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K(eine) heilige Nacht

Es gibt Menschen, denen die Weihnachtszeit nicht oder nicht mehr behagt. Die nicht das ganze Jahr darauf warten, dass der Dezember anbricht und sie gierig die Türchen ihres Adventskalender öffnen und den süßen Inhalt Tag für Tag verschlingen können. Obwohl das ein wirklich schöner Brauch ist und das nicht nur für Kinder. Diese Zeit ist aber nicht für jedermann besinnlich, heimelig und schön und schon gar nicht segensreich.

So auch für Peter Stern, einem Enddreißiger, den seine Verlobte ausgerechnet an Heiligabend verlassen hatte. Seit diesem Weihnachten vor drei Jahren konnte er dem Fest der Liebe verständlicherweise nicht mehr wirklich viel abgewinnen. Dennoch wurde es zu einem Ritual, dass er am späten Nachmittag an Heiligabend im Schutz der Dämmerung einen Streifzug durch die Stadt machte. Ihm gefiel zwar Weihnachten an sich nicht mehr, aber das Flair, das in der City herrschte und die Lichter in der Ladenstraße hatten schon was magisches für ihn. Und da es dort um die Zeit recht menschenleer war, konnte ihm bei seinem Streifzug auch niemand auf den Sack gehen. Er hatte da lieber seine Ruhe und genoss einfach diese herrliche Stille. So war er auch an diesem Heiligabend in der Stadt unterwegs und schaute sich das Lichtspiel und die geschmückten Schaufenster an. Bald wurde die geliebte Ruhe aber jäh durchbrochen. Ein helles, schrilles Lachen bohrte sich in Peters Ohren. So sehr, dass er sogar regelrecht zusammenzuckte. Das klang schon fast unmenschlich, irgendwie nicht von dieser Welt. Die Gestalt aber, aus der die Laute herausquollen, war nicht nur menschlich, sondern auch noch unglaublich weiblich. Ein schwarzhaariges Wesen, vermutlich Ende Zwanzig, das Peter mit ihrem roten Cape an Rotkäppchen erinnerte. Sie hing am Arm eines Mannes, der sie offenbar zu diesem Lachen inspirierte. Plötzlich blieben sie stehen und er drückte Rotkäppchen gegen eine Häuserwand, um sie zu küssen. Peter verspürte mit einem Mal so etwas wie Scham, fühlte sich wie ein Spanner. Also machte er, dass er weiter kam. Zügig entfernte er sich von dem Paar, nicht aber ohne sich noch einige Male umzudrehen. In diesem Moment wurde ihm mehr als bewusst, was ihm fehlte. Liebe.

Aber er war noch viel zu verletzt von Amandas Abgang an Heiligabend vor genau drei Jahren, als dass er schon dazu bereit wäre, irgendein weibliches Wesen näher als ein Meter an sich heranzulassen. Seine trüben Gedanken ließen ihn plötzlich frösteln. Mit Freude erblickte er eine geöffnete Bar. Ansonsten war hier alles geschlossen. Dafür war der Schuppen so grell beleuchtet, dass Peter hoffte, es würde innen etwas gedämpfter aussehen. Hatte der Besitzer etwa Angst, man könnte seine Bar sonst übersehen? Das war ohnehin kaum möglich, denn das bunt erleuchtete „open“ Schild brannte sich quasi in die Pupillen.

Schwungvoll öffnete er die Tür und wurde von einer Mischung aus Bierduft, Frikadellengewürz und Nikotingeruch begrüßt. Sofort fühlte er sich heimisch, legte Mantel samt Schal ab und schwang sich auf einen Barhocker an der Theke. Viele Menschen waren auch hier nicht zugegen, was Peter ganz recht war. Er bestellte ein Pils und eine Frikadelle, deren Aussehen eher an einen Stein aus dem Wald erinnerte, als an ein saftiges Fleischteilchen. Aber sein Magen knurrte schon seit einigen Stunden und so trieb der Hunger und viel Senf das Stück Chemie rein. Er hatte gerade den letzten Bissen verdrückt, als die Tür aufgestoßen und die Stille erneut durch das schrille Lachen gestört wurde. Denn bis auf leise Weihnachtsmusik im Hintergrund und verhaltenes Klirren von Gläsern hörte man in der Bar fast nichts. Warum lachte diese Person nur so nervtötend? Rotkäppchen und ihr Begleiter machten es sich an einem der Tische im hinteren Bereich gemütlich und orderten eine Flasche Prosecco. Und weil es ansonsten eher ruhig in der Bar war, durchbrach ihr schrilles Lachen immer wieder mal die eher maue Stimmung, die hier herrschte. Peter sah sich um. Ein Herr, dem die grauen, zerzausten Haare vom Kopf ab standen, nippte schmatzend an seinem Pils und starrte Löcher in die Luft. War bestimmt ebenso einsam wie er selbst an diesem heiligen Abend. Ein anderer Mann mittleren Alters saß an einem der Tische, trank irgendeinen Cocktail und starrte ununterbrochen in sein Handy.

„Charly, machst du mir noch einen?“ hörte Peter plötzlich eine Frauenstimme hinter sich sagen und fühlte etwas weiches an seiner Schulter, das ihn gegen seinen Willen erschauern ließ. Waren das etwa Brüste, die ihn da gerade...? Er schnellte herum und sah direkt in das Gesicht des Christkindes. Er war davon überzeugt, dass es so aussehen musste, sollte es ein Christkind geben.

Eisblaue Augen, ein zartblasses Gesicht, eine Stupsnase und volle, rote Lippen, umrahmt von blonden Locken, sahen ihn erstaunt und amüsiert zugleich an. Noch nie hatte er etwas so anmutendes gesehen, wie dieses Gesicht, das auch irgendwie zerbrechlich auf ihn wirkte. Ihr Blick aus diesen unbeschreiblich blauen Augen schien ihn zu durchbohren wie das Lachen von Rotkäppchen die Stille. Gut, dass der Wirt ihr in diesem Moment das begehrte Getränk hinhielt, denn das lenkte ihre Aufmerksam von ihm ab. Weil ihm langsam dieser besondere Blick doch etwas unangenehm wurde, obwohl er andererseits völlig gefangen war von ihrem Anblick. Ihre beträchtliche Oberweite stach hervor, denn sie war ansonsten eher ein zierliches Christkind. Da war es kein Wunder, dass sie ihn mit ihren üppigen Brüsten anstieß bei der Bestellung. Andererseits war die Theke fast völlig leer und sie hatte genug Platz dafür gehabt, ihr Getränk zu ordern. War das etwa pure Absicht von ihr gewesen?

„Hör' auf zu grübeln, mein Süßer“, flüsterte sie und das passte so gar nicht zu ihrem Erscheinungsbild. Damit noch nicht genug, streichelte sie während ihrer Worte auch noch durch Peters dunklem Haar. Ungefragt ob er das will, erschauerte er erneut unter ihrer Berührung. Doch Peter blieb stumm, er war noch nicht bereit für etwas Neues. Er war noch nicht mal bereit für die Nähe eines weiblichen Wesens! Und schon gar nicht für diese Art der Nähe!

Andererseits...war sie so betörend und erregte ihn sogar. In seiner Jeans wurde es verdächtig eng, denn das Christkind machte keine Anstalten, mit seinem Cocktail wieder in die Ecke zu gehen, aus der es gekommen war. Im Gegenteil nahm sie einen großen Schluck ihres Getränks und kam noch näher. Das goldene Schirmchen sollte dem alkoholischen Gesöff wohl etwas weihnachtliches verleihen, doch das gar nicht keusche Christkind schnappte sich das glitzernde Teil und warf es achtlos auf die Theke. Dann leerte sie das bunte Glas in einem Zug, nahm den völlig verblüfften Peter an die Hand und zog ihn mit sich in die dunkle Ecke, aus der sie gekommen und deshalb auch für ihn bisher unsichtbar war. Für Peter fühlte es sich fast so an, als würde er etwas verbotenes tun. Die etwas versteckte Nische, in der er jetzt mit dem Christkind saß, wirkte so gar nicht christlich und roch förmlich nach Erotik und Sex. Aber wollte er das alles hier? War er wirklich bereit für so ein Weihnachtsabenteuer? In dem Moment, in dem er die Hand seines Christkindls auf seinem Oberschenkel spürte, die sich verboten langsam nach oben arbeitete, schalteten sich seine Grübeleien von selbst aus. Daher hatte er auch keinen Einfluss mehr darauf, dass seinem besten Freund sein Zuhause langsam zu klein wurde und er wild pochend um Ausgang flehte. 

Langsam kam er sich vor wie in einem Märchen. Da war einerseits das heiße Rotkäppchen und andererseits sein blondes Christkind. Aber er befand sich nicht in einem Märchen, sondern in der einzig geöffneten Wirtschaft hier in der City. Ihm war dermaßen heiß geworden, dass er sich ein kühles Wasser bestellte. Wofür ihn das Christkind amüsiert belächelte, wohl wissend, dass sie der Auslöser seiner plötzlichen Hitze war. 

„Bist du ungebunden?“ fragte sie plötzlich, „dann könnten wir bei dir weitermachen, womit ich hier angefangen habe...“

Jetzt rannen die Schweißperlen quasi in Strömen über Peters Gesicht, jedenfalls fühlte es sich so an. Er wurde in die Enge getrieben! Das war unfair! Sollte er es wagen? Sollte er diesen heißen Weihnachtsengel tatsächlich mit in seine Wohnung nehmen? Er hatte weder einen Baum noch war sein Zuhause auch nur ansatzweise festlich geschmückt. Aber wahrscheinlich interessierte sich das Christkind keinen Pfifferling dafür, wie es bei ihm zuhause aussah. Sein Augenmerk war doch im Wesentlichen darauf gerichtet, wie es unter Peters Jeans aussah und ob seine kleinen Säckchen prall gefüllt waren. Mit einem Mal packte auch ihn die Weihnachtsstimmung und er wollte nichts mehr, als mit seinem Christkind in seine Wohnung gehen und endlich wieder leidenschaftlichen Sex haben. Ihr den Inhalt seiner tatsächlich prallen Säckchen schenken. 

Er zahlte, nahm das Christkind bei der Hand und flüsterte erregt: 

„Noch ist Heiligabend nicht vorbei, lass uns zu mir gehen und endlich mit der Bescherung anfangen.“

 

Ende

 

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Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Cover: google
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2020

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