Man konnte kaum die Hand vor Augen sehen in dieser recht kühlen Nacht. Ich kam gerade von einer Halloween-Party und suchte nach einem Taxi, als ich eine zusammengekauerte Gestalt am Wegesrand sitzen sah. Das passte mir gar nicht in den Kram, denn eigentlich war ich von der scheiss Gruselparty mehr oder weniger geflüchtet und wollte nur noch nach Hause in mein Bett. Doch mein Gewissen meldete sich und nicht nur das. Irgendetwas zog mich magisch zu dieser schwarzen Gestalt, die im plötzlich aufkommenden Nebel ein wenig gruselig wirkte. Eigentlich war es auf der Party schon gruselig genug gewesen. Aber nicht wegen Halloween, sondern eher wegen eines bestimmten Gastes, den ich lieber nicht wieder gesehen hätte. Und das am besten für den Rest meines Lebens. Aber wie heißt es doch so schön: Das Leben ist kein Wunschkonzert.
Annabella, meine beste Freundin, hatte mir versichert, dass Lars nicht auf der Party erscheinen würde. Angeblich wollte er mit seiner neuen Perle auf die Gruselfeier ihrer Schwester gehen, einer angesagten Influencerin. Leider hatte er es sich dann wohl doch anders überlegt und war auf Bellas Party aufgetaucht. Sehr zu meinem Leidwesen. Er kam direkt auf mich zu und sprach mich an. Verwundert, dass er offensichtlich allein kam, war ich schon etwas. Aber ich wollte und konnte ihm nicht zuhören, nahm buchstäblich die Beine in die Hand und kämpfte mich durch die tanzende Meute in die Freiheit. Und nun stand ich hier mitten im Nebel und wusste nicht, was ich tun sollte. Obwohl ich einer heißen Nacht mit einem Fremden nicht abgeneigt wäre, wollte ich vorsichtig bleiben. Andererseits: So lange schon hatte ich keinen Sex mehr. So lange schon wurde ich nicht mehr verwöhnt. Wie sollte ich mich entscheiden? Die Gestalt mit dem schwarzen Cape einfach ignorieren und sich selbst überlassen oder meine Empathie und auch Neugier gewinnen lassen. Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass es 01:11 Uhr war. Ich fröstelte und schnallte meinen Mantel enger um meinen Körper. Ein Windzug blies ein leises Flüstern zu mir rüber. Mir war, als hörte ich meinen Namen. Aber das konnte nicht sein. Ich sah zu der Gestalt hinüber und erkannte schemenhaft, dass sie mir winkte. Mir bedeutete, zu ihr zu gehen. Sollte ich? Angst hüllte mich ein, mein Puls beschleunigte sich. Ich wollte mich zum Gehen abwenden, aber ich konnte nicht. Irgendetwas hielt mich mit unsichtbarer Kraft an der Stelle, an der ich stand und die Gestalt winken sah. Also hatte ich keine Wahl. Mit langsamen Schritten ging ich dem Cape tragenden Wesen entgegen. War es ein Mann oder eine Frau? Das war durch die Maske, die die Gestalt trug, nicht ersichtlich.
"Ich bin alles, was du willst."
Erschreckt zuckte ich zusammen. Konnte er oder sie etwa Gedanken lesen?
"Du bist auserkoren. Du hast heute Nacht einen Wunsch frei", klärte die Gestalt mich mit warmer Stimme auf. Und obwohl das unglaublich verheißungsvoll klang, hatte ich noch immer Angst. Hatte noch immer Herzrasen.
"Hab keine Furcht", kam es wie auf Kommando, "genieße einfach diese Nacht."
Ehe ich mich versah, hüllte das Wesen sein schwarzes Cape um mich und wir hoben vom Boden ab. Ich wollte schreien und fort rennen. Doch ich wusste, dass dies keinen Sinn hatte und übergab mich meinen Schicksal. Ich konnte ihm nicht entkommen. Also schloss ich meine Augen und ließ alles geschehen. Als ich sie wieder öffnete, fand ich mich in einer Art Schloss oder Burg wieder. Alles war prunkvoll eingerichtet und ein Feuer knisterte atmosphärisch in einem Kamin. Ich war allein und setzte mich davor um meine Hände zu wärmen. Langsam wurde ich neugieirig auf das, was noch folgen würde. Was erwartete mich in dieser Nacht?
"Hier, trink", forderte mich jemand auf und hielt mir ein Champagnerglas hin. Wo kam dieser gut aussehende Mann so plötzlich her? Widerwillig nahm ich das Getränk entgegen. Denn ich mochte dieses teure Gesöff so gar nicht und hoffte, sein Inhalt würde dennoch meinen Gaumen versüßen.
"Das ist kein Champagner. Lass dich nicht vom Glas täuschen, meine Liebe."
Ich nahm einen großen Schluck und war nicht wirklich verwundert, dass der Inhalt wunderbar schmeckte. Eine Mischung aus Frucht, Vanille und einem herben Unterton schmeichelte meiner Kehle. Gütiger, war das lecker! Das hatte definitv Suchtgefahr.
"Vorsicht!" warnte mich der schöne Mann, der mir das Glas gereicht hatte, "bitte Zeit lassen beim Trinken."
Sprach es aus, nahm mir das liebreizende Gesöff wieder aus der Hand und führte mich zu einem riesigen Bett.
Sah das toll aus! Samtweiche Kissen in rot und gold gehalten und die Bettdecke und das Laken ebenso. Rot und gold passte einfach wunderbar zusammen. Das Bett hatte eine magische Wirkung auf mich und ich sehnte mich unfreiwillig in diese Samtkissen. Ehe ich mich versah lag ich nackt auf der unglaublich bequemen Matratze und kuschelte mich in die Laken.
Was ging hier nur vor sich? Was für eine Nacht...
Nur einige Augenblicke später fühlte ich etwas auf meiner Haut. Ich wurde wunderbar zärtlich gestreichelt. Schnurrend wie ein Kätzchen schloss ich meine Augen und genoss einfach nur. Eine ungeheure Hitze erfüllte meinen gesamten Körper. Erregung machte sich breit, die sich zwischen meinen Schenkeln zu einer heißen Oase sammelte. Ich öffnete meine Augen und sah in das Gesicht eines unglaublich attraktiven Mannes, der mir seltsam vertraut vorkam. Mein Blick blieb an seinen vollen Lippen hängen, die auf der Stelle den Wunsch in mir weckten, einen leidenschaftlichen Kuss von ihm zu bekommen.
"Sehr gern", flüsterte er mit erotischer Stimme und kam ganz nah an mich heran. Ein Schauer lief über meinen Rücken beim Klang seiner Worte und ich öffnete willig meine Lippen, um seine Zunge zu empfangen. Die Berührung unserer Münder war elektrisierend. Jedenfalls fühlte ich so etwas wie einen Stromschlag, als er seine Lippen auf meine drückte und das war mir bisher nur beim ersten und letzten Kuss mit Lars passiert. Ich habe ihn so sehr geliebt, aber nach sechs wunderbaren Jahren hatte er mich wegen eines Models verlassen. Jünger, schöner, erfolgreicher. Da konnte ich nicht mithalten. Eine stinknormale Frau Mitte Dreißig, die für einen Steueranwalt arbeitete. Allerdings war mein Chef sehr erfolgreich und großzügig, was mir monatlich überaus ansehnliche Kontoauszüge bescherte.
"Denk jetzt nicht an die Arbeit, sondern genieße diese Nacht. Du wirst das hier nur einmal erleben und solltest es mit wirklich jeder Faser deines Körpers fühlen."
Dieser Mann konnte offenbar tatsächlich Gedanken lesen und das machte mir etwas Angst. Oder kannte er mich einfach nur zu gut? Wer war er? Das Gefühl, ihn zu kennen, wurde von Sekunde zu Sekunde intensiver. Aber das konnte doch gar nicht möglich sein. Oder doch?
"Hör endlich auf zu denken, Lale..." sagte mein Gespiele und zog mich wieder an sich.
Wie hatte er mich genannt? Lale? Eine niedliche Abwandlung meines richtigen Namens: Manuela. Er hatte mich deutlich mit meinem früheren Spitznamen angesprochen. Er war also doch jemand, der mich kannte. Von früher. Seine Küsse und Berührungen vernebelten meine Sinne. Ich hörte die Glocken läuten, während er mich verwöhnte. Seine Finger spielten mit meiner Jadeperle, als hätten sie nie etwas anderes getan und bereiteten mir höchste Lust. Mein Körper wollte ihn und zeigte mir dies mehr als deutlich. Aber der Gedanke ließ mich nicht los, dass ich es hier mit jemandem zu tun hatte, der mich kannte. Lale hatten mich nur meine Eltern und mein bester Freund genannt. Eine Gänsehaut überzog meinen gesamten Körper. Das war so lange her, aber ich sah ihn ganz genau vor mir. Der lange, schlacksige Eddy mit der Zahnspange und den Pickeln im Gesicht. Er konnte ja nichts dafür. Viele Jungen hatten so ausgesehen in diesem Alter. Leider war er verliebt in mich, was ich nicht gemerkt habe oder nicht merken wollte. Mir ging es nicht so, für mich war er immer nur der beste Freund und ich liebte ihn mehr wie einen Bruder. Als er mir damals auf dem Abschlussfest unseres Jahrgangs seine Liebe gestanden hat, bin ich einfach fort gelaufen und habe ihn stehen lassen. Ich hatte überhaupt nicht mit so etwas gerechnet und war total überfordert mit der Situation. Nach diesem Desaster hatte er sich nie wieder bei mir gemeldet. Sehr zu meinem Leidwesen, denn ich vermisste ihn. Ein paar Jahre später erfuhr ich, dass er bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Ich war unendlich traurig, insbesondere auch darüber, dass wir die Sache nicht mehr klären und ich mich nicht für mein dummes Verhalten entschuldigen konnte.
Jetzt war ich allerdings komplett verwirrt. Mein Verführer war doch nicht Eddy, das konnte nicht sein. Wie sollte das gehen? Er war doch vor ungefähr zwölf Jahren gestorben und ich hatte auch sein Grab besucht. An Geister oder an ein Leben nach dem Tod glaubte ich nicht. Jedoch zeigte mir diese Nacht, dass ich vielleicht falsch lag. Oder hatte ich mir Eddy so sehr zurück gewünscht? War ich damals vielleicht doch verliebt in ihn gewesen und hatte mich nur geschämt, weil er so aussah, wie er eben aussah? Eddy war zwar kein Womanizer, aber er war mein Lieblingsmensch für eine lange Zeit. Die Gefühle und Erinnerungen überrollten mich und fuhren Achterbahn in meinem Kopf.
"Genug Gedanken gesponnen, meine kleine Lale...komm endlich her und lass uns den Rest der Nacht genießen. Es ist nicht mehr viel Zeit bis zum Morgengrauen..."
Jetzt war ich absolut sicher: Dieser attraktive Mann neben mir in diesem herrlichen Bett musste Eddy sein. Denn nur er nannte mich früher "Meine kleine Lale". Erschreckt befreite ich mich aus seinen Armen und schaute ihn mit großen Augen an. Beruhigend und mit warmem Blick lächelte er. Aber das half nicht wirklich. Ich wurde immer unruhiger und nervöser. Mein Herz klopfte wie wild in meiner Brust.
"Ich erkläre es dir, aber du wirst mir wahrscheinlich nicht glauben."
Gespannt sah ich ihn an.
"Du hast ja längst an mich gedacht, Lale. An deinen ehemals besten Freund. Ich habe mir Lewis Körper geliehen, da er doch sehr attraktiv ist, nicht wahr?"
"Wie, geliehen?" fragte ich entgeistert.
Wieder lächelte er und strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn.
"Jedes Jahr in der Halloween-Nacht darf einer von uns das Jenseits verlassen und eine Person auf der Erde besuchen, die ihm zu Lebzeiten wichtig war oder der er noch etwas sagen wollte. Dieses Jahr war ich endlich an der Reihe und habe das zu meiner Schande nun wahrlich schamlos ausgenutzt, um dir so nah wie nur möglich zu kommen. Lewis ist ein toller Liebhaber und ich habe die Nacht mit dir unglaublich genossen. Du bist so wunderschön. Noch viel schöner als früher."
Mir wurde mit einem Mal ganz warm ums Herz.
"Die Nacht ist ja noch nicht vorbei", hörte ich mich sagen und konnte es selbst kaum glauben. Wohlwollend schmiegte ich mich in seine Arme. Er drückte mich fest an sich. Und endlich konnte ich meine Gedanken loslassen und mit Lewis, alias Eddy den Rest der Nacht genießen. Wir schliefen zweimal miteinander, kuschelten noch ein wenig und kurz später fand ich mich mit ihm vor meiner Haustür wieder. Da der Morgen langsam erwachte, musste Eddy fort. Aber ich fühlte keinen Schmerz oder Trauer. Im Gegenteil.
"Meine kleine Lale. Ich hoffe, du wirst das hier niemals vergessen. Ich werde dich immer lieben und irgendwann werden wir uns wiedersehen."
Hob die Hand zum Gruß und flog davon. Versonnen sah ich ihm nach, bis er aus meinem Blickfeld verschwunden war.
Müde, aber glücklich schloss ich die Haustür auf.
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 06.11.2021
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