Straße
Ein sonniger Oktobertag, warm. Wir sitzen alle im „Salettl“, im Freien im zweiten Übungshof. Es ist zwei Stunden vor Mittag und bei dem warmen Wetter essen wir natürlich unter freiem Himmel.
Mein Gott, hat der wieder getrödelt! Wir sind zum Frühstück verabredet und er muss noch mit dem und dem Kunden endlos quatschen. Mehrmals hab ich ihm gesagt, dass ich nach hinten keine Zeit habe, aber nein, der Mann ist die Ruhe selbst. Jetzt ist es mir egal! Ich fahr los. Nein, ich warte nicht noch bis du mit dem Kunden auch noch geredet hast ... In der Tankstelle noch schnell ein paar Semmeln gekauft und ab.
Was ist das nur für ein heißer Tag! Die Sonne brennt durch die Fensterscheiben des Autos. Einkäufe in der Stadt zu machen ist immer furchtbar. Da quält man sich durch den Verkehr, muss dauernd an roten Ampeln stehen bleiben, am Ende einen Parkplatz suchen. Ich bin immer völlig genervt.
Ich sitze auf meinem Motorrad und fahre stadteinwärts. Ein herrliches Gefühl, an so einem warmen Oktobertag Motorrad zu fahren. Das ist ein Leben! Ich kupple und die schwere Maschine beschleunigt mit einem Ruck. Starkes Gefühl, wenn man als zierliche Frau einem so schweren Bock mit ein paar Handgriffen Feuer unterm Hintern machen kann! Starkes Gefühl der Geschwindigkeit und Freude an sportlichem Fahren.
Es ist ein ewiges Gehetze. Jetzt steh ich schon die zweite Ampelperiode hier zum links abbiegen. Mein Gott! Was haben die aber auch getrödelt. Und das vorderste Fahrzeug hätte ruhig auch ein bisschen weiter in die Kreuzung reinfahren können. Dann wäre ich auch noch rübergekommen. So hat die Ampel vor meiner Nase auf Rot umgeschalten. Aber gut, jetzt steh ich an erster Stelle. Das wird mir also nicht noch einmal passieren. Ist eigentlich schon Grün? Ah, der weiße Kombi bleibt stehen. Dann kann ich ja anfahren.
Was ist denn da los, da vorne?! Was bremst der weiße Kombi denn??!! Ist doch noch Gelb!!!!! Ein Schlenker, Kupplung, Gang, die Maschine bäumt sich auf wie ein wilder Stier und mit Power sause ich am weißen Kombi vorbei ...
Gang rein, anfahren WAS KOMMT DENN DA AUF MICH ZU???!!! I c h s e h e i n Z e i t l u p e w i e d a s M o t o r r a d v e r s u c h t e i n e V o l l b r e m s u n g z u m a c h e n. ES SCHLÄGT MIT EINEM DUMPFEN KRACHEN UND SPLITTERN
auf der Beifahrerseite ein - Stille - Ich bin wie gelähmt - Was ist da passiert? - Was soll ich jetzt machen? - Hoffentlich ist dem Fahrer nichts passiert??! - Ich muss raus, Erste Hilfe leisten – ich kann nicht!!!!!
Der Piepser lärmt in der Beintasche. Na klar! Ist ja auch kurz vor Mittag! Ich laufe zu meinem Notarzt-Einsatz-Fahrzeug, kurz NEF
. Das Alarmschreiben auf weißem Faxpapier kommt. Der Doktor kommt. Was haben wir denn?
- VU
– nur Rettungsdienst
Ich lese die Einsatzinformationen auf dem Alarmschreiben. Ein Verkehrsunfall. Der Disponent in der Leitstelle schätzt, nach der Beschreibung dessen, der dort angerufen hat, die Situation so ein dass kein Feuerwehrfahrzeug für eine technische Rettung benötigt wird.
Kann ja nichts Schlimmes sein, wenn sie die Feuerwehr dazu nicht brauchen. Wahrscheinlich hat sich ein Fahrradfahrer ein Bein gebrochen und braucht Analgesie
.
Analgesie
bedeutet "Schmerzbekämpfung". Der Rettungswagen, kurz RTW
, ist nicht mit einem Arzt besetzt und daher auch nicht berechtigt Medikamente zu spritzen, insbesondere keine Schmerzmittel. Starke Schmerzmittel können nämlich immer auch den Nebeneffekt haben, dass der Patient aufhört zu atmen! Na dann fahrn wir also mal hin, zu unserem „VU – nur Rettungsdienst
“. Ist gar nicht weit. Nur drei Straßenkreuzungen. Da werden wir rechtzeitig zum Mittagessen wieder zurück sein. Wir erreichen die Einsatzstelle. Wir können den weißen Rettungswagen auf der Straße stehen sehen, mit Warnblinker. Rechts liegt ein Motorrad. Wir steigen aus. Der Doktor läuft schon mal vor während ich erst noch das Ampullarium
, in dem sich unsere Notfallmedikamente befinden, und die chirurgische Tasche für schwere Verletzungen, hole. – Sicherheitshalber.
Auf dem Rettungswagen, dem RTW
, fahren heute ein weißhaariger Älterer und eine junge, langhaarige Rettungsassistentin die ich beide kenne. Sie knien auf der vielbefahrenen Straße, beidseits einer bäuchlings liegenden, menschlichen Gestalt in Lederkombi. Sie halten die Gestalt an den Schultern hoch damit sie aus dem Gesicht auf die Straße bluten kann. Aus dem GESICHT! Da ist kein Gesicht!! Unter den Augen befindet sich eine unförmige, blutende Masse mit Loch in der Mitte. Der ganze Gesichtsschädel ist zertrümmert, das Gesicht hat seine Form verloren. Mehr können die Kollegen nicht tun. Das Blut soll nicht in die Atemwege laufen, es tropft auf die Straße. Mein Arzt trifft ein. Wir sind zu wenige! Wir brauchen mehr Hände! Also benötigen wir doch noch ein Hilfeleistungs-Löschfahrzeug
, ein HLF
, das mit sechs Feuerwehrleuten besetzt ist!
"Wir sind zu wenig. Ich alarmiere ein HLF
nach!" werfe ich dem Arzt hin. "Ja, mach das."
Warum ist keine technische Rettung, keine Feuerwehr mitalarmiert worden?!
Q u ä l e n d l a n g s a m r e n n e i c h z u r ü c k z u m e i n e m N E F
Funkspruch an die Leitstelle: "Ein HLF
wird benötigt."
q u ä l e n d l a n g s a m a n t w o r t e t m i r d i e
L e i t s t e l l e .
Sie schicken mir meine Verstärkung.
An der Einsatzstelle versuchen sie zu dritt das menschliche Wesen umzudrehen. Inzwischen verstärkt ein Plastikkragen die Halswirbelsäule. Mein Arzt verlangt einen Güdeltubus
. Den kann man in die amorphe Gesichtsmasse stecken damit das menschliche Wesen atmen kann. Es ist eine junge Frau mit geflochtenem Zopf, erkenne ich jetzt. Das Gesicht sieht aus, als ob man ein Pfund Fleisch auf einen Tisch geworfen hätte und eine Handvoll Zähne dazwischengestreut. Aus der Öffnung in der Mitte kommt ein Geräusch. Die Augen sind offen.
Mein Gott - ein Zopf - eine Frau - so viel Blut - so alt wie meine Tochter - warum nur, warum - ist sie tot? - was soll ich tun? - kann ich das? - ich kann das nicht - ... Oh Gott – oh Gott – oh Gott – - was machen die Sanitäter nur, warum bringen sie sie nicht ins Krankenhaus? - War ich Schuld? Da kommt ein Polizist, was will er von mir ...
"Ist sie bei Bewusstsein? Hat sie was gesagt?"
Vier Hände möchte man haben um all das zu tun, was man jetzt gleichzeitig tun müsste. Die Polizei ist eingetroffen, sperrt aber nur eine Fahrbahn und beginnt sich ein Bild von der Lage zu machen. Die Polizei ist eher zurückhaltend mit dem Fahrbahn sperren damit nicht zu viel Verkehrsstau entsteht. An meinem Hintern spüre ich den Luftzug vorbeieilender Autos. Leider werden sie immer nur auf der Gegenfahrbahn langsamer um besser zu sehen. Auf der Unfallseite erwarten die Autofahrer vermutlich dass jederzeit die Fahrbahn gesperrt werdn könnte und geben eher noch Gas. Nicht ungefährlich für Einsatzkräfte!
"Verdammt! Können die die Straße nicht dichtmachen?"
Das rote Feuerwehrfahrzeug ist an. Fünf Kollegen schwärmen aus, sperren die Straße, treffen bei uns und der Schwerverletzten ein. Ein vielarmiges, vielbeiniges Feuerwehrwesen entsteht, greift ein und viele Dinge geschehen jetzt gleichzeitig.
"Wir brauchen einen Güdeltubus
! Wir brauchen Kleiderscheren!"
Auf einmal geht etwas vorwärts. Die Verstärkung ist sofort zu spüren. Der Güdeltubus
wird durch das Loch in die amorphe Masse gedreht, um die Atemwege zu sichern. Von zwei Seiten werden lederne Ärmel aufgeschnitten um die Jacke vom Oberkörper zu lösen. Die Elle hat sich durch den linken Unterarm gebohrt. Wie von selbst kommt die Trage an. Viele Hände packen den geschundenen Leib, der so auf die Trage schwebt. Ich laufe los mit meinem Ampullarium
in den Rettungswagen. Licht an. Sauerstoff aufgedreht. Ampullarium auf. Mit was werden wir intubieren? Mit Fentanyl, das ist gleichzeitig ein sehr starkes Schmerzmittel, zweihundert mal so stark wie Morphium. Hastig ziehe ich die Spritzen auf. Der Innenraum bevölkert sich. Klackend und scheppernd wird die Trage mit der jungen Frau herein geschoben. Wir bereiten die Intubation
vor. Souverän steckt mein Notarzt mit einer fließenden Handbewegung den Plastikschlauch in das ... in die Masse. Abhören – Tubus sitzt.
...... so viele Fragen - ich will nach Hause - ich will weg hier - ich will zu meiner Tochter - wird sie es überleben? - der Rettungswagen steht immer noch da
"Ich melde Schockraum an!"
Ich laufe nach draußen zu meinem Fahrzeug, um über die Leitstelle den Schockraum anzumelden. Während ich auf die Antwort der Leitstelle warte, bemerke ich einen jungen Mann, der sich an einen Laternenpfahl, am Mittelstreifen der vielbefahrenen Straße, lehnt. Das ist bestimmt ihr Freund!
Die Leitstelle bestätigt mir Schockraum Schwabing. Ich laufe zum RTW
zurück. Inzwischen schnappe ich mir einen Feuerwehrkollegen.
"Siehst du den Mann der da am Laternenpfahl lehnt? Ich glaube das ist der Freund von unserem Polytrauma
. Geh mal zu ihm hin und betreu ihn!"
Polytrauma
heißt im Rettungssprech ein Mensch mit vielen und schweren Verletzungen. Mein Kollege schaut ein wenig unglücklich, geht aber tapfer auf den Mann zu. Manchmal ist es einfacher in einer gefährlichen Umgebung zu arbeiten, als mit einem Menschen zu sprechen, der hilflos mitansehen muss wie ein geliebter Mensch so schwer verletzt wird!
"Schockraum Schwabing!" melde ich zurück. Die Patientin ist soweit stabil. Mein Arzt hat sie auf weitere Verletzungen hin inspiziert, aber nur den durchstoßenen Unterarm entdecken können. Der wird gerade verbunden. Wir fahren los.
Klinik
Im Schockraum erwartet uns schon ein eingespieltes Team aus Krankenschwestern und Ärzten. Wenn man schon das Unglück hat Unfallopfer zu sein, ist eine der besten Adressen Schockraum Schwabing
! Ein organisches Greifen, Drehen, Packen, Schieben setzt ein, ein vielhändriger Schockraumorganismus. Die Patientin wird vollständig entkleidet, die Infusionen aufgehängt, sie schwebt auf den, mit Stoff abgedeckten, Metalltisch, der sie wie eine eiserne Zunge in den Rachen des Computertomogramms
, kurz CT
ziehen wird. Schläuche werden umgesteckt, eingesteckt, Informationen ausgetauscht, zerschnittene Kleidung in Säcke gepackt. – Patientengut.
Das CT
. Der vielhändrige Schockraumorganismus hat sich wieder in eine medizinische Meute zerteilt, die sich in den Kontrollraum des Radiologen zurückgezogen hat. Die eiserne Zunge zieht sich schrittweise in den CT-Rachen zurück. Grüppchen ratschen. Der Radiologe klickt herum. In dem stählernen Rachen dreht sich was. Die junge Frau wird schrittweise reingezogen. Auf dem Bildschirm werden die Scheiben abgebildet, die der Computer aus dem menschlichen Körper „schneidet“. Die junge Frau wird elektronisch tranchiert. Der Schädel, das Gehirn, sieht, Gott sei dank, ganz gut aus – vom Gesicht einmal abgesehen. Jetzt spricht der Radiologe. Er zählt seine Befunde auf.
"Orbiterfraktur ............................... Pneumothorax
...................... Hämatothorax ..................... Wirbelverletzungen ..................................... Beckenbruch ................... Leberruptur .......................... Milzruptur .................. Unterarm offen"
Das Letztere hatten wir schon an der Unfallstelle gesehen. Ein Unterarmknochen spießte durch die Haut.
Die Zwiegespräche der medizinischen Meute ersterben. Es wird immer stiller. Jetzt spricht nur noch der Radiologe. Er zählt die Dinge auf, die mein Notarzt von außen nicht sehen konnte. Das Lebenslicht unserer jungen Frau flackert und wird blasser. Ein Chirurg sagt: "Fahrn wir sie rauf. Mal sehn, ob sie die erste OP überlebt."
Die medizinische Meute löst sich auf. Auf ihr ruhen jetzt alle – wenigen – Hoffnungen. Wir, der Rettungsdienst, ziehen ab mit unserer Ausrüstung, blutig, auf der fahrbaren Trage. Der weißhaarige Ältere nimmt die jüngere Kollegin in den Arm. Sie ist selbst Motorradfahrerin.
Ich sehe aus wie ein Metzger. Ich erreiche den Hof im Schwabinger Krankenhaus. Dort draußen stehen ein paar junge Menschen, Freunde und Freundinnen von unserem Polytrauma, mit dem Handy zusammentelefoniert. Sie wollen natürlich wissen was los ist. Soll ich lügen? Was würde das bringen. Wenn die junge Frau die erste OP überlebt – und es weiß keiner ob – , wird sie wahrscheinlich entstellt im Rollstuhl herumfahren. Sollen sich ihre Freunde und Freundinnen falsche Hoffnungen machen? Werden sie dann zu ihr halten, wenn sie dringend Hilfe braucht?
Ich schnaufe noch einmal durch und stelle mich den verängstigten, hoffenden Gesichtern.
"Ihre Freundin lebt. Sie ist jedoch sehr ernsthaft verletzt. Sie wird jetzt operiert. Es ist möglich, dass sie diese Operation nicht überlebt. Wenn sie die Operation überlebt, könnte es sein dass sie entstellt sein wird."
Ein tränennasses Gesicht sieht mich an.
"Nein! Magdalena ist stark!! Sie wird nicht sterben!!! Sie schafft das!!!!"
Der Kummer und die Verzweiflung zerren das Gesicht zur Maske. Übermenschlicher Schmerz presst und reißt an den Gesichtszügen.
"Heute abend wird man wahrscheinlich sagen können ob sie überlebt."
Ich schlage die Augen auf. Der Raum ist abgedunkelt. Wo bin ich? Wach ich oder träum ich? Ich fahre mit dem Motorrad, es ist warm, es ist hell. Ich kann mich kaum rühren. Wo bin ich? Ich liege in einem Bett. Ich versuche mich zu bewegen, uhhhhh, das tut weh, es geht auch nicht richtig. Ich schaue an mir runter. Schläuche gehen aus meinem Körper raus. Da stecken Schläuche in mir drin!! Wo bin ich??!!! Ich erkenne eine vermummte, bekittelte Gestalt die herumwandelt. Sie haben mich eingefangen!! Jetzt machen sie Experimente mit mir!!! AAAAAAAHHH!!!!!!!!!!!!!!!! Ich bäume mich auf, schlage um mich, ich zieh mir die Schläuche wieder raus, jetzt kommt wer angelaufen ....
Ich wache, ich träume ...
Ich starre eine Uhr an. Ich kann mich kaum bewegen. Alles tut weh. Mein ganzer Körper schmerzt. Es gibt keinen Fleck an oder in meinem Körper der nicht weh tut.
D i e Z e i t v e r g e h t
g a r n i c h t
Die Uhr – Wieviel später ist es jetzt? Später als wann?? Ich habe keine zeitlichen Anhaltspunkte. Wenn ich mich wenigstens verständlich machen könnte dass ich nicht immer diese verfluchte Uhr anstarren muss! Aber ich kann nicht sprechen. Im Hals habe ich ein Loch. Darin steckt eine Kanüle durch die ich beatmet werde. Die Zeiger. Sie stehen bestimmt anders als vorhin. Ich kann mich nicht recht erinnern. Ich d ä m m e r e w i e d e r …….
Ich wache, ich träume ...
Ich schau mich im Spiegel an. Ein verschobenes, angeschwollenes Gesicht schaut zurück. So, das bin ich also. Wie habe ich vorher ausgesehen? Ich weiß es nicht. Ich sehe furchtbar aus. Aber es beunruhigt mich eigenartigerweise nicht. Wenn ich nur wüsste wie ich vorher ausgesehen habe ....
Ich wache, ich träume ...
Ich werde abgesaugt. Ein Pfleger hat den Atemschlauch aus der Kanüle an meinem Hals entfernt. Er steckt einen Absauger durch die Öffnung tief in meine Lunge mit einem schlürfenden Geräusch. Uuuuhhhaaarggghhh – das ist verdammt unangenehm! Ich schließe die Augen, mein ganzes Gesicht verkrampft sich.
Ich wache, ich träume ...
Ich habe Schmerzen. Überall Druckverbände, Klammern und Drähte im Mund. Eine Magensonde ist durch die Nase in den Magen geschoben worden. Schemenhafte, vermummte Gestalten laufen herum.
Ich d ä m m e r e w i e d e r ……. AAAAAAAHHH!!!!!!!!!!!!!!!! Ich bäume mich auf, schlage um mich, ich zieh mir die Schläuche aus den Armen, fluchend kommt einer angelaufen und schreit mich an.
Ich wache, ich träume ...
Ich sitze im Bett. Ein Professor kommt ins Zimmer, umschwärmt von weißbekittelten Studenten und Studentinnen. Sie starren mich an, lerngierig. Der Professor sagt: „Nun meine Damen und Herren, beschreiben sie einmal aus ihrer Sicht was diese Patientin für Verletzungsmuster haben könnte.“ Ich komme mir ausgestellt vor, wie ein Tier im Käfig.
Feuerwache
"Deine Motorradfahrerin lebt übrigens."
"Wirklich?"
"Ja, sie haben sogar ihr Gesicht repariert."
"Sie haben ihr Gesicht repariert? Das ist unmöglich!!"
"Doch. Der Schwabinger Kieferchirurg hat sich das nicht zugetraut. Das Gesicht haben sie im Rechts-der-Isar gemacht. Sie haben sich Fotos kommen lassen und danach ihr Gesicht wieder rekonstruiert."
Sie lebt. Ihr Gesicht ist rekonstruiert. Sie muss nicht Rollstuhl fahren. Das hätte ich nie für möglich gehalten! Ich werde unruhig. Ich kenne sie nur als Polytrauma ohne Gesicht. Als ein Wesen, bei dem einem nicht als erstes der Begriff „Mensch“ einfallen würde. Das was einen Körper, zwei Arme und Beine zu einem Mensch macht, ist tatsächlich in erster Linie das Gesicht. Wenn ich an den Einsatz denke merke ich, wie in meinem Kopf eine Firewall hochfährt um die anbrandende Gefühlsflut einzudämmen. Ich möchte sie unbedingt „ganz“ sehen, als vollständigen Menschen.
"Wo liegt sie jetzt?"
"Sie ist wieder in Schwabing. Auf der 16."
Ich muss da hin. Heute fahre ich Feuerwehr RTW. Das trifft sich gut. Ich habe einen Praktikanten an Bord. Die Leitstelle wird sicherlich einsehn, dass wir kurz das Fahrzeug verlassen müssen damit ich ihm die wichtigsten Sachen im Schwabinger Krankenhaus zeige. Gesagt, getan.
Wir betreten zu zweit die Intensivstation. Irgendwie sehen wir unpassend aus, mit unseren Feuerwehrstiefeln in diesem sensiblen Raum. Ich erblicke einen Pfleger.
"Entschuldigen Sie bitte. Ich suche die Frau Magdalena .... . Wir haben sie auf der Straße erstversorgt und hier hergebracht. Wir haben erfahren, dass es ihr gut geht und würden sie gerne besuchen."
Der Pfleger schaut ein wenig unsicher. Es kommt nicht oft vor dass die „Ersthelfer“ von der Straße vorbeischauen. Aber dann gibt er sich einen Ruck.
"Natürlich. Sie ist ziemlich munter und läuft schon herum. Ich hole sie mal."
Er kommt wieder mit einer schlanken, zierlichen Frau im Nachthemd. Sie geht. Sie kann sich bewegen. Sie ist noch koniotomiert
– sie hat eine Öffnung im Hals, durch die sie beatmet werden kann. Sicherheitshalber, man kann ja nie wissen. Im Moment atmet sie jedoch selbständig, soweit ich das sehen kann. Die normale Kanüle wird ausgewechselt und durch eine Sprechkanüle ersetzt. Bevor die Sprechkanüle eingesetzt wird, saugt der Pfleger sie noch einmal ab. Der Absauger wird tief in die Lunge gesteckt mit einem schlürfenden Geräusch. Sie schließt die Augen und zieht das Gesicht zusammen. Es sieht aus, als ob das eine unangenehme Prozedur wäre. Jetzt kann sie sprechen. Der Pfleger sagt ihr, wer wir sind.
"Danke fürs Leben retten!"
Ich bin platt. Ich weiß nicht was ich sagen soll. Ich habe, berufsbedingt, schon mehrere Leben gerettet. Bis jetzt hat sich noch nie jemand dafür bedankt. Es ist eine völlig ungewohnte, neuartige Situation für mich. Ich weiß nicht was ich sagen soll, meine Gedanken kreisen haltlos im Kopf und so sage ich verlegen "Ich habe nur meinen Job getan."
Es ist eine ganz komische Situation. Einerseits bin ich wirklich glücklich, mein „Polytrauma“ – das jetzt einen Namen und ein Gesicht bekommen hat - so relativ gesund vor mir zu sehen, andererseits weiß ich nicht genau, wie ich mich jetzt verhalten soll. Man hat eigentlich keine Erfahrung damit. Normalerweise liefert man die Menschen ab und das wars dann. Höchstens noch, dass man nachtelefoniert um zu erfahren, was der Mensch nun genau gehabt hat, ob er es überlebt hat oder so. Aber im Normalfall wird man nie angesprochen. Irgendwie bin ich ganz froh, als ich wieder draussen bin und in meinem RTW
. Aber auch glücklich dass mein Polytrauma wieder gesund werden wird! Ich lade sie zum Kaffeetrinken auf die Wache ein.
Neun Monate später
Ich fahre wieder mal NEF
. Diesmal von der Rettungswache Nordwest im Krankenhaus 3. Orden aus. Das Telefon klingelt.
"Rettungswache Nordwest, Reinhold Zitzlsperger."
"Ich bin Magdalena .... "
"Wie bitte? Wer sind sie?"
"Ich bin die Motorradfahrerin. Sie haben mich im Krankenhaus besucht. Ich wollte auf die Einladung zum Kaffeetrinken zurückkommen."
Es ist nicht einfach, einen Feuerwehrmann ausfindig zu machen. Unser Schichtplanmodell ist für Außenstehende nicht so ohne Weiteres zu verstehen. Dann kommt dazu, dass ich mal im Urlaub bin, auf Fortbildung oder eben von einem Krankenhaus aus NEF
fahre. Sie hat mir monatelang hinterhertelefoniert um mich persönlich zu erreichen. Ich bin beeindruckt! Wir vereinbaren einen Termin.
Der Termin rückt näher. Ich werde nervös. Was soll ich nur machen? Auf der Wache habe ich schon Bescheid gesagt. Sollen wir es mit der ganzen Wachmannschaft machen, oder nur mit denen die unmittelbar am Einsatz beteiligt waren? Der Kollege vom Arbeiter-Samariter-Bund, der damals mit seiner Kollegin als erster vor Ort war, hat sein Kommen ebenfalls angekündigt. Der Notarzt kann nicht weil er Nachtdienst hatte und jetzt schläft. Soll der Wachabteilungsführer etwas sagen oder ich? Ich habe keine Ahnung. Wir haben mit sowas keinerlei Erfahrung, alle sind ein bisschen verunsichert. Es ist extrem selten, eigentlich kommt es nie vor, dass jemand auf die Wache kommt um sich zu bedanken. Der Zeitpunkt rückt immer näher. Mein Wachabteilungsführer meint, ich solle etwas sagen. Ein Kollege hat glücklicherweise einen Blumenstrauß besorgt, an den ich natürlich nicht gedacht habe. Eine Durchsage:
"Herr Zitzlsperger. Ihr Besucht ist da! Die Wachmannschaft bitte in den Unterrichtsraum."
Das hat der Wachabteilungsführer so organisiert. Ich drücke ihm noch schnell den Blumenstrauß in die Hand und eile zur Tür um Frau Magdalena ... zu begrüßen. Sie hat eine Freundin mitgenommen, eine große Packung „Merci“ in der Hand und eine Stoffmaus mit Flügeln.
Im Unterrichtsraum, vor der versammelten Mannschaft, wird sie vom Wachabteilungsführer begrüßt. Er schiebt mich vor sie hin.
"Ich will mich bei euch dafür bedanken, dass ihr mir ein zweites Leben geschenkt habt. Vor neun Monaten seid ihr für mich Schutzengel gewesen. Deshalb soll diese Stoffmaus jetzt für euch ein Schutzengel sein."
Die Mannschaft applaudiert. Ich bin gerührt. Nach dem wir glücklich und etwas steif den offiziellen Teil hinter uns gebracht haben, begeben wir uns in den zweiten Übungshof ins „Salettl“ zum Kaffeetrinken. Dort verflüchtigt sich die Steifheit und wir gehen zum feuerwehrmäßigen Du über. Es entsteht schnell eine lockere Atmosphäre. Die Kollegen haben allerhand Fragen an Magdalena die sie geduldig beantwortet. Sie fühlt sich wohl bei uns und möchte auch in Zukunft noch ab und zu vorbeischauen. Natürlich kann sie!
Ein Glücksgefühl keimt in mir, wächst und breitet sich bis in die Fingerspitzen aus. Ich bin sehr sehr froh, sie so gesund, Kaffee trinkend, Kuchen essend, zu sehen. Das hätte ich auf der Straße niemals für möglich gehalten! Was habe ich nur für einen tollen Beruf. Eine junge Frau trifft eine Sekunden-falsche-Entscheidung und wir können ihr eine zweite Chance geben. Wir und der medizinische Apparat der noch im Hintergrund bereit steht um die zweite Chance zu einem zweiten Leben weiterzuentwickeln. Ein bisschen ist es wie Weihnachten.
AMPULLARIUM Eine extra Tasche mit Medikamenten (in Ampullen – daher der Name)
ANALGESIE Schmerzbekämpfung
HÄMATOTHORAX Blut im Spalt zwischen Lunge und Brust
HLF Hilfeleistungs Löschfahrzeug, das eigentliche „Feuerwehrauto“ mit dem man die meisten Einsätze abwickeln kann.
INTUBATION Wenn ein Mensch so tief bewusstlos ist, dass er keine Schutzreflexe mehr hat muss er intubiert werden, damit in die Lunge nichts hineinlaufen kann was dort nichts verloren hat (z.B. Blut oder Erbrochenes).
KONIOTOMIE In den Hals wird ein Loch gemacht durch das beatmet wird (Luftröhrenschnitt)
LEBERRUPTUR Riss in der Leber
MILZRUPTUR Riss in der Milz
NEF Notarzt Einsatzfahrzeug. Ein PKW, besetzt mit einem Rettungsassistenten und einem Arzt.
ORBITERFRAKTUR Bruch von Knochen um die Augen herum.
PNEUMOTHORAX Loch im Spalt zwischen Lunge und Brust
RTW Rettungs Transportwagen.
VU Verkehrs Unfall
Tag der Veröffentlichung: 21.01.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
für Magdalena, deren Mut und Zähigkeit ich sehr bewundere