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In der Sonder-Bar

Ein Sonderling in einer Gesellschaft von Normalos? Ja, so fühlte ich mich oft. Es hat sehr lange gedauert, bis ich spitz bekam, dass jeder Mensch ein Sonderling ist. Der eine mehr, der andere weniger.

Ich wurde in eine sonderbare Familie hinein geboren. Glaubte ich jedenfalls immer. Bis ich eines Tages festgestellt habe, dass es keine wirklich normalen Familien gab. Nein, diese perfekten Familien, die in Filmen oder der Werbung gezeigt werden, sind überhaupt nicht existent. Waren sie nie. Jede Familie hatte ihre Geheimnisse, ihre Schattenseiten, ihre Schwachpunkte und ihre Leichen im Keller. Jede.

Aber als Baby hat man ja kaum eine Wahl, oder? Man nimmt das Leben an, das einem geschenkt wird. Man kommt aus einer weichen, dunklen, aber sicheren Hülle in eine grelle, laute und unsichere neue Umgebung. Ein Baby kommt einfach zur Welt, ob es will oder nicht. Das Leben ist wohl das einzige Geschenk, das man nicht ablehnen kann. Obwohl ich im Nachhinein gerne der damaligen Hebamme statt des ersten Schreis ein „Schieb' mich gefälligst wieder dahin, wo du mich hergeholt hast!“ entgegen gepoltert hätte. Aber als frisch Neugeborenes ist das mit dem Sprechen ja so eine Sache. Für jedes Bedürfnis, also Pipi, Kaka, Hunger oder Zuneigung gab es nur eine Sprache: Schreien. Ja, das war noch einfach, aber leider wächst man aus dem Babyalter heraus und wird unweigerlich erwachsen. Und muss mit anderen Menschen klarkommen. Ob man will oder nicht. 

Ich hatte immer das Gefühl, dass es Dinge, Erlebnisse in meinem Leben gab, die keinem Kind widerfahren sollten. Die eine unbeschwerte Kindheit unmöglich gemacht haben. Aber ein Gefühl allein reicht eben nicht aus, wenn jegliche Erinnerungen fehlten. Ich habe offenbar zu lange zu viel verdrängt. Und mit Gewalt lässt sich das – was auch immer – nicht aus der Versenkung zutage fördern. Seit ich denken kann, trug ich sonderbare Gefühle in mir. Ich fühlte für meinen Geschmack viel zu oft Traurigkeit. Aber auch Verlustangst und Melancholie begleiteten mein Leben. Ich vermute, meine Verlustangst hat auch diese unerklärliche Angst erzeugt, die bereits in jungen Jahren von mir Besitz nahm. Als Teenie hatte ich Gott oft darum gebeten, dass die Menschen, die mir wichtig waren, meine Herzmenschen, ein langes Leben bekämen. Ich kam recht früh in Kontakt mit dem Tod und habe das als offenbar labiler Mensch viel zu nah an mich ran gelassen. 

Aber irgendwann war ich erwachsen geworden. Zumindest vom Alter her gesehen. Einige, wenige Beziehungen hatte ich geführt und sie waren allesamt nach einigen Jahren beendet worden. Meistens von mir, denn ich hielt mich nach einiger Zeit schlicht für beziehungsunfähig. Vielleicht war ich aber auch einfach nur an die Falschen geraten. Als recht reflektierter Mensch suchte ich immer wieder auch nach Fehlern bei mir. Und so kam es, dass ich schon viele Jahre Single war, als ich bei einem Spaziergang in bis dahin unerforschten Gefilden einer Bar begegnete, deren Aussehen alles andere als einladend war. Der Name aber machte mich unwillkürlich neugierig auf das Lokal. Sonder-Bar und etwas kleiner gehalten: der Treff für Sonderlinge 

Chapeau! dachte ich nur und öffnete die rotschwarz gekachelte Tür ins Innere. Ich habe keine Ahnung, was ich damals erwartet hatte, aber definitiv nicht eine Hand voll Menschen, die aussahen wie Normalos. Andererseits: Sonderlinge sahen meist genau so aus wie Normalos und trugen in der Regel keinen Stempel auf der Stirn, der sie offenbarte. Obwohl ich mir genau das manchmal wünschte. Gleichgesinnte, Leidtragende oder Andersdenkende einfach zu erkennen. Aber das wäre höchst unfair.

Ich sah mich um in dieser merkwürdig eingerichteten Bar. Sie hatte nichts mit den Lokalen gemein, die ich bisher besucht hatte. Die Einrichtung wirkte skurill. Eine Mischung aus schrill und konservativ traf es wohl am ehesten. Die Gäste waren überschaubar. Einige von ihnen saßen an Tischen, andere an der Bar. Aber nur einer von ihnen stach mir direkt ins Auge: Er wirkte etwas schlaksig und unbeholfen auf mich. Keine Ahnung warum, es war einfach meine Wahrnehmung. Als ob er meine Blicke spürte, schaute er plötzlich von seinem Bier hoch, das vor ihm stand und suchte meine Augen. Ich lächelte einfach und er erwiderte es zaghaft. Dann widmete er sich wieder dem goldenen Gesöff auf dem Tisch und nahm einen großen Schluck. 

Zielstrebig ging ich zur Bar, orderte eine Pina Colada und steuerte auf den Tisch des blonden Mannes zu. Seine blauen Augen verrieten mir die Angst, die er spürte, als ich fragte, ob ich mich zu ihm setzen dürfte. 

"Warum ausgerechnet zu mir? Stehen doch genug freie Tische zur Verfügung", knurrte er. 

Es war, als schaute ich in einen Spiegel. Die Antwort hätte von mir sein können. Und genau deshalb setzte ich mich dennoch an seinen Tisch. Er schaute mich erstaunt an.

"Ich sagte doch..." 

"Das habe ich gehört", unterbrach ich ihn.

"Und warum setzen Sie sich dann...?" 

Ich lächelte ihn wissend an. "Weil Sie eigentlich nichts gegen Gesellschaft hätten. Ich kenne das."

"Oh bitte, mein heutiger Bedarf an Küchenpsychologie ist bereits gedeckt", sagte er barsch.

Und wieder hätte diese Antwort exakt von mir sein können. Ich lachte, was ihn nur noch mürrischer machte.

"Nichts liegt mir ferner, als Sie zu analysieren", beruhigte ich ihn, "ich hasse das selbst über alles."

Ein leichtes Lächeln umspielte seinen Mund und seine Gesichtszüge entspannten sich merklich. Auch sein Bierglas entließ er aus seiner Haft, indem er es nicht mehr krampfhaft umschlossen hielt. Ich dagegen spielte gedankenverloren mit dem Strohhalm aus Glas in meiner Pina Colada herum. 

"Wenn du nicht aufpasst, hast du gleich ne gefährliche Zugabe in deinem Cocktail, die da nicht reingehört", warnte mich Mister Blue-Eyes und ging damit zum Du über. Erst da fiel mir richtig auf, was ich tat. Gierig schlürfte ich den Glashalm leer und legte ihn dann auf eine Serviette neben mein Getränk. Seine blauen Augen musterten mich inzwischen neugierig. Demnach war er von meiner Gesellschaft nicht mehr komplett genervt. Das war doch schon mal etwas. Damit konnte ich arbeiten. Im Laufe des Abends entstanden tatsächlich sehr anregende und interessante Gespräche zwischen uns. Allerdings hatten wir nur eine wirkliche Gemeinsamkeit: Wir waren beide Single aus Überzeugung. Und zwar der, dass wir uns einem potenziellen Partner nicht antun wollten. Und dass wir weder unglücklich oder gar einsam waren. Dachten wir zumindest. Aber bekanntlich kann man seinem Gegenüber ja nur vor die Stirn schauen und nicht seine wahren Gedanken sehen. In mir gab es schon den ein oder anderen Moment, in dem ich mich gern an eine starke Schulter gelehnt oder leidenschaftlichen Sex gehabt hätte. Jedoch waren diese Sehnsüchte nicht so übermächtig, dass ich dringend auf Partnersuche gegangen wäre. Vielleicht dachte ich auch, dass sonderbare Frauen von Männern als anstrengend gesehen und nicht sehr gemocht wurden. Ich selbst wollte ja auch keinen Mann, der meine Nerven zu sehr strapazierte. Obwohl ich, wenn ich ehrlich bin, Menschen im Allgeimein nicht mochte. Abgesehen von einer Hand voll Lebewesen, die mir wichtig waren, die mein Leben bereicherten und ich ihres. 

"Stefan", stellte er sich endlich vor und reichte mir die Hand. 

"Meine Eltern gaben mir den klangvollen Namen Melissa. Weiß der Geier, wieso mich Gott und die Welt dennoch nur immer Lissi nannte. Ich habe das gehasst."

"Das kann ich total nachvollziehen. Wo Melissa doch so ein schöner Name ist."

 

Das Eis war gebrochen und wir trafen uns von dem Abend an mindestens einmal die Woche. Das Miteinander, die gegenseitige Gesellschaft und die Gespräche taten uns beiden immens gut. Stefan war der erste Mensch, der mich Mel nannte und das gefiel mir sogar. Klang es doch viel hipper als das altmodische Lissi. Wenn ich ihn necken wollte, nannte ich ihn liebevoll mein Sonderbärchen. Und ja, endlich konnte ich mich wieder auf jemanden einlassen. Besser gesagt: Wir ließen uns aufeinander ein. Ohne Bezeichnung für das, was uns verband. Ohne einen Rahmen, in den unser Miteinander gepresst wurde. Ohne Anforderungen oder faule Kompromisse. Wir konnten einfach WIR sein. Konnten miteinander schlafen, wenn wir darauf Lust hatten. Essen gehen, ins Kino, kuscheln oder in den Urlaub fahren. Ganz ohne Korsett, das uns unnötig einschnürte und uns die Luft nahm.

Und ich lernte etwas ganz wertvolles für mein Leben, das für die meisten Menschen dennoch sonderbar bis undenkbar war:

Eine Beziehung führen und doch frei sein.

 

 

 

 

 

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Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 21.04.2022

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