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Mein täglich Brot gib mir heute...

Das Leben ist schön. Zumindest, wenn ich es durch meine hochprozentigen Augen sehe. Das ist auch meistens der Fall. Aber in den minimalen Lücken, in denen mein Blick klar ist, kann ich mein Dasein kaum ertragen. Meine Familie hat sich abgewandt, mein Job ist Geschichte, einfach alles ist unerträglich für mich geworden. Alle nörgeln den ganzen Tag an mir herum. Es gibt immer irgendetwas, das ich falsch mache. Immer. Die ganze Sippe findet einen Grund, an mir herum zu mäkeln, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Am Morgen, wenn ich es geschafft habe, mich aus dem Bett zu pellen, bete ich das erste Mal.

 

Mein täglich Brot gib mir heute. Mein Spezialbrot. Und das ist ein ganz besonderes.

 

Seit einigen Jahren lasse ich fast nur noch Flüssignahrung in meinen Magen.

Das Gefühl, wenn ein edler Tropfen meine Zunge umspült und die Innenseiten meiner Wangen flutet, bevor es dann nach dem Schluckvorgang den Rachen hinab läuft und den Kehlkopf passiert wie ein Wasserfall, ist einzigartig.

 

Während andere feste Mahlzeiten zu sich nehmen, fließt in meinen Körper Wodka. Gelegentlich auch Bier oder wahlweise ein feines Likörchen. Und all das schmeckt so viel besser als Brot, Kartoffeln oder Gemüse. Wer braucht das schon? Ich bestimmt nicht. Brot ist ungesund und das grüne Zeugs bekommt kein Mensch herunter. Es sei denn, man spült es mit ordentlich Feuerwasser nach.

 

Ich habe doch Recht, habe ich?

 

Wo ist die verdammte Toilette? Und wo bin ich hier überhaupt?

Der Überschuss des edlen Tropfens von gestern Abend, oder war es vorgestern, fließt rückwärts. Sucht die falsche Richtung und hat schon fast den Kehlkopf erreicht.

Ich hasse kotzen. Danach habe ich nur noch mehr Durst. Schade um den teuren Fusel, der sich nun auf dem weißen, sterilen Fußboden neben meinem ebenfalls weißen Bett ergießt und eine Pfütze bildet. Ich hänge Kopf über aus meinem Schlafgemach und die Wodka-Bier-Kirschlikör Lache grinst mich hämisch an. Verzerrt sich langsam immer mehr zu einer teuflischen Fratze.

„Der Teufel persönlich hat sich für mich Zeit genommen“, lalle ich und reiche dem Fleck grinsend die Hand.

Die bunten Farben darin bringen mich zum Lachen. Ich lache und lache und lache. Von meiner Hysterie alarmiert stehen plötzlich zwei sexy Zwillingsblondinen an meinem Bett. Die kommen mir irgendwie bekannt vor. Ich habe sie heute schon mal gesehen. Ich weiß nur nicht mehr, wo und wann...

Wo bin ich hier eigentlich? Um mich herum ist alles weiß. Gespenstisch. Alles wirkt so farblos. Dann sehe ich wieder auf die stinkende Gülle am Boden. Ein Lichtblick. Das einzig farbenfrohe in diesem sterilen, weißen Zimmer und dem weißen Bett, in dem ich nur noch so halb liege. Ich hänge immer noch kopfüber heraus. Die sexy Blondinen greifen mich und bringen mich unsanft in eine angenehmere Position.

„Ihr geht aber ganz schön ran“, lalle ich grinsend. „Aber einen Dreier mit Euch würde ich mir nicht entgehen lassen.“ Ich registriere kaum, dass beide angewidert ihre hübschen Gesichter verziehen und dann zügig den Raum verlassen.

Am nächsten Tag versorgt mich ein Pfleger und der ist so überhaupt nicht sexy.

„Wo bin ich eigentlich?“ frage ich und meine Stimme klingt unerwartet klar. Der Pfleger schüttelt mein Kissen auf, während er mir erklärt, dass ich mich in einem Krankenhaus befinde, weil ich vor einigen Tagen wohl etwas zu viel Alkohol getrunken habe. Angeblich hatte ich sogar eine Alkoholvergiftung.

Ja klar, ausgerechnet ich! Ich kenne meine Grenzen sehr genau, was das herrliche Gesöff angeht.

Was war bloß geschehen an diesem verdammten Tag?

Langsam, wie in Zeitlupe, kehrt die Erinnerung wieder. Ich war auf irgendeiner Party am Samstagabend.

„Alles Weitere wird Ihnen der zuständige Arzt gleich erklären“, unterbricht der Pfleger meine Erinnerungsversuche und lässt mich wieder allein. Allein mit meinen Fragen und meinen Gedanken.

Es war eine äußerst feuchtfröhliche Party. Aber was war der Anlass? Warum haben wir gefeiert? Ich grübele und grübele. Es dauert sehr lange, bis mein Gehirn die verstreuten Puzzle-Teile wieder so zusammen setzt, dass sie zumindest den Hauch eines Sinns ergeben. Mein bester Kumpel Mirco hat die Frau fürs Leben gefunden und ihr einen Antrag gemacht. Sie hatte ihn angenommen und wir haben vergangenen Samstagabend seinen Junggesellenabschied gefeiert. Man, muss ich mich abgeschossen haben. An Einzelheiten der Party kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern. Nur daran, dass es äußerst feuchtfröhlich zuging. Und an die geile Stripperin, die mich angetanzt und sich dann auf meinen Schoß gesetzt hatte.

Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen.

Es war nicht nur beim Tanzen mit der fast nackten Lady geblieben, vielmehr hatte ich sie wohl zu später Stunde noch mit zu mir genommen.

 

Ich fahre in meinem Bett hoch. Tessa und ich hatten Sex in dieser Nacht!

 

Ich fasse mir an den Kopf, der plötzlich zu schmerzen beginnt. Woher kommt dieser Druck mit einem Mal?

 

Seit einigen Jahren bin ich mit Lola liiert und habe sie demnach betrogen. Lola, meine zarte, süße Lola, die immer zu mir gehalten hat. Was bin ich doch für ein Dummkopf!

 

Scheisse! Scheisse! Scheisse!

 

Mir fällt alles wieder ein. Lola hat mir eine höllische Szene gemacht, als sie von ihrem Mädelsabend heimkam und mich mit Tessa, der Stripperin, nackt im Bett vorfand.

 

Mein Schädel bringt mich noch um. Warum tut es so weh in meinem Oberstübchen? Mein Blick fällt auf das Handy auf dem Nachtschränkchen.

„Mirco! Du bist mein bester Freund, also hilf mir gefälligst. Bring mir ne Pulle Wodka hier hin“, befehle ich meinem Kumpel. Nur widerwillig verspricht er mir, nachher mit dem Flüssigbrot vorbei zu kommen.

 

 

Nach der Szene meiner Freundin...oder ist sie vielleicht schon meine Exfreundin?

Mein Schädel brummt immer mehr...

Ich weiß nicht mal mehr, ob wir noch zusammen sind.

 

Jedenfalls habe ich mich wohl nach Lolas Ansage nochmal so richtig abgeschossen mit Wodka. Danach noch ein paar Pullen Bier geköpft und zum Nachtisch gab es dann leckeren Kirschlikör. Die Pfütze neben meinem Bett vorhin war der Beweis. Auch wenn die sexy Krankenschwestern das bunte Gebilde längst beseitigt haben. Demnach muss ich wohl seit Sonntagnacht ungefähr hier sein.

Denn ab diesem Tage herrscht nur Schwärze in meinen Hirnwindungen. Kompletter Filmriss!

 

Die Tür öffnet sich und ich fahre erneut hoch.

„Endlich Alter, wo bleibst du denn?“

Ein Mann in Weiß räuspert sich und ich stelle fest, dass nicht Mirco, sondern der Stationsarzt mir einen Besuch abstattet. Das trifft sich gut. Dann kann ich ihn fragen, wieso ich solche Schemerzen in der Birne habe.

„Erinnern Sie sich denn an gar nichts seit Sonntag?“ Ich schüttele meinen Kopf.

„Auch nicht an die Untersuchungen, die wir durchgeführt haben?“

„Nein“, sage ich nur knapp und fühle mich zunehmend unwohl.

„Nun denn, kommen wir zu Ihren Beschwerden. Haben Sie in der letzten Zeit oder auch schon früher Kopfschmerzen verspürt?“

Ich überlege kurz, aber selbst das schmerzt.

„Nein, erst in den Tagen hier vermehrt. Warum fragen Sie mich das?“

Mein Herzschlag beschleunigt sich.

 Der Doc räuspert sich erneut, was mich dazu anregt, ihm zu raten, doch mal einen HNO Arzt aufzusuchen. Geschickt überhört er meinen Einwand.

„Wir haben bei Ihnen ein CT durchgeführt, weil sie schon in der Nacht von Sonntag auf Montag über starke Kopfschmerzen klagten. Dabei haben wir in ihrem Kopf ein Aneurysma entdeckt. Es tut mir sehr leid.“

 

Ich schüttele noch heftiger meinen Kopf. Starre ihn ungläubig an. Ich weiß, was ein Aneurysma ist und was es bedeutet. Mein Vater ist daran verstorben.

„Sie wollen mir allen Ernstes weismachen, ich hätte auch so eine tickende Zeitbombe in meinem Kopf? Warum? Woher? Wie...?“ stammele ich aufgebracht. Er beruhigt mich und erklärt mir,  was es damit auf sich hat und dass mein Alkoholmissbrauch maßgeblich an der Entstehung dieses Übels in meinem Hirn beteiligt war und ist. Und dass es zu einer sogenannten Subarachnoidalblutung kommen kann, an der auch mein Vater verendet ist. Dann habe ich wohl seine beschissenen Gene geerbt. Ein bitteres Lachen quält sich aus meiner Kehle.

 

Alles Weitere und die Vorgehensweise würde er heute Nachmittag mit seinen Kollegen besprechen.

 

Damit überlässt er mich wieder meinen Gedanken.

Wo ist Lola? Sie hat mich noch kein einziges Mal hier besucht. Dabei würde sie das sterile Weiß sofort bunt machen. Meine Lola...

 

Plötzlich erscheint mir das Zimmer riesengroß. Um mich herum fängt alles an, sich zu drehen und mir wird schwindelig. Wie so oft in letzter Zeit...

Wo bleibt Mirco denn mit meinem Lebenssaft? Nach dieser Nachricht brauche ich erst mal einen Schluck, einen ganz großen. Dann hat mein Warten endlich ein Ende, die Tür geht auf und Mircos Gestalt tritt ein.

Sein Antlitz leuchtet wie Jesus damals. Fehlt nur noch der Heiligenschein. Aber jetzt, in dieser Sekunde, ist er tatsächlich mein Retter. Und deshalb darf er auch leuchten und dies verstärkt sich noch, während er auf mich zu schreitet und mir einen blauen Beutel übergibt. Aufgeregt schaue ich hinein und eine Flasche Wodka strahlt mich verlockend an.

 

"Alter, bist du sicher, dass du das Zeug ausgerechnet hier trinken willst? Denn genau wegen dem Fusel bist du doch hier gelandet!"

Mirco scheint sich ehrlich Sorgen zu machen. Aber das ist mir zu viel. Unter einem Vorwand schicke ich ihn weg. Erzähle ihm nichts von der Zeitbombe, die unter meiner Haarpracht vor sich hin tickt.

 

Ich habe alles verloren. Lola, meine Arbeit, meine Freunde. Nur Mirco ist mir noch geblieben. Als einziger.

Und er soll mich nicht leiden sehen. Nicht er.

 

Langsam werden die Kopfschmerzen unerträglich. Trotzdem köpfe ich den noch jungfräulichen Wodka und lasse den edlen Tropfen gierig durch meine trocken gewordene Kehle fließen. Die Flasche leert sich immer mehr und mehr und ich kann sogar den Schmerz, der sich mittlerweile in meinem ganzen Körper ausgebreitet hat, ein wenig betäuben. Irgendwann wird es komisch warm unter meiner Schädeldecke, der Druck im Hirn erhöht sich und ich schließe meine Augen. Der Schlaf lässt nicht lange auf sich warten und ich tauche in einen Traum.

 

Alles um mich herum ist dunkel und still. Nichts ist zu hören, nur ein monotones Rauschen...ich beginne zu laufen und ab und zu sehe ich auf meinem Weg vertraute Menschen. Lola...sie lächelt mich liebevoll an und ihr rotes Haar leuchtet wie eine Flamme. Mirco, der mir auf die Schulter klopft. Meine alten Freunde und meine Familie, die sich aufgrund der Trunksucht von mir abgewendet haben. Ich lächle wissend und lasse alle hinter mir, während ich den dunklen Weg weiter gehe. Denn ich weiß, wohin er mich führt.

 

Bald schon sehe ich einen hellen Schein und dann das Gesicht meines Vaters. Es sieht ungewohnt friedlich aus.

Ein Zucken durchfährt meinen Körper, mir wird kalt und ich trete in das erlösende Licht...

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Alle Rechte am Text bei der Autorin
Bildmaterialien: google.de
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2015

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