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Ausgleichende Gerechtigkeit?

 "Ich komme mir mittlerweile vor wie eine Legehenne!" heulte meine Freundin Saskia sich wieder einmal bei mir aus. Und wie immer fragte ich mich, was ich darauf sagen sollte. Sie hatte bereits 5 Kinder und das sechste war unterwegs. Schwer atmend hielt sie sich den großen, runden Bauch und Tränen liefen über ihre rosigen Wangen.

"Du hast es dir selbst ausgesucht", wollte ich am liebsten sagen, aber Saskia war in ihren Schwangerschaften immer derart empfindlich, dass ich lieber die Klappe hielt. Sie wischte sich übers Gesicht und kramte in ihrer Tasche herum. Kurz später fand sie, was sie begehrte: Ihre Beruhigungs-Kau-Dinger: Lakritz. Sie stopfte sich gleich drei Stück auf einmal in den gierigen Mund und wirkte fast wie eine Süchtige. Keinen Tag kam meine Freundin ohne diese Leckerei aus und hatte immer eine Packung bei sich. Sie war mittlerweile im achten Monat und konnte sich schon jetzt kaum noch bewegen. Diese Schwangerschaft verlief irgendwie völlig anders als die anderen. Sie war mega empfindlich, vertrug noch weniger Kritik als es unschwanger schon der Fall war und hatte gut 25 Kilo zugelegt. Ich sah sie intensiv an: Ihre aschblonden, leider sehr ungepflegten Haare, ihre buschigen Augenbrauen, ihre gerötete Nase und ihre ungewohnt leeren, blauen Augen. In dieser Schwangerschaft war sie erfüllt von Lethargie und das war völlig neu. Saskia war immer eine Schönheit gewesen und von Männern umschwärmt. Doch nun pflegte sie sich nicht mehr, heulte fast die ganze Zeit und stritt sehr viel mit dem Erzeuger ihres ungeborenen Kindes. Mit Lars, dem Vater ihrer ersten beiden Kinder, den Zwillingen Lisa und Lenny, war sie glücklich verheiratet. Doch ein paar Jahre später zogen dunkle Wolken auf und er verließ sie bald wegen einer anderen Frau. Saskia war am Boden zerstört und es dauerte einige Zeit, bis sie überm Berg war. Dann lernte sie beim Public Viewing, bei dem damals das WM Finale auf einer großen Leinwand übertragen wurde, Torben kennen. Sie heirateten nicht, aber bekamen drei weitere Kinder miteinander. Doch auch er blieb leider nicht bei ihr. Allerdings trennte er sich wegen eines anderen Mannes von meiner Freundin und diese Tatsache machte Saskia richtig fertig. Gegen einen Mann hatte sie nicht den Hauch einer Chance. Torben und Rainer hatten sich ganz romantisch bei einem Lagerfeuer ineinander verliebt, das Torben und seine Freunde einmal jährlich veranstalteten. Sie trafen sich an einem Sonntag in jedem Oktober in einer anderen Stadt und irrten freiwillig durch ein Labyrinth von Wäldern. Das bedeutete wohl einen enormen Kick für die Truppe von erwachsenen Jungs, denn man konnte nie sicher sein, aus der Situation auch wieder heil rauszukommen. Und das erfolgreiche Ende dieser Nachtwanderungen wurde dann immer mit dem tradionellen Lagerfeuer eingeleitet. Bei einem dieser Ereignisse trafen die Freunde dann auf eine andere Männergruppe, die im selben Waldstück unterwegs war. Rainer und seine zwei Kumpel waren ebenfalls abenteuerlustig. So schlossen sie sich kurzerhand zusammen und beim kollektiven Aufwärmen und Trinken sprühten plötzlich nicht mehr nur die Funken des Lagerfeuers. Zwischen Torben und Rainer hatte es richtiggehend geknallt. Es war nicht abzusehen, dass sich die beiden ineinander verlieben würden und keiner war wohl überraschter als der Ex von Saskia selbst. Ich werde den Abend niemals vergessen, an dem meine langjährige Freundin mir davon erzählte. Es war mein dreißigster Geburtstag und ich hatte sie zu einer köstlichen Lasagne eingeladen. Da ich ein ganz neues Rezept ausprobiert hatte, war ich sehr gespannt gewesen, wie sie ihr schmecken würde. Letztendlich hatte sie kaum etwas gegessen und die ganze Zeit geheult wegen Torben und dieser unseligen Geschichte mit Rainer. Sie tat mir wirklich sehr leid und ich versuchte ihr zu helfen, wo ich konnte. Aber es ging steil bergab mit ihr. Erst die Begegnung mit Jürgen, ein Jahr später, holte sie aus ihrem emotionalen Tief. Und von ihm war sie jetzt zum sechsten Mal schwanger. Sie kannten sich gerade mal eine Woche, als sie erfuhr, dass Baby Nummer 6 unterwegs war. Ich weiß noch, wie geschockt ich damals reagiert hatte. Sehr zum Missfallen meiner Freundin, denn sie konnte es nicht ausstehen, wenn man sie kritisierte. Da sie aber schon mit Lisa, Lenny, Leila, Luna und Lukas seit einiger Zeit überfordert war, hielt ich die Idee, dieses Kind zu bekommen, für absolut waghalsig. Doch wenn ich auch nur einen Hauch von Bedenken geäußert hätte, wäre ich wohl sofort zu ihrer ehemaligen Freundin geworden. Deshalb und auch aus anderen Gründen fragte ich mich immer öfter, warum ich eigentlich noch mit ihr befreundet war. Was hielt mich bei ihr? Wahrscheinlich die Tatsache, dass wir uns bereits seit der Schulzeit kannten und einiges zusammen durchgemacht haben. Ich war das genaue Gegenteil von ihr: Single und kinderlos. Deshalb konnte ich ihr recht oft unter die Arme greifen bezüglich der Kinder. Für sie war ich Tante Sonja. Und Lisa und Lenny, die beiden Ältesten, waren tatsächlich meine Patenkinder. Für die weiteren allerdings wollte ich dieses Amt nicht mehr übernehmen, was mir Saskia natürlich wieder sehr übelnahm. Daher wurde die Dritte im Bunde mit dieser Aufgabe betraut: Gerlinde. Ebenfalls ein Überbleibsel aus unserer Schulzeit. Lindi, wie sie von allen genannt werden wollte, war selbst Mutter von Zwillingen und glücklich verheiratet. Von demher passte sie auch besser in das Aufgabenbild, fand ich. Und so teilten wir uns als Paten quasi Saskias Kinder. Nur ich passte irgendwie nicht ins Bild: Keine Kinder, kein Ehemann, nicht mal ein Typ in Sichtweite. Was die Partnersuche anging, steckte ich auch in einer Art Lethargie

Und dann kam der Abend, an dem ich endlich den neuen Partner von Saskia kennenlernte. Ich hatte wieder meine grandiose Lasagne gezaubert und die beiden dazu eingeladen. Stolz stellte sie mir Jürgen vor, der eben noch griesgrämig dreingeschaut hatte und nun plötzlich zu strahlen begann, als er mir die Hand zur Begrüßung reichte. Leider hielt er sie viel zu lange fest, was auch Saskia bemerkte und ihn fragte, ob ihm zwei Hände zu wenig seien und er meine noch dazu haben wollte. Mehr zum Schein lachten wir alle drei, denn wir wussten, dass da eine Spannung zwischen Jürgen und mir herrschte. Auch mir hatte die Berührung seiner warmen Hand ein Kribbeln in den Bauch gezaubert. Und seine Blicke aus den tiefblauen Augen ließen mich auch nicht kalt. Was für ein merkwürdiger Abend damals.

Ich wollte nicht in Saskias Haut stecken und spüren, dass mein Partner meine Freundin attraktiv findet. Dass da eine Spannung in der Luft lag, die nichts mit mir zu tun hatte und bei der ich nur als Zuschauer fungierte. Furchtbare Vorstellung.

Trotzallem konnte ich mich dem Charme von Jürgen nicht erwehren. Immer wieder trafen sich beim Essen unsere Blicke und er lobte meine Kochkünste in den Himmel. Wir unterhielten uns angeregt über viele Dinge, die uns beide interessierten. Saskia sagte nicht viel an dem Abend, aber ihre Blicke sprachen Bände. Sie wünschte uns beiden innerlich die Pest an den Hals, weil wir uns auf Anhieb so gut verstanden hatten. Das konnte ich sogar besser verstehen als die meisten, denn auch ich habe so eine Situation schon durchleben müssen. Ich war so verliebt in meinen Expartner und hatte mir eine Zukunft mit ihm ausgemalt, eine richtig schöne, gemeinsame Zeit. Doch dann lernte er an einem Abend eine andere Frau kennen und das Schicksal nahm seinen Lauf. Zwar hatte er sich damals nicht in sie verliebt, aber einige Male Sex mit ihr. Das hat mir das Herz gebrochen und das konnte und wollte ich nicht verzeihen. So trennte ich mich von ihm. Das Ganze lag nun ungefähr acht Monate zurück. Und die andere Frau damals war keine Geringere als Saskia. Bis heute weiß ich nicht, wie ich geschafft habe, ihr diesen Fehltritt, diesen ungeheuren Vertrauensbruch und Verrat zu verzeihen. Nostalgie? Naivität? Vergessen jedoch werde ich es wohl nie. Der Abend, an dem ich Jürgen kennenlernte, lag ungefähr 2 Wochen zurück und ich musste die ganze Zeit an ihn denken. Und nun saß Saskia auf meiner Couch und heulte, wie fast immer. Und ich fühlte mich schlecht. Warum weinte sie bloß so viel? Das machte mich wahnsinnig, ich war damit total überfordert. Und warum ließ sie sich so gehen? Irgendwas war in dieser Schwangerschaft anders. Aber sie hatte doch keinen Grund für ihre Lethargie. Jürgen schien ein toller Mann zu sein und würde sicher auch einen guten Vater abgeben. 

"Das Baby ist nicht von Jürgen!" ließ sie plötzlich unter Tränen verlauten. Ich dachte, ich hätte mich verhört und sah sie ungläubig an:

"Wie bitte?"

"Jürgen ist nicht der Vater meines Kindes!" kreischte sie hysterisch. Dann sah sie mich schuldvoll an. Mir stockte der Atem, das Blut verließ meinen Körper und ich fühlte mich, als würde ich ohnmächtig werden.

"Scheisse, Sonni, was ist mit dir? Du bist kreidebleich geworden!" Saskia wirkte ehrlich besorgt und zog mich neben sich auf mein Sofa. So fürsorglich war sie lange nicht mehr zu mir gewesen. Sie nahm meine Hand und sah mich eindringlich an.

"Achim ist der Vater", kam es kleinlaut und fast gemurmelt aus ihrem Mund. Augenblicklich war das Blut in meinen Körper zurückgekehrt und ich sprang auf: "Wie bitte?" fragte ich erneut und hoffte, mich verhört zu haben. 

"Das Kind ist von Achim, deinem Ex. Es tut mir so leid, Sonni..."

"Nenn mich nicht so!" fauchte ich sie an. "Nie wieder!" Es tat so furchtbar weh. Als hätte ein Pfeil mein Herz durchbohrt.

"Du nimmst mich doch nur auf den Arm!" lachte ich bitter. Jetzt war ich es, die hysterisch kreischte. Sie streckte ihre Hand nach meiner aus: "Leider nicht. Ich wünschte, es wäre so, Sonja." 

Unter mir tat sich der Boden auf. Ich schwankte, musste mich wieder hinsetzen. Meine beste Freundin bekam also ein Kind von Achim, meinem Exfreund, und nicht von Jürgen. Der Sex mit Achim war das Eine, aber dass auch das Kind von ihm war, änderte alles. Am meisten jedoch tat mir die Lüge bezüglich des Erzeugers dieses Babys weh. Doch dann, völlig unerwartet, beschlich mich plötzlich ein unbeschreibliches Glücksgefühl, das alles andere einfach wegschob. Tiefblaue Augen und warme Hände schossen vor mein inneres Auge.

"Weiß Jürgen denn Bescheid?" fragte ich hoffnungsvoll.

Schuldbewusst sah meine Freundin mich an. "Er weiß es seit unserem zweiten Treffen damals. Wir sind beim ersten Date ein einziges Mal miteinander in der Kiste gelandet, aber da war ich ja schon schwanger. Jürgen hatte an unserem nächsten gemeinsamen Abend direkt klargestellt, dass er keine Beziehung mit mir eingehen wolle. Da er mit seiner zukünftigen Frau eine eigene Familie gründen möchte. Ich muss gestehen, dass ich kurz in Erwägung gezogen habe, ihm das Kind unterzuschieben. Aber nur, weil ich wirklich total verzweifelt war. Das musst du mir glauben, Sonni..."

 

Ich glaubte ihr, aber nach diesem emotionalen Gespräch brauchte ich erst einmal eine Pause von unserer Freundschaft. Ich musste nachdenken, ob es denn überhaupt noch eine Fortführung dieser geben könnte und vor allem, was ich selbst will. Zum Glück hatte sie ihren perversen Plan nicht in die Tat umgesetzt und ich war froh, dass sie und Jürgen lediglich einmal miteinander geschlafen hatten. Seitdem waren sie die ganze Zeit nur gut befreundet gewesen. Jürgen wollte ihr halt helfen, mit seinem guten Herzen in der Brust. Doch dann traf er auf mich und alles änderte sich. Er war sogleich verliebt, genau wie ich. Groll hegte ich keinen gegen Saskia, dafür war ich viel zu glücklich mit Jürgen. 

 

ENDE

 

 

 

 

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Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Cover: google
Tag der Veröffentlichung: 06.11.2022

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