Sie saß, wie jeden Sonntagnachmittag, auf ihrem exotischen Balkon in schwindelerregender Höhe. Auf dem Tisch vor ihr eine Kanne mit ihrem Lieblingstee, der sie wärmend durch den Herbst brachte, der heute mit einer Woche Verspätung Einzug gehalten hatte. Der Kalender zeigte den 1. Oktober an und wie aufs Stichwort löste ein heftiger Regenschauer die Sonne ab, die gestern noch ihre Haut gewärmt hatte. Doch Elena liebte diesen Monat, auch wenn es sich nicht um den berühmten goldenen Oktober handelte. Der noch von der spätsommerlichen Wärme profitieren konnte und wettertechnisch noch recht angenehm war. Auch die herbstlichen Stürme, die besondere Stimmung, die ab Oktober von ihr Besitz nahm, und die kurzen Regenschauer mochte sie. Am heutigen Sonntag jedoch goss es fast ununterbrochen Bindfäden, aber auf ihrem Balkon war sie sogar vor dem Nass geschützt. Sie schenkte sich eine Tasse der frisch aufgebrühten "Herbstliebe" ein, schlug den historischen Roman auf, den sie sich gekauft hatte und begann zu lesen. Schnell war sie in der altertümlichen Liebesgeschichte gefangen und vergaß alles um sich herum. Elena war Mitte dreißig, recht attraktiv und ungebunden. Als sehr gefragte und freie Lektorin verdiente sie genug, um gut zurecht zu kommen. Sie selbst hatte einen sogenannten Bestseller geschrieben und sich davon dieses verschrobene Häuschen mit dem exotischen Balkon gekauft. Ihr Leben verbrachte sie zurückgezogen, fern ab vom stressigen Alltag in der Stadt. Als Lektorin konnte sie überall arbeiten, auch von zuhause aus. Lediglich ihr Hund Ben leistete ihr Gesellschaft in der Abgeschiedenheit. Zudem passte er gut auf sein Frauchen auf, denn hier draußen begegnete man nicht nur Gutgesinnten. Gefangen in dem Roman, nahm sie das wilde Klingeln an ihrer Haustür zuerst gar nicht, aber dann doch eher mürrisch zur Kenntnis. Wer um Himmels Willen hatte sich an einem Sonntag in diesem Regen zu ihr verirrt? Sie erwartete niemanden. Wer also störte sie bei ihrem wöchentlichen Ritual? Widerwillig legte sie das Buch zur Seite und stieg die Wendeltreppe mit den unendlich erscheinenden Stufen nach unten. Erneut ertönte aufgeregtes Klingeln. Elena überlegte noch, ob sie die Tür überhaupt öffnen sollte, als Ben bereits bei Fuß stand und knurrte. Sich in Sicherheit wähnend öffnete sie dann die schwere Holztür und blickte auf einen klatschnassen Mann, dem der Regen von den Haaren über das Gesicht tropfte. Seinen Trenchcoat hatte er sich eng um den Körper geschnallt und schaute sie zerknirscht an.
"Es tut mir leid, dass ich Sie einfach so überfalle, aber der Regen hat mich eiskalt erwischt!", entschuldigte er sich und stellte den Kragen seines Mantels hoch. Elena sah ihn intensiv an, Ben dagegen knurrte nicht mehr, sondern wedelte mit dem Schwanz. Er hatte eine gute Menschenkenntnis und so ließ die junge Lektorin den Fremden eintreten. Er zog den völlig durchnässten Mantel aus und Elena steckte ihn in den Trockner. Als er auch seinen Pullover über den Kopf zog, entblößte sich der muskulöse, leicht behaarte Oberkörper des Fremden. Der Anblick schickte ein unerwartetes Kribbeln in Elenas Unterbauch, das sie verwirrt zur Kenntnis nahm. Etwas zu forsch riss sie ihm den weichen Pulli aus der Hand und steckte ihn ebenfalls in den Trockner. Er wird sich doch nicht auch noch seiner Hose entledigen?, dachte sie erschrocken.
"Haben Sie eventuell eine Decke oder eine Jogginghose für mich?", fragte er in ihre Gedanken und Elena atmete erleichtert auf. Ein wenig verlegen legte er die Arme um seinen nackten Oberkörper.
"Natürlich", stotterte sie nervös, ging zum Kleiderschrank und holte eine ausgebeulte Jogginghose heraus, von der sie glaubte, dass sie ihm passen könnte. Auch einen zu großen Sweater brachte sie ihm mit. "Das sind meine Lieblings-Chill-Klamotten, also gehen Sie pfleglich damit um", bat sie ihn mit einem Augenzwinkern. Dankbar lächelnd schlüpfte er in die warmen Sachen.
"Ich heiße übrigens Carsten", stellte er sich endlich vor und reichte ihr die Hand. "Elena", entgegnete sie und als ihre Hände sich berührten, durchströmte sie erneut so etwas wie ein kleiner Stromstoß und sie zuckte förmlich zusammen.
"Möchten Sie einen heißen Tee? Der wärmt herrlich von innen."
Der Fremde nickte und nahm die Tasse Herbstliebe dankbar entgegen. Sie holte ihre eigene Tasse herunter, setzte sich zu ihm auf das große Sofa und blickte ihn neugierig an: "Was verschlägt Sie in diese Gegend?".
Er sah ihr so intensiv in die blauen Augen, als würde er darin nach etwas suchen.
"Ich hatte das Gefühl, ich müsste ersticken in meiner Dachgeschosswohnung mitten in der Stadt. Also machte ich mich auf den Weg irgendwohin. Ich wollte ins Grüne, in die Abgeschiedenheit, weg vom Stress der Stadt. Dann öffnete der Himmel seine Pforten und ich war in kürzester Zeit durchnässt. Ich suchte nach Unterschlupf und stieß dabei plötzlich auf ihr interessantes Haus."
Nachdenklich blickte Elena ihn an. Sprach er die Wahrheit? Ihr Heim war so schwer zu finden, dass sogar der Postbote anfangs Schwierigkeiten hatte, wie er ihr einmal während eines Plausch gestand. Das Haus war lange Zeit unbewohnt. Und das Pärchen, das vor Elena hier gelebt hatte, war nach einigen Monaten wieder zurück in die Stadt umgesiedelt. Es war ihnen hier irgendwann schlichtweg zu ruhig geworden. Ein Glück für Elena, die sofort zugegriffen hatte, als das Angebot per Post kam. Es war die berühmte Liebe auf den ersten Blick. Sie konnte sich nicht vorstellen, jemals wieder von hier fort zu gehen.
"Ich bin froh über den Regen", sagte der Fremde plötzlich und sah Elena mit einem sehnsuchtsvollen Blick an. Sie spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen und wendete sich von seinen grünen Augen ab. "Er hat mich hierher geführt", schloss er lächelnd. Elena war alles andere als überzeugt von seinen Worten, obwohl er ihr so gut gefiel, dass sie ihm gern Glauben schenken würde. Zu ihrem Leidwesen kam es hin und wieder vor, dass sich fremde Männer hierher verirrten, angeblich. In Wahrheit waren es nervige Journalisten, die mit allen Mitteln an ein Interview mit ihr kommen wollten. Es gab noch immer Medien, die sich brennend dafür interessierten, warum Elena, alias 'die wilde Taube', nach dem riesen Erfolg eines Bestsellers kein weiteres Buch mehr schreiben wollte. Der Rummel um ihre Person war ihr einfach zu viel geworden. Aber das ging niemand etwas an und hier draußen hatte sie ihre innere Mitte wiedergefunden. Ihren Frieden. Und das sollte auch so bleiben.
"Von welchem Schmierblatt kommen Sie?", fragte Elena ihn deshalb geradeheraus. Sein Versuch, die Verlegenheit zu überspielen, misslang kläglich und die Lektorin sprang wirsch auf.
"Wann kapiert ihr endlich, dass ich meine Ruhe haben möchte? Wie respektlos oder gar hinterlistig muss man sein? Und all das nur für eine blöde Schlagzeile!?" rief sie aufgebracht. Bei dem Fremden war ihre Enttäuschung wesentlich intensiver als bei seinen zahlreichen Vorgängern. Sie war richtiggehend traurig, weil sie ihn aus irgendeinem Grund auf den ersten Blick mochte. Er hatte ihr eine neue Art von Wärme mit dem Herbst ins Haus gebracht.
"Ich verstehe Sie sehr gut, Elena. In dem Moment, als Sie mir die Tür geöffnet haben, war mir der Auftrag egal. Ich habe in Ihre Augen gesehen und wusste, dass es ein Fehler war", erklärte er mit sanfter Stimme. Sie blickte ihn intensiv an und setzte sich wieder auf die Couch. Die anderen Kerle hatten sich anders benommen als Carsten. Sie wurde unsicher. Ben spürte ihre Aufruhr und kuschelte sich zwischen die beiden aufs große Sofa. Er ließ sich sogar von Carsten streicheln. Das erstaunte Elena dann doch sehr. All die anderen Journalisten hatte er durchweg angeknurrt und dadurch sofort in die Flucht geschlagen. Ben gab ihr die fehlende Sicherheit. Konnte sie auch jetzt dem Instinkt ihres Vierbeines trauen? Carsten leerte seinen Tee und stellte die Tasse auf den Tisch. Dann sah er mit einem sanften Blick in Elenas blaue Augen.
"Ich verstehe Ihr Misstrauen durchaus. Und deshalb werde ich nun unverrichteter Dinge wieder gehen. Falls meine Klamotten schon trocken sind."
Er wollte gerade aufstehen, als sie eine Hand auf seinen Arm legte. "Deine Sachen sind noch lange nicht trocken. Das Programm dauert noch mindestens eine Stunde", zwinkerte sie und sah ihm tief in die Augen. Seine Pupillen weiteten sich, was Elena erfreut zur Kenntnis nahm. So etwas ließ sich nicht beeinflussen oder gar spielen. Sie kam zu der Erkenntnis, dass sie schon viel zu lange alleine hier lebte. Kurzerhand schickte sie Ben in sein Körbchen und rückte näher an Carsten heran. Auf dessen Stirn plötzlich kleine Schweißperlen glitzerten. Wie in einem kitschigen Film sahen die beiden sich lange und tief in die Augen, bevor ihre Lippen sich zu einem ersten Kuss fanden. Elena spürte zum Einen ihre eigene und schmeckte ebenfalls seine Sehnsucht in jedem Nerv ihrer Zunge. Ihre Körper drängten sich aneinander, als wollten sie sich nie wieder loslassen. Sie wälzten sich über die halbe Couch beim Küssen und landeten schlussendlich unsanft auf dem Boden. Elena kicherte wie ein Schulmädchen, als sie seine Erregung durch die dünne Jogginghose spürte. Die Leidenschaft packte nun auch sie und ihr wurde bewusst, wie lange sie keine körperliche Liebe mehr erlebt hatte. Vielleicht würde sich ihr sonntägliches Ritual vom Lesen einer Liebesgeschichte in eine reale umwandeln? Ein intensives Kribbeln fuhr bei diesem Gedanken durch ihren gesamten Körper. Kurzentschlossen stand sie auf und reichte Carsten die Hand. Mit einem verheißungsvollen Lächeln führte sie ihn über die endlose Wendeltreppe nach oben in ihr Schlafgemach. Das breite Bett bot genügend Platz und so stürzten sie sich gemeinsam in die frischen Laken.
Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Cover: Verwandtschaft/Facebook
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2023
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Mein Beitrag zum Erotik-wettbewerb September/Oktober 23