Mitte. Fast sah es so aus wie das berühmte Letztes-Abendmahl-Bild von Leonardo da Vinci. Eine ganz große, glühende Wut wallte in Lidia hoch. Zu seiner Linken saß, klein, mit einem dicken Kopf und braunen Haaren, Manuel Lustig. Das hätte Lidia nicht erwartet. Manuel war zusammen mit ihr Teilnehmer der zweiten Expedition gewesen. Er war wie sie Biologe. Ein sehr ernster, verschlossener Typ, brillanter Wissenschaftler! Was hatte so einer in dieser aufgeblasenen Edentruppe zu suchen?
Nach dem Frühstück stellte Lidia Manuel im Kartenraum. „Was hast du bei diesen Idioten verloren!“ fuhr sie ihn aggressiv an. Manuel Lustig hob nur ruhig den Kopf. „Wen meinst du mit Idioten, Lidia. Meinst du die Leute, die auf dem Mars versuchen die alten Fehler, die auf der Erde begangen worden sind, wieder gut zu machen?“ „Ich meine die hirnlosen Anhänger von Alex-Jesus-Neuemenschheit, die hier ein Terraforming mit irdischen Cyanobakterien versuchen! Die mit marsfremden biologischen Organismen gewissermaßen eine biologische Atombombe zünden ohne wissen zu können was das für Konsequenzen haben wird!!!“ „Lidia, du bist eine Bedenkenträgerin. Der Mars ist ein riesiger, toter, rostiger Stein im All. Die Menschheit auf der Erde wird untergehen. Sie wird an ihrer EIGENEN UNVERNUNFT KREPIEREN!“ Manuel erhob seine Stimme. Das war für ihn ein ganz ungewöhnlicher Vorgang. „Aber...“ „LASS MICH AUSREDEN!!!!!! Wir haben hier eine ganz große, eine EINMALIGE Chance. Wir sind sozusagen die Menschheit Punkt Zwei. Wir wissen, was die Menschheit Punkt Eins, die es in absehbarer Zeit nicht mehr geben wird, alles falsch gemacht hat. Alles können wir jetzt besser machen.“ Seine Stimme wurde flehentlich. „Wir müssen nur diesem verdammten Rosthaufen Leben einhauchen.“ „Manuel, du enttäuschst mich. Bisher dachte ich immer, ICH könnte von DIR was lernen.“ Lidia verlor keine weiteren Worte. Sie drehte sich um und rauschte aus dem Kartenraum.
Manuel schaute ihr noch eine Weile traurig nach. Dann beugte er sich wieder über die Satellitenkarten. Sie zeigten den Krater von Olympus Mons. Innerhalb des, ungefähr
70 km breiten Hauptkraters, lagen vier Nebenkrater. Einer war fast genau in der Mitte positioniert mit zwei weiteren, die sich wie die Ohren der Comicfigur Mickey-Mouse im Norden anschlossen. Der vierte Krater befand sich im Südwesten. Tycho Brahe hatten sie im ‚linken Mickey-Mouse-Ohr’ gegründet. In dem vierten Krater würden sie bald eine neue Siedlung errichten, mit dem Namen „Eden“. Sechs ausgewählte, besonders zuverlässige, neue Menschen, wie sich die Eden-Leute untereinander nannten, würden dort eine weitere Ansiedlung gründen. Sechs glückliche neue Menschen. Er selbst würde mit dabei sein. Denn sie würden den Grundstein für die neue, bessere Menschheit legen. Dort konnten sie völlig frei mit biologischen Organismen experimentieren, ohne dass ihnen naseweise Dauernörgler über die Schulter schauen und in die Suppe spucken konnten. Hier auf dem Mars hatten sie vier Erkundungsroboter. Ihr offizieller Name war kompliziert, aber die Marsimmigranten benannten sie nach dem berühmten Waldläufer Fennimore Coopers, Lederstrumpf 1 bis 4. Lederstrumpf 3 war vor etwa einer Woche in dem, 50 km entfernten, Zielkrater angekommen. Manuel Lustig schaute sich auf dem Monitor die Bilder an, die Lederstrumpf 3 von der Gegend gesendet hatte. So schaute sie also aus, die neue Welt, Eden, die Keimzelle der neuen Menschheit. Schroffe, rötliche Hänge, überall Felsbrocken in allen Größen. In ein paar Monaten schon, würde aus einem Nebenkrater, die erste grüne Blase herauswachsen. Eine grüne Blase mit einer Haut aus durchsichtigem Polymer, darunter ein, Sauerstoff spendender, Bakterienrasen aus irdischen Cyanobakterien. Manuel erschauderte bei dem Gedanken, dass er einer der Adams der neuen Menschheit sein würde. Er würde ganz am Anfang einer neuen Menschheit stehen, Urvater einer neuen Rasse werden. Schon ein bisschen verwegen die Idee. Manuel begann erwartungsvoll zu grinsen.
Lidia war zum Heulen zumute. Aber sie riss sich zusammen. Noch war nicht Alles verloren. Wenn sie richtig gezählt hatte, dann waren heute beim Frühstück vierzehn Kollegen auffällig einheitlich daher gekommen. Das war fast die Hälfte der Siedler. FAST die Hälfte, noch keine Mehrheit. Und es war niemand von der ersten Expedition dabei, von den „Four Nations“. Die Erstangekommenen nannten sich „Four Nations“, weil sie aus den vier, die Marsmission hauptsächlich tragenden, Nationen kamen. Sie wurden auch von den „Neulingen“ Four Nations genannt. Sie waren eine Institution, eine Art Gründungsmonument auf dem alles andere aufbaute. Immerhin, schienen sie nicht anfällig für diesen Eden-Schwachsinn zu sein.
Hershel Goodwin war ein afroamerikanischer Geologe. Eigentlich sah er ganz wie ein Rapper aus mit Ohrring, Kinnbart und sogar einer Narbe unter dem linken Auge. Auf der Straße würde man eher die Seite wechseln als vermuten, dass man es mit dem ehemaligen Vorsitzenden der American Association for the Advancement of Science handelte. Auch Svetlana Ajvazova sah man die Physikerin nicht an. Mit ihren dunkelblonden Locken, die sie meist so hochgesteckt hatte, dass einzelne Kringel sehr apart ihr Gesicht umrahmten, den ausdrucksstarken schwarzen Augen und dem sinnlichen Mund hätte man vermutlich eher auf eine Schauspielerin getippt. Lin Piao war der Älteste der Four Nations. Ein Chinese, aufgewachsen in der Megastadt Beijing. Astronom und Arzt. Bewandert sowohl in der naturwissenschaftlichen, evidenzbasierten, als auch in der traditionell Chinesischen, Medizin. Er war fünfundfünfzig Jahre alt und sah aus wie ein siebzigjähriger Reisbauer aus der Provinz. Erst wollte man ihn aus Altersgründen nicht mitfliegen lassen. Aber er hatte darauf bestanden. Als Mitglied im Politbüro der Chinesischen Kommunistischen Partei war er mächtig genug um auch darauf bestehen zu können. Außerdem war er körperlich topfit! Im Ranking nach den Belastungstests gab es eine Menge Zwanzigjährige die sich auf einmal unter ihm wiederfanden! Alle waren froh über seine Anwesenheit, über sein ausgeglichenes Wesen und die schmutzigen Witze die er dauernd erzählte. Die vierte der „Nations“ war die indische Informatikerin Hardeep Kaur. Sie stammte aus der indischen Informatik-Mekka Bangalore. Auf den ersten Blick war sie als Inderin zu erkennen, schon an dem traditionellen roten Punkt auf der Stirne, dem Bindi. Sie hatte es auch fertiggebracht, einen Seesack mit indischen Tüchern und Schmuck mit auf den Mars zu bringen. Dementsprechend verbreitete sie einen Hauch von Exotik in der, ansonsten recht kargen, Station Tycho Brahe. Dieser Hauch von Exotik verflog allerdings schlagartig wenn sie sich hinter einen Computer klemmte. Sie hasste ihren Spitznamen „Hardy“. Er erinnerte sie immer an einen dicken Komiker aus dem antiken Duo „Laurel und Hardy“ oder „Dick und Doof“. Sie hätte aber keinen Grund dafür gehabt den Namen zu hassen, weil außer ihr nur noch Lidia Finkelstein solche Filme jemals gesehen hatte.
Lidia rannte Lin Piao fast um oder vielmehr sie zerschellte an seiner Brust, als sie, blind vor Wut und Hilflosigkeit, um die Ecke bog. Lin Piao war von ungeheurer Standfestigkeit. „Lin! Ich muss dich unbedingt sprechen!“ Lin Piao lächelte freundlich übers ganze Gesicht. Dadurch verdoppelten sich seine Gesichtsfalten von Zweihundert auf Vierhundert. „Was ist denn los, Lidia, mein Mädchen, hast du Liebeskummer?“ Seine Augen, denen nichts zu entgehen schien, funkelten listig. „Nein“ keuchte Lidia atemlos während sie sich hastig umschaute. „Ich muss mir dir ALLEIN reden. DRINGEND!“ Die zweihundert Lachfalten im Gesicht verwandelten sich in zweihundert Sorgenfalten auf der Stirn. „Gehen wir in meine Privaträume.“ Privaträume, Mehrzahl, gestand man nur den Four Nations zu. Jeder andere hatte gerade mal ein Bett und einen Schrank. Sie waren noch eine junge Marszivilisation, da gab es selbstverständlich Einschränkungen. Genau so selbstverständlich hatte jeder der Nations luxuriöse zwei Räume, Küche, Bad auf sechzig Quadratmetern zur Verfügung. Das wurde von niemandem in Frage gestellt. Lin Piaos Privaträume waren tatsächlich nur um die Ecke. Lidia war noch nie drinnen gewesen. Alle Neulinge, und Neuling war jeder der nicht zu den Four Nations gehörte, hatten eine Art respektvoller Scheu vor den Erstankömmlingen. Sie waren zwei Jahre Mutterseelen allein auf dem Mars gewesen und hatten mit eigener Hände Arbeit die ersten Stollen gegraben. Alle Neulinge hatten etwas vorgefunden, was die Four Nations erst aus dem Nichts schaffen mussten. Lidia sah sich scheu um. An den meisten Wänden waren Regale angebracht. Sie waren fast alle mit Plastikschachteln in allen Größen vollgestellt und enthielten chinesische Kräuter. Jede neue Expedition musste chinesische Kräuter für Lin Piao mitnehmen. Das war ein fest eingeplanter Frachtposten. Die traditionelle Chinesische Medizin war sehr kompliziert. Lidia entdeckte sogar BÜCHER! Wow! Was mussten das für antike Werte sein! NIEMAND las heute noch bedrucktes Papier!!! JEDER las was er wissen wollte vom Bildschirm oder vom Wrist, dem universellen Kommunikationsgerät das jeder am Handgelenk trug. Mit dem Wrist konnte man telefonieren, Filme anschauen, Luftdruck und –zusammensetzung ablesen, seinen Herzschlag kontrollieren usw. Lidia war schwer beeindruckt, dass Lin Piao, er hatte natürlich auch einen Wrist, sich ab und zu noch die Mühe machte, einen schweren, bedruckten Papierstapel in die Hand zu nehmen. Dadurch bekam er in ihren Augen noch mehr die Aura eines archaischen Magiers. Sie hätte sich nicht sehr gewundert, wenn er von einem Regal einen Totenschädel genommen hätte um ihn anzustarren.
Lin Piao rief in Richtung Küche „Tee!“, woraufhin dort ein geschäftiges, unsichtbares aber hörbares, Treiben einsetzte. Lin wies einladend auf den Boden. Wie, sollte sie sich auf den Boden setzen? Der Boden war mit Matten bedeckt. Für Lidia war es ungewohnt und unbequem. Lin Piao kniete sich auf die Matten und setzte sich auf die Fersen. Lidia versuchte es ihm nachzumachen, rutschte aber andauernd auf ihrem Hintern hin und her, die bequemste oder wenigstens die am wenigsten unbequeme Haltung suchend. Lin Piao schwieg. Auch Lidia schwieg. Sie wagte nicht unaufgefordert etwas zu sagen. Irgendwie hatte das faltige Gesicht Lin Piaos eine beruhigende Ausstrahlung. Sie entspannte sich. Alles war gut, oder zumindest alles würde gut werden. Es gab keinen Grund jetzt hektisch zu werden. Ihre Sorgen verschwanden zwar nicht, aber sie ordneten sich ein, in einen großen Ozean von Menschheitsfragen, und sie wurden dadurch relativ. Nicht unwichtig, man musste schon zu einer Lösung finden, aber die explosive, nagende, brennende Unruhe in ihr löste sich auf.
Mit einem Summen rollte ein kleiner Universalrobot aus der Küche, auf seinem Rücken eine altmodische Prozellanteekanne und zwei Teetassen mit Henkel. „Traditionell sind eigentlich Teeschalen, aber man muss anerkennen, dass bei heißem Tee, Teetassen mit Henkel einen vernünftigen Fortschritt darstellen.“ Aha, dachte Lidia. Das ist natürlich einzusehen. Aber war das, zur Hölle, überhaupt wichtig? Lin Piao lächelte wieder listig. Diesmal entstanden nur fünfzig neue Falten in seinem Gesicht. Lidia schämte sich sofort für ihre unziemlichen Gedanken und fragte sich gleichzeitig warum sie sich schämte, verdammt!
„Was ist los.“ Jetzt wurde eine Schleuse geöffnet. Im Schwall ergoss Lidia alle ihre Sorgen und Befürchtungen, die eingeschleppten irdischen Cyanobakterien, die Eden-Fanatiker und ihr Neue-Menschheit-Projekt, das Terraforming mit ungewissem Ausgang, die Beziehung mit Alex, ihre Schwangerschaft – warum breitete sie eigentlich alles vor Lin Piao aus? Lin Piao lächelte. Er nickte ab und zu, brummte hin und wieder, fragte nach.
„Wir müssen unbedingt etwas tun!“ Lin Piao nahm einen Schluck aus der Teetasse. „Müssen wir?“ „Es sind jetzt schon Vierzehn! Ich habe heute morgen genau mitgezählt!“ Lin Piao neigte den Kopf ein wenig schräg, als ob er so besser denken könne. „Vierzehn.“ Wiederholte er, ein wenig sinnlos. „Hmmm.“ Stille. „Was ist mit den Cyanobakterien! Wenn die mutieren! Was dann!“ „Haaa. – Hmmmm.“ „Was ist wenn sich diese Eden-Idioten, Verzeihung, Eden-Menschen, weiter ausbreiten, wenn sie alle anderen überzeugen?“ Stille. „Hmm. Hm, hm. Meinst du diese Gefahr besteht?“ „Ich weiß es nicht, woher soll ich das denn wissen?!?“ Langsam kroch wieder Ärger in Lidia hoch. Was war denn nun, mit dem klugen Lin Piao Nation, Erstangekommenen, mit den vielen Büchern und Kräutern. War er vielleicht doch nicht so klug wie sie angenommen hatte?
„Lidia. Ich wusste das schon, mit den eingeschleppten Cyanobakterien. Das ist Hardy als erstes aufgefallen, dass etwas mit den Frachtpapieren nicht stimmt. Svetlana hat sich schon mit Alex unterhalten. Er dachte, er kann es vor ihr verheimlichen. Aber du kennst Svetlana nicht, wenn sie etwas wirklich wissen will. Alex kannte Svetlana auch nicht. Er meint wahrscheinlich heute noch, dass er sie hinters Licht geführt hat.“ Lin kicherte leise in sich hinein. Er konnte sich kaum beruhigen über die Vorstellung, jemand glaubte er könne vor Svetlana etwas vorbergen. Vor Svetlana etwas verbergen! Langsam kicherte er sich aus. Verstohlen wischte er sich ein paar Lachtränen aus den faltigen Augenwinkeln. „Du siehst also Lidia, mein Mädchen, es wissen schon einige Bescheid.“ Irgendwie klang das beruhigend. Aber warum sollte das beruhigend sein. Gut, die Four Nations wussten Bescheid. Na und?! Lin Piao wurde ernst. Schlagartig glättete sich sein Gesicht fast. „Du musst Eines bedenken. Wir sind hier auf dem Mars auf Jeden einzelnen angewiesen. Wir können nicht einfach vierzehn Leute verhaften. Wer würde dann die Arbeit machen? Wir müssen hier doch eine neue Welt erschaffen.“ Lidia erschrak. „Nein, keine neue Welt wie die Eden-Leute sich das vorstellen. Lidia, es läuft nicht immer alles perfekt. Man muss es auch mal zulassen können, dass etwas ein bisschen schief läuft.“ Das beruhigte sie nun ja gar nicht! „Lidia, mein Kind.“ Lidia HASSTE es so angesprochen zu werden. Schlagartig zerbröckelte die Großartigkeit von Lin Piao, wie eine uralte Lehmskulptur, zu Staub. „Lidia. Ich weiß, dass ich auf dich zählen kann.“ Lin Piao sah Lidia sehr ernst in die Augen. Lidia blickte in Lins, wässrige Augen zurück, sie sah seine Tränensäcke und die hunderte von Falten in seinem Gesicht. Aber kann ich auch auf DICH zählen, fragte sie sich unsicher? Ein wenig ratlos, stand sie wenig später wieder in dem Stollen vor Lin Piaos Privatwohnung.
Die Eden-Gruppe wurde in den nächsten Monaten immer selbstbewusster. Es wurde eine Expedition zum vierten Nebenkrater geschickt. Verbittert stellte Lidia fest, dass es sich ausschließlich um Eden-Leute handelte. Sechs „Spaghettis“, wie Lidia sie verächtlich nannte, machten sich auf dem Weg um die erste Außenstation zu gründen. Es hatte aber auch einen Vorteil. Vierzehn minus sechs, blieben acht übrig. Acht zu sechzehn, die Spaghettis waren dadurch deutlich in der Minderheit. Sie versuchten das durch entsprechendes Auftreten auszugleichen. Sehr aufrecht, offensiv selbstbewusst und immer zu „Klumpen“ geballt, stolzierten sie durch Tycho Brahe. Sie konnten keine neuen Mitglieder mehr rekrutieren. Das restliche ‚Volk von Tycho Brahe’ schien resistent gegen die ‚Neues-Volk’ Ideologie zu sein.
Die Monate vergingen. Die Eden-Außenstation funktionierte. Sie berichteten von keinen größeren Schwierigkeiten. Als ein halbes Jahr vergangen war, wurde eine Delegation der Außenstation im großen Versammlungsdom zurückerwartet. Erwartungsvolles Geraschel und Gemurmel herrschte im Versammlungsdom an diesem Tag. Das kleinere Häufchen von weiß ge-T-shirteten Eden-Leuten blieb, wie üblich, unter sich, ein wenig abseits vom bunten Haufen des Volks von Tycho Brahe. Alex Gillespie saß, wie üblich, in Jesusmanier in der Mitte. Er hatte sich seine braunen Locken wachsen lassen. Wahrscheinlich kannte er auch das Bild von Leonardo da Vinci, das mit dem letzten Abendmahl.
Lidia hatte mittlerweile schon einen ansehnlichen Bauch. Alex hatte ein paar mal versucht, mit ihr wieder ins Gespräch zu kommen. Sie hatte ihn abblitzen lassen. Sie erwartete einen Sohn, soviel war klar. Ihre Gefühle schwankten von wirbelndem Glück zu trostloser Hoffnungslosigkeit. Ängstlich horchte sie in sich hinein, welche Gefühle sie gegenüber ihrem heranwachsenden Baby wohl haben würde. Was konnte das Baby dafür, dass sein Vater ein, gutaussehender, Irrer war. Verdammt, warum hatte sie sich nur jemals mit Alex Gillespie eingelassen? Das Baby wuchs, der Bauch wurde dicker. Lidia wurde kurzatmiger. Sie war bis jetzt die einzige Schwangere im Volk von Tycho Brahe. Keine Ahnung wieso von den Eden-Leuten noch niemand schwanger war, wenn sie schon so wild darauf waren eine neue Menschheit zu gründen. Ein Grünes Lämpchen an der Wand des Versammlungsdomes zeigte an, dass jemand über die Außenschleuse hereinkam. Die Delegation von Eden war angekommen.
Alle Gespräche erstarben als Manuel Lustig, der Biologe von der Eden-Außenstation, den großen Versammlungsdom betrat. Sein Gesicht! Es war entstellt, mit roten, wuchernden, flechtenartigen Flecken übersäht. Einige wichen zur Wand zurück. „Keine Angst, es ist nicht ansteckend.“ beruhigte er die Anwesenden. „Einige der Cyanobakterien in der Eden-Außenstation sind mutiert.“ Manuel Lustig machte eine Pause.
„Eigentlich kein Wunder, immerhin bekommen wir hier auf dem Mars ein Vielfaches der kosmischen Strahlung ab als auf der Erde.“ Manuel Lustig warf einen traurigen, demütigen Blick in Richtung von Lidia. „Du hattest Recht Lidia. Jetzt musste ich von dir lernen.“ Ein Raunen schwoll an im zentralen Versammlungsdom. Manuel fuhr fort. „Die mutierten Blaualgen nutzen nicht mehr das sichtbare Licht für ihren Energiehaushalt. Man erkennt sie daran, dass sie sich im normalen Bakterienrasen in eine staubartige Dauerform verwandeln. Diese Dauerform ist so fein, dass sie durch den geringsten Luftzug transportiert wird. Sie werden aufgewirbelt und setzen sich auf ungeschützte Haut. Man spürt es zuerst nicht. Ausgelöst durch die Körperwärme, erwachen die Bakterien zum Leben. Sie verbinden sich mit der Haut und entnehmen dem Körper Wärme. Die menschliche Körperwärme spendet die Energie, die den Stoffwechsel dieser Bakterien antreibt. Sie sind nicht tödlich. Man büßt etwa 1 ° C an Körperwärme ein, das kann ein normaler Mensch schon verkraften. Aber sie bleiben wie ein Ausschlag auf der Haut. Durch Antibiotika kann man das Wachstum verlangsamen. Ob man es aufhalten kann wissen wir noch nicht.“
Manuel Lustig blickte jeden an, einen nach dem anderen. „Eden steht unter Quarantäne. Die ganze Station ist verseucht. Ich werde deshalb hier nichts anfassen und in zwanzig Minuten wieder nach Eden zurückkehren. Nur eins noch,“ damit wandte er sich an Alex. „Meine Kollegen und ich geben dir deine „Spaghettis“ zurück.“ Damit warf er Alex Gillespie eine Plastiktüte mit Anhängern in Form des verschnörkelten E’s, des Zeichens der Eden-Gruppe, vor die Füße. Bei den Außenstehenden kursierte seit einiger Zeit der Spitzname "Spaghetti" für das Logo der Eden-Gruppe. „Im Nachhinein kann ich es gar nicht mehr begreifen, wie wir so verblendet sein konnten.“ Unter den Eden-Anhängern breitete sich Unruhe aus. Manuel Lustig fuhr fort: „Ich habe mir übrigens die Freiheit genommen den neuen Bakterienstamm nach mir zu benennen: Anabaeana Lustig.“ Anabeana war die lateinische Bezeichnung für den Stamm von Cyanobakterien, der auf dem Mars eingeschleppt wurde. „Biologen träumen normalerweise davon, sich in Artenbezeichnungen zu verewigen. In diesem Fall hätte ich auch darauf verzichten können. Ich habe den Stamm trotzdem nach mir benannt, damit ich immer an meine eigene Dummheit und Verblendung erinnert werde. Vielleicht kann ich damit einen Beitrag gegen die allgemeine menschliche Dummheit leisten!“
Manuel Lustig hatte weiter nichts mehr zu sagen. Er drehte sich um und ging langsam in Richtung Außenschleuse um ins verseuchte Eden zurückzukehren.
Tag der Veröffentlichung: 05.03.2009
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