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Valentinstag

Eine etwas andere Valentinsgeschichte

 

Mein Name ist Valentina und ich bin verliebt. Schrecklich doll verliebt. Ich lernte Martin vor ungefähr einem Monat in einem Internetforum kennen. Er ist ein bisschen älter als ich und natürlich erfahrener. Bald ist Valentinstag und Martin schreibt mir, dass er eine Überraschung für mich hat. Wo doch mein Name Programm ist, wie er stets betont. Ein Blick auf meinen Katzenkalender zeigt mir, dass es tatsächlich nur noch wenige Tage dauert bis zum großen Tag. Alle meine Freundinnen beneiden mich wahnsinnig. Und das nicht nur, weil sie nicht Valentina heißen und keine grünen Katzenaugen haben. Sie beneiden mich vor allem um Martin, von dem ich ihnen schon viele Bilder gezeigt habe. „Er sieht ein wenig aus wie der junge Keanu Reeves“, schwärmt Melanie und Tanja stimmt ihr begeistert zu. Tanja ist immer einer Meinung mit Melanie. Auch wenn sie eigentlich etwas anderes denkt, stimmt sie ihr zu. Einmal kam Mel in einem giftgrünen, abgrundtief hässlichen Minikleid in die Schule. Unsere gesamte Mädchenclique stand mit offenem Munde da und starrte sie ungläubig an. Am schlimmsten war diese große, grüne Schärpe auf ihrem Hintern. Sie sah einfach so was von bescheuert darin aus, es war furchtbar. Niemand sagte etwas, nur Tanja wackelte damals auf sie zu und schleimte: „Oh Mel, du siehst einfach bezaubernd in deinem neuen Kleid aus!“ Während die beiden sich innig umarmten, sind wir anderen erst mal ne Runde kotzen gegangen. Aber so sind Melanie und Tanja nun mal. Wie siamesische Zwillinge.

 

„Hör mal Val, kann es sein, dass dieser Kerl dir Bilder von Keanu Reeves geschickt hat? Der sieht dem echt zum verwechseln ähnlich.“ Mel sieht sich das neue Foto von Martin ganz genau an. Das hatte er mir erst gestern Abend geschickt und es ist ganz aktuell.

„So ein Quatsch!“ entgegne ich sauer und reisse ihr meinen Martin aus den Händen. Die spinnt wohl, diese eifersüchtige Tusnelda. Sie hatte bisher noch keinen so gutausehenden Typen an Land gezogen. „Warum rastest du gleich so aus, Valentina? Ich finde es eben merkwürdig, dass der genau so aussieht wie dieser Schauspieler.“ „Genau!“ mischt sich nun auch Tanja ein und stellt sich solidarisch neben Mel. Irgendwie kann ich diese Tussen und ihre Mißgunst heute nicht ertragen. „Wie alt ist dein Typ eigentlich? Scheint viel älter als du zu sein, Val“, mutmaßt Mel und bestaunt dabei ihre frisch lackierten, grellroten Fingernägel. „Na und? Was geht’s dich an, M-e-l-a-n-i-e!“ schnaube ich, drehe mich auf dem Absatz meiner High Heels um und stolziere von dannen. Es ist Schulschluss und ich eile nach Hause vor meinen geliebten Laptop.

„Was ist denn heute los mit dir, Süße?“ fragt Martin im Chat. Ich erzähle ihm von Mel und Tanja. „Vergiß doch diese dummen Hühner, Tina. Die können dir doch gar nicht das Waser reichen.“ Martin schafft es immer wieder, mich zu besänftigen und er ist der einzige, der mich Tina nennen darf. „Du hast ja Recht, Schatz. Lass uns über den großen Tag reden. Über Valentinstag.“ Meine Augen blitzen sofort auf, denn ich bin so gespannt auf seine Überraschung. Doch er will mir nichts verraten, dieser Schuft. Wir schreiben noch ein wenig miteinander und er fragt wieder nach einem Bild von mir. Ich fühle mich eigentlich nicht wohl dabei, wenn ich ihm heimlich Fotos von mir aus dem letzten Sommerurlaub mit meinen Eltern schicke. Aber es sind die einzigen freizügigen, die ich habe. Meine Eltern würden mich umbringen, wenn sie davon wüssten...Martin sagt, es sei eine Art Liebesbeweis und dass ich ihm vertrauen kann wegen der Bilder. Also schicke ich ihm zwei in dem neuen Bikini, den mir meine Eltern damals extra für unseren Spanienurlaub geschenkt haben. Er war total begeistert und hat sich überschwänglich bedankt. Mit seiner unbändigen Freude wirft er all meine Bedenken über Bord und ich denke nicht mehr darüber nach.

 

„Du hast dem nicht wirklich ein Nacktfoto von dir geschickt?“ Meine beste Freundin Andrea sieht mich ungläubig an. „Doch, Andi, das habe ich. Warum sollte ich nicht?“ Ich verstehe ihr Entsetzen nicht so ganz. Obwohl ich ja selbst auch lange mit mir gerungen habe, bevor ich sie ihm schickte. „Val, dieser Kerl ist vielleicht ein dicker, alter Opa und du schickst dem solche Aufnahmen von dir.“ Andi lässt nicht locker. Aber sie ist auch die einzige, die so mit mir reden darf. Weil sie seit der Grundschule so etwas wie eine Schwester für mich ist. Ich habe all unsere Erlebnisse in mein Tagebuch geschrieben und natürlich auch jetzt die schöne Liebesgeschichte mit Martin darin verewigt. Aber heute ärgere ich mich über meine Freundin. „Bleib mal locker. Ich bin doch gar nicht nackt, sondern trage einen Bikini“, sage ich besänftigend. Doch das beruhigt sie scheinbar gar nicht, im Gegenteil. „Was macht denn das für einen Unterschied? Ihr habt Euch noch nie getroffen, du kennst ihn nur von Bildern und dann sendest du ihm solch ein freizügiges Foto von dir!“ Andrea hat sich in Rage geredet und tippt sich vielsagend an die Stirn. Ich habe keine Lust mehr ihr von der Überraschung zu erzählen, die Martin mir am Valentinstag machen möchte und schiebe sie zur Tür. „So, du kleine Spaßverderberin, du gehst jetzt bitte. Ich muss in den Chat.“ Unruhig schaue ich auf meine rosa Armbanduhr. „Martin mag es gar nicht, wenn seine kleine Prinzessin zu spät am Bildschirm erscheint.“ Sie rollt mit den Augen, aber bevor sie noch etwas entgegnen kann, habe ich die Tür hinter ihr geschlossen und hechte zu meinem Laptop. Gerade noch rechtzeitig bin ich bereit für die erste Nachricht, die sofort nach dem Anmelden bei mir eintrudelt.

„Hallo meine Süße. Wie war dein Tag?“ Ich beschließe, ihm nicht die Wahrheit zu sagen. „Gut“, lautet daher meine Antwort. Wir chatten eine Weile miteinander und dann macht Martin eine Bemerkung über meine Figur. „Du kannst dich in dem tollen Bikini echt sehen lassen, Tina. Für dein Alter siehst du schon sehr weiblich aus.“ Irgendwie fühle ich mich plötzlich unwohl, schiebe dieses Gefühl aber wieder weg. Immerhin hat er ja auch ein Bild von mir bekommen, auf dem er meinen Körper sehen und beurteilen kann. Bestimmt will er mir einfach nur ein Kompliment machen. Deshalb bedanke ich mich artig und verabschiede mich heute zeitig von ihm. Abends liege ich noch lange wach, bevor ich in einen unruhigen Schlaf falle. Ein merkwürdiger Traum wühlt mich auf. Ich irre durch einen dunklen Wald. Kann kaum die Hand vor Augen sehen, so duster ist es. Ich höre leise Stimmen, die nach mir rufen. „Valentina...Valentina...“ Es klingt, als trüge der Wind meinen Namen durch die unruhigen Baumwipfel. Dann entdecke ich ein Gesicht zwischen den Ästen und erschrecke fast zu Tode. Es kommt mir irgendwie vertraut vor. Ich gehe langsam näher darauf zu, doch je mehr ich mich nähere, um so blasser wird das Antlitz. Um es erkennen zu können, noch einen Blick auf es zu erhaschen, renne ich los. Will es erreichen, bevor es ganz verschwindet. Doch es will mir nicht gelingen.

Schweißgebadet wache ich auf und stelle mich unter die heiße Dusche. Mache mir in der Küche unten leise einen Fencheltee, den mir meine Mutter noch heute kocht, wenn ich Bauchweh habe oder es mir nicht gutgeht.

„Mama“, denke ich liebevoll und bekomme mit einem Mal ein schlechtes Gewissen. Sie ist immer so gut zu mir und kümmert sich um alles. Und ich habe Heimlichkeiten, von denen sie nicht das Geringste ahnt. Ich nehme den Tee mit nach oben in mein Zimmer und hole mein knallgelbes Tagebuch mit dem roten Herz auf dem Cover heraus. Schon lange hatte ich keinen Albtraum mehr und diesen schreibe ich auf. Der Tee tut mir gut und ich kann, nachdem ich mir alles von der Seele geschrieben habe, wieder schlafen bis zum nächsten Morgen. Der Wecker schrillt und die Schule ruft somit. Mein Blick streift den Katzenkalender auf meiner pinkfarbenen Wand. Mein Zimmer hat vier Wände, so wie die meisten. Aber es ist trotzdem besonders. Denn jede Wand hat eine andere Farbe. Ich habe mehrere Lieblingsfarben und da ich mich damals nicht entscheiden konnte, hat mein Vater einfach eine Wand in hellgrün, eine in pink, eine in gelb und eine in kobaltblau gestrichen. Das sieht einfach genial aus und ich liebe es. Der Kalender zeigt Freitag, den 13. Februar und das bedeutet, dass es nur noch einen Tag dauert bis zu meiner großen Überraschung. Mein Herz beginnt zu rasen und die Aufregung wandert vom meinen Zehenspitzen bis nach oben  zu meinem blonden Lockenkopf. In der Schule kann ich mich kaum auf den Unterricht konzentrieren. Immer wieder schweifen meine Gedanken zu Martin und dem großen Tag. Andi besucht dieselbe Klasse und wir haben uns heute endlich ausgesprochen. Ich bin froh, denn ohne sie kann und will ich nicht leben. Sie ist für mich die Schwester, die ich nie hatte. Ich erzähle ihr sogar von Martins und meinem Geheimnis. Der Überraschung am Valentinstag. Nur sie weiß davon, als allereinzige. Und mein Tagebuch.

„Herzchen? Ist alles in Ordnung mit dir?“ Die besorgte Stimme meiner Mutter reisst mich aus den Gedanken und ich bemerke erst jetzt, dass ich vor dem geöffneten Kühlschrank stehe. Die Anspannung ist mir wohl deutlich anzusehen. Und mir fällt ja selbst auf, dass ich total gedankenverloren bin. Ich weiß nicht mal mehr, was ich eigentlich aus dem Kühlschrank nehmen wollte. Wahrscheinlich einen Schokoriegel. „Brauchst du Nervennahrung, Valentina?“ Meine Mutter kennt mich einfach zu gut und manchmal nervt mich das. „Bor Mama, mach nicht so ein Theater. Ich gehe jetzt schlafen. Gute Nacht!“ Sie schaut mich irritiert an und mir tut es sofort leid. Ich umarme sie flüchtig und husche dann schnell die Treppe hoch. Mit meinem heiligen Tagebuch verschanze ich mich unter der warmen Decke. Ich friere. Eigentlich ist mir niemals kalt. Aber heute friere ich. Es ist Wochenende, aber trotzdem schreibe ich heimlich unter der Decke mit einer Taschenlampe in mein Tagebuch, dass Martin am Valentinstag in einer abgelegenen Waldhütte auf mich wartet. „Das muss doch gebührend gefeiert werden, allein schon deines Namens wegen. Und deshalb schicke ich dir morgen die Wegbeschreibung zu meiner kleinen, aber gemütlichen Hütte. Ich werde dort voller Sehnsucht auf dich warten, mein Liebling.“ So lautete sein heutiges Mail an mich und danach haben wir uns auch schon wieder verabschiedet. Ich stelle mir eine wunderschöne und luxuriöse Hütte vor, mit einer teurer Einrichtung, in der mich Martin morgen empfangen wird. All das schreibe ich in meinen kleinen Geheimnisträger, damit ich es nie wieder vergesse.

 

 

Eine unruhige und zum Teil schlaflose Nacht lässt mich am Morgen des 14. Februar vor meinem eigenen Spiegelbild erschrecken. Ich sehe furchtbar aus und dabei will ich doch für Martin wunderschön sein. Ich muss ja schon bald los. Die Wegbeschreibung liegt bereits ausgedruckt auf meinem weißen Schreibtisch und lacht mich verlockend an. Aber vorher muss ich aus mir ein hübsches Mädchen machen. So kann ich meinem Liebsten nicht unter die Augen treten. Ich gehe also baden, glätte meine Haare, schminke mein Gesicht dezent und ziehe meinen neuen schwarzen Hosenanzug an, der meine Figur betont. Schal, Jacke, Mütze und Handschuhe müssen sein. Befehl von meiner Mutter, da es sehr kalt ist. Dann verabschiede ich mich und verlasse samt Wegbeschreibung mein Zuhause. Meine Eltern denken, dass ich den Tag bei Andi verbringe und auch dort übernachte. Sie würden diesen Ausflug nie erlauben. Ein bisschen tut es mir leid, aber die Neugier auf die bevorstehende Überraschung ist einfach zu groß.

 

Mit meinem Fahrrad bin ich sehr schnell in betreffendem Wald angekommen und begebe mich auf die Suche nach der Hütte. Mein Rad schiebe ich neben mir her und dann sehe ich auch schon bald die Brücke, die ich überqueren muss. Martin meinte, dass seine Hütte nicht unweit von dieser Brücke - aber etwas versteckt im Dickicht - ihren Platz hat. Als ich das kleine Häuschen erblicke, aus dem Rauch vom Kamin her aufsteigt, werde ich erst richtig nervös. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Mein Mund wird ganz trocken und ich habe das Gefühl, meine Zunge klebt am Gaumen fest. Mein Atem geht schneller und schickt beim Verlassen meines warmen Körpers kleine Wölkchen in die kalte Luft. Mir erweckt sich der Eindruck, dass es hier draußen in der Einöde noch frostiger ist.

Ein Knacken lässt mich aufschrecken. Schnell eile ich zur rettenden Hütte und bitte um Einlass. Langsam geht die Tür auf und vor mir steht...weder Martin noch Keanu Reeves. Der Mann, der mich nun von oben bis unten anschaut, hat mit dem Schauspieler rein gar nichts gemein. Im Gegenteil. Mir wird mulmig. Bin ich an der falschen Hütte? Der übergewichtige, grauhaarige Kerl vor mir grinst mich frech an. Instinktiv drehe ich mich um und will fortlaufen. Doch er greift nach meinem Arm und hält mich fest.

„Das ist die falsche Richtung. Gefeiert wird hier drinnen in der warmen Stube, meine liebe Tina.“

Mir wird übel. Um mich herum dreht sich alles, die Bäume scheinen plötzlich ein Karrussel zu sein. Dann wird es schwarz. Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder zu mir komme, liege ich in einem weichen Bett. Ich bin so müde, so unendlich müde. Bekomme kaum meine Augen auf. Dann sehe ich ihn. Ihn, der so gar keine Ähnlichkeit mit dem attraktiven Mann hat, mit dem ich mich seit über einem Monat fast täglich im chat getroffen habe. Im Gegenteil. Er ist nicht etwas älter als ich, sondern alt. Er hat kein volles schwarzes Haar, sondern eine Halbglatze und die restlichen Fussel auf seinem fettig glänzenden Haupt sind grau. Er hat genauso einen dicken Bauch wie unser Direktor, ist schlecht rasiert und stinkt widerlich. Erneut wird mir schlecht und ich versuche mich aufzurichten. Erst da bemerke ich, dass ich mich nicht bewegen kann. Dieses Schwein hat meine Hände ans Bett gefesselt. Oh Nein! Das darf doch alles nicht wahr sein. Das kann doch nur ein Albtraum sein! Aber warum wache ich nicht auf? Ich fühle mich noch immer benommen. Versuche zu schreien, aber es geht nicht. Über meine Lippen kommt kein Laut. Was hat dieser häßliche Kerl mit mir gemacht? Meine Gliedmaßen scheinen schwer wie Blei, ich kann mich kaum bewegen. Was hat er mir eingeflößt und vor allem, was hat er mit mir vor? Wird er mich vergewaltigen und dann umbringen? Ich fange an zu weinen, die Tränen laufen unaufhörlich über meine Wangen. Er lacht nur. „Ach Tinalein. So schlimm ist es doch hier bei mir gar nicht. Bis jetzt hat es noch jeder gefallen“, sagt er,  nicht ganz ohne Stolz. Bei diesem Satz kriecht die Frühstückssemmel langsam nach oben und mir wird bewusst, dass ich hier sterben könnte, wenn mir niemand hilft. Laut heule ich auf. Martin schimpft. Ich solle mein hübsches Gesicht nicht so strapazieren, denn schließlich sei dies das Beste an mir. Seine Worte dringen wie durch eine Nebelwand zu mir durch. Was auch immer er mir gegeben hat, als ich ohnmächtig war, es zeigt langsam Wirkung. Ich verfluche mich selbst, weil ich auf seine schönen Worte reingefallen bin. Weil ich niemandem von diesem Ort hier erzählt habe. Nur meinem Tagebuch habe ich es anvertraut. Leider kann es nichts von alldem verraten...und nun muss ich hier in der Einöde vergammeln. Qualvoll verrecken...

Wenn ich nur wüsste, was dieser Kerl mit mir vorhat. Nein, eigentlich möchte ich es lieber nicht wissen. Will es nur schnell hinter mir haben und nicht lange leiden müssen.

 

Der Dicke steht offensichtlich am Herd und kocht. Ein beißender Geruch steigt in meine Nase und wieder sucht mich Übelkeit heim. „Das ist Leber“, flötet er aus der Kochnische, „die ist gesund und hat viel Eisen! Das koche ich an jedem Valentinstag." Bääh...ich hasse Leber und bekomme immer mehr Angst. Sehnsüchtig schaue ich zu einem der kleinen Hüttenfenster. Es scheint langsam zu dämmern. Fast wünsche ich mich in den tiefen, dunklen Wald, denn dort wäre es immer noch tausend Mal ungefährlicher als hier bei ihm. Diesem Monster...

Plötzlich nehmen meine Augen etwas wahr. Ich sehe genauer hin. Da ist irgendetwas im Fenster. Ich versuche mich aufzurichten, aber es geht nicht. Nur meinen Kopf kann ich ein wenig anheben. Da schaut jemand rein, aber ich kann das Gesicht nur schemenhaft erkennen. Es kommt mir bekannt vor, doch ich bin so benebelt, dass ich es nicht zuordnen kann.

„Na, meine schöne Valentina. Ich hoffe, du hast viel Appetit mitgebracht!“

Martin steht neben mir und hält mir etwas von der Leber unter die Nase. Jetzt kommt es mir richtig hoch und ich kann gerade noch rechtzeitig den Kopf drehen. Mein Erbrochenes landet auf dem Kissen neben mir. Martin schlägt mir mit voller Wucht ins Gesicht. Es scheint vorbei mit seiner Beherrschung.

„Du dusselige Kuh! Jetzt hast du mit deiner Kotze die schöne Hello Kitty Bettwäsche ruiniert!“

Ich weine, obwohl ich den Schmerz kaum spüre. „Die habe ich extra für unser Schäferstündchen besorgt. Du blöde Kuh, du blöde!“

 

„Bring es doch endlich hinter dich, du häßlicher, alter Kerl!“ möchte ich in sein schweißnasses Gesicht schreien. Doch meine Zunge ist so schwer, kein Laut kommt über meine Lippen. Ich scheine keine Gewalt über mein Sprachzentrum mehr zu haben. Wieder sehe ich ein Gesicht im Fenster. Andi? Das ist doch Andi! Meine gute, beste Andi... Ist sie es wirklich oder wünsche ich es mir nur so sehr? Vielleicht ist das auch nur eine Halluzination. Nein. Es muss Andrea sein, ihr feuerroter Lockenkopf leuchtet förmlich in die Hütte hinein. Wenn ich doch nur besser sehen könnte. Sie hält irgendetwas an ihr Haar oder ihr Ohr. Leider kann ich nicht mehr erkennen. Es ist zu anstrengend, meine Augen werden schwer. Ich döse weg. Dann höre ich Martin plötzlich fluchen, die Tür geht geräuschvoll und Stimmen streiten. Ich bin so müde, will nur noch schlafen. Irgendwann spüre ich Hände auf mir. Sie fummeln an meinen Handgelenken herum. Ich lasse alles geschehen, das Zeug hat in mir ein Leck-mich-am-Arsch-Gefühl ausgelöst. Soll er es doch endlich tun! Aus scheinbar weiter Entfernung höre ich meinen Namen, der mir schon fast durch dieses Monster verhasst ist. Genau wie der Valentinstag auch. Immer wieder höre ich meinen Namen, aber es ist eine Frauenstimme. Ich hebe meine gefühlt zentnerschweren Lider und erkenne die Umrisse von Andi. Meine gute, beste Andi war mir in den Wald gefolgt? Sie ist einfach die beste Freundin, die man haben kann. Schlagartig bin ich wieder bei Sinnen. Meine Lebensgeister kehren langsam zurück. Doch dann taucht hinter ihrem hübschen Gesicht ein anderes auf. Das meines Peinigers. Mit einem harten Schlag bugsiert er meine beste Freundin in eine Ecke der Hütte. Regungslos bleibt sie liegen. Ich bin innerlich wie erstarrt. „Das habt Ihr Euch wohl so gedacht, was Schätzchen?“ grinst er mich hämisch an. „Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, mit zweien macht es sicher doppelt Spaß!“ frohlockt er. Leise fange ich an zu beten, mein letztes Stündlein hat geschlagen. Ich schließe meine Augen und ergebe mich meinem Schicksal. Seine wurstigen Finger streichen über mein Gesicht. Es ist so ekelig, so widerlich. Er stöhnt, schnauft und keucht über mir. Und dann wird es plötzlich still. Nichts ist mehr zu hören. Grabesstille. Bin ich tot? Diese erdrückende Ruhe läßt mein Gefängnis noch bedrohlicher wirken. Doch nur einen kurzen Moment später höre ich mehrere Männerstimmen. Ich erstarre. Will er mich noch anderen geilen, alten Säcken zum Fraß vorwerfen? Wollen die mich untereinander teilen? Ich schreie los, so laut ich kann und trete mit den Füßen umher. Irgendwann bemerke ich Hände, die mich berühren und eine vertraute Stimme nennt mich beim Namen. Bestimmt halluziniere ich wieder, denn ich höre meine Andi, die mir sagt, dass alles wieder gut wird. Endlich traue ich mich, meine Augen zu öffnen und zucke zusammen. Um mich herum stehen Polizisten. "Wo ist er?" frage ich ängstlich. "Keine Sorge, dieser Mistkerl kann dir nichs mehr tun, Val. Er sitzt bereits in Handschellen im Polizeiwagen", versichert Andrea, während sie meine Fesseln an den Handgelenken löst. Ich richte mich auf. Es tut so gut, wieder Herr über meinen Körper zu sein und noch mehr tut es gut, Andi wohlauf zu sehen. Ich reibe meine schmerzenden Handgelenke, die von den Seilen aufgeschürft sind. Dann umarme ich meine beste Freundin und  weine meine ganze Angst in ihr rotes Haar.

„Bin ich froh, dass du mir doch noch von dieser Überraschung erzählt hast und ich dir aus einem unerklärlichen Impuls heraus in den Wald gefolgt bin!" sagt sie erleichtert und drückt mich fest an sich. "Ich habe mit meinem Handy die Polizei informiert, als ich dich am Bett gefesselt sah."

 

Meine Andi, meine Schwester und jetzt auch Lebensretterin...

 

Ein Krankenwagen bringt mich und Andrea ins nächste Krankenhaus. Ich muss einem Polizisten alles erzählen und er nimmt es auf. Das fällt mir schwer, weil es so ist, als durchlebe man alles noch einmal...

Bald treffen auch meine Eltern ein. Man sieht ihnen die Sorge an, sie weinen und drücken mich so doll, dass ich fast ersticke. Ich schäme mich, dass ich ihnen solch Leid zugefügt habe. Doch sie sind nicht böse, sondern einfach nur froh, dass es mir gut geht. Langsam realisiere ich, dass ich tatsächlich noch lebe. Ich bin noch da. Noch mal mit dem Leben davon gekommen. Martin jedoch wird nicht davon kommen, sondern von seiner Liebesfalle in den Knast umziehen. Die Hütte wird er hoffentlich nie wieder benutzen können.

Von Internetbekanntschaften habe ich die Nase gestrichen voll. Ich muss mich jetzt erst einmal erholen und wieder auf die Beine kommen. Muss wieder Vertrauen fassen.

 

In meiner Parallelklasse ist ein Junge, der schon sehr lange mit mir ins Kino gehen möchte. Wer weiß, vielleicht gebe ich ihm irgendwann eine Chance.

 

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Texte: alle Rechte liegen bei der Autorin
Bildmaterialien: by Google.de
Tag der Veröffentlichung: 11.02.2015

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