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Der Schandfleck

Verträumt stand Viola am Panoramafenster ihrer dreigeschössigen, noblen Villa und starrte auf die saftigen, wunderschönen Gärten, die sich vor ihr erstreckten. Sie wohnte mit ihren Freundinnen ohne Zweifel im geilsten und attraktivsten Viertel von Wien. Jeden Tag genoss sie diese Aussicht und konnte sich irgendwie niemals daran satt sehen. Als wäre sie süchtig nach diesem Anblick, zog es sie immer wieder zur großen Glasfront. Im Gegensatz zu den meisten ihrer Mitbewohnerinnen brauchte sie ihre tägliche Dosis schöne Welt. Fast so, als hätte sie Angst, dass irgendwann irgendetwas diese Idylle zerstören könnte. Loretta, die Anfang zwanzig und ebenfalls Model war, äußerte in letzter Zeit oft Bedenken bezüglich Viola, weil ihr das Verhalten der Vierundzwanzigjährigen immer suspekter wurde. Außer Linda, das stillste und meist in sich gekehrte Model, hegten auch die anderen Mädels Zweifel an Violas Verhalten. Doch sie war die Gründerin dieses Sechsergestirns und von Anfang an so etwas wie die Anführerin. Demnach hatte Viola somit automatisch immer das Sagen. Das gefiel nicht unbedingt allen Mädels, aber sie nahmen es hin, um den Frieden zu erhalten. Und ihrer Karriere wegen, die Dank Viola steil nach oben ging. Sie hatten ihr einiges zu verdanken und Viola wurde nicht müde, sie daran zu erinnern.

 

Seit knapp drei Jahren wohnten sie nun zusammen im Mondscheinviertel und in diesem großen Haus in Wien. Es war allein schon deshalb ein Blickfang, weil es tatsächlich in pinkrosa gestrichen war und von allen nur das „Barbiehaus“ genannt wurde. Darauf jedoch waren alle Mädchen sehr stolz und so hatte sich diese Bezeichnung bis weit über ihren Wohnort hinaus eingebürgert.

Und nicht nur deswegen waren sie in vieler Munde. Ihre Siedlung mit den tollsten Gärten und Häusern weit und breit nahm jedes Jahr an einem Schönheitswettbewerb teil. Denn neben der schönsten Straße im Viertel fand man dort auch die attraktivsten Menschen. Wunderschön, groß und gertenschlank waren die, die dort lebten. Egal, ob nun Weiblein oder Männlein.

 

Aber dann...an einem sonnigen Tag im Wonnemonat Mai nahm das Schicksal seinen Lauf.

In Form eines sperrigen LKW‘s , der sich zwischen Viola und dem täglichen Blick auf ihre eigene, kleine und heile Welt schob. Ihre Idylle wurde massiv gestört, denn für diesen Tag war kein Ein- oder Umzug geplant. Sie hatte einen geheimen Informanten, den sie großzügig mit reichlich Zuwendung bezahlte. Dementsprechend schockiert war sie über den dreckigen Großwagen, der ihr bei ihrer täglichen Suchtration buchstäblich im Wege stand. Urplötzlich fing es zu donnern an, der Himmel verdunkelte sich, kleine Blitze zuckten am eben noch wolkenlosen Blau über ihr.

Die Beifahrertür sprang auf und die Erde begann zu beben, als eine Person auf eben diese sprang.

 

„Mein Gott, ist das schön!“ hörte Viola eine Frauenstimme ausrufen. Glockenhell und laut, viel zu laut für diese Idylle. Sie konnte nur die Schuhe der Frau sehen und rümpfte unwillkürlich die Nase. Rote Sneakers, in denen schwarze Leggings steckten. Langsam fuhr der LKW weiter und gab somit den Blick auf die gesamte Person frei. Unter Viola öffnete sich der Boden und sie fühlte sich, als würde eine Flut der Ohnmacht sie mit sich reißen. Ungläubig starrte sie auf das kleine Persönchen auf der anderen Seite. Ein schwarzhaariger Winzling mit kurzen, aber dafür dicken Beinen, die in einer Leggings steckten und einem roten Oberteil, das wenigstens farblich zu den Schuhen passte. Das allerdings war das einzig positive, das Viola an der übergewichtigen Frau entdecken konnte.

Ihr Hintern war riesig und sie froh, dass das Oberteil das schlimmste verdeckte. ’Alles andere wäre auch eine absolute Frechheit gewesen’, fand Viola.

Wie konnte man zulassen, dass dieses Nilpferd sich hier einnistete? Sie passte doch überhaupt nicht in diese schicke und schlanke Gegend. Im Gegenteil ragte sie trotz ihrer kleinen Größe aus der Idylle heraus wie ein Schandfleck. Entschlossen schritt sie erhobenen Hauptes zum Haus gegenüber, das erst seit einigen Wochen leer stand. Viola schnappte hörbar nach Luft, als die Dame sich zu ihr umdrehte und sie herzlich begrüßen wollte. Doch statt ihr die Hand zu geben, starrte sie auf ihre übergroße Oberweite. Die machte sicher auf der Waage ein nicht unbeträchtliches Gewicht aus und Viola fragte sich, wie viel dieses kleine Ding mit den rotschwarzen Klamotten vor ihr wohl wiegen würde.

„Hallo!“ kroch es glockenhell in ihre Ohren. „Können Sie mich hören?“ fragte die Dame in rotschwarz noch einmal. „Oder sind Sie vielleicht taub?“ Dabei guckte sie betroffen drein.

Na, die hatte ja Nerven, dachte Viola nur und rief lautstark nach ihren Freundinnen, die sich nur Sekunden später in Reihe hinter ihrer Rädelsführerin einfanden.

Die Dame mit den schwarzen Locken, die schon etwas älter als die Models war, lächelte.

„Ich bin Eleonore und wohne ab heute hier. Freunde nennen mich Lore.“

Die Mädchen lachten laut auf. „Sie wohnen ganz sicher nicht hier, Frl. Eleonore“, sagte Viola in einem Ton, den die übergewichtige Dame bisher nicht kannte. Verständnislos blickte sie das Sechserpack an.

„Wie ausgerechnet Sie an dieses Haus gekommen sind, ist mir wirklich schleierhaft. Es existiert ein Regelbuch, nach dem der Makler die Käufer auswählt. Da geht es um strenge Kriterien und wenn ich Sie mir so ansehe, stelle ich fest, dass Sie nicht mal ansatzweise auch nur eine dieser erfüllen.“

 Eleonore erstarrte unwillkürlich und ihr Kinn klappte herunter. Sie war tatsächlich sprachlos und das passierte nicht oft. So etwas hatte sie wahrlich noch nie erlebt. Sie durfte hier nicht wohnen, weil sie schlicht nicht ins Bild passte? War sie etwa zu fett für diese prunkvolle Gegend? 

„Hier wohnen ausschließlich schlanke und schöne Menschen“, bestätigte Viola Eleonores Gedanken und drehte sich zu ihrer Model-Riege um. Dann zeigte sie auf jedes der Mädchen.

„Das ist wahre Schönheit“ klärte sie Eleonore arrogant auf, „und nun schauen Sie sich bitte an. Sehen Sie den Unterschied? Natürlich sehen Sie ihn, denn Sie sind ja nicht blind.“

Ihr Gefolge kicherte und Silvana, die dreiundzwanzigjährige, einzige Latina unter den Models, setzte noch einen obendrauf:

„Wenn man Loretta und Linda zusammen packt, dann wiegen die beiden ungefähr so viel wie Sie, Eleonore. Das geht wirklich gar nicht, Sie sind einfach zu fett und das passt nicht ins Bild.“

So gehässig war sie sonst eigentlich nicht, aber Silvana war so unglaublich hungrig und wollte zudem Viola imponieren. Der Plan ging auf, denn die Anführerin nickte anerkennend und zeigte ihr ein Daumenhoch. Lore dagegen brach in Tränen aus, aber nur innerlich. Diese Blöße wollte sie sich vor diesen dürren Schnepfen nicht geben, jetzt hier los zu heulen. Ja, sie war lediglich hundertundsechzig Zentimeter groß und wog etwas mehr als neunzig Kilo, aber sie war immer noch ein Mensch. Ein Wesen aus Fleisch und Blut und vor allem mit einem Herzen. Denn dieses war dem Sechsergespann offensichtlich abhanden gekommen. Vielleicht war ihnen bei der Geburt die Empathie mit der Nabelschnur abgeschnitten worden? Oder machten ständige Diäten aus Menschen solche Biester? Himmel, da konnte sie ja froh sein, die Idee mit dem Abnehmen aufgegeben zu haben. Dann war sie lieber ein zufriedenes Dickerchen, statt ein unausstehlicher, abgrundtief böser Hungerhaken. Wussten diese Hühner denn gar nicht, wen sie vor sich hatten? Lore war die berühmte Tortenqueen aus dem Internet, die mittlerweile jeder kannte. Jeder, außer dem Sechsergestirn von gegenüber. Na, das konnte ja noch heiter werden. So hatte sie sich ihr neues Zuhause nicht vorgestellt. Was hatte sich der Makler dabei gedacht, als er ihr dieses Haus anbot? Zugegeben, Lore hatte sich sofort in die Bilder verliebt, als sie mit dem Typen beim Kaffee und ihrer besten Torte gesessen hatte vor einigen Wochen. Als Herr Wolf ihr die Fotos zwischen Tasse und Kuchenteller gelegt hatte, war es direkt um sie geschehen. Vor Aufregung bekam sie keinen Bisser mehr herunter und das kam wahrlich sehr sehr selten vor. Die Schmetterlinge im Bauch hatten keinen Platz mehr für den Kuchen gelassen.

Sofort war sie in das weiße Haus mit den hell grünen Fensterläden verliebt und für ihre Zwecke war es wie geschaffen. Sie wollte ihre Kuchenkunst ganz groß aufziehen und das nötige Geld dafür hatte sie dank einer reichen Erbtante auch.

Dann ging plötzlich alles ganz schnell und sie stand schlussendlich samt Fahrer und LKW im Mondscheinviertel in Wien. Direkt gegenüber dem Haus der Sexy Six,wie der goldfarbene Schriftzug auf ihrem albernen rosa Barbiehaus verriet. 

„Sag mal, Vio, wozu steigst du eigentlich mit dem alten Sack von Gemeinderat in die Kiste, wenn er dir so eine wichtige Information vorenthält?“ fragte Loretta unverblümt und Viola wurde tatsächlich ein wenig rot. Eleonore hoffte inständig, sich verhört zu haben. Ekel überkam sie..

Gut, sie selbst hatte schon länger keinen Sex mehr, aber für „solche Verbindungen“ war sie sich ohnehin zu schade.

„Hältst du wohl die Klappe!“ zischte die Anführerin Loretta an und blickte zornig drein.

Dann wandte sie sich wieder Lore zu: „Gut, also in naher Zukunft startet der alljährliche Schönheitswettbewerb. Wenn Sie sich für die Dauer dessen in Ihrem neuen Heim verbarrikadieren, sehe ich keine Probleme. Denn auch dieses Jahr würde ich diesen sehr gern wieder gewinnen.“

Die Tonlage ihrer Stimme duldete keinerlei Widerspruch. Lore hatte keine Ahnung, worüber Viola sprach und wollte gerade nachfragen, als plötzlich wie aus dem Nichts ein Klatschen ertönte. Automatisch schauten alle in die Richtung, aus der es kam. Der Fahrer des LKW’s lehnte lässig an einer nostalgischen Laterne und hatte unbemerkt die Geschehnisse verfolgt. Den hatte Eleonore ja völlig vergessen.

 „Wenn die Damen jetzt fertig sind, kann ich meiner Lieblings-Internet-Kuchenmeisterin die Koffer in ihr neues Heim tragen.“

Seine überaus männliche Stimme ließ die „Sexy Six“, wie sie in ihrer Branche und Nachbarschaft getauft wurden, unwillkürlich erschauern. Zudem war eine erfreuliche Stille eingekehrt, die Eleonore sehr genoss. Die Mädels klebten mit den Augen noch immer am einzigen Mann in der östrogengesteuerten Runde. Muskulös, in einer gut sitzenden Jeans und einem coolen Shirt verpackt. Das I-Tüpfelchen bildete der gepflegte Bart, den er trug. Während er Lores Koffer hinein brachte, starrten alle gebannt auf seine Rückansicht. Sein herrlich knackiger Po schwenkte einladend hin und her. Man konnte förmlich den Sabber sehen, der den Models das schmale Kinn hinunter lief. Auch Eleonore gefiel der starke Chris, aber er interessierte sich mehr für ihre Torten als ihre eigenen Rundungen.

Viola, die den sehnsüchtigen Blick der übergewichtigen Mittdreißigerin bemerkte, fand als erste ihre Sprache wieder:

„Vergiss es, Pummelfee, bei dem hast du niemals eine Chance. Der spielt in einer völlig anderen Liga. Gefühlte tausend über dir. Ach was sag ich? Millionen Lichtjahre bist du von dem entfernt!“

Erneut brach ihr Gefolge in schallendes Gelächter aus. Nun wurde es Eleonore zu viel. Auf dem Absatz machte sie kehrt und stapfte ins Haus, um die Tür mit einem lauten Knall hinter sich ins Schloss fallen zu lassen.

Nun standen die Sexy Six ihrerseits mit offenen Mündern da. Viola fand erneut als erste ihre Sprache wieder. „Wie frech diese fette Wanze ist! Hat den Mut, uns die Tür vor der Nase zuzuschlagen! Na, die traut sich was. Aber hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Die wird sich noch wundern!“

Ebenfalls auf dem Absatz kehrt machend schritt Viola erhobenen Hauptes zurück in ihr rosa Barbiehaus. Sie kochte vor Wut und nicht nur allein deshalb, weil sie fette Menschen hasste.

Die Wochen vergingen und der Wettbewerb stand bevor. Viola musste was tun, denn seit Eleonore gegenüber wohnte, ereigneten sich komische Dinge im Mondscheinviertel. Zwei von den Mädels hatten zugenommen und verbrachten kaum mehr Zeit mit ihr, sie waren ständig unterwegs. Viola glaubte, die beiden tatsächlich einmal mit der Dicken von drüben in der Stadt in einer Eisdiele gesehen zu haben. Aber sie hoffte inständig, dass sie sich irrte und Chantal und Loretta nicht wirklich das Lager gewechselt hatten. Denn in letzter Zeit herrschte ungewöhnlich viel Streit im Barbiehaus. Viola verlor immer mehr die Kontrolle über die anderen Models. Je näher der Wettbewerb rückte, desto zickiger wurden alle. Und sie bekam ihre Mädels immer seltener zu Gesicht. Also beauftragte sie eine Detektei damit, ihre untreuen Freundinnen zu beschatten und herauszufinden, wie Eleonore es geschafft hatte, an den Kriterien vorbei zu kommen.

Es dauerte nur einige Tage, bis ihr Handy klingelte und Herr Späher Viola in sein Büro bat. Das Model fiel aus allen Wolken, als sie hörte, was er zu berichten hatte. Die Mittzwanzigerin hatte zwar so eine Ahnung, was ihre Mädels anging, aber es dann bestätigt zu bekommen, zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Und Wolf, der Makler, hatte Eleonore gezielt dieses Anwesen angeboten und das aus gutem Grund. Er handelte im Auftrag von jemanden. Gesine Linke, ihre Erzfeindin in den jährlichen Wettbewerben, wollte ihr durch diesen Schandfleck die Tour vermasseln. So weit ging die für einen Sieg, der sowieso nie eintreten würde? Ihre Straße konnte nun mal nicht mithalten und wurde immer nur zweite. Aber was viel schlimmer war:

Ihre Mädels, ihre besten Freundinnen hatten sich alle, bis auf die stille Linda, mit dieser fetten Kuchenfee zusammen getan? Mit dem Schandfleck der Straße? Ihr war, als würde sie ohnmächtig werden. Das konnte doch nicht wahr sein! Wie hatte diese schwergewichtige Irre das angestellt?

 „Sie ist einfach nett zu den Mädels, geht mit ihnen Eisessen, quatscht über Mädelskram und besticht sie mit den besten Torten der Stadt“, klärte Späher sie bereits ein paar Tage später auf, als sie wieder bei ihm im Büro saß. „Ihre Torten sind einfach ein Traum, sie ist DIE Tortenzauberin im Internet. Es kennt sie einfach jeder. Warum mögen Sie die Dame eigentlich nicht, wenn ich fragen darf?“

Viola rümpfte die Nase. „Na, weil sie unglaublich fett und hässlich ist! Sie verschandelt unser ganzes Viertel mit ihrer Anwesenheit!“

Thorsten Späher zuckte regelrecht zusammen bei ihren lauten Worten.

„Und was wollen Sie dagegen tun?“

Teuflisch grinsend sagte sie fest entschlossen: „Ich habe da so eine Idee.“

Der Detektiv ahnte nichts Gutes und ließ sich auch von Violas Schönheit nicht blenden. Das brachte sein Beruf und die Erfahrung so mit sich: Es ist nicht alles Gold, was glänzt.

Das Model bezahlte Späher für seine Arbeit, gab ihm ein großzügiges Trinkgeld und verabschiedete sich. Auf dem Weg nach Barbiehaus reifte ein gemeiner Plan in ihrem hübschen Kopf. Sie würde diese Moppeltrulla ausschalten, ein für alle mal.

Lange würde sie das ohnehin nicht mehr aushalten, diesen Panzer durch den Garten watscheln zu sehen mit ihren kurzen, dicken Stummeln, die sie Beine nannte. Und ihre dämlichen Exfreundinnen folgten ihr mittlerweile, wie die Kinder der Entenmutter. Gott, war das alles grotesk! 

Viola rückte immer mehr und mehr in den Hintergrund bei den Models, nur Linda hielt noch zu ihr. Die introvertierte, stille, blonde Linda mit den ehrlichen, blauen Augen.

„Warum kannst du dich nicht einfach mit ihr anfreunden, Vio?" fragte sie eines Abends, als die beiden wieder einmal allein auf der Terrasse mit einem Glas Wein saßen. Viola zog scharf die Luft ein. „Das kann nicht dein Ernst sein, Linda! Ich und dieses Trampeltier in einem Raum? Das halte ich nicht mal eine Sekunde aus!"

Linda lächelte besonnen. „Du hast es bisher ja nicht einmal versucht. Geh doch einfach einen Schritt auf sie zu", schlug sie vor, „zudem würde es helfen, wenn du dir nettere Bezeichnungen für Eleonore zulegen würdest.“

In dem Moment schellte es Sturm im Barbiehaus und obwohl der Klang der Türklingel das Lied „I‘m a Barbiegirl“ aus den Neunzigern war, hielten die Models sich die Ohren zu.

„Gott im Himmel, wer malträtiert denn da dermaßen unsere Ohren?“ schrie Viola und hechtete zur Tür. Und erblickte erst mal niemanden, denn sie trug ihren Kopf gern hoch. Ein Räuspern zwang Violas Kopf in die Tiefe und dann sah sie ihn: Den kleinen Schwabbel mit den schwarzen Locken von gegenüber. Und wieder war sie so unverschämt, ihre dicken Stampfer in eine Leggings zu stecken. Unglaublich, was die sich raus nahm. Und dann auch noch am heiligen Sonntag zu stören!

„Was willst du denn hier?“ fragte Viola genervt und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Jetzt bist du eindeutig zu weit gegangen, Viola! Du hast mich in der Nachbarschaft total lächerlich gemacht! Hör auf, meine Internetseite zu boykottieren und die Anwohner gegen mich aufzubringen und zwar sofort!“

Viola brach in schallendes Gelächter aus und wollte dieser fetten Wanze schon die Tür vor der Nase zu knallen, da holte diese zum Gegenschlag aus: „Du fieses Klappergestell! Bei deiner Geburt muss doch was schief gelaufen sein. Oder bist du zu oft vom Wickeltisch gefallen, du bösartige, dürre Hexe?“

Viola war tatsächlich für einen Moment sprachlos. Doch dann ging sie auf ihre Erzfeindin los und riss ihr ein Büschel Haare vom Kopf. „Du fettes Miststück hast mir fast alle meine Freundinnen geklaut und sie obendrein auch noch dick gemacht! Das wirst du bereuen!“

Das kleine Schwergewicht aber konterte mit einem linken Haken. „Die vier Mädels haben einfach mehr Hirn als du und haben selbst entschieden, lieber ihre Zeit mit mir zu verbringen! Sie haben einfach keine Lust mehr, dass du ihr ganzes Leben bestimmst!“

Plötzlich ertönte ein lauter und langer Pfiff. Linda hatte sich zwischen sie gequetscht und blies nochmals in die schwarze Schiedsrichterpfeife.

„Schluss jetzt, meine Damen, das ist nicht sehr Ladylike. Wir gehen jetzt ins Haus und regeln das wie vernünftige Menschen. In Ordnung?“

Nachdem Linda sich gefühlte Stunden den Mund fusselig geredet hatte, konnte sie die beiden Streithähne etwas besänftigen. Viola entschuldigte sich sogar bei Lore und versprach, auch im Internet alles richtig zu stellen. Allerdings verlangte sie dafür von ihrer übergewichtigen Nachbarin, dass sie sich während des Schönheitswettbewerbs nicht blicken ließ. Eleonore hingegen verlangte, dass die höchst disziplinierte Viola wenigstens ein Stück der Friedenstorte essen müsste, die sie extra backen würde.

 „Friedenspfeife kann ja jeder und is langweilig!“ trällerte sie und lachte laut. Obwohl Violas Magen sich allein bei dem Gedanken an die bevorstehende Kaloriebombe umdrehte, willigte sie ein.

„Im Gegenzug dazu probieren Sie aber einen meiner gesunden Smoothies, die ich täglich frisch zubereite.“ Wieder duldete ihre Stimme keinen Widerspruch und Eleonore gab sich geschlagen.

Die beiden Frauen schlugen ein und verabredeten sich für den morgigen Samstagnachmittag zu diesem kleinen Stelldichein zu zweit. Es hatte schon fast etwas Romantisches.

Eleonore hasste Unpünktlichkeit und stand deshalb schon fünf Minuten früher vor dem Barbiehaus und wollte gerade klingeln, als schon die Tür geöffnet wurde. Linda lächelte die Tortenqueen herzlich an. „Ich freue mich wirklich sehr, dass Sie gekommen sind“, sagte sie mit einer einladenden Handbewegung, „ich bin auch schon weg und lasse euch Turteltauben alleine. Die anderen Mädels sind ebenfalls ausgeflogen. Morgen früh sind wir wieder zurück, also pünktlich zur Wahl der schönsten Straße.“ Sie legte eine Hand auf Lores Arm. „Also bitte schlagen Sie beide sich nicht die Köpfe ein, in Ordnung? Toi Toi Toi!“

Die Kuchenmeisterin nickte lächelnd und ging ins Wohnzimmer des rosa Hauses.

 

„Nehmen Sie schon mal Platz, meine Gute“, flötete Viola aus der Küche, „ich bin gleich bei Ihnen.“

Eleonore tat, wie ihr befohlen wurde, stellte das Stück mitgebrachter Friedenstorte auf den vergoldeten Wohnzimmertisch und quetschte sich dann in den viel zu kleinen Sessel. ’Sogar die Einrichtung ist nur für Skelette gemacht!‘ dachte sie mit finsterer Miene.

Viola schritt stolz mit zwei Smoothies in der Hand auf Eleonore zu, reichte ihr einen und nahm dann ebenfalls Platz.

’Hoffentlich macht die den teuren Sessel nicht kaputt’, dachte das Model, 'bitte halte durch, mein Guter!’

 

„Fangen wir noch mal von vorne an!“ säuselte Viola und hob ehrfürchtig ihren Becher. Lore tat es ihr gleich: „Auf gute Nachbarschaft!“

Erstaunlicher Weise schmeckte dieses eklige, grüne Gesöff gar nicht mal so schlecht und sie leerte es fast in einem Zug. Viola erging es mit dem Kuchen ähnlich. Seit gefühlt hundert Jahren hatte sie keine süße Köstlichkeit mehr in die Nähe ihres Gaumens gelassen und verschlang das Stück Torte hastig und bis auf den letzten Krümel.

„Also den Namen Tortenqueen haben Sie zu Recht, Eleonore“, sagte das Model anerkennend.

Das Schwergewicht reichte ihr die Hand. „Sagen wir doch Du zueinander. Ich bin Lore", stellte sie sich nochmals vor, "Und dein Spinatdrink schmeckte viel leckerer als vorher angenommen.“

 Viola ergriff ihre Hand und nickte lächelnd. Dann quatschten sie noch etwas, bevor Eleonore das Barbiehaus verließ und zurück in ihr Heim ging. Der Samstag verging wie im Fluge und als die Mädels am nächsten Morgen zurück ins Mondscheinviertel kamen, traf sie fast der Schlag.

Eleonore und Viola hingen beide tot überm Gartenzaun.

Silvana fand als erste ihre Sprache wieder.

„Das ist...das ist...das ist das

 

ENDE"

 

 

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Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Bildmaterialien: google
Tag der Veröffentlichung: 17.06.2018

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