Wie so oft saß Hugo auf dem teuren Ledersessel in seinem Kaminzimmer und starrte in die lodernden Flammen. Er hatte alles, was man sich wünschen konnte: Ein großes Anwesen, einen schicken Wagen und er war im besten Alter. Aber Hugo war ein Einzelgänger und lebte hier allein. In völliger Abgeschiedenheit. Seine Eltern lagen unweit entfernt auf dem örtlichen Friedhof und als Einzelkind gab es nun mal keine Geschwister. In seinem Innern sah es genauso aus wie in dem Kamin: wilde Flammen sprühten Funken und ließen ein bekanntes und von Herzen gehasstes Gefühl in ihm keimen: Langeweile. Tückisch nistete sie sich in seinem Magen ein und entfachte dort ein Feuer. Innerhalb von Sekunden brannte sein gesamter Körper von innen lichterloh. Ein lauter Schrei entwich seiner trockenen Kehle. Er ging zur Bar hinüber, schenkte sich einen Malt Whiskey ein und leerte ihn in einem Zug. Aber auch dieser vermochte die heiße Langeweile nicht zu löschen, die wie Lava seine Organe flutete. Seine Hände begannen zu zittern, als ihm bewusst wurde, was das bedeutete. Er würde es wieder tun. Tun müssen, um dieses Gefühl nicht nur beherrschen, sondern auch stillen zu können. Hugos Blick wanderte zum Schlüsselboard. Seine Hände und Stirn wurden feucht beim Anblick des kleinen, silbernen Schlüssels und wie von Zauberhand zog es ihn magisch dorthin. Schon die erste Berührung mit dem kalten Metall, das er aufgeregt durch seine Finger gleiten ließ, pumpte Adrenalin durch seine Adern.
Flink packte er alles zusammen und ließ den Schlüssel in seine Hosentasche gleiten. Dann zog er seine Arbeitskleidung an, die aus einem schwarzen Overall und einer ebensolch tiefschwarzen Sturmmütze bestand. Voller Vorfreude verließ er das Haus.
Hugo wusste ganz genau, wo er sich verschanzen musste, um eine von ihnen abzugreifen. Fast täglich kamen sie hier vorbei, die jungen Studentinnen, die sich mit Joggen fit hielten. Glücklicherweise hatten die meisten von ihnen die schlechte Angewohnheit, alleine zu laufen und dabei Musik zu hören. Hugo konnte also in aller Seelenruhe aus den Büschen springen und sich eine von ihnen schnappen. Er kam meist von hinten und drückte seinem Opfer blitzschnell ein chloroformgetränktes Tuch auf Nase und Mund. Es dauerte nicht lange, bis sie aufhörten sich zu wehren und dann reglos in seinen Armen lagen.
Liebreizend. Still. Und ergeben.
Bereits dieser Akt gab ihm einen ungeheuren Kick. Seine ersten beiden Opfer waren sehr schlank und leicht zu überwältigen. Er war ja kein Arnold Schwarzenegger, für ihn war das hier Schwerstarbeit. Dieses junge Ding mit den kurzen, blonden Haaren und dem ungewohnt muskulösen Körper, das er soeben überwältigt hatte, war sein drittes Opfer in diesem Jahr. Es war früher Herbst, ein schöner Abend Ende September. Während die Blondine ziemlich schnell ohnmächtig wurde, fragte er sich wieder einmal, warum manche Mädchen derartig leichtsinnig waren und ihr Leben aufs Spiel setzten. Ihm spielte diese Achtlosigkeit in die Hände, aber für sie wurde es zu einem wahrgewordenen Albtraum. Er war froh, dass auch diese Joggerin ein Leichtgewicht war. Summend trug er sie zu seinem Auto, öffnete den Kofferraum und legte sie auf die bereits vorbereitete Decke. Hitze aufgrund der Vorfreude, was er bald mit ihr in seinem Kellergewölbe anstellen würde, flutete ihn von den Haarspitzen bis zu den Zehen. Blutige Bilder wanderten durch seine Hirnwindungen und beschleunigten seinen Puls in gefährliche Höhen. Er tastete nach seinem Schatz, dem silbernen Schlüssel, der ins Kellergewölbe führte. In seine ganz geheime Folterkammer, in der er seinen Gelüsten nachgehen und die Langeweile in sich zum Schweigen bringen konnte. Leider hielt dieser Zustand der Befriedigung nicht lange an. Sonst würde er nicht gerade zitternd vor seinem Auto stehen und Adrenalin geladen in den Kofferraum starren. Die Gier legte seine Sinne lahm und so bemerkte er die beiden Frauen nicht, die sich von hinten lautlos angeschlichen hatten. Blitzschnell stülpten sie ihm einen Sack über den Kopf, dessen Geruch Hugo seltsam vertraut vorkam. War das etwa Chloroform? Sein Herz begann schmerzhaft zu rasen, bevor ihm die Lichter ausgingen.
Als er wieder zu sich kam, saß er gefesselt auf einen Stuhl und hatte einen seiner eigenen Knebel im Mund. Der übrigens so trocken war wie eine Wüste. Hugo sah sich nun 3 jungen Frauen gegenüber, von der eine die muskulöse, blonde Joggerin war.
"Du mieses Schwein hast meine Schwester getötet! Dafür wirst du bezahlen!", schrie sein eigentliches Opfer hysterisch, schnellte auf ihn zu und hielt ihm eines seiner eigenen Messer an die trockene Kehle. Der schmerzhafte, schnelle Ritt seines Herzens setzte wieder ein und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Die Schwarzhaarige sprang auf und hielt sie im letzten Moment davon ab, ihm mit dem Messer die Kehle durchzuschneiden. "Noch nicht, Darling", sagte sie beruhigend, "erst soll er doch noch ein wenig leiden. Genau wie seine Opfer es mussten."
"Du elendes Monster!", stieß die Blonde aufgebracht hervor, bevor ihre Stimme brach. Tränen traten in ihre blauen Augen, doch Hugo ließ das kalt. Gefühle oder gar Empathie waren für ihn ein Fremdwort. Weder hatte er von seinen Eltern Liebe bekommen, noch Freunde gehabt. Er war immer ein Einzelgänger gewesen und spürte nur etwas, wenn er andere Menschen quälen konnte. Seiner Eltern hatte er sich vor ungefähr 10 Jahren "entledigt". Erst hatte er sie in seine Folterkammer gelockt, sie dort für ihre Missetaten büßen und dann in der Scheune verbrennen lassen. Für die Polizei hatte er es wie einen Unfall aussehen lassen und war damit tatsächlich durchgekommen, weil er äußerst geschickt vorgegangen war damals.
"Wochenlang bin ich diese Strecke entlang gejoggt und habe trainiert. Und heute bist du endlich aus deinem Loch gekrochen, du mieses Schwein!", schleuderte ihm die Blonde mehr als wütend entgegen und wischte ihre Tränen weg.
Ach deshalb war sie so muskulös, dachte Hugo sich. Sie hatte sich auf diesen Tag so richtig vorbereitet. Das imponierte ihm fast ein wenig. Aber was er definitiv nicht wollte, war: Heute Abend in seiner eigenen Folterkammer das Zeitlich segnen. Aber hatte er eine Wahl? Er war an einem Stuhl gefesselt und geknebelt. Er konnte ja nicht mal sprechen und selbst wenn, würden sie ihm doch nicht zuhören. Diese drei Schönheiten mussten ziemlich schlau sein, denn sie haben nicht nur den Schatz in seiner Hosentasche gefunden, sondern auch das dazugehörige Schloss in der Tür, die in seine ganz persönliche Folterkammer führte. Hugo war wahrhaftig beeindruckt von diesen Grazien, die ihm gegenüber saßen und pure Rache ausstrahlten. Man konnte ihnen die Mordlust gar ansehen, sie kroch aus jeder einzelnen Pore. Hugo konnte sie förmlich riechen. Leider war diesmal er selbst das Opfer und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Er hielt sich für den Teufel persönlich, aber in den Augen der drei Frauen sah er den wahrhaftigen Satan. Er hatte seine Meisterinnen gefunden. Ein plötzlicher, unmenschlicher Schmerz durchfuhr ihn, die Schwester seines letzten Opfers hatte ihm das Messer in einen seiner Oberschenkel gerammt. Hugos Herz begann erneut heftig zu rasen, zu stolpern, auszusetzen, wieder zu rasen, zu stolpern und auszusetzen. Ein dumpfer Laut erfüllte das Kellergewölbe. Er wollte schreien vor Schmerz, aber der Knebel in seinem Mund ließ das nicht zu. Tränen traten aus seinen Augen, zum ersten Mal in seinem Leben weinte er vor Schmerz. Und höchstwahrscheinlich auch zum letzten Mal.
Hugo sah sich im dreifachen Angesicht des Todes. Ihm wurde immer mehr bewusst, dass es für ihn kein Entkommen aus dieser Situation gab. Er würde hier und jetzt sterben. Er schloss die Augen, als er etwas eiskaltes an seiner Kehle spürte. Die trainierte Blondine hielt ihm erneut eine der scharfen Klingen aus seiner eigenen Sammlung an den Hals. Nun jagte sein Herzschlag durch seinen gesamten Körper. Seine Ohren rauschten, in seinem Kopf klang alles nur noch dumpf.
Dann schnitt der blonde Racheengel ihm fein säuberlich die Kehle durch.
Texte: Alle Rechte am Text bei der Autorin
Cover: pixabay
Tag der Veröffentlichung: 15.01.2024
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Mein Beitrag für das Wortspiel mit dem Thema "Langeweile" im Januar 2024