"Mami, ich habe Bauchweh", klagt der achtjährige Bastian und verzieht das Gesicht.
"Schon wieder?", fragt seine Mutter Eva besorgt. Sie kennt ihren Jungen gut genug und weiß genau, wann er lügt und wann nicht. Heute ist sie noch nicht ganz sicher.
"Ja", heult er, "ich kann morgen nicht mit zu dem Ausflug..."
'Aha, es geht also um den Ausflug ins Naturkunde-Museum", denkt Eva im Stillen. Das verwundert sie dann doch etwas, da ihr Sohn, der die zweite Klasse besucht, ein großer Anhänger der Natur ist. Jede freie Minute nutzt er, um draußen alles zu erkunden. Und dabei ist es egal, ob es um Regenwürmer, Ameisen, Pflanzen, Bäume oder Steine geht. Bastian ist einfach an allem total interessiert und Eva erfüllt dies mit Stolz. Ihr Mann hingegen, Bastis Vater Dominik, macht sich gern darüber lustig, wenn ihr gemeinsamer Sohn einen fetten Regenwurm mit nach Hause bringt und ihn als coole Entdeckung vorstellt. Zum großen Leidwesen Evas. Am allerliebsten aber läßt Basti seinen geliebten Drachen Axus in die Lüfte steigen. Deswegen kann er den beginnenden Herbst und den Wind kaum abwarten. Einmal hat Dominik ihn dabei begeleitet und ihm gezeigt, wie er Axus führen muss und das hat Basti nie vergessen. Noch heute redet er oft davon und Eva bekommt jedes Mal einen Stich ins Herz. Seit einiger Zeit ist Dominik ständig woanders mit seinen Gedanken und sitzt beim gemeinsamen Abendessen abwesend am Tisch. Er arbeitet seit einigen Monaten als Lehrer an Bastis Schule und das macht es für den Jungen nicht einfacher. Manchmal wird er deswegen gemobbt. Auch darum kümmert sich sein Vater nicht, meist bleibt alles an Eva hängen. Sogar eine Paartherapie hat sie ihrem Mann vorgeschlagen, doch er will davon nichts wissen. Sie würden das schon selbst wieder hinbekommen, meint er und findet, dass ihre Ehe völlig in Ordnung sei. Dass Eva total unglücklich ist, scheint ihm gar nicht aufzufallen. Und auch sein Sohn ist alles andere als ein zufriedenes Kind. Kurz, nachdem er die Stelle an Bastis Schule angetreten hatte, ist alles anders geworden. Wenn Eva genau darüber nachdenkt, fällt ihr auf, dass auch erst seitdem Bastis merkwürdige Bauchschmerzen angefangen haben. Auch hat ihr Sohn an Gewicht verloren, was sie sehr besorgt und weshalb sie schon einen Termin beim Kinderarzt vereinbart hat.
"Mami?", holt ihr Sohn sie zurück ins Hier und Jetzt. "Ich will nicht mit zum Ausflug..."
"Warum denn nicht, Basti? Du liebst doch die Natur und alles, was damit zusammenhängt", fragt sie mit sanfter Stimme.
"Ja, das stimmt Mama, aber ich mag die neue Frau nicht, die ständig in der Schule rumhängt!"
Eva horcht auf. "Was ist das für eine Frau? Eine neue Lehrerin?"
Ihr Sohn schüttelt den Kopf. Die kümmert sich in unserer Klasse um manche Kinder und hilft denen bei Aufgaben, die die nicht verstehen oder so ähnlich. Und die kommt mit auf diesen Ausflug! Die nervt!"
Eva lacht herzlich. "Ach so, du meinst eine Schulbegleiterin für die Kinder, die ein wenig Unterstützung brauchen."
Dann schaut sie Bastian ernst an: "Und warum magst du sie nicht?"
"Die ist doof!", nölt er nur und verschränkt die Arme vor der Brust. Nun wird sie nichts mehr aus ihrem Sohn herausbekommen, weiß Eva. Sie muss leider bis zum frühen Abend warten, bis ihr Gatte zum Abendessen heim kommt. Basti hat wieder einmal keinen Appetit und ist oben in seinem Zimmer. Dominiks Gesicht verändert seine Farbe, als Eva mit ihrer Frage nach der neuen Frau in der Grundschule an ihren Mann herantritt. Ein ungutes Gefühl beschleicht sie plötzlich, aber sie kann es nicht einordnen. Sie will erst einmal einfach nur wissen, was ihren Sohn belastet.
"Was weiß ich, was der Bengel für Probleme mit Lisa...äh, ich meine Frau Schnurre, hat. Zumal er gar nichts mit ihr zu tun hat, weil er einer der Schlauen in der Klasse ist."
Das beruhigt Eva nun nicht wirklich. Im Gegenteil.
"Bist du mit der Dame etwa per Du?", fragt sie perplex.
Er räuspert sich. "Im Kollegium duzen wir uns alle. Einzig der eingebildete Direx besteht auf das Sie."
"Nun", sagt Eva und schaut ihrem Mann in die Augen, "Basti scheint ein Problem mit der Dame zu haben, wenn er sogar deswegen freiwillig den Ausflug morgen verpassen will."
Dominik legt seine Gabel geräuschvoll auf dem Teller ab. "Du siehst Gespenster, Eva! Wie immer machst du aus einer Mücke einen Elefanten!"
Eva wird traurig und wütend zugleich. Auch ihr ist der Appetit nun gehörig vergangen. Wie kann er sich so wenig für seinen eigenen Sohn und dessen Befinden interessieren? Sie versteht die Welt nicht mehr und verabschiedet sich alsbald ins Bett. Am nächsten Morgen befüllt sie zusammen mit ihrem Sohn seinen Rucksack mit Obst, Wasser, leckeren Broten und seinen Lieblingskeksen. Die Neugier von Basti auf das Museum ist nun scheinbar doch größer und so nimmt er wohl billigend die Anwesenheit von Frau Schnurre in Kauf. "Hoffentlich ist die blöde Kuh bald wieder weg!", rutscht es ihm heraus und er hält sich erschreckt die Hand vor den Mund.
"Alles gut, mein Liebling", sagt Eva liebevoll und streichelt über seine blonden Locken, "man kann nicht jeden mögen. Das ist ganz normal. Nur sollte man andere deswegen nicht beleidigen, mein Schatz." Zerknirscht gelobt der Achtjährige Besserung.
Neben seinem Klassenlehrer Herrn Biermann, begleiten Bastians Vater und Lisa Schnurre diesen Ausflug, was allein schon für ihn eine Qual bedeutet. Da hätte er tausendmal lieber seine Mutter dabei, denn die ist viel cooler als sein Dad und bei weitem nicht so peinlich. Aber die Freude auf das Museum hat gesiegt und nun sitzt er aufgeregt im gemieteten Bus, der seine Klasse dorthin bringen wird.
"Na, genießt du die Fahrt, kleiner Mann?" Erschrocken fährt er herum. Neben ihm auf dem freien Platz sitzt die nervige Frau Schnurre und lächelt ihn schief an. Hat er denn nirgendwo Ruhe vor der? Seit er sie vor knapp zwei Monaten mit seinem Vater im Lehrerzimmer gesehen hatte, nervt sie ihn nun mit ihrem komischen Gehabe. Sie lag in den Armen seines Dads, so wie seine Mama früher und dann haben die beiden sich plötzlich geküsst und rumgeschmatzt! Basti fand das widerlich und peinlich! Schließlich war Mama seine Mutter und nicht diese....diese...Schnepfe! Er wollte damals zu seinem Vater, weil er zum wiederholten Male gemobbt und sogar geschlagen worden war. Und wieder von dem viel größeren Leon aus der Vierten!
Dann sah er die beiden im ansonsten leeren Lehrerzimmer in dieser vertrauten Situation. Er war starr vor Schreck gewesen. Das Gesehene hatte seine kleine Welt nicht nur ins Wanken gebracht, sondern total erschüttert. Er, seine Mama und sein Papa waren doch eine Einheit. Was hatte diese Lisa Schnurre plötzlich darin zu suchen?
"Hast du dich an unsere Abmachung gehalten?", stellt sie ihm schon wieder dieselbe Frage wie immer. "Ich hoffe, deine Mama weiß nichts von deinem Dad und mir? Du darfst es ihr unter keinen Umständen sagen, denn sonst fügst du ihr großen Schmerz zu, vergiss das nicht, kleiner Mann!"
Jetzt rumort es wieder im Bauch des Achtjährigen und der Schmerz legt sich wie ein schwerer Stein auf seinen Magen. Hätte er doch bloß damals nichts gesagt! Warum nur hatte er ihr erzählt, dass er die beiden gesehen hat im Lehrerzimmer? Er ist so dumm gewesen! Wieso hat er nicht einfach seine Klappe gehalten? So, wie er es jetzt die ganze Zeit bei seiner Mutter machte, um ihr nicht weh zu tun. Basti will auf keinen Fall, dass sie traurig ist. Deshalb ist er nicht ehrlich zu ihr, nur, damit sie nicht die gleichen blöden Bauchschmerzen bekommt, die er seitdem fast jeden Tag hat. Das kann er nicht riskieren, er hat sie doch ganz doll lieb. Erleichtert atmet er auf, als er feststellt, dass Lisa Schnurre sich endlich wieder verzogen hat. Dafür haut sich nun sein Herr Vater auf den Sitz neben ihn. "Na, mein Großer, bist bestimmt schon mächtig aufgeregt?", fragt er grinsend. Prompt werfen einige seiner Mitschüler ihm schon wieder komische Blicke zu, unter denen sich sein Bauchweh noch verschlimmert. In was für einen Schlammassel ist er da bloß geraten?!
"Was wollte Lisa, äh, Frau Schnurre denn von dir?"
Mist! Basti fängt an zu schwitzen, denn er weiß nicht, was er auf die Frage seines Vaters antworten soll. Die Wahrheit kann er ihm ja schlecht sagen. Oder doch? Mit einem Mal wird ihm übel. In seinem Hirn fahren die Gedanken so sehr Achterbahn, dass ihm schwindelig wird. Plötzlich verdreht er die Augen, fängt an zu zucken und wird in den Armen seines Vaters ohnmächtig.
Als der Achtjährige wieder zu sich kommt, liegt er in einem weißen Zimmer in einem ebensolch weißen Bett und erschrickt fürchterlich. Doch dann sieht er das vertraute, aber angstvolle Gesicht seiner Mutter. Neben ihr sitzt sein Vater, der besorgt dreinschaut und ihre Hand festhält.
"Was ist passiert?", fragt Bastian mit dünner Stimme, als er den Tropf und den Zugang in seinem Arm bemerkt.
"Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt, mein Großer", sagt sein Vater und lächelt schuldbewusst. Seine Mutter tritt an sein Bett, drückt ihn vorsichtig und setzt sich dann zu ihm.
"In letzter Zeit hast du viel zu wenig gegessen und auch heute Morgen vor dem Start des Ausflugs hast du wieder geäußert, dass du keinen Hunger hast. Im Bus bist du dann in Papas Armen zusammengeklappt."
Sie zeigt auf die Infusion: "Der Arzt sagte, dass du ziemlich unterzuckert warst und deshalb hat dir eine nette Schwester dieses flüssige Essen an deinem Arm angeschlossen."
"Du wirst jetzt quasi über dein Blut zwangsernährt", scherzt sein Vater, doch Basti ist nicht nach Lachen zumute. Er muss seiner Mama jetzt die Wahrheit sagen. Er spürt instinktiv, dass die Lügen, oder besser gesagt das Verschweigen seines Wissens, ihn erst in diese Lage gebracht haben. Und dann sprudelt alles aus dem Achtjährigen heraus. Die Beobachtung, die er gemacht hat im Lehrerzimmer und den Druck, den die Schulbegleiterin auf Bastian ausgeübt hat. Eva läuft es eiskalt den Rücken herunter bei den Worten ihres Sohnes. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, erneut nimmt sie Basti in ihre mütterlichen Arme und spendet ihm Wärme und Schutz. "Es tut mir so leid, dass du das durchmachen musstest, mein Schatz", sagt sie liebevoll und streichelt behutsam über seinen Rücken.
"Mir tut es auch leid, Basti...ich wusste nichts davon. Mir war nicht klar, dass du so leidest. Es tut mir wirklich von Herzen leid, mein Großer...", erklärt nun auch sein Vater. "Ich war solch ein Idiot!"
Eva nimmt ihren Mann an die Hand. "Du ruhst dich jetzt noch ein wenig aus, bevor wir dich gleich wieder mit nach Hause nehmen, Schatz", sagt sie an ihren Sohn gewandt, "und dein Dad und ich werden in der Zwischenzeit in der Cafeteria auch etwas Flüssignahrung zu uns nehmen, einverstanden?"
Basti nickt freudig und nimmt eins von den Zeichentrickheften, die auf dem Nachttisch neben seinem Bett liegen. Er liebt es, Comics zu lesen.
"Ja, ich gebe zu, dass ich einmal schwach geworden bin und eine Nacht mit Lisa verbracht habe. Es war ein gutes Gefühl, wieder begehrt zu werden, Eva", beichtet Dominik seiner Frau, als sie sich kurz später bei einem Kaffee in der Cafeteria der Klinik gegenüber sitzen. "Lisa muss unseren Sohn damals bemerkt und mich in dem Moment im Lehrerzimmer einfach geküsst haben. Sie wollte immer wieder an diese eine Nacht anknüpfen, aber ich habe ihre Angebote vehement abgelehnt. Das musst du mir glauben!"
Eva lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. "Ich glaube dir vorerst gar nichts mehr, mein Lieber. Denn nicht nur ich war dir plötzlich egal, sondern noch viel schlimmer...dein eigener Sohn ist dir nicht mehr wichtig gewesen! Du hast ihm nicht einmal zughört. So oft wollte er dir von seinen Problemen in der Schule erzählen. So oft wollte er mit dir Axus steigen lassen, doch du hast nie Zeit für ihn gehabt."
Zerknirscht blickt er sie an. Seine Finger verknoten sich nervös ineinander. "Was bedeutet das für uns?", fragt er betreten.
"Dass du vorerst ausziehen, dich aber dennoch um deinen Sohn kümmern wirst. Vor allem, was die schulischen Probleme angeht! Ich kann mich nämlich nicht alleine um alles kümmern, Dominik!"
Er nickt ergeben, denn er spürt, dass seine Frau Recht hat, leider. Und dass es nichts bringen würde, wenn er versuchen würde, sie zu irgendetwas zu überreden. Er war ein Idiot gewesen und hat viele Fehler gemacht. Jetzt wird er sich beweisen müssen, nicht nur vor seiner Frau, sondern inbsbesondere für seinen Sohn.
Ein halbes Jahr später: Bastian geht es wieder gut, er hat die Trennung auf Zeit seiner Eltern gut verpackt. Denn er hat verstanden, dass sie diesen Schritt gehen mussten, um wieder zueinanderfinden zu können. Natürlich hat er seinen Vater in der Zeit zuhause furchtbar vermisst, obwohl sie sich regelmäßig gesehen und auch endlich wieder tolle Dinge zusammen gemacht haben. Eva und Dominik haben eine Paartherapie begonnen und Dominik ist noch immer erstaunt, wie viel gutes eine solche bewirken kann. Diese Unterstützung haben beide dringend benötigt und mittlerweile läuft ihre Ehe besser als jemals zuvor. Ihr Mann hat Eva sogar einen Gutschein für einen Seitensprung geschenkt, hofft aber insgeheim von Herzen, dass sie ihn niemals einlösen wird.
ENDE
Texte: Alle Rechte bei der Autorin, also mir ;-)
Cover: pixabay
Tag der Veröffentlichung: 04.10.2023
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