„Zur ....straße, der Löschzug mit Rüstwagen, ein Bauunfall.“
Vierzig Füße laufen, ziehen Stiefel an. Vierzig Arme greifen sich Helme, Mäntel, Hakengurte. Rote Fahrzeugtüren öffnen sich, es wird eingestiegen, krachend springen Dieselmaschinen an, große grünlackierte Türen schwingen durch Federzug auf, klappen zusammen wie Flügel von ungeheuren, hässlichen Vögeln. Drehspiegel in den Blaulichtern auf den Fahrzeugdächern fangen an zu kreisen, Scheinwerfer blenden auf, die Fahrzeuge verlassen laut brummend und blaugraue Abgaswolken ausstoßend, das erste Gerätehaus. Ampeln springen auf Rot und halten den Verkehr vor der Feuerwache auf. Jetzt kommt von hinten der Rüstwagen angerollt, die Fahrzeuge sind vollständig, haben sich aufgestellt, setzen sich, blaulichtend und laut martinshörnend in Bewegung.
In den Fahrzeugen ist allarmiges Gestrampel, Anziehen, Reißverschließen. Der rote, blaublinkende und pressluftbrüllende Fahrzeugwurm schlängelt sich durch die Straßen, Sonderrechte einfordernd, dennoch vorsichtig, sich hineintastend an Kreuzungen. Es ist Mittag.
- Wahrscheinlich ist gar nichts. Was kann es am Mittag schon für einen Unfall auf einer Baustelle geben, die haben doch alle Mittagspause.
meint lächelnd ein junger Feuerwehrmann, durchs Fenster die Gehwege nach schönen jungen Frauen absuchend.
- Das einzig Sichere am Blaulichtgeschäft ist, dass man nichts Sicheres weiß. Keine Ahnung, vielleicht irgend eine hastige Arbeit schnell noch vor Mittag erledigt, ein bisschen unvorsichtig ... , wir werdens ja sehen.
Der ältere Kollege, die Halbglatze unter dem Helm unsichtbar, klügelnd, ist jedoch im Innersten bereit dem Jüngeren Recht zu geben.
Der Feuerwehrwurm windet sich um die Ecke, ist „an“. Es ist eine Straße, gesäumt von Einfamilienhäusern, ein Bagger steht auf der Straße, eine Baugrube, Bauarbeiter stehen herum, sie haben Schaufeln in der Hand. Die Besatzung vom 1. HLF verlässt das Fahrzeug und geht vor um sich ein Bild zu machen. Die Bauarbeiter sehen seltsam verlegen aus, vielleicht ein bisschen schuldbewusst? Ein rundbauchiger Vorarbeiter fuchtelt wichtig mit den Armen.
Der dicke Gruppenführer vom 1. HLF schaut in die Baugrube. Sie ist nicht abgesichert. Ab einem Meter Tiefe muss sie normalerweise verschalt, ausgesteift sein. Sie beginnt bei einem Einfamilienhaus und führt, sich ständig vertiefend, etwa in die Mitte der Straße. Dort misst sie geschätzte dreieinhalb Meter. Ein junger Bauarbeiter, etwa dreißig Jahre alt, ist bis zu den Knien verschüttet.
Im Kopf des Zugführers beginnen sich Gedanken zu jagen. -- Die Grube -- an ihrer tiefsten Stelle -- kann jederzeit einstürzen -- wenn ich meine Feuerwehrleute da runterschicke setze ich sie höchster Gefahr aus!!!
Der dicke Gruppenführer und der ältere Feuerwehrmann springen unaufgefordert in die Tiefe und laufen bis zum jungen Bauarbeiter vor. Der hat schon eine geraume Zeit versucht sich mit den Händen zu befreien. Kollegen haben versucht ihm mit Schaufeln zu helfen, aber es ist immer wieder nachgerieselt. Obwohl er nur bis zu den Knien drinsteckt verkeilen die Kiesel so seine Beinen, dass man ihn nicht einfach herausziehen kann. Der Ältere blickt die dreieinhalb Meter Grabenwand hinauf. Oben neigt sie sich nach innen. Man kann deutlich sehen, wo das Material abgerutscht ist. -- Keine Erschütterungen -- Es darf auf keinen Fall irgendwelche Erschütterungen geben!!!
- Alle Arbeiten auf der Baustelle werden sofort eingestellt! Baugrube weiträumig absichern!
verfügt der Zugführer. Aus dem Inneren des Hauses hört man das Schlagen und Klingeln eines schweren Bohrhammers. Ein energischer Feuerwehrmann betritt das Haus und beendet dort alle Arbeiten. Mit rotweißem Absperrband wird der Bereich um die Baugrube herum abgesperrt. Feuerwehrleute postieren sich um das Betreten des abgesperrten Bereiches zu verhindern.
Die Gedanken des Älteren sind abgehackt. -- Wenn da jetzt noch einmal -- es würde so schnell gehen dass man nicht mehr -- wenn das passiert sind da draußen zwanzig Kollegen die sich ein Bein ausreißen werden um mich wieder rauszuholen!!!
Mehr kann, will er darüber nicht nachdenken.
Nervös ist der verschüttete Bauarbeiter. Zwei Stunden schon ist er hier eingeklemmt ohne sich befreien zu können. Er wittert, dass im Augenblick niemand sicher weiß ob er hier wieder herauskommt.
Mit einem Klappspaten wird vorsichtig versucht das Geröll wegzuschaufeln, es mit einer Eimerkette nach hinten wegzuschaffen. Stur rieselt es immer wieder nach. Die Schaufel gräbt sich vorsichtig hinter den Beinen des Arbeiters in das Gekiesel. Der Eimer wird Schaufel für Schaufel gefüllt. Alles bewegt sich bedächtig, fast wie in Zeitlupe. Schaufel für Schaufel wird der Kies abgetragen. Es rieselt nach, immer wieder nach. Man könnte fast verzweifeln. Wie sollen wir den Jungen bloß hier rauskriegen? Wir schaufeln, es rieselt. Das muss doch irgend wann einmal aufhören!
Schaufeln, schaufeln, schaufeln, rieseln, schaufeln, schaufeln, schaufeln, rieseln. Was soll man da nur machen? Ratlosigkeit. Erschütterungen, es darf keine Erschütterungen geben!! Dann kann alles ganz schnell vorbei sein!!!
Der Ältere wird abgelöst durch einen, mit einem Seil gesicherten, Kollegen. Ob man den im Falle die Grube einstürzt schneller rausziehen kann als das Geröll herunterfällt ist allerdings eine andere Frage. Der Ältere ist jetzt draußen, in Sicherheit, jedoch in Sorge um seine Kollegen da unten. Der ablösende Feuerwehrmann verspricht dem Verschütteten:
- Wir gehen hier nicht ohne dich!
Zugführer fragt Notarzt
- Was passiert wenn wir ihn einfach rausziehen. Was wird mit den Beinen sein?
- Keine Ahnung!
Es geht um einen Plan B. Der Himmel hängt voller Wolken. Wenn es zu regnen anfängt, könnten die Grubenwände einstürzen. Es ist nicht akzeptabel keinen Reserveplan zu haben. Ein lebender Bauarbeiter mit kaputten Beinen ist besser als ein toter mit unversehrten Beinen. Ist das so?
Inzwischen ist der Inspektionsdienst eingetroffen. Er ist von Beruf Tiefbauingenieur. -- Mein Gott, die sind schon unten! -- Aber was sollen sie auch anders machen? -- Wir können den jungen Mann nicht einfach in der Grube stecken lassen! -- Aber ich bin für die Feuerwehrleute verantwortlich! -- Wenn denen jetzt was passiert!! -- Das sind Tonnen von Geröll die jederzeit einstürzen können!!! -- Wenn es zu regnen beginnt breche ich den Einsatz ab. -- Ich kann nicht wissentlich meine Feuerwehrleute einer solchen Gefahr aussetzen. -- Wenn es regnet hole ich meine Leute da raus!!! -- Wir stülpen Betonringe über den Bauarbeiter und wenn der Graben einstürzt baggern wir.
Der ältere Feuerwehrmann interviewt die ratlos herumstehenden Bauarbeiter. Der Verschüttete weigerte sich zuerst runterzugehen, eben weil die Baugrube nicht abgesichert war. Zugesicherte hydraulische Schalungen waren nicht eingetroffen gewesen. Der Vorarbeiter hatte ihn aber, Zeit ist Geld, trotzdem runtergeschickt, hatte ihm gesagt er solle sich nicht so anstellen. Jetzt war der rundbauchige Vorarbeiter damit beschäftigt, sich von jeglicher Verantwortung freizureden.
Ein Kran wird nachgefordert. Rundschalungen werden nachgefordert, die das Nachrutschen verhindern sollen. Sie erweisen sich als zu groß. Die Baugrube ist nur 1,20 m breit. Aus Holz werden improvisierte Schalungen gezimmert. Der dicke Gruppenführer vor Ort entscheidet sich gegen deren Einsatz. Das zu rutschen drohende Geröll wiegt Tonnen! Wenn die improvisierten Holzschalungen eingebracht werden, wenn sie auch nur minimal eine Grubenwand berühren, vielleicht stürzt dann alles ein? Und werden sie dem Druck überhaupt standhalten können? Werden sie nicht einfach weggeschoben werden, der Bauarbeiter von den Massen samt Schalholz erdrückt?
Der Kran kommt. Ein riesiger, fahrbarer Kran. Vorsichtig stellt er sich auf. Es darf keinerlei Erschütterungen geben. Der ältere Feuerwehrmann bangt um seine Kollegen.
Der Zugführer fordert ziemlich viel nach. Gesucht wird eine Röhre die einerseits so schmal ist, dass man sie in die Grube versenken kann ohne deren Wände zu berühren, andererseits so breit dass der verschüttete Bauarbeiter nicht eingeklemmt wird. Es geht um Plan B. Wenn die Grube einstürzt, kann man die Röhre über den Arbeiter stülpen. Er wird nicht direkt verschüttet werden, die Betonröhre müsste ihn eigentlich soweit schützen, wenn man das aber auch nicht hundertprozentig sagen kann, und dann muss man eben mit einem Bagger so schnell wie möglich neben ihm ein großes Loch buddeln. Plan B ist kein guter Plan aber es ist der einzige Plan.
Ein Leitstellendisponent findet schließlich ein Unternehmen das Stahlröhren mit dem passenden Durchmesser vorrätig hält. Der Manager möchte noch über den Preis verhandeln. Keine Zeit!
- Halten Sie eine Röhre schon mal bereit. Wir kommen mit Polizei und holen sie uns in Kürze ab.
Ende der Diskussion. Immerhin geht es um ein Menschenleben. Glücklicherweise können wir uns in diesem Fall auf unsere Polizei verlassen.
Inzwischen wird über den Kran eine Bandschlinge in die Baugrube hinabgelassen. Der, mittlerweile ziemlich erschöpfte, Bauarbeiter sitzt darin, kann sich abstützen. Die Bandschlinge hängt an einem Flaschenzug, über den man den Verschütteten aus der Grube herausziehen kann wenn er frei ist. Es beginnt ein Kampf um Zentimeter. Der ältere Kollege steht stocksteif am Flaschenzug und hält ihn auf Spannung. Er wagt es nicht, sich auch nur um einen Millimeter zu bewegen um sofort reagieren zu können wenn man den Arbeiter herausziehen kann.
Schaufeln, schaufeln, schaufeln ...
- Geh auf Zug! Laaangsam, laaaaaangsam – STOP!
Schaufeln, schaufeln, schaufeln ...
- Langsam aufziehen, vooooorsicht – STOP!!
Der Kies war wieder nachgerieselt. Immerhin hatte man ein paar Zentimeter gewonnen. Der ältere Feuerwehrmann stand stocksteif und hochkonzentriert da. Vor Anspannung taten schon die Arme weh. Der Flaschenzug konnte eine solche Kraft entwickeln, den eingeklemmten Bauarbeiter übel verletzen wenn man zu stark zog.
Schaufeln, schaufeln, schaufeln ...
- Wieder aufziehen, laaaaaaangsam, vorsichtig – STOP!!! Nicht so schnell!!!! Nachlassen! Wieder aufziehen, laaaangsam STOPPP!!!!!!!
Rieseln. Schaufeln, schaufeln, schaufeln ....
- JETZT!!! SCHNELL AUFZIEHEN!!!! SCHNELL SCHNELL SCHNELLL .....
Wie ein Berserker zog der Ältere, die Feuerwehrleute aus der Baugrube stürmten heraus denn die Grabenwand stürzte in sich zusammen.
Der Bauarbeiter baumelte in der Bandschlinge über der Straße.
Gottseidank! Er lebt, er ist unverletzt.
Wir leben noch alle und sind unverletzt.
Tag der Veröffentlichung: 12.02.2009
Alle Rechte vorbehalten