Provokant unschuldig stand sie am Straßenrand. Stand einfach nur da und bildete durch ihre Erscheinung einen magischen Kontrast zum grauen Bürgersteig, der sich vor ihrer Anmut zu verneigen schien. Bewegungslos ihr Körper, wie auch ihr Blick aus den großen Augen, der ins Leere irrte. Sie sah einfach durch mich hindurch. Nahm mich gar nicht wahr. Als wäre ich unsichtbar. Quasi gar nicht vorhanden. Kein lebendes Wesen dieser Erde.
Täglich führte mich mein Weg an dieser Straßenecke vorbei. Quälend langsam passierte ich mit meinem Rad diese Straße, diese Stelle, an der sie immer stand. Sogar ihr Parfüm konnte ich riechen, wenn ich beim Vorbeifahren in ihre großen, aber leeren Augen starrte wie ein Verrückter. Falls sie mich doch bemerkte, hielt sie mich wahrscheinlich auch für einen solchen. Und war bestimmt immer erleichtert, wenn ich samt Drahtesel aus ihrem Terrain verschwunden war. Wenn sich schon der Bürgersteig vor ihr verneigte, dann sollte ich sie wohl besser nicht ansprechen. Aber ich wollte so gerne genau das tun. Doch irgendetwas in mir hielt mich davon ab. Ich hatte Angst, mich lächerlich zu machen. Nicht mal ihr Alter konnte ich richtig einschätzen. Ihre großen, mandelförmigen, hellbraunen Augen ließen sie vielleicht jünger wirken, als sie war. Die ausgeprägten Wangenknochen und der eher schmale, aber herzförmige Mund ließen sie wiederum kantig aussehen und nicht so niedlich wie viele andere Frauen das ausstrahlten. Wenn sich nicht dieses lange, hellblonde Haar bis zu ihrem Po erstrecken würde, hätte man sie ebenso auch für einen Jungen halten können. Ihre Figur war eher zierlich bis knabenhaft. Aber durchaus sportlich. Zudem wirkte sie fast ein wenig androgyn auf mich. Jedoch machte mich genau diese Tatsache nur noch neugieriger auf dieses schmale Wesen mit den großen Augen. Ich selbst war ebenfalls sehr sportlich und fuhr nur mit dem Rad, auch zur Arbeit, obwohl das jeden Morgen zwanzig Kilometer ausmachten. Mein Körper konnte sich sehen lassen und ich mit der Jugend durchaus noch mithalten.
An einem sonnigen Freitagmorgen im Juli radelte ich vergnügt los zur Arbeit. Im Wissen, dass ich sie wiedersehen würde. Doch schon von Weitem erkannte ich, dass sie nicht da war. Der graue Asphalt wirkte traurig und leer. Von ihr keine Spur. Wo war sie? Krank? Im Urlaub? Oder gar einfach fort? Mein Herz blieb für einen Moment stehen, Tränen schossen mir unfreiwillig in die Augen. Darauf war ich einfach nicht gefasst! Das konnte sie doch nicht machen! Doch dann sah ich, wie sie mit einem Becher Kaffee aus dem Bahnhofs - Kiosk kam und sich langsam auf ihre Stelle, auf ihren Platz hinbewegte. Mein Herz vollführte einen Freudentanz in meiner Brust und ich wischte mir verstohlen die Träne fort, die bereits kitzelnd über meine linke Wange nach unten rollte. Doch all das nahm meine Schöne sowieso nicht wahr. Sie stand, wie immer, einfach nur da. Sagte nichts, schaute durch mich hindurch wie bei jeder unserer Begegnungen.
„Hallo,“ kroch es gegen meinen Willen aus meiner Kehle. War ich jetzt von allen guten Geistern verlassen? Oh Gott, was hatte ich getan? Von ihr - wie zu erwarten - keinerlei Reaktion. Ich konnte meine Scham geradezu in meinem Gesicht spüren und trat in die Pedale, als wäre der Leibhaftige persönlich hinter mir her. Musste meinen Kopf frei strampeln. Meine Gedanken ordnen und meinen Ärger über mich selbst weg radeln.
Auf der Arbeit, ein mittelmäßig bekanntes Redaktionsbüro, konnte ich mich natürlich überhaupt nicht konzentrieren. Das war zu erwarten. Scheisse. Anpfiff vom Chef und eine Zusatzaufgabe mit nach Hause bekommen. Ich sollte einen Artikel über Datingseiten und ihre Tücken schreiben. Na großartig! Und da heißt es doch immer: Man soll die Arbeit nicht mit nach Hause nehmen. Pah! Nach Feierabend machte ich es mir mit einer Schale Nüssen und einem guten Rotwein vor meinem Laptop gemütlich und fing an zu recherchieren. Nach gut zwei Stunden hatte ich den Artikel fertiggestellt. Das ging wesentlich besser als ich dachte. Ab auf den Stick damit und am Montag dem Chef in die Hand drücken. Danach die alltägliche Abendtoilette und ab ins weiche Bett. Der Gedanke an meine Schöne erregte mich, wie so oft schon. Wie von selbst wanderte meine Hand unter die luftige Bettdecke und nach unten. Wohlige Wärme und Feuchte erwartete mich. Mein Lustzentrum war noch völlig intakt. Wurde nur in den letzten Jahren sich selbst überlassen und sträflich vernachlässigt. Pauly, wie ich meinen besten Freund getauft hatte, nachdem ich hierher nach Hamburg gezogen war, sah mich anfangs erst nur böse an. Langsam schien er aber richtig wütend auf mich zu sein, weil er außer Wasser lassen keine nennenswerten Aufgaben mehr erfüllte. Das war früher einmal anders, jedoch schon sehr lange her. Aber seitdem ich dieses unergründliche wie schöne Wesen von Montags bis Freitags mit dem Fahrrad passieren durfte, blühte meine Körpermitte auf wie ein trockenes Rasenfeld, das endlich gewässert wurde und wieder saftig grün leuchtete. Genauso wie ihre blonden Haare, die mich jeden Morgen warm anstrahlten wie eine Laterne in der Dämmerung. Diese goldblonden Locken, die sich über die zarten Schultern und den Rücken schmiegten wie unzählige, kleine Schlangen, zogen mich magisch in den Bann. Nie zuvor hatte ich solch eine anmutende Haarpracht erblickt. Gab es solche Haare wirklich oder war es vielleicht sogar eine Perücke? Wer konnte das schon so genau sagen? Im Grunde genommen war mir das auch völlig egal. Ich war wie besessen von ihr. Brauchte einen Plan, um sie irgendwie auf mich aufmerksam zu machen.
„Das ist doch bestimmt ne Professionelle. Wedel doch mal unauffällig mit nem Scheinchen vor ihrer Nase herum, wenn du das nächste mal auf sie triffst.“
Keine zehn Sekunden später hatte mein Kumpel eine blutende Nase und versaute mir damit meinen neuen Teppich.
„Ey, Alter! Bist du bescheuert?!“ fragte er mich entgeistert und hielt sich das blutende Riechorgan.
„Rede nie wieder so von ihr!“ mahnte ich und reichte ihm eine Packung Taschentücher.
Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Lautstark und sehr wütend verließ er an dem Abend meine heiligen Hallen und hat bis heute nichts von sich hören lassen. Das war kein großartiger Verlust, denn ich hatte ja noch andere Kumpel, sogar einen besten Freund. Der mir natürlich den Kopf gewaschen hatte ob dieser heftigen Reaktion von mir. Aber dafür war es nun zu spät.
Die Zeit ging ins Land und es hatte sich nichts geändert. Meine blonde Schönheit sah weiterhin durch mich hindurch.
Bis eines Tages der Zufall mir zu Hilfe kam. In Form eines kleinen Kätzchens. Es flitzte knapp vor meinem Vorderreifen auf die Straße und wäre beinah von ihm zweigeteilt worden. Doch im letzten Moment trat die schöne Unbekannte vor mein Gefährt und zwang mich somit zu einer Vollbremsung. Der Schreck stand mir wohl ins Gesicht geschrieben, denn sie starrte mich erst zornig an, um dann einige Sekunden später in lautes Gelächter zu verfallen. Ich griff mit theatralisch ans Herz und atmete erleichtert aus.
„Das ist ja gerade nochmal gutgegangen! Ich dachte schon, du würdest Hackfleisch aus dem armen Geschöpf machen!“ Der Sarkasmus in ihrer doch sehr dunklen, fast rauen Stimme war mir nicht entgangen. Sie passte so gar nicht zu ihrem Erscheinungsbild. Ich hätte eher einen hellen oder piepsigen Klang aus ihrem hübschen Mund erwartet.
„Dann hätte ich dich zumindest zu Katzenfrikadellen einladen können“, konterte ich nicht weniger ironisch und schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass sie mich nun nicht gleich umbringen würde.
„Du kannst kochen?“, fragte sie mich stattdessen provokant und beglückte mich mit einem abschätzenden Blick von den Füßen hoch zu meinem Kopf, der ganz sicher wieder mal errötet war.
Ich nickte. „Natürlich, ich habe wenig Lust darauf, dass man irgendwann meinen verhungerten Körper in meiner Wohnung findet.“
Sie lachte, wieder lachte sie. Ich schien sie zu amüsieren und das gefiel mir sehr. Seit ich denken kann, waren mir Menschen mit Sinn für Ironie und Sarkasmus die liebsten.
„Hast du guten Rotwein im Haus?“ fragte mich die schöne Unbekannte mit einem Blick aus ihren hellbraunen Augen, der mich erschauern ließ. Er versprach so viel und strömte gleichzeitig etwas anderes aus, das ich nicht einordnen konnte. Aber das machte mich nur noch neugieriger auf dieses Wesen, das jeden Morgen den grauen Asphalt mit seiner bloßen Anwesenheit beglückte.
„Ich habe immer eine Flasche Avior Reserva zuhause. Für alle Fälle und außerdem bin ich ein Fan spanischer Rotweine“, erklärte ich zwinkernd und hoffte, dass ihr diese Sorte zusagte. Sie entgegnete nichts, jedoch war da ein Hauch eines Lächelns in ihrem zarten Antlitz zu erkennen. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Aber dann drehte sie sich plötzlich um und rief im Weggehen ein „Frag mich morgen nochmal!“ über die Schulter. Ich stand wie angewurzelt da, unfähig etwas zu sagen. Sah ihr einfach nur nach, bis sie aus meinem Blickfeld verschwunden war. Der nächste Tag war ein Samstag, also müsste ich mich noch bis Montagmorgen gedulden. Eine furchtbare Vorstellung. Deshalb beschoss ich, ausnahmsweise am Wochenende dort lang zu fahren. Ich fühlte mich fast wie ein kleiner Stalker. Leider hatte meine Mission keinen Erfolg. Sie war nicht da. Keine Spur von ihr. Das war meiner Unsicherheit nicht wirklich zuträglich. Der Mut drohte mich zu verlassen...
Und auch am Montag auf dem Weg zur Arbeit konnte ich ihr diese Frage nicht stellen. Und damit nicht genug. Sie war eine ganze, verdammte Woche lang nicht am gewohnten Platz! Diese 120 Stunden kamen mir vor wie eine Ewigkeit. Es regnete fast täglich wie aus Eimern, so als wären der Himmel und der graue Asphalt genauso traurig über ihr Fehlen wie ich.
Den Tag, an dem ich sie endlich wieder sah, werde ich wohl nie vergessen. Und obwohl sie an diesem sonnigen Mittwochmorgen völlig anders aussah als sonst, erkannte ich sie. An ihren bernsteinfarbenen Augen und dem unverwechselbaren Gesicht. Die blonde Lockenpracht war einer dunklen, kinnlangen Fransenfrisur gewichen, die ihr ohnehin schon markantes Aussehen noch mehr unterstrich. Und obwohl ich diese blonde Mähne so sehr liebte, tat das meiner Begeisterung für dieses Wesen keinen Abbruch. Dadurch wirkte sie noch burschikoser als ohnehin schon. Noch jungenhafter als vorher, aber es ließ sie auch irgendwie verwegen wirken. Geheimnisvoll. Ich musste sie unbedingt näher kennenlernen!
Mein Herz raste wie ein Presslufthammer, als ich mich mit dem Rad näherte. Ihr Gesicht wirkte blass, der Blick leer. Ich erschrak etwas über ihr Aussehen, sie wirkte kaputt und müde. Vielleicht war sie krank?
„Hallo“, begrüßte ich sie schüchtern. Sie lächelte gequält. Las ich da Traurigkeit in ihren Augen?
„Auch, wenn heute nicht morgen ist und es viele Tage her ist, dass wir uns gesehen haben, möchte ich dich trotzdem zum Essen und einem Glas Rotwein einladen.“
Mit klopfendem Herzen sah ich sie an. „Traust du dich?“
Jetzt grinste sie breit. „Du meinst, wenn ich deinen selbst gekochten Fraß überlebe?“ Ich lachte verlegen. „Du kannst auch nur den Wein nehmen.“
„Wieso?“ fragte sie kess, „sind dir die Katzen ausgegangen?“
So etwas wie das hatte ich noch nie erlebt. Es war merkwürdig. Es war schön. Es war skurril. Es war bizarr. Und es war einzigartig und süchtig machend. Ich liebte es! Dennoch gewann ich immer mehr den Eindruck, dass sie vor irgendetwas Angst hatte. Sie wirkte manchmal unsicher. Ja, geradezu verletzlich, genau wie ich. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, drückte ich ihr einen Zettel in die Hand, auf dem meine Adresse samt Handynummer stand.
„Ich erwarte dich Freitagabend um acht!“ rief ich nun meinerseits über die Schulter, während ich mich radelnd von ihr entfernte. Aber so cool, wie ich tat, war ich nicht wirklich. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Was koche ich für das Objekt meiner Begierde? Was ziehe ich an? Wie richte ich meine Wohnung her? Welches Geschirr verwende ich? Shit, war das kompliziert...Ich fragte mich, ob meine Angebetete sich auch solche Gedanken machte. Vielleicht war sie aber auch einfach cool mit der Situation. Sie wirkte zwar manchmal etwas unsicher, aber sie war definitiv taff. Und genau das gefiel mir so.
Und dann war er da, der Freitagabend. Ich hatte alles schön hergerichtet, aber nicht zu romantisch. Das passte irgendwie nicht zu ihr, dachte ich. Es war bereits kurz nach acht, aber von ihr keine Spur. Schon um sieben Uhr war ich mit allem fertig gewesen und saß nun auf heißen Kohlen. Ich wartete und starrte auf das hölzerne Steuerrad an der Wand. Die Zeiger meiner Wohnzimmeruhr schienen zu kriechen und das Ticken dröhnte in meinen Ohren mit jeder Minute lauter. Um neun Uhr gab ich endgültig auf und musste einsehen, dass sie nicht mehr kommen würde. Ich war am Boden zerstört, genau wie das tolle Essen, das sich nun im Mülleimer verteilte. Die ganze Mühe umsonst. Ich war so enttäuscht. Und wütend. Warum hatte sie nicht zumindest angerufen und abgesagt? Oder eine Nachricht geschickt? Das war nicht fair. Da ich ihr nicht mehr begegnen wollte, fuhr ich ab sofort einen anderen Weg zur Arbeit. Das konnte und wollte ich mir einfach nicht antun. Musste Abstand gewinnen.
Eine Woche war vergangen und ich hatte mich langsam wieder beruhigt. Wollte sogar ausgehen. Frisch geduscht, gestylt und gut duftend wollte ich mich gerade ins Nachtleben stürzen, als es plötzlich klingelte. Besuch erwartete ich keinen, da mein bester Kumpel schon woanders zugesagt hatte und ich auch ganz gern allein ausging. Das passte mir nun gar nicht. „Wer stört?“ polterte ich dementsprechend genervt in die Gegensprechanlage. Keine Antwort. „Hallo?“ fragte ich nun. Immer noch keine Reaktion. „Klingelstreiche sind etwas für Weicheier!“ stellte ich lautstark fest und knallte den Hörer der Gegensprechanlage auf die Vorrichtung. Dann schnappte ich mir meine schwarze Party-Lederjacke und verließ das Haus. Mein Rad blieb zuhause, da ich vorhatte, so richtig schön einen über den Durst zu trinken. Das brauchte ich nach den jüngsten Ereignissen. Auf dem Weg zu meiner Lieblingsbar hatte ich immer wieder das merkwürdige Gefühl, verfolgt zu werden. Jedoch war niemand zu sehen, wenn ich mich in der Dunkelheit umdrehte. Litt ich neuerdings an Paranoia? Ich beschloss, das Gefühl zu ignorieren und erreichte das Objekt meiner Begierde einige Minuten später unversehrt. Meine Stammbar empfing mich mit dem mir vertrauten Dunst aus Alkohol -, Nikotin - und Zigarrengeruch. Sofort fühlte ich mich heimisch. Und das lag nicht nur an der einzigartigen Gestaltung im Innenbereich, die ein absoluter Hingucker war. Ich als bekennender Schwarzweiß - Fan hatte mich damals beim ersten Besuch sofort in das Schachbrettmuster des Bodens und der Decke verliebt. Ebenfalls die Theke, die Sitzmöbel und die Spiegel wurden passend zum Schach gestaltet. Das lag wohl daran, dass Gunnar, der Betreiber der Bar, ein großer Schachfan war und früher sogar Wettbewerbe gewonnen hatte. Auch die Gäste, die hier verkehrten, waren zumeist außergewöhnlich umgänglich und teilten meinen zuweilen merkwürdigen Humor. Das Highlight bildete jedoch definitiv das Separee, das sichtgeschützte Zusammenkünfte ermöglichte. Ich wünschte, ich könnte aus eigener Erfahrung sprechen, doch leider war mir das bisher nicht vergönnt. Ich nahm an der Theke Platz. Gunnar sah mich wie immer sofort und bereits einige Sekunden später stand ein Cubra Libre vor meiner Nase. Dankend nickte ich ihm zu und nahm einen großen Schluck meines Lieblingsgesöffs durch den weißen Strohhalm. Gunnar hatte sich mal wieder selbst übertroffen und das galt auch für sein Aussehen heute Abend. Sein Aufzug war genauso in schwarz und weiß gehalten wie seine Bar. Er sah heute wirklich umwerfend aus. In Gedanken versunken bekam ich nicht mit, wer die Bar betrat und sich mir zaghaft näherte. Auch nicht, dass sich eine schmale Hand auf meine Schulter legte und mich deshalb erschreckt herumfahren ließ.
„Was machst du denn hier?“ fragte ich die bernsteinfarbenen Augen, die mich ängstlich anblickten. Ich war mehr als überrascht, sie hier zu sehen.
„Offenbar bin ich zur Stalkerin mutiert“, sagte mein Gegenüber, aber es klang mehr wie eine Frage als eine Feststellung.
„Willst du jetzt die Absolution von mir erteilt bekommen?“
Sie lachte. Und entspannte sich etwas.
„Ich habe dich vermisst“, flüsterte sie mit ungewohnt weicher Stimme. Diese vier Worte trafen mich wie ein Blitz. Ich schwöre, ich wollte diese Gefühle nicht haben, aber sie drangen ungefragt in meinen Körper und nisteten sich dort ein. Die Schmetterlinge, die ich mit Mühe und Not in der letzten Woche unter Kontrolle gebracht hatte, schwärmten aus wie hungrige Bienen.
„Ich habe eine kürzere Strecke zur Arbeit gefunden.“ Was redete ich da für einen Quatsch?
„Was du nicht sagst“, sagte sie angriffslustig, „du meinst wohl eher eine „Alex-freie“ Strecke?“
Hörte ich da Enttäuschung in ihrer dunklen Stimme? Sie hieß also Alex. Wahrscheinlich die Kurzform von Alexandra.
Ich grinste ertappt und reichte ihr meine Hand.
„Hallo Alex, ich bin Dominik.“
Ihr Händedruck war kräftig für ihre zarte Gestalt, überaus kräftig. Gunnar stellte ungefragt einen weiteren Cubra Libre auf die Theke. Alex griff nach dem Glas und prostete mir zu. Doch ich dachte Jetzt oder nie und ging in die Vollen. „Lass uns Brüderschaft trinken!“ Früher war das ganz normal, aber irgendwie aus der Mode gekommen. Sie war einverstanden. Danach wollte ich ihr einen zarten Kuss auf die Wange geben, doch Alex wand mir blitzschnell ihren Mund zu und dort landeten dann auch meine Lippen. Dieser Kuss löste einen Stromschlag in mir aus, es traf mich wie ein Blitz. Überall in mir zuckte es und ich dachte, ich müsste auf der Stelle sterben. Gunnar checkte die Situation sofort, ganz wie es sich für einen guten Wirt gehörte. Er beugte sich über die Theke und kam näher an mich heran, um mir etwas ins Ohr zu flüstern. Sein Aftershave kroch mir in die Nase. Würzig und irgendwie holzig. Ein sehr angenehmer Duft, der meine Schmetterlinge im Bauch durcheinander brachte. Was sollte das denn jetzt? Gunnar war zugegebenermaßen attraktiv, aber bestimmt zwanzig Jahre vor mir geboren und vor allem eines: Ein Mann! Ich war sicher puterrot geworden ob dieser unvorhersehbaren Situation. Was ging denn bei mir ab? Meine Gedanken fuhren Achterbahn in meinem Kopf und ich war kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie lange kannten Gunnar und ich uns schon? Seit mindestens fünf Jahren kam ich mehr oder weniger sporadisch in seine „Schach-Bar“. Waren seine Nettigkeit, seine liebe Art und Zuvorkommenheit etwa schon die ganze Zeit Ausdruck seiner Zuneigung mir gegenüber? Ich hatte ihn noch niemals in Begleitung einer Frau gesehen. Er bezeichnete sich stets als glücklicher Single. War lange verheiratet und nach der Scheidung hatte er sich den Traum mit der eigenen Bar verwirklicht. Man konnte sich definitiv super mit Gunnar unterhalten und er nahm sich immer Zeit, wenn man ein Problem mit in seine Bar brachte. Was hatte er mir da gerade eigentlich in den Nacken gehaucht? Ich hörte seine Worte gar nicht, weil mir meine Schmetterlinge im Bauch diesen kleinen Streich gespielt hatten. Das war peinlich, sehr peinlich. Aber als Gunnar unsere Gläser schnappte und uns deutete, ihm zu folgen, wusste ich auch so, was Sache war. Er führte uns zum Separee.
„Ihr habt Glück, dass es noch frei ist!“ zwinkerte er uns viel versprechend zu. Das haute mich dann doch jetzt um. Heute sollte also meine Entjungferung in puncto Separee sein. Mein erstes Mal. Jetzt war ich doch mehr als aufgeregt und immer noch ein wenig durcheinander.
„Hast du einen Geist gesehen?“ fragte Alex und ich bekam ein schlechtes Gewissen. Sie war hier bei mir im Separee. Live und in Farbe! Und ich beschäftigte mich gedanklich mit dem Wirt. Da er uns aber ins Separee abschob, ging ich davon aus, dass er doch nicht dieses Interesse an mir hatte und war erleichtert. Ich schob die störenden Gedanken an Gunnar weg und konzentrierte mich voll und ganz auf Alex.
„Nein, ich hatte nur eine Erfahrung mit der dritten Art“, antwortete ich. Wieder lachte sie. Ich mochte ihr Lachen, es war irgendwie ehrlich. Nicht aufgesetzt, einfach echt. Ich begeisterte mich immer mehr für Alex. Auch ihre Vorliebe für den Cuba Libre entging mir nicht.
„Na, du bist aber kein Kind von Traurigkeit, was den Alkohol betrifft“, stellte ich daher im Laufe des Abends fest.
„Kind weniger, Traurigkeit schon eher. Aber nicht, wenn es Cubra Libre gibt. Dem kann ich einfach nicht widerstehen.“ Sagte es, entfernte den Strohhalm aus dem Glas und leerte es in einem Zug. Man konnte meinen, sie trinke sich Mut an. Fragte sich nur wofür.
„Ich möchte mich bei dir entschuldigen, Dominik“, sagte sie und hielt meinen Blick fest, „es war nicht fair, dich zu versetzen.“ Nein, das war es tatsächlich nicht. Aber sie wollte es scheinbar wieder gut machen und das rechnete ich ihr hoch an. Ganz so einfach sollte sie es jedoch nicht haben, ich wollte sie schon etwas zappeln lassen.
„Ich habe auf dich gewartet und war nicht nur enttäuscht, sondern auch echt sauer. Hatte mir solche Mühe gegeben für unser Essen.“
Ihr Blick wurde traurig und sie blickte beschämt auf den Boden.
„Hoffentlich kann mir der Nachbar irgendwann verzeihen.“
„Was denn verzeihen?“ hakte Alex nach und schaute mich neugierig an.
„Dass ich seine Lieblingskatze entführt habe, um unser Mahl zuzubereiten.“
Mit großen Augen musterte sie mich. „War sie denn auch fett genug?“
„Aber sicher, der Nachbar hätte problemlos noch mitessen können.“
Jetzt lachte sie laut auf. Das Eis schien gebrochen.
Wir unterhielten uns, als würden wir uns schon ewig kennen. Es gab keine Langeweile, keine langen Pausen und der Gesprächsstoff ging uns auch nicht aus. Irgendwann ging sie auf Tuchfühlung und rückte näher an mich heran. Es war wie in diesen kitschigen Filmen, als sich unsere Lippen zum Kuss trafen. Ich hörte ein Feuerwerk, mein Herz raste wie verrückt und zwischen meinen Lenden hatte Alex eine Glut entfacht. Sie schmeckte unglaublich gut. Der Cubra Libre dominierte, aber überdeckte nicht alles. Diese wahnsinns Frau schmeckte nach mehr, nach viel mehr. Ihre Hände gingen während des Küssens auf Wanderschaft und erkundeten meinen Körper. Sie fuhr durch meine dunklen Locken, strich über meinen Nacken und glitt dann meinen Rücken hinunter. Ich erschauerte unter ihren Berührungen. Bald konnte auch ich meine Neugier nicht mehr bändigen und schickte meine Hände ebenfalls auf Erkundungsreise. Ihr Körper fühlte sich unerwartet muskulös an. Offenbar trainierte sie viel. Das einzig weiche waren ihre kleinen, dennoch festen Brüste. Sie passten genau in meine Hand hinein und das fand ich sehr geil. Schon immer mochte ich lieber einen griffigen Busen, als einen großen. Aber hatte nicht jeder seine Präferenzen?
Auch unter dem Tisch ging es heiß her. Alex Hand zog es offenbar zu meinem besten Stück, welches vor lauter Vorfreude längst kleine Tröpfchen abgesondert hatte und gegen meine Jeans pochte. Pauly war schon bei Alex erster Berührung verloren gewesen und der Kuss hat ihn dann richtig hart gemacht. Es war definitiv viel zu lange her, dass er durch eine andere Hand zum Leben erweckt wurde, als meiner eigenen. Ich musste mich beherrschen, damit keine lauten Lustgeräusche das Separee verlassen. Aber ich hatte mich so weit im Griff, dass nur Alex meine leisen Stöhner vernehmen konnte. Das machte sie offenbar noch mehr an und ihre Hand übte mehr Druck auf Pauly aus, der nun seinerseits auf Befreiung aus seinem Gefängnis begehrte. Doch das war leider nicht möglich, im Innern einer Bar. Meine Hand glitt nun auch wie selbstverständlich an den Innenschenkeln von Alex' Beinen in Richtung der heißen Quelle, die in ihrer Körpermitte hoffentlich bereits vor Verlangen brodelte. Diesen Moment, in dem ich nicht das erfühlte, was ich erwartet hatte, werde ich wohl nie im Leben vergessen. Meine Hand stieß zwischen ihren Schenkeln auf etwas Hartes. Auf etwas, das da definitiv nicht hingehörte. Ein Zuviel, welches eine Frau aus anatomischen Gründen normalerweise nicht in der Hose hatte. Etwas, das auch zwischen meinen Beinen baumelte, nur dass es da einen entscheidenden Unterschied gab: Ich war ein Mann! So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Die Hoffnung, dass Pauly heute Nacht vielleicht noch in Alex' Pauline eintauchen könnte, wurde durch die unfreiwillige Entdeckung meiner linken Hand nun jäh zerstört. Mein Gesicht musste furchtbar entsetzt ausgesehen haben, denn Alex sah mich mit einem Blick an, den ich wohl auch niemals vergessen werde: Wie ein weidwundes Reh, das angeschossen wurde. Dennoch war mein erster Impuls die rettende Flucht. Flucht aus der Bar. Flucht aus dieser Situation. Flucht vor meinen eigenen, verwirrten Gefühlen. Alex griff nach meiner Hand. "Lass mich dir wenigstens alles irgendwie erklären", bat sie...oder er? und sah mich flehend aus den bernsteinfarbenen Augen an.
"Da bin ich jetzt aber mal gespannt", sagte ich mit sarkastischem Unterton und rückte von Alex ab, "wieso hast du mir so ein wichtiges Detail verschwiegen? Ein Mann möchte wissen, wenn seine Angebetete ebenfalls über einen Schwanz verfügt." Ich lachte bitter. "Oder hast du gedacht, es wäre lustiger, wenn ich das Teil selbst entdecke?"
Ich war so wütend, aber vor allem war ich verletzt. Mein Gegenüber, das ich so nah an mich heran ließ, hatte mich vorsätzlich getäuscht! Was sollte das alles? In mir herrschte absolutes Gefühlschaos. Mein Sarkasmus sollte mir aber bald im Halse stecken bleiben, denn es dauerte nicht lange und ich lauschte gespannt den Ausführungen von Alex, der eigentlich Alejandro hieß und in Spanien geboren wurde. Als er merkte, dass etwas mit ihm und seinem Körper nicht stimmte und dies seinen Eltern mitteilte, waren diese so sehr entsetzt, dass er sich als junger Teenie nach Deutschland absetzte und sich hier seither mit mehreren Jobs über Wasser hielt. Den geschlechtsneutralen Teil seines Namens wählte er, nachdem sich unter der Hormonbehandlung obenrum bereits kleine weibliche Veränderungen zeigten. Am Ende seiner bewegenden Lebensgeschichte saß ich mit großen Augen da und starrte ihn ungläubig an. Und schämte mich plötzlich. Das Leben war nicht immer fair zu ihm gewesen und ich war es gerade auch nicht. Alex fühlte sich inzwischen mehr als Frau. Über den weiteren Weg war er sich noch nicht genau im Klaren.
"Es tut mir ehrlich leid", sagte ich gequält und sah beschämt zu Boden. Alex jedoch hob mein Kinn an und sah mir tief in die Augen. Mein Herz wummerte einfach frech los, ganz ohne meine Erlaubnis. Die ungeheure Anziehung war offenbar noch immer vorhanden. Und als sie erneut meine Hand ergriff, wachten die Schmertterlinge aus ihrer vorübergehenden Schockstarre auf und fingen zaghaft an zu tanzen. So abgeneigt schien ich also doch nicht zu sein, wie es vorhin noch den Anschein hatte.
"Allerdings werde ich nicht mehr auf der Straße arbeiten. Das hat mir meist mehr Ärger als Geld eingebracht, weil ich nicht das machen wollte, was viele der Männer von mir verlangen."
Ich weiß nicht, warum, aber eine enorme, unbeschreibliche Erleichterung überfiel mich. Denn eines war mir klar geworden, auch wenn ich nicht wusste, was die Zukunft bringen würde: Ich wollte Alex mit niemandem teilen. Außer mit seinen Eltern, mit denen er mittlerweile wieder Kontakt pflegte.
Etwas derartiges war mir noch nie in meinem Leben widerfahren, aber irgendwann war doch immer das erste Mal. Es brauchte nur etwas Mut, sich dem Neuen zu stellen. Und wenn Alex einen solchen Mut in seinem bisherigen Leben bewiesen hat, dann schaffe ich das auch.
Nein, wir schaffen das zusammen.
ENDE
Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Cover: google
Tag der Veröffentlichung: 05.06.2021
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Beitrag zum Erotikwettbewerb Mai/Juni 2021