Lehrer / Entführung / Rose
zwei Feinde / Kerze / Taxi
schüchternes Mädchen / Konzert / Lederjacke
Geist / Insel / Sternschnuppe
Ein unerwarteter Gast
Dieter Brand stand wie angewurzelt vor einem Hochhaus in Berlin. Und obwohl es schon kurz vor Weihnachten war, sah dieses Haus mehr als düster aus. Weder eine Lichterkette, Engel oder beleuchtete Holzbögen zierten hier auch nur eines der dunklen Fenster. Richtig trostlos wirkte die Umgebung in dieser Straße.
'Die perfekte Kulisse für einen Horrorfilm', dachte er sich, zückte sein Handy und beleuchtete die Klingelleiste. Doch den Namen, nach dem er suchte, fand Dieter nicht. Diese Adresse in Berlin sollte der Ort sein, an dem der letzte, lebende Verwandte aus seiner Familie seit ungefähr zehn Jahren sein Dasein fristete. Einer plötzlichen Eingebung folgend hatte er spontan seine Reisetasche gepackt, sich in den Zug gesetzt und war nach Berlin gefahren. Schließlich war er nicht mehr der jüngste und wollte endlich seinen Halbbruder kennenlernen. Vielleicht lag es aber auch einfach an der besinnlichen Adventszeit, dass es ihn hierher verschlagen hatte. Bevor Jack in diese düstere Gegend hier gezogen war, lebte er in Amerika. Dort war er zweisprachig aufgewachsen und zwar bei Dieters Vater und dessen neuer Frau. Leider hatten sie sich bisher nie kennengelernt, weil Dieter rigoros den Kontakt zu seinem Erzeuger und der neuen Familie ablehnte. Doch vor ein paar Jahren war sein alter Herr verstorben und mit ihm das letzte Stück der eigenen Familie. Dieters Mutter hatte sich nie von diesem Schicksalsschlag erholt. Dass ihr Mann sie nicht nur für eine Jüngere verlassen, sondern auch noch einen Sohn mit ihr gezeugt hatte. Jack. Dieter war überzeugt davon, dass seine Mutter an gebrochenem Herzen gestorben war, da sie die Scheidung nie wirklich verwinden konnte. Insgeheim hatte er wohl auch Jack gehasst, aber sein jüngerer Halbbruder konnte ja nun am wenigsten für die Taten seines Vaters. Das hatte er mittlerweile begriffen. Als ihn die Nachricht seines Todes erreichte, fühlte er dennoch einen Schmerz, eine kleine Trauer in sich. Der Beerdigung seines Vaters in Amerika konnte er allerdings nicht beiwohnen, denn das ließen seine Finanzen damals nicht wirklich zu. Glücklicherweise hatte Jack sich ja vor knapp zehn Jahren nach Berlin abgesetzt, das für Dieter einfacher zu erreichen war. Die Fahrt hatte nur ein paar Stunden gedauert und war recht angenehm. Im Gegensatz zu dem Haus, vor dem er noch immer wie angewurzelt stand. Genervt ließ Dieter seine Reisetasche fallen. Er musste doch hier wohnen, das war die letzte, aktuelle Anschrift seines Halbbruders. Plötzlich entdeckte er eine kleine Lichtquelle. Jemand stellte eine Kerze in eines der Fenster. Für einen kurzen Moment sah Dieter das Gesicht eines Mannes, das ihm seltsam bekannt vorkam. Aber wie sollte das gehen, er kannte niemanden hier in dieser verdammten Stadt. Diese Kerze jedoch wirkte fast wie ein Licht der Hoffnung in dieser tristen Gegend. Eine unerwartete Wärme erfasste Dieter und breitete sich in ihm aus.
"Was stehen Sie hier im Dunkeln herum?", fegte eine aggressive Stimme wie aus dem Nichts durch seinen Gehörgang und erchreckte ihn fast zu Tode. Instinktiv griff Dieter sich an die Brust und wirbelte herum. Ein Mann mit Glatze und langem Bart starrte ihn durchdringend an. Sein Blick war so eisig, dass es Dieter fröstelte und er seinen Mantel enger schnallte.
"Ich wüsste nicht, was Sie das anginge?", konterte er. Der Kerl mit der Glatze baute sich drohend vor ihm auf.
"Das hier ist mein Block und deshalb geht es mich sehr wohl etwas an!", knurrte er beängstigend. Dieter fragte sich, wo er da nur hingeraten war. Alles ihn ihm wollte nur noch weg von hier. Sein Herz begann zu rasen, das Adrenalin schoss nur so durch seinen angespannten Körper. Doch dann zog eine unsichtbare Macht seine Augen zurück zur Kerze der Hoffnung, seiner Hoffnung. Der selbsternannte Blockwart packte ihn und drehte seinen Arm nach hinten. "Du wirst jetzt von hier verschwinden, oder ich breche dir den Arm, Opa", zischte er drohend hinter Dieter. Es knackte schmerzhaft und ein lauter Schrei brach die Stille. Hatte er ihn gerade allen Ernstes Opa genannt? Der Kerl war selbst nicht viel jünger als er. Unverschämtheit! Aber Dieter musste zugeben, dass er offensichtlich stärker war, denn er konnte sich partout nicht aus dessen fiesem Griff befreien. Plötzlich hörte er ein lautes Knarren. Die Haustür öffnete sich und es erschien der Mann, der die Kerze ins Fenster gestellt hatte. Der Glatzkopf ließ Dieter augenblicklich los und starrte auf den Fremden.
"Siggi, Siggi, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du aufhören sollst, hier den Viertelsheriff zu mimen", sagte der Kerl in der Tür und ging langsam auf die beiden zu.
"Hör zu, Jack, du weißt, was hier vor einigen Monaten passiert ist und dass die Bewohner in unserem Viertel seitdem in Angst leben."
Jack? Hatte er ihn Jack genannt? Dieser Typ mit den grauen, nach hinten gegelten Haaren sollte Jack sein? Sein Halbbruder? Kam er ihm deshalb vorhin so bekannt vor, als er sein Gesicht kurz im Fenster gesehen hatte? Dieter starrte ihn nur wortlos an. Eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem Vater ließ sich nicht leugnen, Dieter selbst war ein Ebenbild seiner Mutter. Er hatte ihre weichen Züge und die warmen, braunen Augen geerbt.
"Du bist also Jack?", fand Dieter seine Stimme endlich wieder.
"Wer will das wissen?", fragte der Glatzkopf.
"Halt dich da raus, Siggi!", herrschte Jack ihn erneut an, "verpiss dich endlich zurück in dein Drecksloch auf der anderen Straßenseite!" Der höchst unsympathische Glatzkopf zog eingeschüchtert von dannen. Endlich. Erleichtert sah Dieter ihm nach und rieb sich den Arm. Jack und er standen sich gegenüber wie zwei Feinde. Argwöhnisch betrachteten sie einander. Obwohl sie doch das gleiche Blut in sich trugen. "Ich bin Dieter Brand, dein Halbbruder."
Schallendes Gelächter durchbrach die Stille, die sich wieder über den Wohnblock gelegt hatte. Jack hielt sich den Bauch vor Lachen. "Ja sicher und die Erde ist ne Scheibe!", rief er atemlos. Dann kramte er eine Schachtel Kippen hervor, zündete sich eine an und sah Dieter eindringlich an. "Da kann ja jeder kommen und so eine Scheisse behaupten."
"Ich bin aber nicht Jeder. Unser Vater, Herbert Brand, ist vor einigen Jahren gestorben. Und da du mein letzter, lebender Verwandter bist, habe ich mich auf den Weg nach Berlin gemacht", erklärte Dieter seinem ungläubigen Gegenüber. Dieser nahm einen tiefen Zug seiner Gitanes und stieß ihm provokant den Rauch ins Gesicht. Dieter, der Nichtraucher war, fing an zu husten. Erneut lachte Jack. "Was bist denn du für ein Weichei?"
Dieter begann zu frösteln, in dieser Stadt war es verdammt kalt. Augenblicklich wünschte er sich in den warmen Zug zurück. Er zückte sein Handy. Es war aussichtslos. Sein Halbbruder war offenbar ein Arschloch. "Was wird das, wenn es fertig ist? Was hast du vor? Willst du etwa die Bullen rufen?"
Dieter blickte ihn verwirrt an und fragte sich, was bloß mit diesem Typen nicht stimmte.
"Ich ruf mir jetzt ein Taxi und fahre zurück zum Bahnhof. Es war ein Fehler, hierher zu kommen."
Als er sich zu seiner Reisetasche drehte, fiel sein Blick erneut in das einzig erleuchtete Fenster. Die Kerze brannte ungewöhnlich hell und schien ihn zu wärmen. 60 Jahre hatte Dieter jetzt auf dem Buckel, aber so etwas wie heute Abend war ihm bisher noch nicht passiert. Er wohnte in München in einer normalen Gegend, wo keine selbsternannten Blockwarts ihr Unwesen trieben und die Straßen nachts einigermaßen sicher waren. Zur Weihnachtszeit war es dort immer besonders schön, was ihm erst in diesem Moment so richtig auffiel. Bis auf diese magische Kerze war in dieser düsteren Berliner Straße gar nichts weihnachtlich. Plötzlich vermisste er sein München.
"Beweise es, alter Mann!" Fast schon hatte er seinen Halbbruder vergessen. Er griff in seine Tasche und kramte seinen Ausweis und einige Dokumente hervor. Jack hingegen beförderte eine Lesebrille aus dem Innern seiner Lederjacke und studierte alles genauestens. Dieter fand, dass die moderne Brille ihn einen Ticken sympathischer aussehen ließ, als er war. Jack gab ihm die Unterlagen zurück und schaute sich dann um. Niemand war zu sehen und er griff nach Dieters Arm, zog ihn in den Hausflur und schloss hinter ihnen die schwere Eisentür. Wortlos ging Jack mit Dieter in die 1. Etage. Dort schloss sein Halbbruder eine Wohnungstür auf und schob Dieter ins Innere. Bereits in der Diele erlebte seine Nase ein Fest der Sinne. Verschiedene Düfte schlugen ihm entgegen. Er hörte jemanden in der Küche hantieren und roch frisch gebackene Kekse. Wie auf Kommando begann sein Magen laut zu knurren. Alles hatte Dieter erwartet, aber nicht das. Es duftete nach herrlichem Braten, nach Mandarinen, Zimt und Anis. "Hast du Hunger?", fragte Jack und seine Stimme klang viel freundlicher als noch vor ein paar Minuten. Er führte ihn ins Wohnzimmer, welches weihnachtlich geschmückt war. Von außen sah man nur die magische Kerze, die Jack vorhin ins Fenster gestellt hatte.
"Wen hast du uns denn da mitgebracht?", fragte unvermittelt eine weiche Frauenstimme. Dieter fuhr herum und sah in ein blaues Augenpaar, das ihn neugierig anblickte. "Allem Anschein nach ist das mein Halbbruder. Dieter", stellte Jack ihn vor. Aber der hörte ihn gar nicht, denn er hatte sich soeben schockverliebt in die rundliche Frau mit den blauen Augen und den blond gefärbten Locken, die ihr weich über die Schulter fielen und sie wie einen Engel aussehen ließen. Sie reichte ihm die Hand und lächelte. "Ich bin Elvira", stellte sie sich vor. Doch Dieter sagte kein Wort, starrte sie nur an. Jack räusperte sich lautstark.
"Legst du noch ein Gedeck auf für unseren unerwarteten Gast, Liebes?" Elvira nickte und ging zurück in die Küche. Jetzt kam wieder Leben in Dieter. Was war nur los mit ihm, er kannte diese Frau doch gar nicht. Zudem war sie mit seinem Halbbruder verheiratet und er benahm sich hier wie ein dummer Teenager. Plötzlich schämte er sich und wollte gehen. Elvira war quasi seine Schwägerin. Und Jack? Seit sie beide die Wohnung betreten hatten, war er zu einem anderen, einem netten Menschen geworden.
"Setz dich hin und iss mit uns", sagte Jack, als wäre nichts gewesen. Als hätte er nicht gerade seine Frau mit den Augen verschlungen. Verwundert blickte Dieter seinen Halbbruder an, setzte sich aber dennoch an den Tisch. Er konnte gar nicht anders und als Elvira mit den ersten zwei Tellern zurück kam, strahlten seine müden Augen sie an. Und das Blau in ihren schien mit einem Mal intensiver zu werden, während sie ihm ein warmes Lächeln schenkte und eine Portion Braten mit Pürrè und Erbsen vor ihn stellte. Es duftete herrlich und Dieter begann sofort zu essen, als alle drei ihren Teller vor sich hatten. Nach diesem vorzüglichen Mahl zauberte Jack eine Flasche guten Whiskey hervor und schenkte ihm und sich selbst jeweils einen ein. Elvira zog ein Glas Rotwein vor. Jack hob seines empor: "Auf Dieter, meinen lang vermissten Halbbruder!" und die drei ließen die Gläser klirren. Es wurde ein feuchtfröhlicher und sehr gesprächiger Abend, den Dieter sich bei der ersten Begegnung mit Jack so niemals hätte träumen lassen. Es war spät geworden und er zückte erneut sein Handy, um nun wirklich ein Taxi zu rufen, das ihn in die kleine Pension bringen sollte, in der er ein Zimmer für die Nacht gebucht hatte. Die Verabschiedung der Halbbrüder verlief sehr herzlich und Dieter versprach, am nächsten Tag noch mal zu Kuchen und Kaffee zu kommen, bevor er den Heimweg antreten würde. Es hatte angefangen zu schneien und Dieter beeilte sich, samt Reisetasche ins Innere des Wagens zu kommen. Der Fahrer wollte gerade losfahren, als es an die Scheibe neben Dieter klopfte. War das ein Engel, der ihn da so verführerisch anlächelte? Das blonde Haar war voller Schneeflocken, die im Schein einer Laterne vor dem Haus glitzerten. Er öffnete die Tür, als er erkannte, dass es Elvira war, die da draußen im Schnee stand. Flink stieg sie zu ihm in den Wagen und bedeutete dem Fahrer, die beiden zur Pension zu bringen. Wortlos blickte Dieter sie an. Was tat sie denn da? Sie konnte doch nicht einfach mit ihm mitkommen und Jack allein lassen. Doch seine Verliebtheit vernebelte seine Sinne und so ließ er es geschehen, dass Elvira ihn stürmisch küsste, nachdem sie in seiner Unterkunft angekommen waren. Seit Dieter vor fünf Jahren Witwer geworden war, hatte er keine Frau mehr richtig angesehen, geschweige denn angerührt. Aber als er Elvira in Jacks Wohnzimmer erblickte, war es sofort um ihn geschehen. Er konnte sich einfach nicht dagegen wehren. Diese blonde Schönheit konnte unglaublich gut küssen und schmeckte nach dem süffigen Rotwein. Als sie anfing, sich auszuziehen, spürte er eine Wärme im ganzen Körper. Zu lange hatte er keine nackte Frau mehr gesehen. Elviras Körper war sehr weiblich und ihr üppiger Busen sprang ihm sofort ins Auge. Sein totgeglaubtes bestes Stück erwachte zu neuem Leben und so verbrachten die beiden eine leidenschaftliche Liebesnacht miteinander. Aber am nächsten Morgen erwachte abermals das schlechte Gewissen in Dieter. Zudem war die andere Betthälfte leer, als er eine Hand nach Elvira ausstreckte. Ihre Seite war noch warm, aber leer. Er stand auf, duschte ausgiebig und fragte sich, wie er den beiden gleich gegenüber treten sollte. Vielleicht war es besser, direkt abzureisen. Lieber ein Ende mit Schrecken. Doch den Gedanken verwarf er wieder. Das wollte und konnte er seinem Halbbruder nicht antun, das hatte Jack nicht verdient. Außerdem fand er im Bad eine Nachricht von Elvira. "Bis nachher", hatte sie mit seiner Zahnpasta an den Spiegel geschrieben. Sein Herz machte einen Freudentanz in seiner Brust. So beschloss er, sich dem Nachmittag zu stellen und freute sich sogar auf Kaffee und Kuchen mit beiden. Gegen 14 Uhr schlug er bei Jack und Elvira auf. Sie erwarteten ihn bereits, denn der Tisch war schon gedeckt und der Kaffee duftete verlockend. Genau wie sein blonder Engel. Unwillkürlich nahmen Schuldgefühle Besitz von Dieter. Er schämte sich über alle Maßen. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Was hatte er getan? Als Elvira ihn anstrahlte, fühlte er sich ganz schlecht und starrte auf den Boden. Sie reagierte gekränkt, verstand sein Verhalten nicht.
"Was ist hier los?", knurrte Jack und sah Dieter ernst an. Der scharrte mit den Füßen und vermied den Blickkontakt mit seinem Halbbruder. "Ich...ich...habe Mist gebaut...das war ein Fehler heute Nacht...", stammelte Dieter und lächelte schief. "Mist gebaut?", erboste sich nun Elvira und Tränen traten in ihre schönen blauen Augen. "Was hast du angestellt?" Der Jack vom Vorabend war zurückgekehrt. Er war aufgestanden und packte Dieter am Kragen seines Hemdes. "Ich warne dich, Freundchen! Wenn du meiner Vermieterin und zudem besten Freundin das Herz gebrochen hast, dann schlage ich dich zu Brei!" Dieter sah zwischen den beiden hin und her. Jetzt war er komplett verwirrt. Vermieterin? Beste Freundin? Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Deshalb konnte er gestern Abend seinen Namen nicht auf dem Klingelschild finden! Er wohnte hier zur Untermiete! Erleichtert fing er an zu lachen. Er konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen. Elvira und Jack betrachteten ihn, als stünde ein Psychopath vor ihnen. Als er sich wieder beruhigt hatte, sah er liebevoll in die blauen Augen seines Engels. "Ich war sofort in dich verliebt, als ich dich gestern Abend zum ersten Mal sah, Elvira. Aber ich Depp dachte, ihr beide wärt ein Ehepaar." Jacks beste Freundin musste nun selbst lachen und wischte sich die Tränen von den Wangen.
"Ich doch auch in dich, du Idiot", sagte sie dann sanft. Das Ertönen der Klingel ließ Jack plötzlich nervös werden und ein wenig erröten. "Das will ich dir auch geraten haben, Halbbrüderchen!", knurrte er, ging zur Tür und drückte auf den Öffner.
"Erwartet ihr noch jemanden?", fragte Dieter Elvira. Sie nickte wissend und strich lächelnd über Dieters Arm.
"Setz dich schon mal hin, jetzt sind wir endlich vollzählig und können Kaffee und Kuchen genießen."
Jack kehrte mit einem Mann um die Fünfzig ins Wohnzimmer zurück. Er trug einen bunten Anzug, einen blonden Pferdeschwanz und lächelte verlegen in die Runde.
"Hallo Manni, setz dich doch bitte", sagte Elvira und schenkte allen Kaffee ein. Der Apfelkuchen duftete herrlich und es gab leckere Sahne dazu.
"Tja, Dieter", sagte Jack nun, "wie du siehst, bin ich schwul. Manni und ich sind seit einem Jahr zusammen."
Dieter musste hart schlucken, er war ein wenig homophob, wie man so schön sagte. Es gab einige Männer, die ihn in München in einer Bar angemacht hatten und seitdem fühlte er sich in Gegenwart von Schwulen komisch. Elvira spürte seine Unsicherheit und legte beruhigend eine Hand auf seinen Arm. Ein Blick in ihre Augen und er fühlte sich augenblicklich besser. Dieter wollte sich für seinen neugewonnen Bruder freuen, er wollte es von Herzen. War er doch selbst voll mit Glück seit gestern Abend. Eine lang vermisste Wärme erfasste ihn. Er reichte Manni die Hand, die dieser sofort ergriff und ihn nun offen anlächelte. "Ich bin Dieter, der Halbbruder von Jack."
Sein Aufenthalt in Berlin dauerte länger als geplant. Elvira und Jack luden ihn ein, Weihnachten mit ihnen und Manni zu verbringen. Dieter musste nicht lange überlegen und stimmte zu. Er hatte sich ohnehin zwei Wochen Urlaub genommen und genug Zeit. Sie besuchten alle zusammen den hiesigen Weihnachtsmarkt und Dieter und Elvira machten romantische Spaziergänge im Schnee. Für Dieter war es fast wie ein Märchen. Sein kleines Weihnachtsmärchen. Und es wurde sogar eines mit Happy End. Denn sein Engel zog alsbald zu ihm nach München, seine Wohnung war groß genug. Manni zog dafür bei Jack ein und alle waren sehr glücklich. Sich gegenseitig zu besuchen war Ehrensache.
ENDE
Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Cover: free pic pixabay
Tag der Veröffentlichung: 31.12.2023
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Mein Beitrag zum anonymen Wettbewerb in der Anthologie-Gruppe im Dezember 2023