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Spuren im Sand

 "Kinners, Kinners, macht hinne!" rief mein Vater, wedelte hektisch mit den Armen und bedeutet uns, dass wir endlich mit unserem Koffer runter zum Auto kommen sollten. 

"Einen Moment noch Paps!" rief meine Schwester Annamia nach unten und setzte sich auf unseren recht großen Koffer, um auch wirklich alles noch reinquetschen zu können, was ihr wichtig war. Annamia. Schwarzes, langes Haar, helle Haut und eisblaue Augen, ein Abbild von Schneewitchen. "Gut, Liebes!" erwiderte unser Vater und ich hörte seine innige Liebe für Mia in seiner Stimme mitschwingen. "Aber beeilt euch bitte, eure Mutter sitzt schon im Auto und auf heißen Kohlen!"

Wir waren ein wenig hinter der Zeit und meine Eltern wollten nicht, dass die Maschine nach Kreta ohne uns abhob. Zudem wir am Flughafen auch noch auf Tante Maria, Papas älterer Schwester, treffen würden, die zusammen mit uns Urlaub machen wollte. Also so ein richtiger, langweiliger Familienurlaub. Ich seufzte schwer. "Was ist los, kleine Sis? Hast du etwa keine Lust auf 3 Wochen Sonne und Meer?" schwärmte sie mit glänzenden Augen. Doch, hatte ich. Nur nicht mit dieser Familie. Nicht mit der von allen geliebten Annamia und meiner nervigen Tante. Unser Vater bevorzugte Mia ständig, sie war der Sonnenschein der Familie. Ich, die zwei Jahre jüngere Schwester, hatte nichts zu melden. Ich war das fünfte Rad am Wagen. Das zwar da war, aber dennoch unsichtbar im dunklen Kofferraum lag und einstaubte. So fühlte ich mich jedenfalls seit ein paar Jahren. Ich war 15 und Annamia 17. War ich nicht das Küken, das die Aufmerksamkeit brauchte? Wieso drehte sich seit einiger Zeit nur noch alles um Annamia?

Als wir dann endlich auf Kreta ankamen, entschädigte mich der Anblick dieser wunderschönen Insel für die Strapatzen der letzten Wochen. Urlaub ist zwar toll, aber die Vorbereitungen die Hölle. Und ich schwor mir, dass ich niemals Kinder haben würde. Wenn überhaupt, dann höchstens eines, damit niemand bevorzugt oder vernachlässigt werden könnte. Mein Kind sollte nicht das erleben müssen, was ich gerade erlebte. Annamia hier, Mia da, immer ging es nur um meine verdammte Schwester. Am nächsten Tag platzte mir dann beim Abendessen der Kragen, als sich mal wieder alles nur um die fabelhafte Annamia drehte. Natürlich brachte sie auch das beste Zeugnis nach Hause, so viel besser als meines. Kunststück, wenn einem alles in den Schoß fiel, wofür ich mich richtig anstrengen musste. Und was ihr nicht in den Schoß fiel, das brachte unser Vater ihr bei. Ich blieb einfach immer auf der Strecke. Und manchmal kam auch Basti zu uns nach Hause und verschwand mit Mia in ihr Zimmer, angeblich um zu lernen. Pah! Wer es glaubt, wird selig! Meine Schwester wusste, dass ich in Basti verknallt war und ging aus purer Provokation mit ihm in ihr Zimmer. 

"Sophia, Kind, was ist los mit dir?" fragte meine Mutter mich an dem Abend auf Kreta, der alles ins Rollen brachte. "Du wirkst bedrückt." 

"Wundert dich das etwa, Mama?" sagte ich schroff, war aber gleichzeitig erstaunt. Denn es war schon gefühlte Ewigkeiten her, dass sie mir diese Frage überhaupt mal gestellt hatte. Mit verletztem Ausdruck im Gesicht sah sie mich an, wollte etwas sagen, doch Annamia mischte sich ein.

"Du bist nie zufrieden, Sophia. Wir sitzen hier auf dieser wunderschönen Veranda auf einer wunderschönen Insel und essen gemütlich zusammen und du ziehst ein Gesicht, als würde der Weltuntergang bevorstehen."

"Oh, entschuldige bitte, große Schwester, dass ich diesen fabelhaften Urlaub nicht so genießen kann, wie du!" entgegnete ich voller Sarkasmus. "Ich bin halt nur die doofe, kleine Sophia. Du hingegen bist so fabelhaft, dass ich daneben aussehe, wie ein Häufchen frischer Scheisse!" 

"Sophia!" erboste sich unser Vater, schlug einmal so kräftig auf den Tisch, dass das Geschirr schepperte und stand auf. "Was fällt dir ein, bei Tisch so zu reden?"

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sagte ruhig: "Deine Frau hat mich gefragt, was mit mir los ist und ich habe geantwortet."

Meine Mutter schaute wie ein angeschossenes Reh, stand dann auf und fing unbeholfen an, den Tisch abzuräumen. Ich hatte sie getroffen und ich wollte es so. Ich wollte, dass sie genauso leidete wie ich es seit ungefähr zwei Jahren tat. Alle sollten leiden!

"Wie redest du denn mit deinen Eltern, Sophia?" mischte sich nun auch Tante Maria ein. "Du hältst dich schön da raus, das geht dich gar nichts an!" schleuderte ich ihr wütend entgegen. "Du hast mir nämlich gar nichts zu sagen!"

Tantchen wurde in Etappen blass. Dann fiel ihr die Kinnlade bis zu ihren viel zu großen Brüsten herunter. Sie holte zwei kleine Gläser aus dem Schrank und kippte für sich und Mama jeweils einen Schnaps ein, den die beiden in einem Zug runterstürzten. Papa hingegen stand ganz nah vor mir, in seinen Augen lag ein Gemisch aus Verzweiflung, Wut und Schockiertheit. Er hob die geballte Faust unter meine Nase.

"Papa!" rief Annamia, "mach dich nicht unglücklich!"

Ich schaute ihm angriffslustig in die Augen: "Ja, Papa, hör' auf deine Lieblingstochter! Obwohl, wenn ich so darüber nachdenke, wäre es doch für uns alle am besten, wenn ich nicht mehr da wäre. Was ist euch lieber? Tot oder verschollen?"

Das war zu viel, mein Vater holte aus und schlug mit voller Wucht in mein Gesicht. Jetzt schaute ich wahrscheinlich wie ein angeschossenes Reh, denn meine Mutter schrie laut auf und schlug sich geschockt die Hand vor den Mund. Ich rieb mir die schmerzende Wange, während der Rest der Familie sich auf meinen Vater stürzte. Um mich kümmerte sich wieder einmal niemand, obwohl mein eigener Vater mich gerade zum ersten Mal in meinem Leben geschlagen hatte.

"Geh' in dein Zimmer!" befahl er mir mit eisiger Stimme. Keine Reue, keine Liebe war darin zu hören. Schon lange vor dem Abend war seine Liebe für mich verlorengegangen. Wann genau war das passiert? Mich liebte scheinbar niemand. Ich schleppte mich nach oben. Im Zimmer, das Annamia und ich uns teilten, sah ich in den Spiegel. Meine Wange war stark gerötet und geschwollen. Morgen würde ich aussehen, wie Quasimodo. Vielen Dank, Papa! Jetzt würde mich wahrscheinlich gar kein Junge mehr ansehen! Träge erledigte ich die Abendtoilette und legte mich mit einem kalten Waschlappen und einer unbändigen Wut im Bauch ins Bett. Aber auch ein übermächtiges Gefühl der Einsamkeit überfiel mich plötzlich und ich schluchzte leise in mich hinein. Irgendwann gegen Mitternacht kam auch Annamia und legte sich wortlos schlafen. Gegen ein Uhr gewann die Müdigkeit und ich fiel in einen unruhigen Schlaf. Am nächsten Morgen erwachte ich mit schmerzendem Schädel. Meine Augen ließen sich nicht öffnen. Es fühlte sich an, als wären meine Lider über Nacht plötzlich aus Blei geworden. Mein Magen rebellierte und ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Was hatte ich da bloß angestellt? Was war los mit mir gestern Abend? War ich vom Teufel besessen? Fragen über Fragen, aber wer sollte mir diese beantworten?

"Annamia", sagte ich in die Schwärze um mich herum und hoffte, meine Schwester würde mich hören. "Es tut mir leid, was ich gestern Abend gesagt habe. Ich weiß nicht, was mit mir los ist...ich...bin...wahrscheinlich eifersüchtig", flüsterte ich voller Scham. Angestrengt horchte ich in die Stille. Nichts. Keine Antwort. "Mia?" fragte ich nochmal. Ich hörte nichts. Kein regelmäßiges Schnarchen. Auch kein Atmen. Nur ein beunruhigendes Nichts.

Es klopfte an der Tür und meine Mutter trat ein. "Frühstück ist fertig", sagte sie und ich traute mich nicht, sie anzusehen. Meine Augen ließen sich ohnehin noch immer nicht öffnen. "Wo ist deine Schwester, Sophia?" fragte Mama so vorwurfsvoll, als hätte ich sie eigenhändig verschwinden lassen. 

"Weiß ich doch nicht", gab ich schroff zurück. "Ich habe mich auch gewundert, dass sie mir nicht geantwortet hat auf meine Entschuldigung", schloss ich dann kleinlaut. 

"Du hast dich bei ihr entschuldigt?" horchte meine Mutter hoffnungsvoll auf. 

"Ja. Mama?"

"Ja Sophia?" 

"Ich kann meine Augen nicht öffnen. Meine Lider fühlen sich an, als wären sie plötzlich aus Blei. Was ist das?" fragte ich ängstlich. 

"Vielleicht dein Unterbewusstsein, Schatz", sagte sie mit sanfter Stimme, "du schämst dich wegen gestern Abend und kannst uns nicht in die Augen sehen. Sozusagen", schloss sie ihre Vermutung ab. 

"Also glaubst du nicht, dass ich über Nacht blind geworden bin?" Mama legte den Arm um mich und kicherte verhalten. "Nein, ganz bestimmt nicht, Sophia. Ich lass dir noch einen Moment und dann kommst du zum Frühstück runter, in Ordnung?" Ich nickte in die Dunkelheit um mich herum und drehte mich zur anderen Seite. "Derweil werde ich mal deine große Schwester suchen", sagte Mama und ging aus dem Zimmer. Meine Gedanken schlugen Purzelbäume. Der gestrige Abend erschien mir plötzlich wie ein schlechter Film. Als hätte jemand nur meine Rolle gespielt. Ich war doch nicht böse, oder doch? Die Aufregung, die mit einem Mal herrschte, holte mich in die Realität zurück. Fluchend eilte mein Vater ins Zimmer und vor lauter Schreck schlug ich endlich meine Augen auf. Ich blinzelte, musste mich erst einmal an die Helligkeit gewöhnen.

"Wo ist deine Schwester?" Papa klang aufgebracht und schaute dann in den Schrank neben ihrem Bett. Warum tat er das?

"Was ist denn los, Paps?" fragte ich erstaunt.

"Nenn mich nicht so! Du warst gestern Abend wie ein böses Monster und hast die ganze Atmosphäre von jetzt auf gleich vegiftet!" 

Ich erschrak so sehr über diese Worte, dass ich meine Augen wieder schloss und Schutz unter meiner Bettdecke suchte. Er sah mich zornig an: "Deine Schwester ist wie vom Erboden verschluckt und das ist deine Schuld!"

Das Wort SCHULD hallte zigmal in meinem Kopf nach und ich zog selben noch tiefer ein. Aber was viel wichtiger war in diesem Moment: Meine Schwester war verschwunden? Annamia war fort? Mein Wunsch war in Erfüllung gegangen. Aber warum freute es mich nicht? Wieso verursachte es im Gegenteil Schmerzen in meinem Bauch? Ich schoss plötzlich hoch, schlüpfte in meine Kleidung und rief: "Ich helfe suchen, Papa, ob es dir passt oder nicht!"

Im Haus hatten meine Eltern und Tante Maria schon jeden Winkel überprüft, also verlagerten wir die Suche nach draußen. Wir klapperten die nähere Umgebung ab, blieben aber erfolglos. Mich beschlich ein mulmiges Gefühl. War meine Schwester meinetwegen abgehauen?

"Wir müssen zum Strand!" rief ich einem plötzlichen Impuls folgend. "Mia hat sich doch extra dafür den schicken, gelben Bikini gekauft!" rief nun auch meine Mutter. Voller Hoffnung erreichten wir einige Minuten später den Strand. Ein atemberaubendes Bild bot sich uns: Das ruhige Meer erstreckte sich türkisfarben, so weit das Auge reichte. Der helle Sand bildete einen wunderschönen Kontrast dazu und lud zum Sonnen ein. Doch das musste warten, wir suchten nach Annamia. Wir riefen alle wild durcheinander ihren Namen, immer und immer wieder. Auch erkundigten wir uns bei den wenigen Touristen, denen wir begegneten, ob jemand von ihnen Annamia gesehen hatte. Leider blieb unsere Suche erfolglos und als es zu dämmern begann, machten wir uns resigniert auf den Weg zurück zu unserem Urlaubsdomizil. Zu meinem Leidwesen sprach niemand ein Wort mit mir. Alle gaben mir die Schuld am Verschwinden meiner Schwester. Meine Mutter konnte mich nicht einmal mehr ansehen. Tante Maria strafte mich mit bösen Blicken und Papa ignorierte schlichtweg meine Existenz. 

Also eigentlich mehr oder weniger alles wie immer, dachte ich schweren Herzens, ging wortlos in unser Zimmer und legte mich traurig ins Bett. Glaubte der Rest meiner Familie wirklich, ich wäre ein Monster? Dann war es wohl besser, wenn ich statt Annamia verschwunden wäre. Was hielt mich denn hier noch? Eltern, die mich nicht liebten und eine Tante, die mir eigentlich immer fremdgeblieben war. Mit Mia kam Maria bestens zurecht, nur wir beide hatten nie wirklich einen Draht zueinander gefunden. Entschlossen raffte ich meine Sachen zusammen. Ich hörte, wie meine Eltern im Wohnraum des Hauses darüber beratschlagten, was nun der nächste Schritt sei und ob sie schon die Polizei informieren sollten. Meine Tante verneinte dies jedoch mit den Worten, dass es noch zu früh sei und sie bis morgen warten sollten. Zudem war sie sicher, dass ihre Nichte wohlbehalten wieder auftauchen würde. Ich wartete noch einige Minuten und öffnete das Fenster. Leise schlich ich mich raus in die Abendluft. Ein wenig später stand ich am recht menschenleeren Strand. Die Sonne war noch nicht untergegangen und es herrschten noch warme Temperaturen. Gerade wollte ich mich ausziehen, als ich eine Gestalt in der Ferne ausmachte. War das meine Schwester, die da in ihrem neuen, zitronengelben Bikini durch den warmen Sand spazierte? Sie war nicht allein, ein Mann lief neben ihr. "Annamia!?" rief ich so laut, ich konnte. "Miiiiaaaaa!"

Vielleicht war das Rauschen des Meeres zu laut und sie hörte mich einfach nicht. Resigniert ließ ich mich in den Sand fallen und fing an zu schluchzen. Es musste einfach raus. All die Wut, die Traurigkeit und die Sorge um Annamia, all das musste ich herausweinen. Aber was war danach? Was sollte ich nun tun? Ich zückte meine Taschenlampe und leuchtete den Strand aus. Da waren Spuren von nackten Füßen zu sehen. Kleinere Abdrücke, die zu Annamia passten und größere daneben. Waren das die letzten Spuren meiner Schwester? Wo ging sie hin mit dem Unbekannten? Wer war er? Aber vor allem: Was wollte er von meiner Schwester? Wie ein Indianer folgte ich den Abdrücken, bis ich nach einer Weile auf eine Meute junger Menschen traf. Sie feierten offenbar hier draußen eine Party, denn die meisten tanzten und tranken Alkohol. Es dauerte nicht lang, bis ich meine Schwester anhand des auffälligen Bikinis entdeckt hatte. Mit einer Flasche Bier in der Hand tanzte sie um das Lagerfeuer herum. Ich wollte gerade zu ihr gehen, als ein junger Kerl sie plötzlich in die Arme nahm. Sie lächelte ihn verliebt an und dann bewegten sie sich zusammen zur Musik. Es sah aus, als würden sich die beiden schon länger kennen. Aber das war doch gar nicht möglich, wir waren ja gerade erst auf der Insel angekommen. Eine Wut überkam mich plötzlich ob der Sorgen, die wir uns alle um sie gemacht haben, während sie sich eine schöne Zeit machte! Zornig erhob ich mich aus meinem Versteck und ging schnurstracks auf meine verschollen geglaubte Schwester zu. Als sie mich entdeckte, wich jede Farbe aus ihrem Gesicht. "Sag mal, bist du bescheuert?" schleuderte ich ihr wütend entgegen. "Was soll der Scheiss, was machst du hier?" Bevor sie antworten konnte, kam ein süßer Junge auf mich zu und pfiff anerkennend durch die Zähne: "Noch so ein hübscher Käfer!" Zwinkernd fragte er: "Tanzt du mit mir?" 

Gott, war der süß mit seinen dunkelbraunen Haaren und den ebenfalls braunen Augen. Und er wollte mit mir tanzen! Mit mir! Mit der unscheinbaren, jüngeren Schwester der fabelhaften Annamia!

Die mich jetzt an die Hand nahm und mich wegzerrte vom Geschehen. Sie gönnte mir einfach nichts! Und sie machte mich ständig wütend. Warum tat sie das?

"Was soll das?" fragte ich sie sauer. "Kannst du es nicht ertragen, dass sich ein Junge für mich interessiert?" Ihr Gesichtsausdruck ging mir durch Mark und Bein. Sie sah so blass aus. Und verletzt.

"Sophia, der Typ ist mindestens zehn Jahre älter als du!"

Ich erschrak, ließ mir aber nichts anmerken. "Na und? Er ist total süß und ich hätte gerne wenigstens mit ihm getanzt!"

"Es bleibt aber nicht beim Tanzen und ehe du dich versiehst, steckst du in etwas drin, das du gar nicht wolltest. Glaube mir, ich weiß, wovon ich rede, Schwesterherz." 

Machte sie sich etwa Sorgen um mich? Das stand ihr nicht zu! Sie war nicht meine Mutter! Ich ließ sie einfach stehen und suchte nach dem Jungen, der mit mir tanzen wollte. Doch ich kam leider zu spät, er hatte bereits ein anderes Mädchen im Arm. Was war denn falsch mit mir? War ich denn nicht liebenswert? War ich so hässlich? Resigniert ließ ich mich in Sand sinken und weinte bitterlich.

Eine Hand berührte sanft meine Schulter und jemand fragte, ob alles in Ordnung sei. Als Antwort schüttelte ich meinen Kopf. Dann streichelte jemand über mein Haar und drückte mich lievevoll an sich. Mein Kopf lag ganz weich, wie auf Kissen gebettet und ich genoss diesen längst überfälligen Trost. Nach einigen Minuten öffnete ich meine Augen, denn ich wollte sehen, wer mich da so mütterlich getröstet hatte und sah direkt in das Gesicht von Tante Maria. Ich wich zurück. "Du? Was machst du denn hier?"

"Ich bin dir vorhin nachgeschlichen. Als du aus dem Fenster gestiegen bist, hatte ich gerade heimlich eine Zigarette geraucht und dich gesehen. Doch du hast mich nicht bemerkt..."

"Du rauchst?" fragte ich verwundert. "Ja, aber das soll euer Vater nicht wissen, er hasst es", gab sie kleinlaut zu. Erleichtert begann ich zu lachen, weil ich menschliche Züge bei Tante Maria entdeckt und sie mir ihr kleines Geheimnis anvertraut hatte. Von einer Sekunde zur anderen hatte ich sie plötzlich gern, aber vor allem hatte ich mich total wohl an ihrer eigentlich viel zu großen Brust gefühlt. Und ich begriff noch etwas: Wir hatten alle unsere kleinen oder größeren Geheimnisse. "Wo ist Annamia?" fragte ich meine Tante. "Ich bin hier", hörte ich meine Schwester sagen und dann trat sie hinter Tante Maria hervor und grinste mich schief an. 

"Raus mit der Sprache!" forderte ich sie auf. "Was ist dein Geheimnis?" 

Meine Schwester druckste herum, trat von einem Fuß auf den anderen. Instinktiv spürte ich, dass es viel schlimmer sein musste, als heimliches Rauchen. 

"Ich bin schwanger..." sagte sie endlich. Ich stolperte nach hinten vor Schreck. "Wie bitte?" Ich starrte sie an, als wäre sie ein Alien. Warum blieb Tante Maria eigentlich so ruhig? Wusste sie etwa davon?

"Sophia, deine Schwester war so fertig, dass sie sich mir irgendwann anvertraute und mir das Versprechen abnahm, mit niemandem darüber zu reden", gab mir meine Tante die Antwort, bevor ich die Frage aussprechen konnte.  

"Von wem ist das Baby denn?" fragte ich meine Schwester. Sie wurde rot und wollte nicht recht mit der Sprache heraus. 

"Das ist kein Kind der Liebe..." antwortete sie stattdessen. "Es ist aus einer Laune heraus auf einer Party entstanden, auf der ich zum ersten Mal in meinem Leben richtig besoffen war."

Ach du Schreck! dachte ich nur und sah sie wortlos an. "Außerdem war es auch noch mein erstes Mal, das ich mir wahrlich anders vorgestellt habe!" heulte sie plötzlich und sank in den Sand. "Der Junge hat meinen Zustand schamlos ausgenutzt und sich halb mit Gewalt genommen, was er begehrte. Leider war ich nicht in der Lage, mich zu wehren." Ein Schmerz durchzuckte mich plötzlich und ich setzte mich neben meine Schwester in den Sand. Sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter und ich streichelte ihr über das schwarze Haar. Wie sehr ich diese Vertrautheit zwischen uns vermisst hatte, wurde mir erst in diesem Moment richtig bewusst. 

"Gott sei Dank seid ihr alle wieder da!" hörten wir plötzlich Mama rufen und kurz später stand sie mit Papa vor uns. Ihr Blick war voller Erleichterung, der unseres Vater hingegen voller Zorn. 

"Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen?" schimpfte er. "Was habt ihr euch dabei gedacht, uns einen solchen Schrecken einzujagen?" Wir trauten uns nicht, etwas zu erwidern. 

"Erst verschwindet Annamia, dann Sophia und Maria! Wir haben Gott weiß was gedacht!" schloss er seine Predigt. Doch dann merkte er, dass wir uns nicht einfach amüsierten, sondern dass etwas nicht in Ordnung war. Ich nutzte den Moment und sprang förmlich an seine väterliche Brust. Erst drückte er mich zaghaft an sich, doch dann voller Liebe und Erleichterung. Annamia, Mama und Tantchen kamen dazu. Wortlos standen wir zu fünft in einer liebevollen Umarmung mitten am Strand auf einer fremden Party. 

Zurück in unserem Ferienhaus rückte Mia mit der Sprache raus und vertraute unseren Eltern an, was ihr vor knapp zwei Monaten auf der Party passiert war. Entsetzen und Wut standen in ihren Gesichtern. Unsere Mutter nahm Mia liebevoll in den Arm und Papa musste sich erst einmal abreagieren, um nicht sofort zu diesem Jungen zu fahren und ihn umzubringen. Er kramte eine Zigarette aus einer kleinen Schublade, steckte sie sich an und nahm einen tiefen Zug. Unser Vater rauchte? War das sein Geheimnis? Fassungslos blickten wir ihn an. "Das brauche ich jetzt!" war seine knappe Erklärung. "Mama?" flüsterte Mia. "Ich möchte das Kind nicht behalten. Erstens bin ich zu jung und zweitens möchte ich erstmal mein eigenes Leben auf die Reihe bekommen. Ich habe auch schon einen Termin bei einer Beratungsstelle gemacht."

Unsere Mutter schluckte schwer, dennoch sagte sie: "Ich werde dich begleiten, wenn du möchtest." Annamia sah mich an. "Ist es okay, wenn Sophia mich begleitet? Das Gespräch findet ohnehin nur mit mir alleine statt." Mama schluckte erneut schwer, aber sie blieb tapfer.

"Natürlich", sagte sie und strich Mia eine Strähne aus der Stirn. "Aber zur Polizei kannst du mich begleiten, Mama. Ich werde nun doch Anzeige erstatten, denn der Junge ist eigentlich schon ein junger Mann. Er ist viel älter als ich und hat meine Situation ausgenutzt." Dankbar lächelte sie Tante Maria an, die sie dazu überreden konnte. Mein Vater ballte seine Hände zu Fäusten und seine Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. In Gedanken hatte er diesen Feigling längst zu Brei geschlagen, doch er versprach, alles Weitere der Polizei zu überlassen. Eine Gänsehaut kroch über meinen gesamten Körper, denn nun wurde mir glasklar, wovor Annamia mich vorhin auf der Party beschützen wollte. Eine Träne löste sich und lief über meine Wange. Ich konnte verstehen, dass Papa es total fertig machte, was seiner Tochter passiert war. Auch mir ging das sehr nahe. So etwas sollte niemand erleben müssen. Papa fluchte vor sich hin und wollte den Kerl am liebsten foltern und langsam sterben lassen. Mama und Tantchen hingegen versuchten, einen kühlen Kopf zu behalten und nahmen erstmal einen Schnaps auf Ex. Und meine Schwester sah einfach nur erleichtert aus, dass ihr Geheimnis nun keines mehr war. 

 Und ich? Ich war baff. Meine fabelhafte Schwester war gar nicht so fabelhaft, wie ich immer dachte. Niemand war fabelhaft oder gar perfekt. Und das beruhigte mich ungemein im Hinblick auf die Zukunft.  

 

Ende

 

 

 

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin
Cover: bookrix
Tag der Veröffentlichung: 16.07.2023

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Beitrag zum Wettbewerb mit dem Thema "fabel(haft) im Juli 2023

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