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Der letzte Tanz

Die letzte Nacht des Jahres und ich laufe allein durch die Stadt“, dachte Marie traurig. Plötzlich kitzelte sie etwas an der Nase und sie musste niesen. Neugierig hob Marie ihr Gesicht in den Himmel. Es hatte angefangen zu schneien und die weiße Pracht glitzerte im Laternenschein. „Das ist dann wohl jetzt mein Geburtstagsgeschenk?“ fragte sie in die Dunkelheit, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Denn es war nicht nur Silvester, sondern auch noch ihr dreißigster Geburtstag. Und auch das war noch nicht alles. Heute war auch der letzte Tag von Marie in dieser schönen Stadt. Vor fünf Jahren war sie nach Amsterdam gezogen. Der Liebe wegen und nun würde sie aus genau dem gleichen Grund ihrer Wahlheimat wieder den Rücken kehren und zurück nach Hamburg gehen. Und die Tatsache, dass sie aus Liebe alles hinter sich lassen muss, weil sie ihren Mann nicht enttäuschen mag, schmerzte sie. Sie hatte sich so sehr in Amsterdam verliebt, dass sie es nicht in Worte fassen konnte. Vom ersten Tag an vor fünf Jahren fühlte sie sich in der neuen Umgebung wohl. Was sie anfangs gar nicht für möglich hielt, war doch eingetroffen. Amsterdam war zu ihrer Wahlheimat geworden.

 Die kleinen, weißen Flocken verzierten ihre schwarzen, langen Haare und erinnerten an Schneewittchen. Marie sah im Schein der Laterne, unter der sie stand, wirklich wunderschön aus. Der Glitzer in ihren schwarzen Locken strahlte bis zur anderen Seite des kleinen Flusses, die über eine alte, nostalgische Brücke zu erreichen war. Diese hatte richtiggehend etwas Romantisches. Das Geländer war mit Lichterketten dekoriert, die einem förmlich den Weg leuchteten. Zumindest gewann Marie diesen Eindruck. Zudem hatte die Brücke etwas Magisches. Marie schlenderte langsam auf sie zu. Auf der anderen Seite des Flusses stand ein junger Mann mit ebensolchem Glitzer in seinen braunen Haaren und schaute herüber. Der Anblick Maries fesselte Joshuas Augen. Die schlanke Gestalt mit den langen schwarzen Locken und dem Glitzer im Haar hatte in sofort verzaubert. Eigentlich wollte er nur ein wenig frische Luft schnappen und hatte deshalb das stickige Loft seines besten Freundes verlassen, in dem eine wilde Silvesterparty gefeiert wurde. Es waren nur noch wenige Stunden bis Mitternacht. Ella, die frisch angetraute Ehefrau von Joshua, war dermaßen zickig gewesen, dass er das Weite gesucht hatte. Er konnte und wollte ihre momentanen Launen nicht in der Silvesternacht ertragen. Spielte sogar mit dem Gedanken, sich scheiden zu lassen. Aber Ella erwartete ein Kind von ihm. Und im Grunde seines Herzens liebte er sie. Aber manchmal überschatteten ihre Ausbrüche seine Gefühle für sie. 

Als Marie und Joshua sich wie in Zeitlupe wortlos und wie getrieben auf der Brücke entgegen gingen, dachten keiner von ihnen mehr an irgendwas oder irgendwen. Ihre Augen sahen nur den jeweils anderen und strahlten in der Dunkelheit. Mittlerweile war die Brücke komplett mit Schnee bedeckt. Leise Klaviermusik drang zu ihnen und rundeten das romantische Bild perfekt ab.

Nur einen Augenblick später standen sie so dicht voreinander, dass nur noch die Schneeflocken zwischen ihnen passten. Und obwohl die beiden sich überhaupt nicht kannten, sahen sie sich so tief in die Augen, wie es Verliebte taten. Joshua nahm Marie einfach in seine Arme und bat sie: "Schenk mir einen Tanz."

Sie nickte und ließ sich auf einen Walzer mit diesem attraktiven Fremden ein. "Ein Tanz, ein letzter Tanz in diesem Jahr wäre ein wunderschöner Abschluss. Für das Jahr und für diese Stadt", dachte Marie und schmiegte sich eng an Joshua. Saugte seinen angenehmen Duft auf, der ihr in die Nase stieg. Er fühlte sich gut an, schlank und doch muskulös. Der ganze Moment überhaupt fühlte sich gut an. In letzter Zeit war sie so oft traurig gewesen und damit meistens allein. Sie liebte ihren Mann, aber Carlos war nicht gerade mit viel Empathie gesegnet und nahm ihre Traurigkeit darüber, dass sie Amsterdam verlassen musste, nicht so ernst. Auch die Feiertage waren für ihn nie so wichtig gewesen wie für Marie. Er war direkt nach Weihnachten in die neue Wohnung nach Hamburg gefahren und arbeitete an seinem neuen Auftrag. Daher genoss sie dieses für Außenstehende sicher bizarre Szenario mit jeder Faser ihres Körpers. Ein Schauer kroch über ihren Rücken bis zum Po, als Joshua sie noch enger an sich drückte. Ihre Herzen schlugen heftig, die Klaviermusik war längst verstummt. Aber sie tanzten einfach weiter. Ein Passant, der einen Ghettoblaster auf seiner Schulter trug, blieb stehen und sah ihnen eine Weile zu. Dann spielte er einen langsamen Song und entfernte sich etwas. Eine blonde Frau gesellte sich zu ihm und dann bewegten auch die beiden sich rhythmisch zur Musik. Marie und Joshua bekamen davon nichts mit, zu sehr waren sie mit sich selbst beschäftigt. Ihre Hände gingen auf Wanderschaft und erfühlten den anderen. Joshua vergrub sein Gesicht in Maries Haar und atmete ihren Duft tief ein. Sie roch gut. Er schob ihren Schal beiseite und verteilte zarte Küsse auf ihrem Hals. Das entlockte Marie ein leises Stöhnen, für das sie sich nicht einmal schämte. Für die beiden hieß es ab jetzt: Gefühle an, Welt aus. In dem Moment, in dem sie sich küssten, fingen die Glocken an zu läuten. Es war Mitternacht, das neue Jahr wurde begrüßt. Und auch in ihrem Inneren war die Berührung ihrer Lippen wie ein Glockenschlag. Intensiv, elektrisierend und dem aufkeimenden Wunsch nach mehr. Aber mehr war in diesem Falle nicht möglich.

Ein Kuss, ein Tanz, zu mehr durften die beiden sich nicht hinreißen lassen. Sie hatten beide ein Leben, in das sie nicht nur zurückkehren mussten. Dennoch wollten Marie und Joshua jetzt einfach nur diesen Moment genießen. Und das taten sie. Spürten sich gegenseitig, hörten ihr Herzklopfen. Küssten sich, als gebe es kein Morgen mehr. Genossen die eigene Erregung genauso wie die des jeweils anderen. Leises, verhaltenes Stöhnen begleitete ihren Tanz. So eine Leidenschaft hatten beide schon länger nicht erlebt und waren daher mehr als empfänglich dafür. Sie sprachen kein Wort, nur ihre Augen kommunizierten miteinander. Und diese verrieten, dass ihre silvesterliche Begegnung eine einmalige bleiben würde. Das war so klar wie der Sternenhimmel über ihnen. Sie tanzten noch eine Weile und schoben den unvermeidlichen Moment vor sich her.

Den Moment des Abschieds. 

 

 

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Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin
Cover: Facebook
Tag der Veröffentlichung: 04.01.2022

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Widmung:
Mein Beitrag zum Erotikwettbewerb Januar 2022

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