"Der ist doch total eingebildet!", stößt Renate verächtlich aus. "Schau doch nur, wie er es genießt, dass sich die Mädchen um ihn scharen." Sie bläst durch die Wangen und schaut dann demonstrativ woanders hin. Ulrike grinst breit. "Du solltest dir mehr Mühe geben, liebe Rena."
Erstaunt blickt Renate ihre Freundin an. "Für was mehr Mühe? Du glaubst doch nicht etwa, dass ich etwas von diesem aufgeblasenen Gockel will?", Ulrike verfällt in schallendes Gelächter, woraufhin Renate ein böses Gesicht macht.
"Du solltest dir mehr Mühe geben, zu verstecken, dass du total auf Jürgen abfährst", sagt Ulrike, nachdem sie wieder zu Atem gekommen ist. Renates Gesicht nimmt eine verräterische Rötung an.
"Ist das so offensichtlich?", fragt sie kleinlaut und fühlt sich ertappt. Unsicher schaut sie ihre beste Freundin an.
"Hallo? Ich bin seit der fünften Klasse deine beste Freundin! Wer kennt dich besser als ich?"
Renate seufzt hörbar. Ulrike nimmt sie an die Hand und zieht sie zum Buffet. "Jetzt ist genug mit Trübsal blasen. Schau mal lieber die Leckereien hier. Die schmecken auch besser als Jungs!", lacht sie, schnappt sich einen Pappteller und füllt ihn bis zum Rand mit Köstlichkeiten. Jetzt lacht auch Renate und als ihr momentaner Lieblingssong aus der Anlage ertönt, stellt sich auch wieder die gute Laune bei ihr ein. Statt zu essen, wird sie magisch von der Tanzfläche angezogen. Bei dem neusten Song der Münchner Freiheit "Ohne dich (schlaf ich heut' Nacht nicht ein)" gibt es für Rena kein Halten mehr. Sie schließt ihre Augen und gibt sich dem Rhythmus hin. Ihre Gedanken schweifen automatisch zu Jürgen und sie stellt sich vor, wie er sie in seinen starken Armen hält. Mir ihr kuschelt und sie küsst. Eine Gänsehaut berieselt Rena und ein Lächeln umspielt ihren Mund. In ihr keimt die leise Hoffnung, dass es vielleicht doch noch eine schöne Abschlussparty werden kann. Sie selbst, Ulrike und all die anderen Gäste dieser Feierlichkeit am heutigen Abend sind nun nämlich stolze Besitzer des Abi 1986. Sie alle haben es geschafft und die Schule ist endlich zu ende. Der Song nun leider auch und Renate gesellt sich wieder zu ihrer besten Freundin. Der gemietete Partyraum ist nicht nur groß, sondern auch sehr liebevoll für diesen Anlass geschmückt worden. Überall glitzern silberne Disco-bälle und reflektieren das Licht. Auf den Tischen liegen dazu passende Luftschlangen und Knabberzeug. Bunte Luftballons schweben umher und einige der Feiernden spielen damit Hand- oder Fußball. Das alles und die geniale Lichtshow lassen den Raum wie eine Disco wirken. Renate sucht den Saal nach Jürgen ab, bis ihre Augen ihn finden und zu strahlen beginnen. Ja, sie muss zugeben, dass sie ganz offensichtlich total auf ihn steht. Leider hat er bisher noch keine Notiz von ihr genommen. Obwohl sie sich heute extra in Schale geschmissen hat mit ihrem Outfit. Sie hat ihr blondes Haar von Ulrike hoch toupieren lassen und trägt ein goldenes Stirnband. Der schwarze, glänzende Leder-rock geht ihr bis fast zu den Knien und betont ihre schönen Beine. Die weiße, hochgeschlossene Bluse bildet den nötigen Kontrast und strahlt zudem die Seriosität einer frischen Abiturinhaberin aus. Der Hingucker aber sind die schwarzgoldenen Hosenträger, die sie über der Bluse trägt und die ihr etwas Verspieltes verleihen. Die schwarzen Doc Martens runden das Bild perfekt ab und Renate fühlt sich nicht nur pudelwohl, sondern auch dem Anlass entsprechend gekleidet. Viele der Jungs haben sie an diesem Abend schon zum Fox aufgefordert, aber sie hat bisher allen einen Korb gegeben. Stattdessen hatte sie mit ihrer besten Freundin getanzt, die sich aber jetzt seit einer gefühlten Ewigkeit über das Buffet hermachte. Renate nimmt ihr seufzend den Plastikteller aus der Hand. "Das reicht jetzt, Sweety. Du hast mich darum gebeten, dich daran zu erinnern, dass du abnehmen möchtest", sagt sie zwinkernd. Sehnsüchtig schweift Ulrikes Blick den Köstlichkeiten hinterher. In dem Moment hört Renate die ersten Klänge von "Brother Louie".
"Uli, komm, wir tanzen. Auf Modern Talking kann man super foxeln!", ruft sie euphorisch und schleppt ihre beste Freundin erneut auf die Tanzfläche. Die beiden wirbeln umher, mit doppelter Drehung und zeigen alles, was sie Fox-technisch draufhaben. Plötzlich bemerkt Renate die Blicke von Jürgen auf sich. Langsam setzt er sich in Bewegung und steuert direkt auf die beiden zu. Er wird doch nicht...er kommt doch nicht...ihr Herz schlägt schneller.
"Kann ich deine Freundin für einen Tanz ausborgen?" fragt er lächelnd. Vor lauter Erstaunen klappt Renates Kinnlade nach unten und sie schaut wortlos dabei zu, wie Jürgen mit ihrer besten Freundin zu "New York-Rio-Tokyo" über das Tanzparkett schwebt. Sie nimmt zwar den entschuldigenden Blick von Ulrike wahr, wendet sich aber dennoch enttäuscht ab und holt sich an der Bar einen Amaretto Ginger Ale. Ihre Augen verengen sich zu Schlitzen, während sie ihren Cocktail durch einen Strohhalm saugt und das Tanzpaar beobachtet. Die Neugier ist einfach größer, als der Ärger. Und wenn sie ehrlich ist, muss Renate sich eingestehen, dass ihre Freundin ja nichts dafür kann, wenn er lieber mit ihr tanzen will als mit Renate. Sie betet in Gedanken und hofft inständig, dass Jürgen nicht noch mehr von Uli möchte als mit ihr eine Runde zu foxeln. Renate kann kaum das Ende des Liedes erwarten und fragt Ulrike sofort aus, als sie sich ebenfalls mit einem Cocktail wieder zu ihr gesellt. Neid nimmt gegen ihren Willen Besitz von ihr, da es nicht ihr vergönnt war, mit ihrem Schwarm zu tanzen, sondern Ulrike.
"Erzähl schon!" fordert sie, vor Neugier fast platzend. "Da gibt es nichts zu erzählen", sagt Uli nur schulter zuckend. Ungläubig schaut Renate ihre Freundin an. "Aber ihr habt miteinander geredet, das habe ich doch gesehen." Als Ulrike den Kopf schüttelt, schaut Renate wieder zu Jürgen hinüber, der noch immer von einer Traube hübscher Mädchen umgeben ist.
"Wir haben nur kurz über die Schule geredet und dass dieser Teil unseres Lebens Gott sei Dank nun hinter uns liegt", sagt Ulrike unbekümmert und steckt sich einen Käse-Spieß zwischen ihre Lippen. Die Freundin hört jedoch gar nicht mehr richtig zu, sondern beobachtet argwöhnisch die Szene auf der anderen Seite der Tanzfläche. Und dann erwischt sie Jürgen, wie er zu Uli und ihr herüberstarrt. Die Schar von Mädchen um ihn herum scheint ihn momentan nicht wirklich zu tangieren, sonst würde er gut gelaunt mit ihnen flirten, statt Rena und Uli zu beobachten. Sie nimmt allen Mut zusammen und lächelt ihn vorsichtig an. Und was macht er? Schaut einfach weg. Sehr nett.
'Warum wundere ich mich überhaupt?', denkt sich Renate, 'er hat mich doch noch nie beachtet'.
Sie mag plötzlich nicht mehr länger auf der Feier bleiben. Und zuschauen, wie er vielleicht nochmals mit ihrer besten Freundin tanzt, will sie schon gar nicht.
"Ich gehe heim", sagt sie deshalb zu Ulrike, die sich schon wieder über das Buffet hermacht.
"Das meinst du nicht im Ernst!", sagt ihre beste Freundin, fast vorwurfsvoll, "du lässt mich doch jetzt hier nicht alleine."
Renate grinst sie trotzallem frech an, sie kann ihr einfach nicht böse sein. "Du hast doch das Buffet, das hält dich bei Laune."
Dann drückt sie ihre Freundin einmal fest an sich, holt ihren dunklen Trenchcoat bei der freundlichen Dame an der Garderobe ab und geht durch die Tür. Draußen erwartet sie ein angenehmes Sommerlüftchen und Renate atmet tief ein. Sie schließt den Gürtel ihres Mantels und läuft los. Irgendwann hört sie Schritte hinter sich, jemand folgt ihr offensichtlich. Die Dämmerung ist längst eingetreten und Renate fühlt sich unwohl, so allein. Soll sie zurückgehen? Eigentlich wollten Uli und sie zusammen heimgehen. Während ihrer Überlegungen erspäht sie eine Telefonzelle, von der sie zumindest die Polizei rufen könnte, wenn sie weiter verfolgt wird. Sie beschließt, sich nicht verrückt zu machen, aber das ist leicht gesagt, denn der letzte Fall eines verschwundenen Mädchens kommt ihr plötzlich in den Sinn. Es kam in den Nachrichten und wurde sogar bei Aktenzeichen XY ausgestrahlt. Der Fall ist noch aktuell, da er sich erst vor ein paar Monaten ereignet hat. Renate kuschelt sich noch mehr in ihren Trenchcoat, weil sie plötzlich zu frieren beginnt. Die Schritte sind immer noch hinter ihr, die Person holt langsam auf. Sie hingegen geht schneller, genau wie ihr Atem. Die rettende Telefonzelle ist nicht mehr weit. Fast ist sie da, hat schon den schwarzen Griff in der Hand, als sie ihren Namen hört.
"Renate?", fragt eine männliche Stimme. Langsam und mit pochendem Herzen dreht sie sich um. Jürgen? Was macht der denn hier? Erleichtert atmet sie aus, nachdem sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte.
"Warum schleichst du dich so an? Ich hatte ein bisschen Schiss", beichtet sie mit zittriger Stimme. Jürgen grinst sie schelmisch an.
"Wenn du in Gefahr gewesen wärst, hätte ich dich gerettet", verspricht er heldenhaft und endlich lacht Renate auch wieder.
"Wieso bist du nicht auf der Feier?" wundert sie sich.
"Ich habe gesehen, dass du deinen Mantel geholt hast und zum Ausgang bist. Und bin dann hinter dir her. Ich wollte mit dir allein sein und dir was sagen", antwortet Jürgen und wirkt plötzlich sogar schüchtern.
"So so, was gibt es denn so dringendes?" Renates Herz hüpft vor Aufregung, aber als er zu erzählen beginnt, rutscht es ihr in die nicht vorhandene Hose.
"Du hast ja gesehen, dass ich mit Uli getanzt habe", beginnt er stockend und Renate verschränkt die Arme vor der Brust. Das macht es für Jürgen nicht gerade leichter.
"Aha. Uli? So weit seid ihr also schon? Ich dachte nicht, dass ihr euch so gut kennt! Und du nennst sie schon Uli?"
Sie macht Anstalten, sich zum Gehen zu wenden. "Sag ihr mal schön selbst, dass du in sie verknallt bist, mein lieber. Du bist ja sonst auch nicht so schüchtern!"
Jürgen beginnt lauthals zu lachen. Er lacht und lacht und kann gar nicht mehr aufhören. Erst als Renate ihn fragend ansieht, sagt er atemlos zu ihr: "Komisch, das gleiche hat Uli auch zu mir gesagt!" Dann wischt er sich die Tränen aus den Augen und tritt ganz nah an sie heran. Renate hält den Atem an. "Wie jetzt?", fragt sie und hofft, dass sie gerade den richtigen Gedanken im Kopf hat.
"Wir haben beim Tanzen über dich geredet, du Dummerle", klärt er sie auf und gibt ihr einen zärtlichen Stupser auf die Nase. "Warum hast du diesen Umweg genommen, statt mich einfach sofort zum Tanzen aufzufordern?", forscht Renate nach. "Hattest du Angst, dass deine weibliche Fan-Gemeinde das nicht so gut finden würde?"
Wieder lacht er auf. "Diese Hühner sind mir sowas von egal, aber die wird man irgendwie nicht los. Außerdem wollte ich dich ja zum Tanzen auffordern, aber kurz vorm Ziel haben meine Nerven versagt und mein Gehirn gestreikt. Den Rest kennst du ja..."
"Und du hast Uli zur Verschwiegenheit verpflichtet, richtig?" Er nickt schuldbewusst.
"Und jetzt kennst du leider auch mein bestgehütetes Geheimnis", flüstert er verlegen.
"Wirklich?", fragt sie und zwinkert, "welches denn?" In dem Moment fängt es an zu regnen und die beiden retten sich in die trockene Telefonzelle. Dort stehen sie ganz nah beieinander und schauen sich tief in die Augen. "Dass ich tierisch schüchtern bin, wenn es mich erwischt hat..."
In Renates Bauch erwacht eine Horde Schmetterlinge und tanzt zaghaft den Liebestanz. Ihre Knie werden plötzlich weich wie Butter und sie lehnt sich verzückt gegen die Scheibe in ihrem Rücken. Alles hätte sie ihm zugetraut, aber niemals, dass er schüchtern ist.
'Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt', findet Renate im Stillen und eine prickelnde Gänsehaut überzieht ihren Körper, als Jürgen sie endlich an sich zieht und seine weichen Lippen auf ihre drückt.
Ende
Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Cover: bookrix
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2023
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