Cover

Ein magischer Moment

Plötzlich und unerwartet stand ich im Mittelpunkt. Um mich herum erdrückende Stille. Man konnte hören, wie alle den Atem anhielten und mich anstarrten. Zum ersten Mal nach langer Zeit wurde ich von Kopf bis Fuß als Mensch wahrgenommen und nicht als Patient oder Fall. Sämtliche Augenpaare waren auf mich gerichtet und musterten mich neugierig. Sie waren aufgestanden und hatten einen Halbkreis gebildet, was die Situation für mich erschwerte. Aber da musste ich jetzt durch!

Für diesen ersten Tag an meiner ehemaligen und dadurch irgendwie auch neuen Schule hatte ich mich besonders zurecht gemacht. Ich war beim besten Friseur der Stadt und einer Kosmetikerin gewesen und beide hatten großartige Arbeit geleistet. Das Ergebnis entschädigte mich für ihre mitleidigen Blicke. Nun sah ich endlich wieder aus wie eine junge Frau und fand mich sogar ein wenig hübsch. Die ersten Monate, die ich nach meinem schrecklichen Unfall depressiv und wie in Trance ge - und erlebt hatte, waren nicht spurlos an meinem Gesicht und meinem Körper vorübergegangen. Nichtsdestotrotz trug ich an diesem Tag mein Lieblingskleid. Es war Sommer und die Temperatur lag bei knapp dreißig Grad. Das rote, kurzgehaltene Etuikleid betonte meine dazu passend bemalten Lippen und ließ mich frischer aussehen, als ich es war. Meine blonden Locken, die ich in den letzten Monaten sträflich vernachlässigt hatte, fielen nach der intensiven Behandlung der Friseurin in weichen Wellen über meine Schultern. Gegen den Willen meiner überfürsorglichen Eltern wollte ich das Schulgebäude allein betreten. Dass mein Klassenraum im Ergeschoss lag, war in diesem Fall eine glückliche Fügung des Schicksals. Meine Mutter hatte mich gefühlte tausendmal gefragt, ob sie nicht doch mitkommen sollte. Mein Vater machte auf "cool", doch in seinem Innern tobte ein Sturm der Gefühle. Das sah ich ihm deutlich an. Er war heillos damit überfordert, dass seine einzige Tochter, sein Augapfel, nun nicht mehr wie früher ganz normal zur Schule gehen konnte. Vielleicht schämte er sich sogar ein wenig für mich. Das tat mir am meisten weh. Dass ich nicht einschätzen konnte, ob er wirklich traurig war oder mich am liebsten aus Scham vor allen anderen wegsperren wollte. Er litt augenscheinlich noch mehr unter den Folgen des Unfalls als ich selbst. Und meine Mutter verfiel ins komplette Gegenteil: Sie helikopterte 24/7 um mich herum und merkte in ihrem Wahn überhaupt nicht, dass sie mich damit immer mehr isolierte. Meine engsten Freunde Camilla und Sören besuchten mich immer seltener und irgendwann kamen sie gar nicht mehr und ich war plötzlich allein mit mir und meinen Gedanken. Aber ich glaube, daran war meine Mutter nicht wirklich Schuld. Ich sah die Hilflosigkeit in den Augen meiner ehemaligen Freunde. Die beiden konnten einfach nichts mehr mit mir anfangen. Was sollte man auch mit einer Behinderten anstellen? Vor dem Unfall waren wir viel unterwegs gewesen. Schwimmen, Reiten und Klettern waren unsere liebsten Hobbys. Ich hatte sogar ein eigenes Pferd: ein Hannoveraner, der auf den schönen Namen Rusty hörte. Obwohl ich nach dem Unfall nicht mehr reiten durfte, verbrachte ich so viel Zeit wie möglich mit meinem tierischen Freund. Er merkte, wenn es mir nicht gutging. Dann stupste er mich mit seinen Nüstern zärtlich und streichelte mich mit seinem weichen Kopf. Rusty war zu meinem einzigen Freund geworden. Ich hatte durch den Unfall das rechte Bein und meinen rechten Arm verloren, nicht aber meine Gefühle oder meinen Verstand. Obwohl letzterer kurzzeitig seine Arbeit niedergelegt und ich tatsächlich über einen Suizid nachgedacht hatte. Für mich war das Leben einfach nicht mehr lebenswert gewesen. Meine Hobbys konnte ich nicht mehr ausüben und mein liebstes - das Reiten auf Rusty - war von jetzt auf gleich passé gewesen. Das brach mir fast das Herz und ich war einfach noch zu jung! Hatte das ganze Leben noch vor mir. Aber was für ein Leben? Eines ohne richtige Perspektive, angewiesen auf einen Rollstuhl. Das waren keine rosigen Aussichten für mich. Und obwohl mir gefühlt jeder sagte, dass ich doch froh sein sollte, überhaupt noch zu leben, sah ich das selbst eine lange Zeit nicht so. Deshalb wurde mir eines viel zu früh klar in meinem jungen Leben: Dass andere Menschen, die so etwas nicht selbst erlebt hatten, nicht mal ansatzweise nachfühlen konnten, was seit dem Unfall in mir vorging. Womit ich fast täglich zu kämpfen hatte. Allem voran den Hass auf den Unfallverursacher, der mich mit seinem Fahrverhalten so entstellt hatte. Mittlerweile aber war mir bewusstgeworden, dass er für den Rest seines Lebens damit klarkommen musste. Er war sein eigenes Gefängnis und sowohl Richter als auch Angeklagter in einem. Aber das war sein Problem, ich hatte meine eigenen. Selbstzweifel, depressive Phasen und Minderwertigkeitskomplexe waren zu meinen ständigen Begleitern geworden. Ja, sie hatten Lebensfreude und Freundschaften quasi abgelöst. Aber drauf geschissen! Denn mittlerweile war ich stärker geworden und wollte mich zurück ins Leben kämpfen und der erste Schultag nach über vier Monaten Abstinenz gehörte dazu. Also stand - nein, saß - ich nun vor meinen Mitschülern und starrte sie genauso an, wie sie mich. Ihre Gesichter waren mir irgendwie fremd geworden und mein Anblick überforderte sie ganz offensichtlich. Zwar sahen sie eine hübsche, junge Dame in einem wunderschönen, kurzen Kleid, aber sie sahen eben auch, dass auf der rechten Seite Arm und Bein fehlten. Einige starrten unverhohlen dorthin, andere scharrten mit den Füßen und schauten überall hin, nur nicht in mein Gesicht oder gar meine Augen. Sie wollten sich dem nicht stellen, wollten sich nicht mit meiner Körperbehinderung auseinandersetzen. Plötzlich wurde die Tür schwungvoll geöffnet und unterbrach die erdrückende Stille. Ich sah, wie alle Augenpaare sich auf die Person richteten, die gerade unseren Klassenraum betreten hatte. Aber die Blicke meiner weiblichen Mitschüler waren anders als die der Jungs. Die Begeisterung war ihnen anzusehen. Das weckte meine Neugier und so machte ich gekonnt eine halbe Drehung mit meinem Rolli. Dann erblickte ich ebenfalls den jungen Mann, der mich nun grinsend musterte und mir die Hand reichte. "Du musst Meike sein."

Er sah in der Tat ziemlich gut aus. Blond und blauäugig strahlte er mich an.

"Na, das war ja nicht schwer zu erraten", erwiderte ich und zeigte auf meinen Rollstuhl. "Und wer sind Sie...äh...du?"

Wieder grinste er mich an. "Sag bitte Du, sonst komme ich mir so alt vor. Ich bin Lars, dein Inklusionsbegleiter", klärte er mich auf. Unwillkürlich zuckte ich zusammen.

"Du bist mein WAS?!?"

Also hatte meine Mutter tatsächlich Ernst gemacht und mir gegen meinen Willen so einen Inklusionsfuzzy an den Hintern geheftet. Ich war entsetzt und fassungslos. Im ersten Moment sogar richtig sauer. Aber ich musste auch zugeben, dass mir die lockere Art, mit der er mit mir umging, sehr gefiel. Er war der erste Mensch, der das tat. Der mir kein Mitleid entgegenbrachte. Und zum ersten Mal nach dem Unfall fühlte ich mich wieder fast wie ein normaler Mensch.

Ein wunderbarer, fast magischer Moment...

Lars war nur einige Jahre älter als ich, was ich mit Genugtuung zur Kenntnis nahm. Eine wesentlich ältere Person hätte ich mir noch weniger als ständigen Schatten vorstellen können. Immer noch war es ganz still im Klassenzimmer, alle Augenpaare waren auf Lars und mich gerichtet.

"Dein verträumtes Grinsen nehme ich mal als Kompliment", flötete Lars süffisant. In dem Moment erfasste mich ein Gefühl, das ich schon lange vor meinem Unfall nicht mehr gespürt hatte. Erregung! Sie nahm mich von Kopf bis Fuß ein. Wie ein warmer Sommerregen berieselte sie meinen gesamten Körper. Ich spürte die Hitze in meinen Wangen und sah beschämt zu Boden. Ausgerechnet meine alte Klassenlehrerin rettete mich aus dieser peinlichen Situation. Wir hatten früher ein eher angespanntes Verhältnis. 

"So, Herrschaften, setzt euch wieder auf eure Plätze und lasst Meike und Lars erst einmal in unserer Mitte ankommen." Dankbar lächelte ich Frau Stork an und ließ mich sogar von Lars zu meinem Platz schieben. Leider nahm er sich einen Stuhl und setzte sich so nah neben mich, dass ich sein Aftershave riechen konnte.

"Willst du jetzt auch noch für mich mitschreiben?" fragte ich zickiger als beabsichtigt und wohl eher zur Ablenkung. Doch auch davon ließ Lars sich nicht beeindrucken. Klar, als Inklusionsbegleiter war das bestimmt nichts Neues für ihn, angemault zu werden. Aber für mich war das eine völlig neue Situation, verdammt nochmal! Ich bin zeit meines Lebens allein oder mit meinen Freunden zur Schule gegangen und das sollte jetzt alles einfach vorbei sein? Plötzlich spürte ich Lars feuchtwarme Hand auf meinem nackten Oberschenkel. Falls er mich damit beruhigen wollte, ging das total nach hinten los. Ein Stromstoß durchzuckte meinen Körper. Die aufgescheuchten Schmetterlinge in meinem Bauch fingen an zu tanzen. Und ich fing vor lauter Aufregung an zu schwitzen. Wohin wollten seine Finger? Unbemerkt von den anderen streichelte Lars ganz sanft meine warme Haut und wanderte gefährlich weit nach oben. Am Ansatz meines Höschens hielt er inne und ich war fast ein wenig enttäuscht. Hatte ich mir doch so sehr gewünscht, dass er seine Finger unter meinen Slip schieben und meine weichen Schamlippen liebkosen würde. Aber er machte keine Anstalten, meine Sehnsucht zu stillen, sondern zog im Gegenteil seine Hand wieder zurück. Enttäuscht blickte ich ihn an. Mein Gesicht fühlte sich an wie ein Hochofen und meine Augen glänzten bestimmt wie Sterne in der Nacht. Würde man mir meine innere Aufruhr ansehen? Ich hoffte inständig, dass dem nicht so war.  

"Ich könnte mir vorstellen, dass du in den letzten Monaten angefangen hast, mit der linken Hand schreiben zu lernen. Bei deinem Temperament lässt du dich doch nicht unterkriegen!" sagte Lars, als wäre gerade eben überhaupt nichts passiert. Das machte mich irgendwie stutzig und ich fragte mich, ob ich mir seine Berührung nur eingebildet hatte. Ich war total verwirrt. Was war nur heute los mit mir? Doch dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Es war gar nichts passiert zwischen Lars und mir. Ich hatte es mir nur so sehr gewünscht, dass ich einem erotischen Tagtraum zum Opfer gefallen war. 

"Habe ich Recht?" fragte er und unterbrach meine Gedanken. Ich errötete und mein Herz machte gegen meinen Willen einen Freudensprung in meiner Brust. Denn tatsächlich hatte er verdammt Recht! Mittlerweile konnte ich einigermaßen leserlich mit der linken Hand schreiben. Es war mir unsagbar wichtig, da ich angefangen hatte, Tagebuch zu führen. Und als ich in Lars' azurblaue Augen sah, wusste ich, dass auch er künftig darin vorkommen würde. 

 

ENDE  ( oder erst der Anfang;-) )

 

 

Impressum

Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Cover: google
Tag der Veröffentlichung: 19.03.2023

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Beitrag zum Erotik-Wettbewerb März/April 2023 zum Thema "Inklusion"

Nächste Seite
Seite 1 /