Mit offenem Mund starrte die Braut auf die wunderschöne und superteure Vase Gema aus dem Hause Moser, die sie sich von ihrer Schwiegermutter in spe gewünscht hatte. Sogar die richtige Farbe hatte sie: aquamarin. Mundgeblasen, das edle Stück. Es waren nur noch wenige Minuten bis zur Trauung und aus heiterem Himmel stand nun Gitte, ihre zukünftige Schwiegermutter, vor ihr und lehrte ihr das Grausen. Die hübsche Vase hielt sie in ihren alten, faltigen Händen und ein teuflisches Grinsen lag auf ihrem hageren Gesicht. Die Braut mit dem schönen Namen Mila schaute ängstlich drein: "Du wirst doch nicht das teure Stück...?" fragte sie, fast flehend. Als Antwort bekam sie ein schauriges Lachen. "Oh doch, ich werde, meine Liebe!" In Gittes Augen loderte ein Feuerwerk, das der Zorn entzündet hatte. Mila bekam es ein wenig mit der Angst zu tun, denn sie wusste nicht, was hier eigentlich geschah. "Bitte, stell die Vase zurück auf den Gabentisch, Gitte", bat sie und machte einen Schritt auf die Mutter ihres künftigen Mannes zu. Diese aber blieb völlig unbeeindruckt von der Bitte und hob die schwere Vase im Gegenteil noch ein wenig höher, um ihrer Drohung, sie zu zerstören, mehr Nachdruck zu verleihen. Mila verstand gar nichts. Zudem war sie erstaunt über die Kraft ihrer baldigen Schwiegermutter.
"Gittilein, was ist denn los mit dir? Dein Sohn heiratet heute und du führst dich auf wie eine Furie!"
Die zukünftige Schwiegermutter lachte erneut schallend und wieder blitzte ein Feuer des Zorns in ihren Augen auf.
"Du scheinheiliges Luder! Du willst ihn doch nur wegen des Geldes heiraten! Und nenn mich nicht Gittilein!"
Mila schnappte nach Luft. "Wie bitte?" stieß sie aufgebracht hervor, "wie kommst du denn darauf?"
"Du hättest Schauspielerin werden sollen, Mädchen! Du hältst mich wohl für total unterbelichtet!"
Mila verstand immer noch nicht und kam langsam zu dem Schluss, dass ihre Schwiegermutter statt ihres zukünftigen Ehemannes kalte Füße oder sogar Torschlusspanik bekam. Gitte selbst war nämlich leider seit einigen Jahren verwitwet. Sie gehörte jetzt zwar zu den Reichen, aber das ersetzte keine Liebe.
"Du bist die mit dem Geld in der Familie, liebstes Schwiegermütterchen, und nicht dein Sohn!"
"Na und? Das macht doch keinen Unterschied! Mark würde dir aus lauter Liebe doch sein letztes Hemd geben!" schimpfte sie, "und dir ist doch mehr als glasklar, dass ich ihm nichts abschlagen kann, weil er der einzige Mann ist, der mir noch gebleiben ist." Plötzlich veränderte sich ihr Gesicht und ihre Augen schimmerten verdächtig. Diesen Moment nutzte Mila um Gitte die Vase aus den Händen zu reißen und sie vorsichtig - als wäre sie etwas Heiliges - zurück auf den Gabentisch zu stellen.
"Was ist denn hier los?" Mark stand wie aus dem Nichts plötzlich vor den beiden. Er sah umwerfend gut aus in seinem schwarzen Smoking und dem weißen Hemd. Sein dunkles Haar hatte er fesch nach hinten gegelt und seinen Bart faschmännisch trimmen lassen. Himmel, was für ein schöner Mann! entfuhr es ihr und brachte Mark zwar für einen Moment zum Lächeln, aber schnell wurde sein Gesicht wieder zornig. Wie das seiner Mutter vorhin. Mila fragte sich, was denn bloß los war heute mit den beiden. Mark Tanner, der Mann, in den sie sich vor knapp einem halben Jahr verliebt hatte. Nicht zuletzt wegen der Ruhe, die er stets ausstrahlte. Er gab ihr das Gefühl, dass alles gut war, auch wenn sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Seine Gelassenheit tat ihr immer gut. Aber dennoch gab es da einen Haken: seine neurotische Mutter. Überall witterte sie Böses, hörte das Gras wachsen und Flöhe husten. Diese Frau konnte einen wahnsinnig machen, aber sie war nun mal Marks Mutter und er liebte sie. Im Grunde ihres Herzens mochte sie Gitte Tanner, aber sie hatte es Mila stets schwergemacht. Und ausgerechnet heute führte sie sich auf wie eine verrückte Hexe. Kurz vor der Trauung baute sie sich plötzlich mit der teuren Vase vor ihr auf und beschimpfte sie. Aber sie würde es nicht zulassen, dass Gitte ihre Hochzeit mit Mark torpedierte.
"Du darfst sie nicht heiraten, mein Junge!" bat Gitte ihren Sohn inbrünstig, "sie meint es nicht ehrlich mit dir!"
Mark schaute seine Mutter verdattert an: "Was redest du da für einen Quatsch?"
"Das ist kein Quatsch! Ich kann es dir beweisen, Sohn!"
"Jetzt bin ich aber gespannt!" meldete sich nun die Braut zu Wort und verschränkte die Arme vor der Brust. Mark und Mila sahen Gitte abwartend an. Diese zückte ihr Handy, zog ihren Sohn zur Seite und hielt ihm etwas auf dem Display unter die Nase. Er wurde augenblicklich blass, verlor für einen kurzen Moment den Halt und stützte sich am Gabentisch ab. Dabei fing die teure Vase erneut an zu wackeln. Jetzt wurde auch Mila blass, denn sie fürchtete um das gute Stück. Immerhin kostete das Teil über 2000 Euro und war für einen bestimmten Zweck gedacht. Sie war so etwas wie eine Versicherung für Mila.
"Hast du mir nicht etwas zu sagen, Mila?" fragte Mark, nachdem er sich wieder etwas gefangen hatte. Gitte Tanner ging indes zur Hochzeitsgesellschaft und vertröstete sie. Bat um etwas Zeit für die Brautleute und eilte wieder zurück zu Mila und Mark. "Lass uns bitte allein, Mutter", bat er jedoch. Widerwillig zog Gitte Tanner sich zurück. Langsam wurde es der Braut nun doch etwas mulmig im Bauch. "Was ist denn los, Mark? Hast du einen Geist gesehen?"
Er lachte bitter: "Nein, aber meine quicklebendige, nackte Ehefrau in spe, die sich anderen Männern präsentiert."
Seine Stimme klang eisig, so hatte Mila ihn noch nie erlebt, geschweige denn diesen Ton von ihm gehört.
"Wovon sprichst du da bitte?"
Jetzt wurde er richtiggehend wütend und kam mit geballten Fäusten auf sie zu: "Hör auf zu lügen, Mila! Ich habe dich mit eigenen Augen gesehen! Wie du auf diesem ekligen Hotelbett posierst!"
"Auf dem Smartphone deiner Mutter? Dass ich nicht lache, das ist doch kein Beweis!"
Marks Augen funkelten sie wütend und auch enttäuscht an: "Für mich ist das Beweis genug!"
"Sowas kann doch heutzutage jeder fälschen! Traust du mir das wirklich zu?"
Marks Gesichtszüge veränderten sich. "Bis vor ein paar Minuten hätte ich dir niemals zugetraut, dass du dich fremden Kerlen anbietest für Geld", sagte er traurig, "aber ich wurde eines Besseren belehrt."
"Ich bin doch keine Nutte!" rief Mila nun aufgebracht, "was denkst du und deine Mutter euch eigentlich, mit so einem Scheiß kurz vor der Hochzeit um die Ecke zu kommen?!"
"Wenn nicht jetzt, wann denn dann?" mischte sich nun Gitte Tanner ein, "wenn du meinen Sohn und mein Geld am Haken hast, dürfte es wohl ein wenig zu spät dafür sein."
Sie sprach in einem so ruhigen Ton, dass Mila Angst bekam. War das die berühmte Ruhe vor dem Sturm? Wie auf Kommando zog es sich plötzlich zu und ein herber Wind frischte den eigentlich warmen Septembertag auf. Milas Brautkleid wehte hin und her, ihr weisser Schleier tanzte vor ihrem Gesicht. Einzelne Regentropfen rieselten nieder. Mila begann zu frösteln.
"Gab es jemals einen Moment, in dem du mich geliebt hast?" fragte Mark plötzlich mit gebrochener Stimme. Die Feuchte ließ seine dunklen Locken wieder zum Vorschein treten. Gitte Tanner lachte spöttisch.
"Das glaubst du doch selbst nicht!"
"Sei still, Mutter!" herrschte er sie an, "lass uns allein und führe die Gesellschaft ins Trockene!" Seine Worte duldeten keinen Widerspruch und Gitte tat, was ihr befohlen wurde. So kannte Mila ihren Verlobten gar nicht. Diese Seite hielt er offenbar gut vor ihr versteckt. Er war also nicht immer der warmherzige Typ, den er ihr stets zeigte. Aber es war nicht so, dass ihr das nicht gefiel, im Gegenteil machte ihn das für Mila noch begehrenswerter. Sie durfte ihn nicht verlieren, nicht so kurz vor dem Ziel!
"Ich bin schwanger!" vermeldete die Braut plötzlich und unerwartet. Mark Tanner riss seine Augen ungläubig auf.
"Wie bitte?" fragte er überrascht, "wieso weiß ich das noch nicht?"
"Ich wollte dir die frohe Botschaft in der Hochzeitsnacht überbringen, aber jetzt ist ja nicht mal mehr klar, ob diese überhaupt noch stattfinden wird!" Sie hob verführerisch ihr Brautkleid hoch und offenbarte ihm die sündigen Dessous, die sie eigens für die Nacht der Nächte besorgt hatte. Seine Augen begannen zu leuchten, als er das rote Samt erblickte. Erregung stieg in ihm auf, die er aber versuchte, abzuschütteln. Er wollte einen klaren Kopf behalten, er musste herausfinden, ob seine Zukünftige sich im Dark Net für Geld anbot. So eine Frau könnte er niemals heiraten, auch wenn er sie noch so sehr liebte. Ein plötzliches, ohrenbetäubendes Klirren ließ die beiden erschreckt herumfahren. Marks Mutter hatte die teure Glasvase auf dem Steinboden des hübschen Pavillons, der sich direkt neben ihnen befand, zerschellen lassen. Mila fuhr der Schreck in alle Glieder, ihr Atem stockte, ihre Augen wurden weit und nass. Sie hatte es wirklich getan! Sie hatte ihre Versicherung kaltblütig umgebracht! Das Ding sollte sie vor Kai retten, dem Kredithai. Der hatte ihr nämlich 2000 Euro geliehen und wollte kurz später 2500 zurückhaben. Sagte, dass die 500 Zinsen wären und das ganz normal sei. Schließlich hätte er ja Aufwendungen gehabt. Zum Zwecke der Eintreibung fuhr Kai, der Hai, starke Geschütze auf. Als Mila ihm sagte, dass sie das Geld nach so kurzer Zeit nicht zurückzahlen könnte, hatte er damit gedroht, Mark von ihrem Deal zu erzählen. Nicht nur, dass sie sich Geld von ihm geliehen hatte, um eine alte Rechnung zu begleichen, die sie verfolgte. Sondern vor allem, dass sie sich dieses auf sündige Art und Weise im Dark Net verdiente, um es Kai schellstmöglich zurückzuzahlen. Dann aber machte Mark ihr den Antrag und alles nahm seinen Lauf. Mila hatte die Idee, sich diese teure Vase von ihrer Schwiegermutter in spe zu wünschen, um sie dann zu Geld zu machen und Kai auszuzahlen. Glücklicherweise konnte sie ihren Kreditgeber damit eine Zeit lang ruhigstellen. Und jetzt stand sie wieder mit leeren Händen da. Denn sie hatte den widerlichen Job nach der Idee mit der teuren Vase sofort an den Nagel gehangen. Sie war so froh, dass sie sich nicht mehr vor der Kamera für fremde Kerle ausziehen musste und das hinter sich lassen konnte. Und trotzdem war sie nun ganz ohne Kais Dazutun aufgeflogen. Wie hatte Marks Mutter sie finden und auffliegen lassen können? Egal wie, ihr schöner Plan war nun zunichte! Verzweifelt schlug Mila die Hände vors Gesicht und sackte in sich zusammen. Sie weinte und schluchzte und wollte gar nicht mehr aufhören. Mark machte einen Schritt auf sie zu, doch seine Mutter hielt ihn zurück. "Mach' dich nicht unglücklich! Sie ist gestraft genug, dieses kleine Flittchen!" Entgeistert sah der Bräutigam seine Mutter an, jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. "Was denkst du denn, was ich vorhabe? Sie schlagen? Grundgütiger, bist du wahnsinnig, Mutter!?" Zornerfüllt sah er die Frau an, die ihn vor dreißig Jahren geboren hatte. Mila weinte noch immer bitterlich und Mark konnte sich nicht dagegen erwehren, sie schützend in seine Arme zu nehmen. Tröstend strich er über ihr Haar und Mila schmiegte sich an seinen warmen Körper. Ihr weißes Kleid war mittlerweile völlig durchnässt. Behutsam hob er sie auf die Beine und schaute seine entsetzte Mutter an: "Sag den Gästen, dass es einen Notfall gibt und sich die Trauung um einige Minuten verschieben wird." Sein Ton duldete keinen Widerspruch. Dennoch protestierte Gitte Tanner: "Aber, Junge, das kannst du doch nicht machen! Du kannst doch so Eine nicht heiraten!"
"Diese Entscheidung überlässt du bitte mir, Mutter. Du wirst früh genug erfahren, welche Wahl ich treffen werde und jetzt geh endlich zu unseren Gästen und unterhalte sie!"
Einige Minuten später hatte Mila Mark in ihrem Zimmer für die Hochzeitsnacht endlich erzählt, was ihr mit Kai widerfahren war und was es mit der alten Rechnung auf sich hatte. Er hatte aufmerksam zugehört und seine anfängliche Wut auf Mila hatte sich nun auf Kai, den Hai, verlagert. Ja, seine Verlobte hatte einen schweren Fehler gemacht, indem sie sich Geld von dem Falschen geliehen hatte, aber er fand die Vorgehensweise und den gesamten Charakter von diesem Kai einfach nur abstoßend. Gleichzeitig war er schwer enttäuscht, dass Mila sich ihm nicht anvertraut hatte. Unwillkürlich fragte er sich, ob dies eine gute Basis für eine funktionierende Ehe war. Ihm war Vertrauen und Ehrlichkeit immer furchtbar wichtig gewesen und nun stand er hier und wusste nicht, wie er entscheiden sollte. Mit rot geweinten Augen sah Mila ihn an. Noch nie hatte sie so viel Liebe für ihn empfunden, wie in diesem Moment. Ihr Blick sprach Bände und auch Mark fühlte in diesem Augenblick ihre ganze, echte Liebe. Ihm wurde klar, dass sie ihn nicht vorsätzlich angelogen hatte und dass sie ihn und sich nur schützen wollte. Manchmal schweigt man, obwohl es besser wäre, zu reden. Und manchmal redet man, wenn es besser wäre, zu schweigen. Mila wollte Mark nicht verlieren und schlug ihm vor, dass er ihr eine Bewährungszeit gibt und wenn sie diese bestehen sollte, dann könnten sie immer noch heiraten. Mark beschloss, seiner Verlobten zu vertrauen, vor allem, da die Sache mit der Schwangerschaft nicht gelogen war. Mila selbst hatte es erst einige Tage vor der Hochzeit erfahren, dass sie ein Baby bekam und ihm das erste Ultraschallbild mit der Fruchthöhle gezeigt, das sie auf einem der Nachttische neben dem großen Himmelbett platziert hatte. Das sollte ihre ganz persönliche Hochzeitsüberraschung für Mark werden...
"Ab sofort ist dein wunderbarer, nackter Körper nur noch für meine Augen bestimmt", verlangte er von ihr. Dieser Bitte kam Mila nur zu gern nach. Zudem verdonnerte Mark seine Mutter, diesem Kai die 2500 Euro zu überweisen, damit endlich Ruhe in Milas und seinem Leben einkehren konnte. Schließlich hatte sie vorsätzlich die teure Vase zerstört. Zähneknirschend tat sie, was ihr aufgetragen wurde und freundete sich mit dem Gedanken an, dass Mila nun doch ihre Schwiegertochter wird. Die Hochzeit fand statt, denn im Endeffekt traf hier der Spruch: Scherben bringen Glück dennoch zu, da Gitte Tanner mit dem Zertrümmern der Vase alles ins Rollen gebracht hatte...
ENDE (gut, alles gut;-))
Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Cover: google
Tag der Veröffentlichung: 14.10.2022
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