Sarah, Ben und Mike waren seit Kindertagen befreundet. Sie wohnten alle im selben Block in Berlin Neukölln. Obwohl sie sehr unterschiedlich waren, verstanden sie sich hervorragend. Mike war mit seinen siebzehn Jahren noch immer in der zehnten Klasse der hiesigen Hauptschule, weil er schon zweimal sitzen geblieben war. Seine Mutter, bei der er seit der Scheidung seiner Eltern vor fünf Jahren lebt, geht anschaffen um sich und ihren Sohn über die Runden zu bringen. Ihm fehlte es soweit an nichts. Jedoch wurde er in seiner Klasse gemobbt, weil sich herumgesprochen hatte, dass seine Mutter auf den Strich geht. Das war noch immer ein gesellschaftlicher Makel.
Sarah dagegen lebte allein mit ihrem Vater. Nachdem die Mutter vor rund einem Jahr abgehauen und Sarah einfach zurück gelassen hatte, ging es nur noch bergab in ihrem jungen Leben. Ihr Vater war schon seit langem arbeitslos und investierte fast das gesamte Arbeitslosengeld in Alkohol. Für die Sechzehnjährige blieb kaum etwas übrig. Weder Geld noch irgendeine Form von Zuneigung oder Aufmerksamkeit. Und letzteres wäre noch viel wichtiger gewesen. Doch Sarah war nicht in der Lage, etwas zu ändern. Ihr fehlte einfach der Mut und so lebte sie in den Tag hinein. Ben dagegen war bereits volljährig und der einzige, der ein wenig aus der Art schlug. Er war als Streber verschrien. Viele hielten ihn auch einfach für ein wenig verrückt. Seine Lieblingsfächer waren Biologie und Chemie. Er war gerade dabei, sein Abitur zu machen, um dann ein Studium als Chemiker zu beginnen. Bei Ben trafen ein sehr hoher Intelligenz-Quotient und ein Quäntchen Wahnsinn aufeinander. Aber ihm gefiel das und im Gegensatz zu seinen Mitschülern kam er damit sehr gut zurecht.
Es war ein verregnetes Wochenende und Ben hatte nichts vor. Also begann er endlich damit, den Keller zu entrümpeln. Seine Mutter hatte ihm diese Aufgabe schon vor zwei Wochen erteilt. Jetzt war der richtige Zeitpunkt. Nach einigen Stunden war der Keller schon viel leerer und aufgeräumter. Aus der hintersten Ecke eines alten Holzschrankes blitzte ihn plötzlich etwa an. Neugierig folgte er dem zartem Schimmer und fand mehrere, alte Kupfertöpfe. Die sahen noch richtig gut aus und er verstaute sie in der Kiste mit der Aufschrift „Brauchbares“. Das meiste jedoch war in den „Wegwerf“ Kisten gelandet und somit dann später auf dem Müll. Aber die Töpfe übten eine Art Faszination auf Ben aus und er behielt sie für sich.
Am darauffolgenden Wochenende war der Dachboden an der Reihe. Hier oben fand Ben es noch spannender als im Keller und fand viele Schätze, die ebenfalls in die Kiste für „brauchbares“ wanderten. Plötzlich fiel sein Blick auf ein altes Gemälde an der linken Wand. Es hing schief und er wollte es nur gerade rücken, als er etwas metallisches dahinter hervorblitzen sah. Deshalb nahm er den alten Schinken ganz von der Wand. Er wollte sich dieses kleine stählerne Viereck genauer ansehen. Es war offenbar ein kleiner Safe in der Wand eingearbeitet. Und ebenso gesichert wie ein solcher. Somit hatte kein Fremder Zugriff auf den Inhalt. Das Ding konnte nur seinem Opa gehört haben, denn dieser hatte seiner Tochter, nämlich Bens Mutter, dieses Haus vererbt. Sie erzählte oft von ihrem Vater und er hatte immer fasziniert zugehört. Dass er ein verrückter alter Zausel war, dem immer irgendwelche Ideen im Kopf herumgespukt haben und er sich dann tagelang in sein Labor zurückgezogen hatte. Er war offensichtlich sehr klug gewesen und Ben trug seine Gene in sich. Seine Mutter hatte ihm berichtet, dass er über besondere Kochkünste verfügte und viele damit beglückt hatte. Aber seinem Geheimnis war sie nie auf die Spur gekommen...
Bens Neugierde war geweckt und nichts in der Welt konnte ihn jetzt noch davon abhalten, herauszufinden, was sich in diesem kleinen, silbernen Safe befand. Er musste nur die Zahlenkombination ermitteln. Zuerst versuchte er den Geburtstag seines Großvaters, dann den seiner Mutter und danach seinen eigenen. Doch es tat sich nichts. Als Ben auf die Welt kam, lebte sein Opa noch. Und es blieb für ihn bei diesem einen Enkel. Leider hatte Ben nur sieben Jahre mit ihm und das war viel zu wenig. Damals, als das Unglück geschah, war er mit Bens Großmutter auf dem Weg in die USA. Es war ein großer Traum von beiden, einmal über den großen Teich zu fliegen und die Amis kennen zu lernen. Das war ihnen jedoch nicht mehr vergönnt, da unerwartet ein Triebwerk des Fliegers Feuer fing und kurz später auch das andere. Niemand hatte den Absturz überlebt. Ben und seine Mutter waren sehr traurig über diesen Verlust und seine Mutter hatte sehr lange gebraucht, wieder ins Leben zurück zu finden...aber sie hatte ja noch ihn. Ben.
Sein Opa war ein toller Kerl, wenn auch ein wenig verrückt. Und seine Großeltern verband eine unendliche tiefe Liebe, von der seine Mutter ihm oft voller Ehrfurcht berichtete. Besonders nach der Scheidung von Bens Vater. Danach war alles anders. Aber er wollte jetzt nicht länger darüber nachdenken. Wie kam er nur an die richtige Zahlenkombination? Plötzlich sprang er auf und rannte nach unten.
„Wann haben Oma und Opa geheiratet?“ fragte er atemlos. Seine Mutter sah ihn erstaunt an.
„Du stellst ja Fragen. Warum willst du das wissen?“
Das konnte er jetzt gar nicht gebrauchen.
„Bitte, Mama. Ich erkläre es dir später. Sag mir das Datum bitte...“Sie überlegte kurz und gab ihm dann die ersehnte Antwort. „Am 31. Mai 1967, wenn ich mich recht erinnere. Aber wozu willst du...?“ Ben hörte sie nicht mehr, er war schon wieder auf dem Dachboden und gab die Zahlen ein. Und schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass sein Großvater romantisch genug war, dieses Datum als Zahlenkombination zu nutzen. Und vergessen hätte er es bestimmt niemals. Mit zitternden Fingern gab er die Nummern ein. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals und dann hörte er nach gefühlten Stunden das ersehnte Klacken. Die kleine Tür sprang auf und ein in die Jahre gekommenes, kleines Buch trat zum Vorschein. Bens Anspannung fiel von ihm ab und er ließ sich enttäuscht auf den staubigen Boden sinken. Was er hinter der verschlossenen Tür erwartet hatte, wusste er selbst nicht so genau. Aber sicher kein altes, staubiges Buch mit vergilbten Seiten.
„Ben? Kommst du zum Abendessen bitte?“ rief seine Mutter und stieg hörbar auf die erste Stufe des Aufgangs. Schnell steckte er das Buch in seine Hosentasche, schloss die Tür und hängte das Gemälde wieder an seinen Platz. Da erschien auch schon der Kopf seiner Mutter. Zusammen gingen sie nach unten ins Wohnzimmer.
„Ich wasche mir vorher noch die Hände. War sehr staubig da oben“, erklärte Ben auf dem Weg zum Bad. Dort angekommen setzte er sich auf den Toilettendeckel und kramte das kleine Buch hervor. Neugierig blätterte er es durch und stellte fest, dass sich Formeln und Zeichnungen darin befanden. Auf der letzten Seite aber stieß er auf etwas, das wie ein Rezept aussah. Allerdings hatte er die Bezeichnung Voluntas noch nie gehört. Schien lateinisch zu sein. Nach dem Abendbrot wollte er sofort in seinem Lateinbuch nachschauen. Schnell wusch er sich die Hände und aß mit seiner Mutter angespannt zu Abend. Er konnte es kaum erwarten, sich mit dem Rezept zu beschäftigen. Gott sei Dank sprach die Mutter ihn wegen des Datums nicht mehr an und so verzog er sich nach dem Abwasch zügig in sein Zimmer. Sofort suchte er in seinem Schulbuch nach der Bezeichnung. Schnell wurde er fündig.
Es bedeutete demnach „Der Wille“.
Interessant, was es wohl damit auf sich hatte?
Es dauerte einige Tage, bis Ben herausfand, dass sein Großvater vor vielen Jahren offenbar eine bahnbrechende Erfindung gemacht hatte. Soweit er es beurteilen konnte, entdeckte sein Opa bei seinen damaligen Versuchen, dass man mit bestimmten Zutaten einen Trank herstellen konnte, der den Willen positiv beeinflusst und die Intelligenz fördert. Also quasi die Willenskraft entfachte bei vermeintlich schwachen und labilen Menschen. Und zudem noch den Teil im Gehirn positiv stimulieren, der die Intelligenz prägte. Man benötigte zu diesem Zwecke unter anderem zwei Kupfertöpfe. Jetzt verstand er auch, warum er im Keller mehrere dieser Gefäße in den hintersten Ecken gefunden hatte. Das war Großvaters Arbeitswerkzeug gewesen.
Ben konnte vor Aufregung kaum noch schlafen. Eine Idee reifte in ihm. Vielleicht könnte er seinen beiden besten Freunden Mike und Sarah mit diesem Trank helfen. Mike könnte endlich die zehnte Klasse abschließen und mit dem Schreiben von Bewerbungen beginnen. Und wenn er einen guten Job finden würde, könnte seine Mutter den Beruf der Prostituierten endgültig an den Nägel hängen. Sie würden unter Umständen ein ganz anderes Leben führen können.
Und Sarah, die so sehr unter ihrem alkoholkranken Vater litt, könnte er mit dem Trank vielleicht die nötige Willenskraft verleihen, etwas an ihrer Situation zu ändern. Bens Hilfe hatte sie bisher kategorisch abgelehnt. Sie schämte sich einfach zu sehr für das Leben, das sie führte. Womöglich entwickelte sie mit Hilfe dieses Tranks dann endlich die Kraft, sich beim Jugendamt Hilfe zu holen und ihren Vater in den Entzug zu schicken.
Allein dafür würde es sich schon lohnen, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen.
Und genau das tat Ben! Er gab keine Ruhe, bis es ihm gelungen war, alle geheimen Zutaten zu organisieren und den Trank identisch zu zubereiten. So stand er des Nachts am Herd und lernte plötzlich freiwillig kochen. Normalerweise bekamen ihn keine zehn Pferde in eine Küche. Doch das Hantieren mit den Zutaten und den Kupfertöpfen bereitete ihm sogar richtig Spaß. Ihm war gar nicht bewusst, dass er über derartige Kochkünste überhaupt verfügte.
Und erst, als er genug von der blau schimmernden Flüssigkeit in leere Wasserflaschen gefüllt hatte, lud er seine Freunde ein, um ihnen das lieblich stärkende Gesöff zu verabreichen. Den Erstversuch allerdings machte er an sich selbst. Voller Mut und Hoffnung nahm er einen kleinen Schluck und wartete ab. Es passierte...
Nichts. Unsagbar enttäuscht und wütend auf alles legte er sich grummelnd schlafen. Am nächsten Morgen, als er in die Klasse kam, wurde er mit der Wirkung konfrontriert. Und die war beachtlich! Schwere Aufgaben für die Oberstufe waren noch schneller gelöst als ohnehin schon und plötzlich konnte Ben sich erfolgreich gegen das Mobben seiner Mitschüler erwehren. Er trat imposanter und selbstbewusster auf als sonst. Ließ sich nichts mehr gefallen. Seine Veränderung war natürlich auch seiner Klasse und den Lehrern aufgefallen.
„Genial!“ dachte er sich und war voller Hoffnung, was seine Freunde betraf.
„Was feiern wir denn?“ fragte Sarah ungeduldig, als sie dann zusammen in Bens Zimmer saßen.
„Genau, Alter! Erzähl mal...“ forderte jetzt auch Mike, rutschte in seinem Sessel vor und sah Ben erwartungsvoll an. Es war nicht schwer, die beiden davon zu überzeugen, dass er lediglich seinen neuen Stand in der Schule feiern wollte. Denn dieser hatte sich um Einiges verändert und das positiv.
„Und ich dachte, du hättest im Lotto gewonnen und willst den Gewinn mit uns teilen oder sowas!“ sagte Mike und gab sich keine Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Sarah hingegen freute sich über Bens Entwicklung. Dann fiel ihr Blick auf das Blau in den Flaschen.
„Was'n das?“ fragte auch Mike und zeigte auf die Flaschen. Seine Neugier war ebenfalls geweckt.
Wortlos schenkte Ben zwei Gläser ein. Eines reichte er Sarah, die sich das schimmernde Blau vor die Augen hielt.
„Das sieht aber lecker aus. Was ist das?“ fragte sie. Ben lehnte sich gelassen in seinem Sessel zurück.
„Ihr kennt mich doch und wisst um meine Leidenschaft. Ich habe eine Art Limonade mit neuem Geschmack gekocht für Euch.“
Mit dieser Erklärung war auch Mike zufrieden und beide leerten ihr Glas fast in einem Zug. Sarah leckte sich die Lippen, der Geschmack schien ihr zu gefallen. Mike hingegen wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und ließ einen geräuschvollen Rülpser entweichen.
„Du bist ein Genie!“ riefen dann beide synchron und Ben lächelte. Er war ein wenig stolz ob des Komplimentes, aber viel wichtiger war, ob es so wirken würde wie bei ihm. Schließlich sollte die Kocherei und die vielen Nächte nicht umsonst gewesen sein! Durch seinen Selbstversuch wusste er, dass es einige Stunden dauerte, bis die Wirkung eintrat. Außerdem musste er ständig für Nachschub sorgen, da die Wirkung irgendwann nachließ. Er hatte ausgerechnet, wie viel er den beiden verabreichen musste und brauchte jetzt nur noch warten...
Am nächsten Tag rief Sarah ihn an und wollte ihn unbedingt treffen.
„Was ist denn so dringend?“ fragte Ben, als sie eine halbe Stunde später in seinem Zimmer saßen.
„Ich weiß auch nicht, Ben. Irgendetwas stimmt mit mir nicht.“
Jetzt bekam er es mit der Angst zu tun.
„Warum?“ traute er sich kaum zu fragen.
Doch Sarah lächelte. „Heute Morgen habe ich zum ersten Mal meinem Vater die Meinung gegeigt. Aber so richtig, verstehst du?“
Sie strahlte über das ganze Gesicht. Auch Ben lächelte.
„Und wie geht es nun bei Euch weiter?“
„Er hat mir versprochen, in eine Klinik zu gehen.“
Ben umarmte seine Freundin und konnte seine Freude kaum bändigen.
„Und was passiert mit dir in der Zeit?“
Sarah hielt ihm eine Visitenkarte hin.
„Ich bekomme entweder eine Flex vom Jugendamt oder muss in ein betreutes Wohnen.“
Ben runzelte die Stirn. „Was ist eine Flex?“
Sarah lachte. „Das ist eine flexible Hilfe vom Jugendamt. Die kommt dann in unsere Wohnung und hilft mir. Aber die haben mir heute in dem Krisengespräch gesteckt, dass ich eigentlich dafür noch zu jung bin. Besser wäre, wenn ich irgendwo unterkommen könnte...“
Ben überlegte kurz, dann kam ihm eine Idee.
„Ich frage meine Mutter, ob du in der Zeit bei uns wohnen kannst. Zur Schule können wir gemeinsam gehen und verhungern werden wir auch nicht. Du könntest das Gästezimmer beziehen. Wozu sonst ist das da?“ lachte er und setzte sein Vorhaben sofort in die Tat um. Seine Mutter bat sich allerdings ein wenig Bedenkzeit aus. Sarahs Vater würde ohnehin erst in ein paar Tagen in der Klinik aufgenommen werden. Ben freute sich über die positive Entwicklung und war voll guter Hoffnung, dass nun alles gut würde.
Einige Tage später erreichte ihn eins SMS von Mike, der sich mit ihm an den alten Bahngleisen in der Unterführung treffen wollte. Am Tag davor hatte er zumindest schon einmal von Mike per Handy erfahren, dass er in einer Klassenarbeit eine 2+ geschrieben hatte. Das war eine mehr als deutlich sichtbare Verbesserung, da Mike sich in Bezug auf Noten eher im unteren Bereich bewegte. Bisher. Denn das dürfte ja nun der Vergangenheit angehören, dachte sich Ben. Schon von weitem erkannte er, dass Mike in ungewohnt neuer Kluft auf ihn zusteuerte. Was trug er denn da für seltsame Klamotten? Ben wollte ihn gerade danach fragen, als Mike auch schon los plapperte. Er erzählte von den guten Noten, die er neuerdings nach Hause brachte und wie er sich plötzlich gegen seine mobbenden Mitschüler durchsetzen konnte. Aber die ihm wichtigste Information war, wie seinem verhassten Klassenlehrer die Kinnlade auf den Boden plumpste, als er Mike die 2+ zurückgab.
„Mal ehrlich, das hätte mindestens eine Eins sein müssen. Aber das gönnt mir der alte Neumann natürlich nicht! Da stirbt der lieber!“
Mike hatte sich richtig in Fahrt geredet und dann erklärte er Ben seine neue Lederkluft. Die an sich war nicht das schlimme, sondern der Schriftzug auf dem Rückenteil der schwarzen Jacke. Mike hatte er sich der schlimmsten Bande Neuköllns angeschlossen. Ben war nicht nur sprach-, sondern auch fassungslos. Das konnte nicht Mikes Ernst sein!
„Alter, was ist bloß mit dir passiert?“ fragte er deshalb seinen Freund. Mike zuckte nur mit den Schultern.
„Was meinst du? Meine neuen Freunde? Ben, ich bin jetzt nie mehr allein. Was meinst du wohl, warum ich nicht mehr gemobbt werde?“
Ben war verletzt. Allein? Er dachte, Sarah und er wären seine Freunde.
Mike lachte plötzlich gespenstisch.
"Meine neue Gang hat den Blödmännern aus meiner Klasse nur einmal ganz ordentlich die Fressluke bluten lassen und seitdem ist Ruhe! Herrliche Ruhe. Könnt ich mich glatt dran gewöhnen und noch ein Jahr anhängen“, grinste er und lehnte sich lässig gegen eine Wand in der Unterführung. Dann steckte er sich mit einer Selbstverständlichkeit, die Ben erstarren ließ, genüßlich einen Joint an.
Jetzt wurde es Ben zu viel.
„Kiffst du etwa neuerdings?“
Ohne Mikes Antwort abzuwarten, rannt er plötzlich los. Seine Gedanken fuhren Achterbahn und sein Schädel hämmerte immer wieder dieselben Worte durch seine Hirnwindungen:
“Wie konnte das passieren? Wie konnte das passieren?“
Zuhause schnappte er sich die Aufzeichnungen seines Großvaters, dem begnadeten Erfinder und Koch dieser Art Zaubertrank. Nur dass er nicht Asterix und Mike nicht Obelix war! Er musste etwas tun. Wieso hatte es bei Sarah den gewünschten Effekt gezeigt und bei Mike nur teilweise? Die ganze Nacht hing er über dem Buch, dem Internet und seinen eigenen Aufzeichnungen. Als er schon aufgeben und ihm die Augen zufallen wollten, stieß er auf eine mögliche Erklärung.
Die Wirkung des Mittels hängt zu einem nicht unerheblichen Teil von dem Menschen selbst ab, der es zu sich nimmt. Wenn jemand zu viele negative Schwingungen in sich trägt, dann kann sich das Mittel ungünstig verteilen und eben auch diese negativen Sensoren im Hirn füttern.
Schlagartig war Ben wieder hellwach. Wie konnte er das nur übersehen! Jetzt war guter Rat teuer.
Er zuckte zusammen, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte. Ertappt fuhr er herum. Sarah rieb sich verschlafen die Augen.
„Was machst du hier? Warum schläfst du noch nicht?“ Sie wohnte seit zwei Tagen bei ihm und seiner Mutter, das war völlig in Vergessenheit geraten. Fieberhaft überlegte er...und entschloss sich dann, ihr von dem Trank zu erzählen. Ohnehin musste es raus, er wollte sein Geheimnis endlich mit jemanden teilen...und er fühlte, Sarah war die richtige dafür.
„Ben, du hast zu viele Filme gesehen...“
Ungläubig starrte sie ihn einigen Minuten später an. Es war zu erwarten, dass sie ihm nicht glauben würde.
Ohne ein weiteres Wort legte er ihr all die Beweise hin und sie las es gleichermaßen sprachlos wie fasziniert. Er ließ ihr einen Moment, um es sacken zu lassen und erzählte dann von Mike und seiner Veränderung. Sarah war sichtlich geschockt. Den Rest der Nacht beratschlagten die beiden Freunde, was nun am besten zu tun sei und kamen zu dem Ergebnis, dass auch Mike davon erfahren musste. Aber das könnte gefährlich werden. Denn niemand konnte einschätzen, wie er mit diesem Wissen umgehen oder was er daraus machen würde.
Unendlich müde kamen die beiden Freunde deshalb am nächsten Morgen in die Schule. Kaum aufnahmefähig schlichen sie über den Pausenhof bis zur Eingangshalle. Von der Unruhe, dem Raunen und der komischen Stimmung bekamen sie nichts mit. Erst als jemand aus der Oberstufe Ben ansprach, wurde er aufmerksam.
„Habt Ihr es schon gehört?“ Sarah und Ben gähnten synchron und mussten deshalb lachen.
„Nee, was denn?“ fragte Ben.
„Der alte Neumann ist tot. Er wurde heute Nacht erstochen.“
Das Lachen der beiden Freunde erstarb augenblicklich. Ben schluckte schwer. Unwillkürlich musste er an die Worte von Mike am letzten Abend denken.
War sein Freund etwa so sauer auf seinen Klassenlehrer, dass er ihn umgebracht hatte?
„Nein! Nein! Nein!“ hämmerte es hartnäckig in seinem Kopf.
Mike war doch kein Mörder! Das konnte nicht sein! Oder doch?
„Geht es dir nicht gut?“ fragte Sarah besorgt, „du bist ganz blass...“
Tatsächlich fühlte sich Ben einer Ohnmacht nahe. Was hatte er da mit seinen Kochkünsten nur angerichtet? Was hatte er aus seinem besten Freund gemacht?
Einen besseren Schüler. Ja!
Aber all das andere hatte er nicht gewollt! Ben schlug die Hände vors Gesicht. Er konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.
„Alter! Ich wusste gar nicht, dass mein Klassenlehrer dir so nahe stand!“ sagte eine vertraute Stimme in Bens Gedankenkarussell und brachte es damit endlich zum Stehen. Ungläubig starrte er Mike an. Dann rüttelte er an seinen Schultern.
„Was hast du getan, Mike? Was hast du getan?“
Sarah versuchte ihren Freund zu beruhigen. Mike blickte verständnislos zwischen den beiden hin und her.
„Alter, was geht mir dir? Was fährst du für einen Film? Du denkst nicht ernsthaft, dass ich meinen Lehrer wegen ner ungerechten Note um die Ecke bringe?“
Ben fragte sich tatsächlich, ob er seinem Freund sowas abscheuliches wirklich zutrauen würde.
Nein, normalerweise nicht. Aber unter Einfluss von Voluntas war offenbar alles möglich...
In diesem Moment entschied er, Mike doch nichts von dem Trank zu erzählen, zumindest vorerst. Vielleicht sogar niemals. Er wollte Zeit gewinnen und die Wirkung würde ohnehin bald nachlassen.
Und so kam es, dass Mike wieder schlechter in der Schule wurde und das logischerweise nicht verstand. Förmlich ratlos war, als die schlechten Noten wieder Einzug hielten. Der Kontakt zwischen Mike und Ben wurde immer weniger.
Die einzig gute Nachricht in der Zeit war die, dass der Tod des Klassenlehrers aufgeklärt wurde. Die Ermittlungen ergaben, dass er tatsächlich von einem Schüler hingerichtet wurde. Aber nicht Mike war der Täter, sondern ein Junge aus der Gang, der Mike leider nun auch angehörte. Unwillkürlich fragte sich Ben, ob Mike der Auftraggeber war, hoffte jedoch inständig, dass dem nicht so ist.
Aber gegen seine Gedanken konnte er sich nicht wehren. Sie fraßen sich in sein Gehirn wie lästige Parasiten.
Erst einige Wochen später war der Fall Neumann restlos aufgeklärtt und Mike in Bens Augen entlastet.
Genau wie er selbst auch. Denn er hätte sich nie verzeihen können, indirekt einen Mord auf dem Gewissen zu haben.
Bei Sarah hingegen lief es richtig gut. Ihr Vater machte enorme Fortschritte und würde in einigen Wochen wieder zuhause sein. Damit wäre es aber noch nicht getan. Denn dann würde eine ambulante Therapie und der regelmäßige Besuch einer Selbsthilfegruppe für anonyme Alkoholiker folgen, mit dem er sich einverstanden erklärt hatte.
Doch wie sollte es mit Mike weitergehen? Ben überlegte fieberhaft, wie er ihn aus den Klauen dieser berüchtigten Bande bekommen könnte. Dann kam ihm unerwatet der Zufall zu Hilfe.
Mike verliebte sich und dieser Zustand sorgte für Ordnung in seinem Gehirn. Vor Laura wollte er nämlich weder wie ein Idiot da stehen, noch wollte er riskieren, dass sie ihn wegen der Gang verlassen würde. Denn mit dieser hatte sie ein Problem. Und da war sie bei Weitem nicht die einzige.
Ben verabreichte Mike noch ein letztes Mal eine kleinere Menge des Serums. Gerade so viel, dass er es schaffte, endlich die zehnte Klasse erfolgreich zu beenden. Und es dauerte nicht lange, bis Joints und die Gang Geschichte waren. Die Freundschaft der Drei hatte wieder Bestand und es schien, dass sie nach diesem Erlebnis fester geworden war. Zehn Jahre mit allen Höhen und Tiefen sind eine lange Zeit und das schweißt zusammen.
Jetzt waren sie zu viert. Laura wurde zu einem festen Bestandteil in ihrem Leben.
Beim Schreiben von Bewerbungen half Ben seinem Freund ebenfalls und das sehr erfolgreich. Er fand nach einigen Wochen eine Lehrstelle.
Die betreffenden Hirnregionen Mikes waren nun auch ohne Voluntas stimuliert. Ben fand heraus, dass es Menschen gibt, bei denen die automatische Erinnerung aktiviert wird und bei Mike war das nach der zweiten, kleineren Gabe des Serums eingetreten.
Glücklicherweise äußerte sich das bisher nur positiv. Ben konnte also hoffen und war zuversichtlich, dass dies noch lange so bleiben würde. Am besten für Jahrzehnte. Oder noch besser: bis Mike diese Welt für immer verlassen wird.
Bei Sarah war der Trank nicht mehr notwendig, da sich ihr Leben so positiv verändert hatte, dass sich der Rest von ganz allein entwickelte.
So war Ben doch noch zufrieden und stellte kein Voluntas mehr her. Denn ein kleiner Restzweifel blieb bestehen und würde es für immer.
Eines hatte er jedoch gelernt: Auch die besten Kochkünste könnten etwas Gefährliches in sich birgen...
Texte: Alle Rechte bei der Autorin
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Tag der Veröffentlichung: 06.06.2015
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