Cover

Stummer Tanz im Schnee

Sören Swenson war ein hohes Tier und überall gern gesehen. Mitte 30, großgewachsen, muskulös, akkurat geschnittene, dunkle Haare und azurblaue Augen. Letztere waren nicht sein Verdienst, sie waren ihm bei der Geburt geschenkt worden. Dennoch reichte ein Blick von ihm aus, um Menschen dahinschmelzen zu lassen. Aber er ließ niemanden nah genug an sich heran, um die wirkliche Stimmung, die in seiner Seele tobte, in seinen Augen lesen zu können. Er war kein Kind von Traurigkeit, aber dennoch oft einsam. Die schönsten Frauen scharten sich um ihn, aber seine innere Leere vermochte keine von ihnen auszufüllen. Er war ein Mann von Rang, dessen Name fast jeder im Lande kannte. Aber auch seine Bekanntheit konnte keine Wärme in sein Inneres zaubern, konnte ihn nicht wirklich glücklich machen. 

An einem Winternachmittag im November, der Schnee fiel unaufhörlich und er wollte sich am liebsten in seinem warmen Bett verkriechen, erreichte ihn ein Anruf. Erst beim dritten Versuch des Störenfriedes nahm er mürrisch das Telefonat entgegen. Sein persönlicher Assistent, Ludger Dannemann, erinnerte ihn an einen wichtigen Termin an diesem Abend. Sören Swenson fluchte ungeniert und machte Ludger zur Schnecke, weil er ihn viel zu spät an diesen Termin erinnert hatte.

"Herr Swenson, wenn Sie Ihren Terminplaner durchsehen, werden Sie einen Eintrag für die Spendengala heute Abend um 18 Uhr finden", sagte dieser unbekümmert. Er war die Launen seines Chefs gewohnt und mittlerweile abgehärtet. Sören Swenson schaute auf die Uhr.

"Das bedeutet, ich habe noch 2 Stunden, um vor Ort zu sein? Bin ich ein Zauberer oder was denken Sie, Ludger?", kam genervt zurück. "Außerdem, haben Sie mal rausgeschaut? Es schneit unaufhörlich!"

Das zog jedoch bei Ludger Dannemann nicht. Er räusperte sich und sagte in ruhigem Ton: "Herr Swenson, Sie haben einen Chaffeur und ihr Rolls Royce Phantom verfügt bereits über Schneeketten. Sie müssen sich also lediglich von Marisa herrichten lassen und in ihr warmes Auto steigen." 

Dagegen kam er nicht an. Marisa, die seit vielen Jahren bei ihm arbeitete, war ein Allround-Talent. Sie schmiss nicht nur den Haushalt und kochte wie eine Meisterin. Nein, sie war auch seine persönliche Visagistin und machte aus ihm zu allen anstehenden Terminen einen atemberaubenden, attraktiven Mann. Aber sie tat das gern, aus vollstem Herzen. Sie mochte Sören Swenson und wurde für ihre Arbeit bei ihm fürstlich entlohnt. Den größten Teil ihres Gehaltes schickte sie nach Mexico zu ihrer Familie, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Sie selbst wohnte mit Mann und Kind schon lange hier in Schweden und hatte auch hier erfolgreich ihre Ausbildung zur Visagistin absolviert. Und sie hatte diesen Beruf so lange ausgeübt, bis sie eines Tages auf Sören Swenson getroffen war und er sie quasi vom Fleck weg bei sich eingestellt hatte. Bereits eine Stunde später steckte er in einem schwarzen Seidenanzug und dazu passendem Schuhwerk, hatte top gestylte Haare und war frisch rasiert. Der weiße Kashmir-Schal, den er aufgrund der Kälte um den Hals trug, bildete einen schönen Kontrast zum Schwarz. Den dunklen Wildledermantel legte er über seinen rechten Arm, da er ihn in dem bereits vorgewärmten Rolls Royce nicht benötigen würde. Aber er musste noch ein Stück zu Fuß gehen, um die große Konzerthalle zu erreichen, in der diese Wohltätigkeitsveranstaltung stattfand. Es war 17:30 Uhr, als sein Chaffeur ihn dort absetzte und sich danach wieder ins Auto begab, um dort auf ihn zu warten. Sören Swenson wollte den Weg alleine beschreiten und seinen Gedanken nachhängen. Dieser Teil der Stadt war wie ausgestorben. Wahrscheinlich fand sich fast jede Menschenseele auf der wichtigen Gala ein. Mit dem Gesicht gen Boden, um sich vor dem Schnee zu schützen, ging er den Fußweg entlang. Plötzlich stieß er gegen ein Hindernis und wollte schon schimpfen. Aber dann sah er, dass er mit einer jungen Frau kollidiert war und verstummte. Sie war in einen warmen Mantel gepackt und nur einige ihrer blonden Strähnen lugten aus der Kapuze hervor, die sie über ihren Kopf gezogen hatte. "Es...tut mir...leid?", stammelte er fragend in ihre Richtung. Die junge Frau sah ihn nur wortlos an. Ihre Augen waren ebenso blau wie seine, nur dass er glaubte, den Himmel darin erkennen zu können. Noch nie in seinem Leben hatte er in solche Augen geblickt. Er konnte sich kaum von diesem beeindruckenden Blau lösen. "Hallo, schöne Frau", säuselte er in seiner gewohnt charmanten Art, mit der er fast Jede um den Finger wickeln konnte, nachdem er sich wieder etwas gefangen hatte. Doch die junge Frau sah ihn nur wortlos an. Sie verzog keine Miene. "Wohin des Weges?", fragte er lächelnd. Doch er bekam keine Antwort. Plötzlich schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht, aber es galt nicht ihm. Sie sah an ihm vorbei und kurz später wusste er auch, warum. Ein ebenfalls blonder, junger Mann erschien auf der Bildfläche und umarmte die junge Frau herzlich. Sören Swenson knurrte missmutig, stellte den Kragen seines Mantels hoch und stapfte davon. Ein paar Minuten später empfing ihn lautes Menschengemurmel und heimelige Wärme, als er durch den Eingang die Konzerthalle betrat. Er drückte einem Mitarbeiter seinen teuren Mantel in die Hand und wurde auch schon von der Presse belagert. Die Spendengala würde bald beginnen und da er sich noch ein wenig vorbereiten wollte, schickte er die Berichterstatter zum Teufel. Seine Laune war fast am Tiefpunkt, was wohl auch daran lag, dass die blonde Schönheit ihm nicht sofort zu Füßen gelegen hatte. Im Gegenteil hatte schon ein anderer Mann ihr Herz erobert. Sören Swenson schob Frust und so betrat er eine Viertelstunde später mit verkniffenem Gesicht die Bühne, um die Gesellschaft zu begrüßen und die Spendenaktion einzuleiten. Die junge Frau mit den wunderschönen, blauen Augen saß in der ersten Reihe, ihn traf fast der Schlag! Sie trug ein atemberaubendes Kleid. Das verführerische Rot raubte ihm zudem seine Sinne und brachte ihn zum Stottern. Ihr Anblick erregte ihn und er hatte Mühe, diese zu verstecken. Er wollte sie! Er wollte sie, wie er noch keine andere vor ihr wollte! Doch dann bemerkte er, dass ihre Hand in der des blonden Mannes ruhte, der direkt neben ihr saß. Unwillkürlich kehrten seine Sinne zurück, er zwang sich zur Klarheit im Kopf. Plötzlich zeigte das Gesicht der jungen Frau doch eine Regung: Verwunderung. Offenbar wusste sie nicht, wer ihr da im Schneegestöber begegnet war. Oder sie hatte ihn ganz einfach wiedererkannt. Und dann lächelte sie. Sören konnte es kaum glauben! Sie hatte ihn tatsächlich angelächelt. Augenblicklich strömte eine ungekannte Wärme durch seinen angespannten Körper und er entspannte sich völlig unerwartet. Zu solchen Anlässen war er immer etwas nervös. Die heutige Veranstaltung galt Menschen, die gehörlos und/oder stumm geboren wurden oder es aus irgendwelchen Gründen im Laufe ihres Lebens geworden waren. Aus diesem Grund stand wenige Meter neben ihm ein junger Mann, der Sörens Worte in Gebärdensprache übersetzte. Es wurde viel gelacht an diesem Abend, da Sören regelmäßig von der blonden Schönheit abgelenkt war und merkwürdige Dinge sagte. Zu seinem Leidwesen gebärdete der junge Mann auch seine sprachlichen Ausfälle. Doch irgendwann war Sören an einem Punkt, an dem er selbst mitlachte. Das fühlte sich derart befreiend an, endlich wieder einmal über sich selbst lachen zu können. Alles in Allem war es ein äußerst erfolgreicher Abend, die Summe der Spenden konnte sich sehen lassen. Und die Stiftung, in die das Geld fließen würde, konnte sich sehr freuen. Sören Swenson hatte seine Sache gut gemacht, wie immer. Am Ende des Abend allerdings kehrte seine innere Leere zurück. Und das nicht nur, weil die blonde Frau aus der ersten Reihe verschwunden war. Er holte seinen Mantel, gab noch brav ein Interview und trat in die kalte Winterluft. Es war eine klare Sternennacht zu erwarten und Sören blickte gen Himmel. Er seufzte. Dann atmete er tief die klare, saubere Luft in seine Lungen. Edward, sein Chaffeur, wartete sicher schon auf ihn und so beeilte er sich, zu seinem Auto zu kommen. Obwohl er lieber noch seinen Gedanken nachhängen und den Schnee genießen würde, der sein Gesicht kitzelte. Schon von weitem sah er sie. Ihr blondes Haar wehte im leichten Wind und leuchtete wie eine Sternschnuppe. Langsam fragte er sich, was denn mit ihm los war. Wurde er auf seine alten Tage etwa romantisch? Oder wurde er gar senil? Hatte diese Frau ihn verzaubert? Was geschah mit ihm? Als sie sich zu ihm umdrehte und ihm in die Augen blickte, war es um ihn geschehen. Tausend Blitze zuckten durch seinen Körper, er hörte verfrühte Weihnachtsglocken und aberwitzige Schmetterlinge tanzten wild in seinem Bauch. Sprachlos starrte er sie an und sie lachte. Lachte sie ihn etwa aus? Bis zum heutigen Abend wurde er noch niemals ausgelacht. "Wo ist Ihr Begleiter?", fragte er sie. Statt einer Antwort breitete sie ihre Arme aus und deutete ihm, mit ihr zu tanzen. "Wie jetzt?", fragte er perplex, "so ganz ohne Musik?" Das erschien ihm irgendwie lächerlich. Gleichzeitig faszinierte ihn der Gedanke, ihr dadurch unglaublich nah sein zu können. Ihren Körper zu spüren, ihren Duft zu erhaschen und ihr Engelshaar zwischen seinen Fingern zu fühlen. Mit klopfendem Herzen folgte er ihrer Einladung, schritt auf sie zu und schloss sie in seine Arme. Und trotz der niedrigen Temperaturen tobte in Sören bei dieser unerwarteten Nähe eine Hitze, als wäre er nackt am Strand im Sommer. Wobei, nackt wäre er gerade überaus gerne mit seiner blonden Schönheit. Es war zwar wunderschön, sie in seinen Armen zu halten, aber ihre Haut zu spüren, war sicher noch viel intensiver als dieser stumme Tanz mit ihr. Ihm fiel plötzlich ein, dass er noch niemals ihre Stimme gehört hatte. Er stellte sich vor, dass sie nicht nur aussah, wie ein Engel, sondern bestimmt auch so klang. Gegen seinen Willen schwoll sein bester Freund an.  

"Wie heißt du eigentlich?", fragte er sie deshalb zärtlich. Noch immer sagte sie nichts, stattdessen legte sie ihren Zeigefinger auf seine Lippen und deutete ihm, dass er nicht reden sollte, sondern sie lieber endlich küssen. Und das tat er dann auch. Zärtlich legte er seine Lippen auf ihre und trotz der Kälte fühlten sie sich heiß an. Die beiden versanken in einen leidenschaftlichen Kuss und seine stumme Partnerin schmeckte weihnachtlich nach Zimt, Apfel und Vanille. Einer Eingebung folgend nahm er sie an die Hand und führte sie zu seinem Rolls Royce, in dem Edward schon lange auf ihn wartete. Erstaunt blickte er das verschneite Paar an, sagte aber kein Wort. Er tat wie ihm geheißen und fuhr die beiden zu Sören Swensons Anwesen und machte Feierabend. Mit großen Augen musterte die junge Frau das Innere von Sörens Anwesen. Aber all der Luxus beeindruckte sie offensichtlich nicht im Geringsten. Das machte sie für Sören Swenson nur noch unwiderstehlicher. 

"Sagst du mir jetzt endlich deinen Namen?", startete er einen neuen Versuch und versank erneut im Blau ihrer Augen. Sie lächelte, ging zum Schreibtisch, nahm sich Stift und Papier und schrieb etwas auf.  Dann gab sie den Zettel dem verblüfften Sören. Dem fiel es endlich wie Schuppen von den Augen. Sein blonder Engel war taubstumm! Mit einem Mal kam er sich absolut dämlich vor. Dass er daran überhaupt nicht gedacht hatte, obwohl sie doch Teil der Veranstaltung gewesen war und zudem in der ersten Reihe gesessen hatte. Sein Körper verkrampfte sich augenblicklich, er war damit heillos überfordert. Er konnte weder mit ihr sprechen, noch sie ihn hören! Das haute ihn um und er fiel wie ein nasser Sack auf seine Ledercouch. Wieder und wieder sah er auf den Zettel, auf dem sie 'Ich heiße Lara und der hübsche Mann neben mir bei der Veranstaltung ist mein Bruder' geschrieben hatte. Zwar war ihm ein Stein vom Herzen gefallen, dass sie offenbar doch Single war, aber er war die ganze Zeit davon ausgegangen, dass ihn einfach nur die Lust gepackt hatte. Die Winterlust sozusagen! Doch so, wie sein Körper auf sie reagierte, steckte eindeutig mehr dahinter. Aber er konnte keine Beziehung mit ihr anfangen. Das wäre nicht auf Augenhöhe und das war ihm enorm wichtig. Was sollte er tun? Sören Swenson war zum ersten Mal in seinem Leben ratlos. Während seiner Gedanken schlich sich Lara zu ihm und legte ihre Arme um seinen Hals. Tief blickte sie ihm in die Augen und wieder hatte er das Gefühl, als könne er darin den Himmel sehen. Sie war trotz ihrer Einschränkung so positiv, so unbekümmert und voller Lebensfreude. Ganz im Gegensatz zu Sören, der gerade mit seinen inneren Dämonen zu kämpfen hatte. Könnte er mit jemandem zusammensein, der ihm nichts erzählen konnte? Der ihm nicht zuhören konnte im eigentlichen Sinne? Mit dem er keine Filme anschauen oder ins Konzert gehen konnte? Seine Gedanken fuhren Achterbahn in seinem Kopf. Auf der anderen Seite hatte Lara ihm allein in den letzten Stunden eine nie gekannte Wärme gegeben und seine Seele berührt. Das war bisher nur einer Person in seinem Leben gelungen: Seiner Mutter. Leider war sie vor einigen Jahren an Krebs gestorben und Sören hatte seine einzige, echte Bezugsperson verloren. Er hatte sich um sie gekümmert, bis zum bitteren Ende. Irgendwie war er danach in ein tiefes Loch gefallen und nie wieder herausgekommen. Erst dieser blonde Engel auf seinem Schoß hatte Licht ins Dunkel gebracht und sein Herz erwärmt. Nicht nur sein Herz, wie er gerade feststellte, als sie anfing, ihn seines Hemdes zu entledigen. Das Feuer der Leidenschaft hatte ihn erneut fest im Griff. Langsam öffnete Lara jeden Knopf und verband dies jedesmal mit einem zarten Kuss auf seinen Oberkörper. Sören erschauerte und ein erregtes Stöhnen entwich seiner Kehle. Dann sah Lara ihn plötzlich ernst an. "Was ist los?", fragte er irritiert. Sie gab ihm zu verstehen, dass es ihr nicht nur um Sex mit ihm ging. Sie legte eine Hand auf ihren Brustkorb und formte dann mit beiden Händen ein Herz. Sören verstand sofort und glaubte ihr nicht nur, er vertraute ihr auch, dass sie es so meinte. Sie war keine dieser Frauen, denen nicht er als Mensch wichtig war, sondern sein Status. Er war sich sicher, dass sein zum Teil skandalöses Dasein endlich ein Ende hatte. Denn nun war Lara in sein Leben getreten. Und wie er gerade deutlich bemerkt hatte, verstanden sie sich auch ohne Worte. Glücklich formte nun auch Sören ein Herz mit seinen Händen. Er verzehrte sich so sehr nach Lara, dass er seine Bedenken von vorhin über Bord warf. Zumindest war er mehr als bereit, einer Beziehung mit Lara eine Chance zu geben. Übermütig und lachend zog er sie in seine Arme und küsste sie. Und sie ließ es glücklich geschehen.    

Impressum

Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Cover: free pic from pixabay
Tag der Veröffentlichung: 05.11.2023

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Beitrag zum Erotikwettbewerb im November 2023

Nächste Seite
Seite 1 /