Cover

Mein Name ist Paul

Paul Welters knallt das passende Geld auf den Tisch und schnappt sich wortlos die Tüte mit den Milchbrötchen. Ängstlich sieht die Verkäuferin den Mann mittleren Alters an und stammelt ein leises „Auf Wiedersehen und einen schönen Tag noch.“
Paul bringt nur ein mürrisches „Ja, Sie mich auch!“ raus und lässt die Ladentür hinter sich ordentlich scheppern. Erleichtert, dass der fast tägliche und gefürchtete Besuch des schlimmsten Kunden hinter ihr liegt, schaut die Verkäuferin Paul nach. Sein Weg führt ihn zurück zu seinem Schreibtisch im Jobcenter Berlin Mitte.
„Mal sehen, welch niedere Kreaturen heute wieder Geld von mir haben wollen!“ denkt er und wartet mit eisiger Miene auf die nächste Gestalt, die sich durch die Tür in seine heiligen Hallen quetschen und seinen bisher noch ruhigen Vormittag ruinieren wird. Eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm nimmt ihm gegenüber Platz und möchte ein Kinderbett beantragen. Halbherzig schaut Paul ihre Akte durch.
„Frau Mehring, Sie haben doch erst vor ein paar Monaten Geld für die Erstausstattung bekommen. Und jetzt benötigen Sie schon wieder etwas? Glauben Sie eigentlich, wir haben hier im Jobcenter einen Goldesel stehen?“

„Tut mir ja auch leid, Herr Welters, dass ich Sie schon wieder behelligen muss, aber Kevin braucht jetzt ein Gitterbett. Für den Stubenwagen ist er einfach schon zu groß geworden.“

Liebevoll streichelt sie ihrem kleinen Sohn über den Kopf und Paul wird fast übel von diesem Anblick.

„Irgendwo muss er ja schlafen“, fügt sie kleinlaut, fast schon entschuldigend hinzu. In dem Moment beginnt der Kleine zu weinen und Paul gibt dem Antrag der jungen Mutter statt. Aber nicht aus einem plötzlichen Akt der Nächstenliebe.

„Nur schnell raus mit dem Balg!“ Angewidert schiebt er Mutter und Kind grob aus seinem Büro.

Paul lebt mehr oder weniger allein, keine Frau hat es lange bei ihm ausgehalten. Die eigentlich schüchterne Petra hatte ihn betrogen, die gierige Monika es nur auf sein Erspartes abgesehen und die rassige Birgit war ganz klassisch mit ihrem Trainer durchgebrannt. Frauen sind einfach nichts für ihn, das war ihm schon vor langer Zeit klargeworden.

Die Anträge, die an diesem Donnerstag noch über seinen Schreibtisch wandern, schmettert er alle ab. Keinem einzigen gibt er statt und wenn er noch so existenziell ist.

„Eine gute Tat am Tag reicht und meine ist vollbracht!“

Zufrieden reibt Paul sich die Hände und spürt bereits das Adrenalin in sich aufsteigen. Feierabend. Und das bedeutet, er kann sich, wie nahezu täglich, seinem liebsten Hobby widmen:
Grenzen überwinden.

Heute steht Brückenbalancieren auf seinem Programm. Das letzte Mal liegt schon länger zurück und es wird langsam wieder Zeit für frische Luft in höheren Lagen und die dazugehörige Portion Gefahr. Schon seit Tagen verspürt er diesen Drang in sich, auf dem Geländer der Hermann-Ganswindt-Brücke zu balancieren, immer den sicheren Tod vor Augen, sollte er auf dem harten Asphalt aufschlagen. Doch dazu ist er zu gut, da ist er sich zu tausend Prozent sicher. Keiner ist so gut wie er, niemand kann ihm das Wasser reichen, niemand!
Den bisher besten aller Kicks aber hatte er erlebt, als er von der Hermannbrücke aus auf einen fahrenden Zug gesprungen war. Mit größter Liebe zum Detail hatte Paul vorher alles präzise ausgerechnet und wusste genau, wann er sich auf den heranfahrenden Zug fallen lassen musste. Sein Herz raste nicht nur kurz vor dem Sprung ins Ungewisse, nein, das Blut hämmerte wie ein Presslufthammer durch seinen gesamten Körper. Beim Aufprall auf das Dach das Waggons spürte er keinerlei Schmerz, das Adrenalin betäubte ihn. Und dann war er damals bis zum nächsten Halt mitgefahren. Das war eine herrliche Zugfahrt. Niemand hatte ihn stören können und frische Luft wehte ihm auch um die Nase.

 Mit klopfendem Herzen steht Paul eine Stunde später auf der Hermann-Ganswindt Brücke. Unter sich die A 100, auf der viele Autos rasant ihrem Ziel entgegen rasen. Die Dämmerung ist bereits hereingebrochen und die Sonne scheint sich vor dem großen Paul zu verneigen, bevor sie ein Stück weit hinter den Baumwipfeln verschwindet. Geschickt steigt der Sachbearbeiter auf das schmale Geländer der Autobahnbrücke. Er fühlt sich wie ein Seiltänzer ohne Netz.

Pah! Netz! Wer braucht das schon? Er jedenfalls nicht. Er ist Paul, der Furchtlose!

Einem Impuls folgend schaut er auf die andere Seite des Geländers und verliert das Gleichgewicht. Für einen kurzen Moment setzt sein Herz aus, er taumelt, sein rechter Fuß droht abzurutschen und Paul würde inmitten des Automeers stürzen. Der Anblick des jungen Mädchens, das barfuß auf dem gegenüberliegenden, schmalen Geländer zu tanzen scheint, bringt ihn so sehr aus der Fassung, dass er sich nur noch in letzter Sekunde auf den Asphalt der Brücke retten kann. Paul hat unfassbares Glück, ihm ist nichts passiert. Er hat nur noch Augen für sie. Fasziniert verfolgt er jeden einzelnen Schritt des unbekannten Mädchens, das sich leichtfüßig auf dem grauen Stahl bewegt. Ihre Grazie zieht ihn unwillkürlich in den Bann. Ihr weißes Kleid weht im Herbstwind. Er kann nicht mehr wegschauen, doch im nächsten Moment ist sie schon am Ende der Brücke angelangt, springt herunter und verschwindet in der Abenddämmerung.

„Hey du! Warte mal!“ ruft Paul, endlich wieder Herr seiner Sinne.
„Hey!“ wiederholt er und versucht, das Mädchen einzuholen. Jedoch ohne Erfolg, es scheint wie vom Erdboden verschluckt. Nach gefühlten Stunden hoffnungsvoller Suche gibt er auf und macht sich auf den Heimweg. Bald schon würde der Wecker Pauls nächste Schicht im Jobcenter einläuten. Die Tatsache, dass das Wochenende bevorsteht, hellt seine Stimmung jedoch etwas auf. Nur noch einmal arbeiten und danach warten die zwei wohlverdienten freien Tage. Am Samstagnachmittag würde er das wiederholen, wobei ihn das Mädchen heute unterbrochen hatte. Immer noch beherrscht sie seine Gedanken. Er kann weder abschalten, noch einschlafen...
Wer ist sie? Wo kommt sie her? Und wohin war sie so schnell verschwunden? Fragen über Fragen, die Paul bis zum Klingeln des Weckers beschäftigen. Nicht eine Sekunde hat er geschlafen und kommt dementsprechend müde und übellaunig ins Büro. Die letzte Schicht für diese Woche schafft er nur mit Hilfe einer Kanne Kaffee. Einige Male ist er eingenickt und mit dem Kopf auf die schwere Platte seines Schreibtisches geknallt. Als er endlich Feierabend hat und einen Blick in den Spiegel wirft, fällt ihm verwundert auf, dass zwei kleine Beulen seine Stirn zieren. Vor lauter Müdigkeit hat er nicht mal den Schmerz gespürt. Zuhause angelangt, isst er nur noch eine Kleinigkeit und fällt ins Bett. Er schläft durch bis zum nächsten Morgen und macht sich am Nachmittag auf den Weg zur Brücke. Doch ist er nicht so konzentriert wie üblich. Irgendetwas hat sich verändert. Er ist nicht bei der Sache. Paul ist abgelenkt. Insgeheim hält er Ausschau nach der Seiltänzerin im Sommerkleidchen vom Vortag. Er ist schon mit einem Bein auf dem Geländer, als er ihre Gestalt aus den Augenwinkeln heraus wahrnimmt.

„Na Opa, auch wieder hier?“

Paul öffnet den Mund, um möglichst schlagfertig zu kontern, doch kein Wort entweicht seiner plötzlich trockenen Kehle. Opa!? Der Sachbearbeiter glaubt, sich verhört zu haben. Er ist doch gerade mal vierzig! Noch ein Backfisch sozusagen und fit wie ein Turnschuh!
„Frechheit!“ möchte er erbost erwidern, doch dazu kommt er nicht.

„Bist du dafür nicht schon nen bissken zu alt?“ setzt die junge Unbekannte noch einen drauf. Paul dreht sich zu ihr. Das rote Haar steht nach allen Seiten ab und sie erinnert ihn mit ihren unzähligen Sommersprossen ein wenig an Pippi Langstrumpf.
„Die Kleine ist ganz schön unverschämt“, stellt er im Stillen fest. Ihre ausgefranste Jeans, die sie heute trägt, hat viele Löcher und scheint mindestens eine Nummer zu groß zu sein. Das Oberteil schlabbert schmutzig an ihr herunter. Wo ist das herrlich weiße Sommerkleid hin, in dem sie ihn bei der ersten Begegnung sofort gefangen genommen hatte? Paul schaut in ihre azurblauen Augen und alle Wut ist mit einem Mal erloschen. Aus unerfindlichen Gründen scheint er seine Stimme verloren zu haben. Und bevor er etwas entgegnen kann, zuckt sie ihre schmalen Schultern und ist verschwunden. Doch diesmal schafft Paul es, ihre Spur nicht zu verlieren. Schon wieder hat dieses freche Gör ihm die Tour vermasselt. Er kann es kaum fassen! Und dennoch schleicht er wie hypnotisiert hinter ihr her. Unbemerkt folgt er ihrem leuchtend roten Haar, das ihn wie ein Signal zum Ziel führt, einem stillgelegten Bahnhof. Dort erblickt er eine kleine Runde Obdachloser, die um ein Lagerfeuer sitzen und Bier oder Wein trinken. Paul verschanzt sich hinter einem Steinbogen. Das Mädchen geht auf einen etwa zwanzigjährigen Jungen zu, zwickt und küsst ihn, bevor sie sich auf seinem Schoß niederlässt. Paul zuckt plötzlich zusammen, er spürt einen Stich im Herzen. Als der junge Mann mit den dunklen Locken und den ebenfalls ausgefransten Klamotten liebevoll den Arm und seine Pippi Langstrumpf legt, wird es zu viel für ihn. Er greift sich an die Brust, der Schmerz verfielfacht sich noch um einiges und Paul lässt sich ins Gras sinken.

„So werde ich also sterben? Meine Pumpe gibt einfach den Geist auf?“ denkt er und blickt in den Himmel. Sein Brustkorb brennt höllisch. Was ist das bloß? Aus der Ferne hört Paul das Mädchen lachen, einige reden, jemanden husten und irgendwer spielt tatsächlich Gitarre. Das ist zu viel Harmonie, der Vierzigjährige steht auf und begibt sich auf den Heimweg, ohne dass jemand aus der widerlich vertrauten Penner-Runde ihn bemerkt. Weit kommt er jedoch nicht, denn nach einigen Metern bricht er zusammen.

 „Mein Name ist Paul“, antwortet er mit erstickter Stimme auf die Frage nach seinem Namen.

„Das ist ja witzig, ich heiße Paulina“, sagt das Mädchen mit den unzähligen Sommersprossen und lächelt Paul an. Der blaue Himmel über ihr lässt sie noch mehr erstrahlen. Ihr rotes Haar weht im Wind und bildet einen scharfen Kontrast zur unendlichen Weite des Firmaments. Er bräuchte nur seine Hand ausstrecken und könnte es durch seine Finger gleiten lassen. Oder ihr Gesicht zu sich herunterziehen und seinen Mund auf ihre kirschroten, saftigen Lippen drücken. Sie ist so unschuldig und jung. Ihre Haut ist vornehm blass und noch so schön straff. Die Reinheit strömt aus allen verfügbaren Poren und Paul ist derart betört, dass er den Altersunterschied einfach ausblendet. Doch der dunkle Lockenkopf, der nun neben seiner Pippi auftaucht, hält ihm die bittere Realität erneut vor Augen.

„Was ist mit ihm?“ Das Gespräch der beiden Verliebten interessiert Paul nicht. Vielmehr ist er damit beschäftigt, einen Plan zu schmieden. In seinem Kopf rattert es nur so. Er sinnt auf Rache. Hat nicht vor, Paulina einem solchen Lackaffen, einem mittellosen Penner zu überlassen. Das wäre ja gelacht! Er kann ihr alles bieten. Alles, was sie sich wünscht und erträumt, kann er ihr geben und nur er.

Paul, der Furchtlose.

Er wird sich mit diesem Taugenichts von Macker duellieren. Er wird ihn herausfordern!

Und ihr damit zeigen, dass er der Richtige für sie ist. Sie sind füreinander bestimmt.
Jonas sieht Paul entgeistert an, als dieser ihn einige Tage später am Bahnhof aufsucht.

„Hast du sie noch alle, Alter? Paulina ist meine Freundin und du für sie ein Opa!“

Schon wieder dieses unsägliche Wort. Er ist kein Opa, verdammt noch mal!

„Dir werde ich schon zeigen, dass ich weder ein Greis bin, noch zu alt für Paulina!“

„Mann, sie wird nächsten Monat siebzehn und du bist locker über vierzig!“

Jetzt ist der Sachbearbeiter doch etwas geschockt. Mindestens volljährig hatte er gehofft. Jonas verschränkt die Arme vor der Brust.

„Okay, sag mir den Ort und den Act. Der Gewinner bekommt Paulina. Aber das werde ich sein, du hast keine Chance!“ schlägt der Freund von Paulina siegessicher vor. Nicht im Traum käme er auf den Gedanken, dem Alten seine Freundin zu überlassen. Genau das wollte Paul erreichen. Dass Jonas sich auf einen Kampf gegen ihn einlässt. Innerlich reibt er sich die Hände, denn er ist und bleibt unbesiegbar. Bis in alle Ewigkeit! Dass das von ihm Begehrte noch minderjährig ist, verdrängt er erfolgreich.

„Wir treffen uns an der Straßenbahnhaltestelle um die Ecke. Morgen um zwanzig Uhr. Dort startet auch direkt unser Gig. Waggon reiten!“

Jonas grinst breit, denn er weiß genau, was das bedeutet. Sich von Waggon zu Waggon bis zum Führerhaus vorzuarbeiten. Und das springend. Er wird nur so über die fahrenden Rechtecke fliegen, da ist er sich sicher.

„Das ist meine Spezialität, du hast null Chance gegen mich!“

 „Wir werden sehen“, entgegnet Paul und stolziert nach Hause. Eine unruhige Nacht erwartet ihn, dementsprechend gerädert startet er in den Tag des wichtigsten Duells seines Lebens. Für Paulina jedoch würde er alles auf sich nehmen! Jonas erwartet ihn bereits, als Paul um kurz nach acht am verabredeten Ort eintrifft.

„Bist du bereit für den Höllenritt?“

 „Immer!“ antwortet Jonas selbstsicher. In seinen Augen spiegelt sich pure Kampfbereitschaft.

Das kann Paul nicht verunsichern. Er wird gewinnen und dann ein wunderbares Leben mit Paulina führen. Nichts kann ihn davon abhalten.

Nichts.

 

Nur der Tod.

Impressum

Texte: Alle Rechte am Text bei der Autorin
Bildmaterialien: google.de
Tag der Veröffentlichung: 21.02.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Beitrag für den Wettbewerb im Februar 2016 für das Wortspiel. Thema: Grenzgänger

Nächste Seite
Seite 1 /