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Die Einweihungsparty

 "Hallo hoffentlich liebenswerte Nachbarn,

 

wie Sie vielleicht bemerkt haben, sind wir vor einiger Zeit in diese wunderschöne Straße in ein ebensolch wunderschönes Haus gezogen. Und nun ist es so weit: Unser neues Zuhause ist endlich fertig! Diese Tatsache wollen wir gerne mit unseren neuen Nachbarn feiern und wir können uns bei der Gelegenheit endlich persönlich kennenlernen. Zu diesem Anlass laden wir Sie, die Sahins, Herrn Grundmann und seine Verlobte und die Kortens ein. 

Finden Sie sich also gerne am kommenden Samstagabend um 19 Uhr bei uns, den neuen Nachbarn mit dem schnöden Namen Müller, ein. Wir freuen uns sehr auf Sie alle!

 

Herzliche Grüße,

Natalie und Ruben Müller"

 

"Hast du mitbekommen, dass wir neue Nachbarn haben, Schatz?", fragte Angela ihren Mann Lars und legte dann die Einladung auf die Kommode im Flur. Er überlegte kurz.

"Ich habe vor einiger Zeit einen Umzugswagen gesehen, aber nicht weiter darüber nachgedacht", antwortete dieser.

"Hmm", machte Angela, ging in die Küche und blickte nachdenklich aus dem Fenster. 

"Mir ist nichts aufgefallen, gar nichts. Würde man es nicht bemerken, wenn neue Leute in diese winzigkleine Straße einziehen?" Eigentlich war es nicht mal eine richtige Straße, sondern fast so etwas wie ein verlassener Ort. 

"Schatz", begann Lars, "wenn wir ehrlich sind, haben wir uns noch nie um unsere Nachbarn gekümmert. Im Grunde genommen sind das alles Fremde für uns."

Sie nickte zustimmend.

"Deshalb sind wir ja auch hierher gezogen. Weil wir unsere Ruhe haben wollten und deshalb habe ich auch so gar keine Lust auf diese Party mit eigentlich lauter Unbekannten." 

Lars sah sie nachdenklich an. "Vielleicht ist das ein Wink des Schicksals. Vielleicht sollten wir unsere misanthropischen Neigungen für einen Abend aussperren und diesen Leuten eine Chance geben?" 

Irritiert blickte Angela ihren Mann an. "Dein Ernst?"

Er ging langsam auf sie zu und nahm sie in seine Arme. "Ja, das ist mein voller Ernst", flüsterte er an ihrem Ohr und fing dann an, zärtlich daran zu knabbern. Ein wohliger Schauer durchfuhr Angela. 

"Versuchst du etwa gerade, mich mit Zuneigung zu bestechen?", fragte sie gespielt entrüstet.

"Funktioniert es denn?" grinste er sie frech an. 

Eigentlich war es von Vorteil, die Menschen zu kennen, die in direkter Nähe wohnten. Sie selbst waren erst vor knapp sechs Monaten hierher umgesiedelt. Blanker Menschenhass hatte sie quasi dazu gezwungen, in einer etwas abgeschiedeneren Gegend zu leben. 

"Ach, komm schon, Angie, es ist ja nur ein Abend und die Menge der Gäste überschaubar..." 

Lars war mehr oder weniger seiner Frau zuliebe hierhergezogen. Er selbst war jetzt auch kein großer Menschenfreund, aber Angela mochte außer ihrem Mann kaum jemanden leiden. Deshalb sah sie Corona auch als Chance, im Home-Office zu arbeiten. Und ihr Chef war glücklicherweise damit einverstanden, dass sie dies weiterhin tat, obwohl die Pandemie für beendet erklärt worden war. Es kostete sie zwar einiges an Überredungskunst und Energie, aber am Ende hatte es sich für Angela gelohnt. Und seitdem sie die Einkäufe liefern ließ und sich nicht mehr selbst im Supermarkt durch die Menschenmengen kämpfen musste, war sie wesentlich entspannter geworden. Das genoss Lars in vollen Zügen. Aber ab und zu überkam ihn die Sehnsucht nach anderer Gesellschaft. Da kam ihm die Party gerade recht. Und dass die beiden niemanden wirklich kannten, obwohl sie alle Nachbarn waren, hielt Lars sogar für einen Vorteil. Es könnte schließlich jemand dabei sein, den Angela vielleicht ein klitzekleines Bisschen mögen würde. Angela hingegen sagte nur zu, um ein wenig Kenntnisse über die Menschen einholen zu können, die mit ihnen quasi Tür an Tür lebten. Lars freute sich riesig auf den Abend bei Natalie und Ruben Müller. Und dann war es so weit, der Samstagabend war da.

'So tolle, interessante Vornamen', dachte sich Lars, 'und dann so ein Allerweltsnachname'.

Er grinste in sich hinein und begann, ein Lied zu summen. Angela hatte tatsächlich ein schickes, schwarzes Kleid angezogen mit einem Ausschnitt, der ihren großen Busen aufreizend zur Schau stellte. Lars pfiff anerkennend durch die Zähne und fragte zwinkernd: "Willst du die Männer heute Abend um den Verstand bringen?" Wartete jedoch ihre Antwort nicht ab, sondern hakte sie unter, schnappte den Schlüssel, Angelas Handtasche und schritt mit ihr feierlich zur Haustür.

"Bist du bereit?", fragte er lächelnd und öffnete die Tür für seine Frau. Sie nickte entschlossen, straffte ihren Körper und ging über die Türschwelle. Es war nicht sehr weit bis zur Haustür der Müllers. Deshalb standen sie bereits nach wenigen Minuten im großen Wohnzimmer ihrer neuen Nachbarn. Lars schielte auf die große, gedeckte Tafel und leckte sich gierig die Lippen. Angela hingegen starrte auf den wunderschönen Kamin, in dem ein heimeliges Feuer vor sich hin knisterte. Sie waren offensichtlich die ersten Gäste. 

"Möchtet ihr einen Aperitif?", fragte Natalie Müller und ging somit einfach zum DU über. Lars brauchte keinen, sein Hunger war sowieso schon übermächtig, weil er heute extra nicht viel gegessen hatte. Angela bejahte, weil sie hoffte, sich an dem Drink festhalten zu können und dass er sie etwas lockerer machen würde. Natalie war das, was man gemeinhin als eine "Dame von Welt" bezeichnete. Sie war von Kopf bis Fuß gestylt. Ihr Haar trug sie zu einer eleganten Hochsteckfrisur. Das teure Etuikleid schmeichelte ihrer weiblichen Figur. Ruben Müllers Astralkörper steckte in einem vornehmen Seidenanzug und auch er sah unglaublich gut aus. Angela schätzte die beiden auf Anfang vierzig. Ihre neuen Nachbarn gaben sich wirklich alle Mühe, einen guten Eindruck zu machen. Sie führten das Paar durch das beeindruckende Haus und danach zeigte Natalie ihnen ihre Plätze an der Tafel. Es duftete herrlich und Lars war voller Vorfreude. Nach und nach trudelte erst das Ehepaar Sahin und dann die Kortens ein. Alle stellten sich einander vor. Die Sahins waren ein älteres und freundliches, türkisches Ehepaar mit sehr gutem deutschen Wortschatz. Die Kortens waren zwei Rentner. Wobei Beate Korten noch gut in Schuss war. Sie wirkte schlank und sportlich. Heiner Korten dagegen trug einen üppigen Bauch vor sich her und wirkte mit seiner Halbglatze wesentlich älter als seine Frau. Auch war sie im Gegensatz zu ihm viel freundlicher und starrte Angela nicht unentwegt auf ihre Oberweite. 

"Siehst du, einem Kerl hast du schon den Kopf verdreht, meine Schöne", beugte sich Lars zu seiner Frau herüber. Sie grinste und stubste ihn frech in die Seite. Er grinste spitzbübisch zurück und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Zum Schluss erschien das junge, frisch verlobte Paar Lisa Münzig und Stefan Grundmann. Allem Anschein nach war die junge Frau hochschwanger, denn sie machte Heiner Korten Konkurrenz, was den Umfang ihrer Bäuche anging. Nicht nur das, zur Freude des lüsternen Rentners war ihr Oberbau durch die Schwangerschaft noch größer als der von Angela. Die war allerdings eher froh, dass sich seine Blicke endlich auf ein anderes Ziel konzentrierten. Nun waren sie also vollzählig, hatten alle das schöne Haus von innen bewundern können und konnten sich jetzt dem Festmahl widmen. Lars hatte schon länger nichts mehr gesagt, war plötzlich ganz still geworden. "Was ist los, Liebling?", beugte sich nun Angela zu ihrem Mann rüber. Als er nicht antwortete, sah sie ihn an und bemerkte die Blässe in seinem Gesicht. Er starrte das junge Paar regelrecht an, so sehr, dass es Angela langsam peinlich wurde. Sie zupfte unter dem Tisch an seiner Hose. "Hey, was ist los mit dir? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!", zischte sie leise in sein Ohr. Da kam endlich wieder Leben in seinen Körper, er räusperte sich, stand dann auf und gab vor, zur Toilette zu müssen. Verwundert blickte Angela ihrem Mann nach. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Oder lag es am Essen, war der überaus köstliche Salzbraten nicht in Ordnung? Unwillkürlich griff sie sich an den Bauch und verspürte eine Übelkeit aufkommen. "Unsinn!" schimpfte sie sich in Gedanken. Aber sie brachte keinen Bissen mehr herunter und legte das Besteck beiseite. Lars kam und kam nicht wieder, langsam wurde sie nervös. 

"Was ist mit deinem Mann, Angela? Er war auf einmal ganz blass", stellte Natalie Müller besorgt fest. Aber war sie wirklich besorgt? Ein merkwürdiges Gefühl schlich sich mit einem Mal in Angelas Körper. Sie konnte es nicht definieren, eine Mischung aus Unruhe und einer bösen Vorahnung. Ihr Herz schlug plötzlich schneller.

"Ich werde mal nach ihm schauen", sagte sie und spürte, wie kleine Schweißperlen ihre Stirn benetzten. Sie suchte die sanitären Anlagen auf. Es gab zwei Gästetoiletten im Haus und in beiden fand sie Lars nicht. Wo zum Teufel steckte dieser Kerl? Angela suchte auf der Terrasse, vielleicht wollte er eine Zigarette rauchen. Weder dort, noch auf dem Balkon fand sie ihren Mann. Er war doch wohl nicht einfach nach Hause gegangen, ohne ihr Bescheid zu geben? Sie fühlte sich immer unwohler, Übelkeit überfiel sie und so übergab sie sich in einem der Gäste-WC's. Es klopfte an der Tür.

"Alles in Ordnung?", fragte eine weibliche Stimme. Angela erkannte sie nicht, also war es wohl nicht Natalie Müller. Sie wollte gerade antworten, da schickte ihr Magen schon wieder etwas nach oben und sie entleerte sich erneut in die Kloschüssel. 

"Gehen Sie weg!", brachte sie mühsam hervor und wusch sich den Mund. Ein Blick in den Spiegel ließ sie zusammenzucken. Rote Flecken zierten ihr Gesicht und juckten auch leicht. Irgendetwas war in dem Essen, das sie nicht vertrug. Hatte diese Wahnsinnige etwa Nüsse in die Soße getan? Angela glaubte, ihr Hals schwoll an und bekam unwillkürlich Atemnot. Wo war ihr EpiPen? Hatte sie ihn überhaupt mitgenommen? Scheiße! Verdammt Lars, wo bist du nur? Ich brauche dich! dachte sie verzweifelt. Aber Lars kam nicht. Langsam glitt sie zu Boden und verlor das Bewusstsein. Doch dann ließen laute Stimmen sie zurückkommen, sie erkannte Lars und eine junge Frauenstimme. Die beiden stritten miteinander. Angela wollte sich bemerkbar machen, aber weder konnte sie sich bewegen, noch kam ein Laut über ihre Lippen. Warum stritten sich Lars und eine fremde Frau auf dieser Einweihungsparty? Und warum verdammt noch mal suchte er nicht nach ihr? Machte er sich gar keine Gedanken über ihre Abwesenheit?

"Bitte, Lars, hol den EpiPen und rette meine Leben...", hauchte sie und dann fielen ihre Augen wieder zu. 

"Hör' auf zu schreien!", zischte Lars scharf, aber das ließ die schwangere Lisa Münzig völlig kalt. Im Gegenteil lachte sie ihn aus. "Hast du Angst, dass deine Frau uns hören und von deinem Kind erfahren könnte?", fragte sie und zeigte auf ihre runde Kugel.

"Pssssst!", machte Lars und sah Lisa zornig, aber auch verzweifelt an. Das machte sie nur wütend. "Du pssstest mich nicht, mein Guter, du nicht! Steh gefälligst zu deinem Kind und sei ehrlich zu deiner Frau!"

Jetzt lachte er ironisch auf. 

"So wie du dazu stehst? Und du solltest das Wort Ehrlichkeit nie wieder in den Mund nehmen, Maria! Du hast mir sogar einen falschen Namen gesagt. Was sagt denn dein zukünftiger Mann zu dem Ganzen hier, Fräulein Maria Granzig?", fragte er mit Blick auf ihren Babybauch.

"Dem ist völlig schnuppe, von wem das Kind ist. Hauptsache, er wird endlich Vater! Und die Namensänderung war reine Notwehr, schließlich bin ich vor einigen Monaten in diese Siedlung gezogen, in der du auch wohnst. Wie du siehst, sind wir uns trotzdem nie über den Weg gelaufen!"

"Du sollst nicht so schreien!", fuhr Lars aus der Haut und blitzte sie aus kleinen Schlitzen böse an.

"Keine Sorge, deine Holde ist schon seit Ewigkeiten in einem der Gästklos und rührt sich nicht", klärte sie ihn grinsend auf.

Sein Puls beschleunigte sich unwillkürlich. "Was? Warum sagst du mir das erst jetzt? Welches Klo?", fragte er hektisch.

Sie zeigte auf die Tür am Ende der Etage. Als keine Antwort kam, nachdem Lars geklopft hatte, stieß er die Tür mit brachialer Gewalt einfach auf und erblickte seine blasse Frau auf dem Boden. Jetzt raste sein Herz richtig los, denn er hatte das schon einmal erlebt und seitdem immer einen EpiPen bei sich. Mit geübter, aber zittriger Hand verpasste er ihr die Portion Adrenalin, die sie brauchte. Lisa hingegen hatte sich derart erschreckt, dass ihre Fruchtblase auf der Stelle platzte und das Wasser des neuen Lebens auf den Parkettboden tropfte. Was zur Folge hatte, dass sie panisch nach ihrem Verlobten rief. "Stefan! Hol sofort den Wagen und die Kliniktasche! Das Kind kommt!" 

Lars starrte auf die Pfütze unters Lisas Bauch und dann wieder auf seine noch immer reglose Frau. Dann tat er das einzig richtige: Er kramte sein Handy hervor und rief einen Krankenwagen. Und zwar für beide Frauen. "Verdammt noch mal, Stefan! Hörst du mich nicht?", schrie die Schwangere nach unten. Das Ehepaar Müller und die anderen Gäste bequemten sich endlich auch zu ihnen nach oben. Irritiert und teilweise geschockt blickten sie auf das Geschehen.

"Ihr Verlobter, besser gesagt, Ihr Exverlobter hat seinen Ring abgezogen, ihn auf unseren Eßtisch gelegt und ist abgedampft", klärte Ruben Müller die werdende Mutter auf. Eine erneute Wehe zwang Lisa Münzig in die Knie. Frau Korten versuchte, der Schwangeren zu helfen und sie zu beruhigen, während diese ihre Schimpftirade über Stefan Grundmann förmlich herausschrie. Unterdessen versuchte Lars, seine Frau wach zu bekommen. Doch sie regte sich nicht und hatte immer noch sehr schwachen Puls. Das Ehepaar Sahin schlug die Hände über dem Kopf zusammen, wirkte fast fassungslos.

"Sodom und Gomorrha!", rief Herr Sahin, nahm seine verlegen dreinblickende Frau an die Hand und zog sie mit sich. "Wir gehen auf der Stelle und laden Sie uns nie wieder ein!"

Kurz später fiel die Haustür ins Schloss. Die plötzliche Stille wurde nur durch die Schmerzlaute von Lisa durchbrochen. Angela hatte ihre Augen endlich einen Spalt breit geöffnet. Das Ertönen der Klingel ließ alle zusammenzucken. Herr Korten starrte der schwangeren Lisa noch immer auf die Brüste. Sie beugte sich bei jeder Wehe nach vorn, was der Rentner sabbernd zur Kenntnis nahm.

"Hey! Sie! Alter Lustmolch! Würden Sie die Güte besitzen und die Tür für die Rettungskräfte öffnen?", blaffte ihn Ruben Müller scharf an.

"Wieso? Das ist doch Ihr Haus, oder nicht? Also gehen Sie verdammt noch mal selbst nach unten!", blaffte der Rentner nicht weniger schroff zurück und richtete seinen Blick erneut auf die einladende Oberweite von Lisa Münzig.

"Kann verdammt noch mal jemand einfach die Tür aufmachen!" Lars war fassungslos über das, was er hier gerade erlebte. Seine Frau lag halbtot auf dem Boden und niemand scherte sich darum. Das war doch kein normales Verhalten. Lediglich die Gastgeberin hatte sich darum gekümmert, dass Angela ein Kissen unter den Kopf gelegt bekam und eine Decke über den Körper. Noch nie konnte er den Hass auf Menschen, den seine Frau oft verspürte, so gut verstehen, wie an diesem Abend. Inzwischen waren endlich die Sanitäter bei ihnen, legten Angela auf die Bahre und verfrachteten sie in den Rettungswagen. Lisa hieften sie auf einen Stuhl neben Angela und fuhren mit Blaulicht und Sirene los zur Klinik. Lars eilte mit seinem eigenen Wagen hinter ihnen her und als er im Spital ankam, war seine Frau schon wieder ansprechbar und lächelte ihn müde an.

"Gott sei Dank!" stieß er erleichtert aus und schloss Angela in seine Arme. Die roten Flecken waren aus ihrem Gesicht verschwunden und es hatte wieder ein wenig Farbe.

"Das war so knapp, Liebling", flüsterte er und eine Träne rollte über seine Wange. Sie strich das salzige Nass mit dem Daumen fort und fragte ihn, was auf der Party mit ihm los gewesen war. Sein Blick verdunkelte sich, als er an Lisa oder Maria oder wie immer sie auch hieß, dachte. Und an das Kind, das vielleicht schon auf der Welt war. Er beschloss, zu beichten, obwohl er mit dem Schlimmsten rechnete. Das Wort Scheidung ploppte in roten Buchstaben vor seinem inneren Auge auf. Er konnte sich gar nicht mehr vorstellen, ohne Angela zu sein. Gleichzeitig wollte er sein Kind kennen lernen und aufwachsen sehen. Sich kümmern. Er hatte nur ein paar Mal mit Lisa geschlafen, bevor er es beendet hatte. Es war damals eine schwere Zeit für ihn gewesen und Angela konnte nicht für ihn da sein, weil sie mit sich selbst beschäftigt war. 

"Es tut mir so wahnsinnig leid, dass ich das gemacht habe, Angi", sagte er und sah sie aus traurigen Augen an. 

"Ich wusste es", sagte sie. Aber sie war weder wütend, noch aufgebracht. Sie wirkte gespenstisch ruhig auf Lars. Dennoch war sie verletzt. "Warum hast du nie etwas gesagt?", fragte er erstaunt. "Was hätte das geändert? Bevor es mir richtig klar wurde, hattest du es schon längst wieder beendet. Ich wusste nicht, wer die Dame ist, aber auf der Party dämmerte es mir dann..." 

Er senkte den Blick. "Und jetzt bin ich offensichtlich auch noch Vater geworden", murmelte er kaum hörbar. Angela mochte die meisten Menschen hassen, aber ihre Antennen funktionierten hervorragend, das hatte sich auch in der neuen Abgeschiedenheit nicht geändert.

"Ich weiß." Diese zwei gehauchten Worte erschütterten Lars bis ins Mark. Angela wusste es in dem Moment, als sie die Reaktion ihres Mannes auf Lisa Münzigs Erscheinen auf der Party sah. Die plötzliche Blässe, die geweiteten Augen und die Art, wie er sie angesehen hatte.

"Und wie soll es jetzt weiter gehen?", fragte sie ihren Mann. "Ich kann dir ja schlecht den Umgang mit deinem Kind verbieten und das will ich auch gar nicht."

Schuldbewusst lächelte er sie an. "Ich habe dich gar nicht verdient", flüsterte er und wollte ihr einen Kuss geben. Doch sie wehrte ab.

"Ich kann dir nichts versprechen, Lars. Aber ich liebe dich und werde versuchen, mich irgendwie mit der Situation anzufreunden. Wenn ich nicht genau wüsste, dass du mit Lisa seit damals nichts mehr hattest, würde ich tatsächlich die Scheidung einreichen."

Da war es. Das Wort, das er so gefürchtet hatte. Scheidung. 

"Und da ich, zu deinem Leidwesen, selbst keine Kinder möchte, hast du wenigstens eines, das du aufwachsen sehen und um das du dich kümmern kannst", sagte sie mit müder Stimme und drückte seine Hand. Lars konnte sein Glück kaum fassen. Sein Herz begann heftig zu pochen. Aber diesmal vor Erleichterung.

"Also gibst du uns noch eine Chance?", fragte er hoffnungsvoll und blickte in Angelas moosgrüne Augen, die er so liebte.

Sie nickte und schlief mit einem Lächeln auf dem Gesicht ein. 

 

 

 

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Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Cover: pixabay
Tag der Veröffentlichung: 30.09.2023

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