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Ein perfekter Plan

Mein Herz pochte aufgeregt und ich hoffte, dass meiner Mutter meine plötzlich strahlenden Augen verborgen bleiben würden. Sie durfte mir nicht anmerken, dass ich mich ausnahmsweise darüber freute, dass sie mich wieder einmal als Boten einsetzte, weil sie etwas vergessen hatte. Nach der Scheidung von meinem Vater vor ein zwei Jahren hatte sich meine Mutter mit einem Catering-Service für alle möglichen Anlässe selbstständig gemacht. Das Geschäft lief offenbar recht gut, denn wir kamen mit dem Geld, das sie dadurch verdiente, ganz ordentlich über die Runden. Und der Kontakt zu meinem Vater war glücklicherweise recht gut und auch regelmäßig.

Ihr heutiger Auftrag bestand aus unzähligen Häppchen für Fingerfood und war für die Gebrüder Marke bestimmt, die ganz am Ende unserer Straße wohnten. Michi und Olli waren vor ein paar Jahren hierher gezogen, was von den Nachbarn erstmal argwöhnisch zur Kenntnis genommen wurde. Zwei Männer, die zusammen in ein teures Haus einzogen, sorgten per se schon für Aufsehen in diesem kleinen Kaff. Sie waren noch recht jung und ziemlich gut aussehend, was den einen oder anderen in der Umgebung auf komische Gedanken brachte. Mir war das schnurzegal, mein Favorit war Michi. Wie oft hatte ich schon von seinen himmelblauen Augen, den unschuldigen blonden Locken und seinem schönen Mund geträumt. Von seinem heißen Body ganz zu schweigen. Ich fand ihn einfach hinreißend und anbetungswürdig. Auch wenn meine beste Freundin Luisa mich dafür auslachte, weil sie mich für zu jung empfand. 

"Julia? Ob du träumst, habe ich dich gefragt?", holte meine Mutter mich zurück in die Gegenwart. Ich fühlte mich ertappt und auch, dass mein Gesicht sich gleich rot färben würde. Schnell drehte ich mich um und schoss nach oben ins Bad.

"Geht klar Mama, ich geh nur noch vorher zur Toilette, ziehe mich um und dann flitze ich mit der Schüssel zu den Nachbarn!", rief ich nach unten, zog flink mein schönstes Sommerkleid und die neuen Sneakers dazu an. Ein kurzer Blick in den Spiegel und dann konnte es losgehen.

Mama hatte bei der Lieferung des Fingerfoods etwas wichtiges vergessen und ich kam durch ihr kleines Missgeschick hoffentlich in den Genuss, endlich mal das Haus der Brüder von innen zu sehen. So jedenfalls war mein Plan. Am meisten aber hoffte ich, dass mir Michi die Tür öffnen würde und ich einen Blick in seine tollen blauen Augen erhaschen konnte. Luisa meinte ständig, mir sagen zu müssen, dass Michi viel zu alt für mich sei. Ich wurde immerhin nächsten Monat volljährig und Michi war schätzungsweise Ende zwanzig, vielleicht Anfang dreißig. Was sagte das schon groß aus? Nur, weil Luisa dem Abitur ein Jahr näher als ich und schon neunzehn war, musste sie sich ja nicht ständig aufspielen wie eine ältere Schwester. Diesen Part übernahm meine Mutter schon und das nervte genug! Egal, heute Abend war nur mein Plan wichtig und für den brauchte ich auch Luisa. Inständig hoffte ich, dass meine Mutter nicht bemerkte, dass ich mich extra schick gemacht hatte. Deswegen zog ich meinen langen Sommermantel an, den Papa mir geschenkt hatte und den ich so sehr liebte. Darunter ließ sich einiges verstecken und das kam mir gerade recht. "Nanu", wunderte sich meine Mutter und schaute an mir herunter, "so kühl ist es doch heute gar nicht." Glücklicherweise hakte sie nicht weiter nach und drückte mir die Schüssel in die Hand, die ich nun zu den Gebrüdern Marke bringen sollte. "Beeil dich, Kind, die warten schon auf meinen magischen Dip", sagte sie zwinkernd.

"Mama?"

"Ja?", fragte sie aus der Küche.

"Ich gehe danach noch ein bisschen zu Luisa", log ich, weil wir eigentlich gar nicht verabredet waren. Ich hoffte lediglich, dass ich mich vielleicht ein wenig auf der Party der Brüder aufhalten durfte und wenn es nur ein paar Minuten wären.

"In Ordnung, aber komme nicht so spät heim, sonst mache ich mir Sorgen, Liebes."

Siegessicher grinste ich in mich hinein und verließ unser Haus. Außer Sichtweite zückte ich erst den Spiegel und meine Schminkutensilien, um mich hübsch zu machen. Danach zog ich mein Handy aus der Manteltasche und rief Luisa an. Leider ging sie nicht ans Telefon und so sprach ich auf ihre Mailbox und schickte ihr zusätzlich eine Nachricht, dass ich sie heute entweder als Alibi benutze oder tatsächlich noch bei ihr aufkreuzen würde. Als das Haus der jungen Männer in Sichtweite kam, beschleunigte sich mein Puls und meine Aufregung erschwerte mir das Atmen. Mein Finger schwebte zitternd zum Klingelknopf. Doch dann hielt ich inne und dachte kurz darüber nach, die Schüssel vor die Tür zu stellen wie ein Findelkind in einem Korb. Dann einfach zu klingeln und feige nach Hause zu rennen. Doch mir wurde die Entscheidung abgenommen, als Olli die Tür aufriss und ein "Endlich!", ausrief, mich samt Schüssel packte und ins Haus bugsierte. Fast stolperte ich mit dem wertvollen Inhalt in meinen Händen, aber Michi, der soeben dazu kam, fing die Schüssel auf und brachte sie wohlbehalten in die Küche. Erleichtert atmete ich auf und erst jetzt nahm ich erste Eindrücke der Party wahr. Es war recht laut, roch nach Alkohol und Zigaretten. Immerhin war die Musik gut. Das war etwas, das mir nicht gänzlich unbekannt war. Aber der Unterschied zu dieser Party war, dass ich abgesehen von den beiden Brüdern niemanden hier wirklich kannte. Olli half mir aus dem Mantel, sah anerkennend an mir herunter und brachte das gute Stück dann zur Garderobe. Das bedeutete doch, dass ich jetzt ein offizieller Gast war, oder nicht? Ich lächelte und fühlte mein Herz bis zum Hals schlagen. Eine fremde Dame in aufreizender Kleidung hielt mir ein Tablett mit gefüllten Gläsern hin und sah mich fragend an. Wortlos griff ich mir eins der kleinsten Gläser und kippte es in einem Zug herunter. Scheiße, das brannte ja wie die Hölle! Aber dafür beruhigte es mich wenigstens etwas.  

"Vorsicht, junge Dame", hörte ich jemanden neben mir sagen, "das Zeug hat es in sich." Michi stand neben mir und mein Herz hämmerte sofort wieder los. Der Kerl würde mich noch umbringen, wenn das so weiterging. 

"Bist du denn schon volljährig?", fragte er grinsend und ich nickte hektisch. Was machten die paar Wochen schon aus? 

"Ist es okay für deine Mum, dass du hier bist?" Bevor ich über die nächste Lüge nachdenken konnte, hatte mein Kopf längst ungefragt genickt. "Hast du einen Freund?" Diese Frage machte mich verlegen und ich spürte die Schamesröte auf meinen Wangen. Michi war ganz schön neugierig! Ich schüttelte verneinend meinen Kopf. Täuschte ich mich, oder huschte ein Lächeln über sein Gesicht? "So ein hübsches Mädchen und keinen Freund?", stellte er fest und sah mich dabei von oben bis unten an. "Ich wusste gar nicht, dass Rosi so eine süße Tochter hat", stellte nun auch Olli fest, nachdem er sich zu uns gesellt hatte. Die beiden taten ja so, als sahen sie mich gerade zum ersten Mal. Außerdem war mir nicht klar, dass meine Mutter mit den beiden bereits per Du war.

"Du hast ne echt coole Mum", sagte Michi. "Du hast verdammtes Glück". Genervt verdrehte ich die Augen. Ich war doch nicht hier, um über meine Mutter zu sprechen. "Zeigst du mir euer Haus?" fragte ich Michi und in seinen himmelblauen Augen blitzte es kurz auf. "Klar!", rief er und schnappte meine Hand. Diese unerwartete Berührung durchzuckte mich wie ein Stromstoß. Ich glaubte, zu träumen. Zuerst führte Michi mich über eine schicke Wendeltreppe aus weissem Marmor nach oben. Dort schlug mir der Bass richtig entgegen, denn wir standen direkt vor der Tanzfläche. Automatisch wippte ich zur Musik mit. Michi beobachtete mich grinsend. "Wir können nach der Hausbesichtigung gerne eine Runde abzappeln", schlug er vor, was ich mehr als begeistert zur Kenntnis nahm. Obwohl mich der von ihm benutzte Begriff für das Tanzen schon etwas nachdenklich stimmte. In meinem Wortschatz kam das Wort jedenfalls nicht vor, also stammte es bestimmt aus einer anderen Generation. Mit stolzgeschwellter Brust zeigte Michi mir kurz später die Dachterrasse, die es wirklich in sich hatte. Hier befand sich ein sehr großes Futonbett, ein Schaukelstuhl und eine kleine Bar. Die romantischen Laternen sorgten für warmes Licht und die richtige Stimmung. Ein paar Pflanzen, Solarlichter und Lichterketten verschönerten die Terrasse zusätzlich. So etwas beeindruckendes hatte ich noch nie gesehen. Eine Gänsehaut suchte mich heim und ich hätte mich gerne sofort mit Michi in die Decken gekuschelt. Dann ging es wieder nach unten. Es war noch immer recht warm und deshalb auch der Pool gut gefüllt. Darin tummelten sich nicht wenige der mir fremden Gäste. Wie aus dem Nichts stand die Tablett-Dame erneut vor mir und diesmal entschied ich mich für ein Glas mit hellgrünem Inhalt. Gott sei Dank brannte dieses nicht so und schmeckte ein wenig nach Waldmeistereis. Irgendwie machte mich das Zeug mutig. Ich ging zu Michi und fragte nach dem versprochenen Tanz. Er lachte und seine blauen Augen glitzerten schelmisch. Oben angelangt, standen wir uns auf der Tanzfläche gegenüber. Ich ertrank beinahe in dem Blau seines Blickes. Mein Herz schlug so laut, dass ich fürchtete, es könnte die Musik übertönen. Ein langsamer Titel wurde gespielt und Michi zog mich ganz nah an sich heran. "Du bist wirklich sehr süß", flüsterte er und strich mir eine Locke hinters Ohr. Seine Stimme klang ungewohnt rau und der Blick, mit dem er mich jetzt ansah, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ehe ich mich versah, lag ich in seinen starken Armen, den Kopf an Michis Brust gelegt. Wie zu einer Einheit verschmolzen bewegten wir uns zur Musik. Viel zu schnell war der Song vorbei und Michi gab mich wieder frei. Er verneigte sich höflich, bedankte sich für den Tanz und verschwand in der Menge. Sehr zu meinem Leidwesen. Mit einem Mal fühlte ich mich allein, kam mir richtiggehend verloren vor. Ich kannte niemanden und weder Olli, noch Michi tauchten in den nächsten Minuten wieder auf. Mehr aus Langeweile begann ich, meine Umgebung zu checken. Je mehr ich von den anderen wahrnahm, desto mehr fühlte ich mich völlig fehl am Platz. Was tat ich hier? Das war nicht meine Welt, das war eine Welt von Erwachsenen, die sich wie Teenies benahmen. Sie tranken Alkohol wie Wasser, rauchten eine Zigarette nach der anderen oder zogen weißes Pulver durch ihre Nase, das sie vorher auf einem kleinen Tisch zu einer geraden Linie angeordnet hatten. Das Zeug sah aus wie das Backpulver, das meine Mutter oft beim Backen benutzte. Andere schmissen sich irgendwelche Pillen in den Rachen, die aussahen wie bunte Bonbons.

"Willst du auch was?" fragte mich eine Frau, die ungefähr im Alter meiner Mutter war. Entsetzt sah ich sie an. "Äh, nein!"

"Du verpasst echt was, Schätzchen!", lallte sie und schmiss sich wieder auf die Ledercouch, von der sie gekommen war. Verstört suchte ich nach Michi, aber fand ihn nicht. Er konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Vorsichtig stieg ich die Wendeltreppe nach oben, die beiden Schnäpse hatten inzwischen ihre Wirkung entfaltet. Oben angekommen, ließ ich meinen Blick umher schweifen. Fast schon fieberhaft suchte ich nach Michi. Eine Eiseskälte erfasste meinen Körper, als ich ihn endlich fand. Ich konnte kaum mehr atmen, aber ich konnte auch nicht wegschauen. Mein Schwarm hielt eine auffällige Blondine mit einer riesigen Sonnenbrille auf der Nase im Arm und lachte ausgelassen. Dann küssten die beiden sich und mein Herz setzte nicht nur aus. Nein, es zerbrach in tausend Stücke. Wieso tat das so dermaßen weh? Dennoch starrte ich wie gebannt auf das Geschehen. Lachend stibitzte Michi der Blondine die Brille und setzte sie sich selbst auf die Nase. Wieder küssten sich die beiden und lachten. Als sie kurz später den Weg in Richtung Wendeltreppe einschlugen, an der ich noch immer wie angewurzelt stand, wollte ich sterben. Je näher sie kamen, umso schlechter ging es mir. Ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen und hielt instinktiv die Hand vor meinen Mund. Die Blondine war keine geringere als meine beste Freundin Luisa. Mit schreckgeweiteten Augen blickte ich sie an wie ein Alien. Und sie erstarrte förmlich, als sie mich auch endlich erkannte. Aus jeder Pore in ihrem Gesicht kroch mir die Scham entgegen. Wut frass sich langsam von den Zehen nach oben durch meinen Körper und als sie mein Hirn erreichte, schrie ich hysterisch, dass sie mich deshalb immer auslachte und von allem abhalten wollte, weil sie selbst auf Michi stand. Der verstand nur Bahnhof und blickte wie ein dummer Junge zwischen uns hin und her.

"Ihr kennt euch?", fragte Olli dann. "Nein, ab heute nicht mehr!", rief ich blind vor Wut. In mir war etwas kaputt gegangen, ich war zutiefst verletzt und auch enttäuscht von Luisas Verhalten. Aber ich wollte mir keine Blöße geben und verließ erhobenen Hauptes die Party. 

Als ich zuhause ankam, erwartete meine Mutter mich bereits. Die in die Hüften gestemmten Hände waren kein gutes Zeichen. Hatte sie etwa von meinem Abstecher auf die Party erfahren?

"Wo warst du so lange?", fragte sie auch schon mit eisiger Stimme. Bevor ich jedoch antworten konnte, sah sie mich streng an. "Bei Luisa jedenfalls nicht, ich habe mit ihrer Mutter gesprochen." 

Scheiße! Das war nicht gut! Das war gar nicht gut! Fieberhaft dachte ich nach, aber mir fiel keine schlüssige Erklärung ein, also entschloss ich mich, zu beichten.

"Habe ich es mir doch gedacht!" Sie kam ganz nah an mich heran. "Hauche mich an, ich will wissen, ob du Alkohol getrunken hast."

Jetzt war ich richtig am Arsch! Also beichtete ich ihr die zwei Schnäpse ebenfalls, erklärte ihr aber auch direkt, dass ich die eher ekelhaft fand und sie sich keine Sorgen machen müsste, dass ich nun zu einer Alkoholikerin mutieren würde.

"Du bist viel zu jung für diese Art von Partys, mein Herz", sagte sie plötzlich so sanft, dass alles wieder hochkam, mir Tränen in die Augen schossen und ich mich völlig untypisch für mich in die Arme meiner Mutter stürtzte. Ich war so enttäuscht von Luisa, dass es wohl einfach raus aus mir musste. Mama streichelte meine Haare und meinen Rücken, wie früher als Kind. Ich hatte völlig vergessen, wie gut sie im Trösten war und so ging es mir nach einigen Minuten schon wieder viel besser. Aber der echte Hammer kam erst noch. Denn nun fragte ich sie im Gegenzug, warum sie mit den Gebrüdern Marke per Du war. Da wurde sie seltsam verlegen, was mich irgendwie beunruhigte.

"Die beiden sind gar keine Brüder, sie sind ein schwules Paar."

Rumms!

Ihre Worte trafen mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ich erstarrte förmlich innerlich.

"Wie? Schwul? Aber Michi hat doch mit mir...und mit Luisa..." 

Meine Mutter räusperte sich. "Ja, sie führen so eine Art offene Beziehung und Michi ist wohl bisexuell, was bedeutet, dass er beide Geschlechter mag. Olli hingegen ist stockwschwul", klärte sie mich auf. "Es tut mir so leid, Schatz. Hätte ich von deiner Schwärmerei für Michi gewusst, hätte ich dich da niemals mit dem Dip hingeschickt und dir schon viel früher erzählt, dass die beiden in Wirklichkeit ein Paar sind..."

Ich hörte ihre Worte wie durch einen dichten Nebel. In mir war etwas zerbrochen. Ich rannte nach oben in mein Zimmer, schloss die Tür ab, schmiss mich auf mein Bett und heulte. Meine Mutter klopfte einige Male, aber irgendwann gab sie auf. 

Eine Stunde später ging ich nach unten, Mama saß vor dem Fernseher. "Warum duzt ihr euch?", fragte ich sie erneut, weil mir das keine Ruhe ließ. Sie fuhr erschreckt herum und wurde rot. Meine Mutter war errötet! Das hatte ich noch nie vorher gesehen. Dann zeigte sie auf die Couch, auf der ich mich dann niederließ. Sie faltete die Hände in ihrem Schoß und sah mich ernst an. Ein komisches Gefühl beschlich mich und als sie zu erzählen begann, wusste ich warum. Sie kannte Michi von früher, die beiden waren ungefähr im gleichen Alter. Ich wusste, dass Mama mich sehr früh bekommen hat. Sie war erst 17 Jahre alt gewesen bei meiner Geburt. Dann erzählte sie mir, dass sie Michi auf einer Party getroffen und im Rausch mit ihm geschlafen hatte. Das war die Nacht meiner Zeugung. Peng! Rumms! Meine kleine Welt brach zusammen wie ein Kartenhaus. Michi soll mein Vater sein? Mir kam etwas Kotze hoch und ich schluckte sie schnell wieder herunter. "Du nimmst mich doch auf den Arm, Mama!", schrie ich, fast hysterisch. "Ich wünschte, es wäre so, Liebes..."

"Spar dir das bitte! Du willst mir also erzählen, dass Michi mein Vater wäre und was ist Papa dann?", stammelte ich und fing an zu heulen. "Papa ist zwar nicht dein Erzeuger, aber er ist dein Vater und das wird er auch immer bleiben."

Sie wartete, bis ich mich wieder etwas beruhigt hatte und erzählte mir dann auch den Rest. Dass sie Papa kennen lernte, als ich ein Jahr alt war und es die berühmte Liebe auf den ersten Blick war zwischen den beiden. Dann ging alles ganz schnell, sie zog zuhause aus und mit dem Mann, den ich die ganze Zeit für meinen richtigen Vater hielt, zusammen. Ein Jahr später hatten sie dann geheiratet. Und sich vor ein paar Jahren wieder scheiden lassen. Das war doch alles großer Mist!

Ich war vollkommen durcheinander. Mit einem Mal sollte ich zwei Väter haben? Erneut überfiel mich heftige Übelkeit, denn der Gedanke, dass ich mich fast in meinen eigenen Erzeuger verknallt hätte, schoss mir in den Kopf. 

"Ich hätte dich niemals mit dem Dip zur Party schicken dürfen! Das ist alles meine Schuld", brach es plötzlich aus meiner Mutter heraus und sie fing zu weinen an. "Aber in dem Stress habe ich die Tatsache, dass du deinem Erzeuger in die Arme laufen könntest, wohl einfach verdrängt...es tut mir so leid, mein Herz, es tut mir so leid..."

Obwohl ich stinksauer war, stand ich auf, ging zu meiner Mutter und legte mich in ihre Arme. Ich wusste, es würde lange dauern, bis ich das verdaut haben würde und Mama verzeihen könnte. Aber ich wusste auch, dass sie immer für mich da war. Sie hatte mein Leben lang alles dafür getan, dass es mir gut ging und ich konnte eine schöne Kindheit genießen.

Im Grunde hatte ich ja einen guten Vater, er war nur einfach nicht mein Erzeuger. Nach einiger Zeit begriff ich, dass eine Samenspende nicht mehr wert sein sollte, als ein Mensch, der sich jahrelang um ein Kind gekümmert und es geliebt hatte. 

Und es noch immer liebt.

 

Ende 

 

Impressum

Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Cover: pixabay
Tag der Veröffentlichung: 10.10.2023

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein zweiter Beitrag für den Anthologie-Wettbewerb September 2023

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