Sandra und Michelle waren völlig außer Atem zuhause angekommen. Die tollen Neuigkeiten aus der Schule ließen die beiden förmlich über den Asphalt fliegen. Lars Rieger, ihr Klassenlehrer, hatte heute in der letzten Stunde endlich verkündet, wohin ihre Abschlussfahrt gehen würde: In die Stadt der Liebe! Sie würden tatsächlich für eine ganze Woche nach Paris fahren! Die nussbraunen Augen von Michelle strahlten mit den blauen Augen von Sandra um die Wette. Michelle konnte sich kaum noch auf den Unterricht konzentrieren, aber es war ja ohnehin die letzte Stunde des heutigen Tages gewesen. Ihr Blick hatte in den Wolken des blauen Himmels über dem Gymnasium gehangen, das die beiden besuchten. Gedankenverloren hatte sie mit einer ihrer dunklen Locken gespielt, die ihr bis zur schlanken Taille reichten. Ihr Herz hatte höher geschlagen bei dem Gedanken an die Sehenswürdigkeiten, die sie in Paris erwarten würden.
„Ich freue mich auf die Pariser Jungs“, hatte Sandra ihr zugeflüstert und sich anzüglich über die roten Lippen geleckt. Ihre Augen blickten dabei schelmisch und hatten ein eben solch intensives Blau wie der Himmel an diesem Tag. Das lange, blonde Haar fiel glatt über ihre Schultern wie gleißendes Sonnenlicht. Die Mädchen waren von natürlicher Schönheit, aber nur einem von beiden war dies auch bewusst. Und so unterschiedlich sie auch waren, so hatten sie eines gemeinsam: Das Zuhause. Und dort stritten sie nun, wer von ihnen die Neuigkeit überbringen durfte. Wie meistens der Fall, siegte Sandra und verkündete die frohe Botschaft: „Wir fahren nach Paris! Mama, hast du gehört? Unsere Abifahrt geht in die Stadt der Liebe!“
Hannah Mierendorf ließ das Messer fallen, mit dem sie gerade Kartoffeln schälte und umarmte ihre Tochter. „Das freut mich, das hast du dir doch gewünscht, Liebling.“ Dann wurde sie plötzlich still und blickte verklärt aus dem Fenster. "Oh, wie schön unsere Klassenfahrt damals war. Davon werde ich euch heute beim Abendessen berichten."
„Ja, Mama, ja! Wir müssen aber unbedingt noch vorher shoppen gehen. Ich muss mich doch angemessen kleiden können in Paris!“ jauchzte sie und tanzte durch das Haus. Sie war nicht zu bremsen in ihrer Euphorie.
„Und du, Michelle? Willst du keine neuen Klamotten für die Reise?“ fragte die vertraute Stimme des Vaters, der soeben zur Tür hereinkam und seinen Aktenkoffer samt Autoschlüssel auf der Kommode in der Diele abstellte.
„Aber natürlich will ich!“ rief sie fröhlich und sprang förmlich in die Arme von Frank Mierendorf. „Dann ist es beschlossene Sache. Hannah, du gehst mit Sandra shoppen“, sagte er an seine Frau gewandt, „und ich stürme mit Michelle die Geschäfte.“
Seine Frau nickte zustimmend und auch Sandras Augen strahlten vor lauter Vorfreude. Manchmal empfand sie Michelle als Konkurrenz. Das lag daran, dass sie keine Familie im eigentlichen Sinne waren. Sandra und Hannah Mierendorf waren ein eingespieltes Team und hielten immer zusammen. Eine Symbiose. Frank jedoch war nicht der richtige Vater der beiden Mädchen, er war vor ungefähr sieben Jahren zur Familie gestoßen und um einiges jünger als Sandras Mutter. Und Michelle verlor vor fünf Jahren durch einen tragischen Autounfall ihre Eltern und wurde von einer Sekunde zur nächsten eine Waise. Sandra und sie waren seit der Grundschule beste Freundinnen und so war es gar nicht verwunderlich, dass ihre Mutter und ihr Stiefvater Michelle bei sich aufnahmen. Und so wurde aus der besten Freundin auch eine Schwester. Und da sie sich immer eine gewünscht hatte, konnte sie trotz ihrer zeitweise negativen Gefühle bestens mit dieser Familienkonstellation leben.
Ein paar Stunden später kamen die Vier mit vollen Taschen zurück und es wurde eine regelrechte Modenschau veranstaltet. Die Eltern achteten darauf, dass ihre Mädels sich nicht zu sexy einkleideten. Zwar war es ihnen wichtig, dass sie ihre Weiblichkeit ausleben konnten, aber niemals durfte es billig wirken oder falsche Signale aussenden. Die beiden konnten einfach alles tragen, aber man musste ein Auge drauf haben.
Am Abend saß die Familie zusammen im Eßzimmer und aß belegte Baguettes und Salat. Die Eltern tranken Wein zum Essen und Mutter Hannah kam in Erzähl-Laune. Wie versprochen, berichtete sie von der legendären Klassenfahrt nach Tirol:
"Meine beste Freundin Susanne war heimlich in unseren jungen Referendar verknallt, den schönen Theo. Natürlich wollte sie die Reise dazu nutzen, sich ihn zu angeln", lachte Hannah Mierendorf. "Deshalb hatte sie etwas Alkohol im Koffer mitgeschmuggelt, obwohl dieser strengstens verboten war. Sie wollte sich Mut antrinken."
Sandra lachte verschmitzt. "Wie hat sie den Alk an den strengen Lehrern vorbei bekommen?"
"Nun," erklärte ihre Mutter grinsend, "sie hatte einfach den Wodka in eine Sprudelflasche umgefüllt."
Frank Mierendorf räusperte sich lautstark. "Glaubt aber ja nicht, dass ihr das auch machen könnt. Eure Mutter und ich werden euer Gepäck buchstäblich röntgen, meine jungen Damen!" Er bedachte seine Stieftöchter mit einem ernstem Blick.
"Ich mag eh keinen Wodka!" rief Sandra vorwitzig. "Baileys schmeckt viel besser!"
Ihre Mutter sah sie strafend an. "Keine Angst, Mama. Ich mache nur Spaß. Obwohl...ich könnte ihn als Kakao tarnen."
"Oh je", seufzte Frank Mierendorf. "Was hast du getan, Hannah?" Mit gespieltem Entsetzen sah er seine Frau an. "Schäm dich! Unseren Töchtern solche Flausen in den Kopf zu setzen!"
"Habt ihr auch ein paar Tipps für tolle Streiche?" fragte Michelle und rieb sich voller Vorfreude die Hände. "Die gehören doch zu jeder Klassenfahrt dazu, oder?"
Die Eltern sahen sich viel sagend an und nickten. "Ihr könntet beispielsweise die Koffer euer Klassenkameraden vertauschen oder ihre Nachtwäsche am Bettzeug festnähen. Zahnpasta an die Klinken schmieren und so weiter", schlug die Mutter vor. "Aber vor allem ist eines wichtig", sagte der Vater ernst. "Die Streiche sollten für alle lustig sein, es darf keine Opfer geben, denn das ist für niemanden angenehm. Versprecht ihr mir das?"
"Aber die Frage hier ist ja auch eher: Ist Susanne ans Ziel gekommen und hatte vielleicht sogar ein Techtelmechtel mit dem Referendar Theo?" Hannah wunderte sich, wie erwachsen Sandra doch manchmal schon wirkte.
"Ja, Mama, erzähl doch mal, ob deine beste Freundin es geschafft hatte, sich den schönen Theo zu angeln!" rief nun auch Michelle neugierig. Voller Liebe blickte sie ihre hübschen Töchter an und ihr Herz war übervoll mit mütterlichen Gefühlen für beide Mädchen. Dann grinste sie verschwörerisch. "Am letzten Abend vor der Heimreise wurde in einer alten, aber wunderschönen Scheune ein Tanzabend veranstaltet Diese Gelegenheit kam Susanne gerade recht. Bis dato hatte sie keinen Erfolg bei unserem attraktiven Referendar. Sie machte sich also für diesen Anlass sehr sexy zurecht. Den Jungs aus unserem Jahrgang sind förmlich die Augen aus dem Kopf gefallen, aber den schönen Theo ließ ihr Anblick völlig kalt."
"Oh je, da hat Susanne sich ganz ordentlich zum Affen gemacht", bemerkte Frank Mierendorf. "Oder hatte sie etwa doch Erfolg mit ihren weiblichen Waffen?" Alle schauten neugierig auf Hannah Mierendorf.
"Nein, sie war kläglich gescheitert und peinlich war es noch abendrauf. Denn an diesem Tag war Theos Freundin angereist und die beiden verbrachten den ganzen Abend miteinander auf der Tanzfläche."
Sandra und Michelle waren kluge Mädchen und verstanden, was ihnen die Mutter mit dieser Geschichte mit auf den Weg nach Paris geben wollte: Sie sollten zwar ihren Spaß haben und die Reise genießen. Aber auch vorsichtig sein, vor allem mit den Jungs. Dafür war noch Zeit genug in ihrem jungen Leben und die Jungs in Deutschland waren ja auch nicht zu verachten, oder?
ENDE
Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Cover: google
Tag der Veröffentlichung: 15.12.2022
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