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warum nur?

Mit tränenerfüllten Augen stehe ich im Türrahmen und blicke auf sein leeres Bett. Noch immer sieht es aus wie damals. Alles sieht aus wie damals. Das Bett ist mit seiner Lieblingsbettwäsche von Cars bezogen. Die Carrerabahn steht noch immer aufgebaut in der linken Ecke unter dem Fenster. Die bunten Vorhänge lassen das Zimmer kuschelig und verspielt wirken. Und doch ist es tot. Eine Träne rollt über meine Wange. Verdammt, warum tut es noch immer so unglaublich weh? Ich rühre nichts an, nur die Bettwäsche und die Vorhänge nehme ich gelegentlich zum Waschen ab. Alles in seinem Zimmer soll bleiben wie damals. Damals, vor jenem schicksalshaften Tag im August. Immer und immer wieder stelle ich mir dieselbe Frage. Warum? Warum nur musste uns das passieren? Warum habe ich damals Ja gesagt, als mein Chef mich am wohlverdienten Wochenende anrief und mich fragte, ob ich ein paar Stunden ins Büro kommen könnte. Warum hatte ich nicht den Mut, Nein zu sagen. Warum hatte ich meinen Vorsatz nicht in die Tat umgesetzt und dem alten Herrn früher meine Grenzen aufgezeigt? Die unbändige Angst, meinen Job und somit unsere einzige Einnahmequelle neben dem Kindergeld zu verlieren war wohl doch mächtiger, als ich mir selbst eingestehen wollte. Wie hätte ich uns sonst ernähren sollen? Alleine, ohne Mann? Das Kindergeld ging seit Leons Geburt zur Hälfte auf ein Sparkonto für meine Jungs. Denn ich verdiente verdammt gut bei den Schlüter Werken. Solche Jobs wachsen aber nun mal nicht auf Bäumen. Im Gegenteil...

 

„Mama?“ Schnell wische ich die bitteren Tränen fort. „Ja?“ rufe ich ertappt und eile aus dem Zimmer. „Ach Mama, du sollst doch nicht ständig in Leons Zimmer gehen“, ermahnt mich mein Erstgeborener Sven. Er hat Recht, ich weiß ja, dass er Recht hat. Jedes einzelne Fitzelchen in diesem Zimmer erinnert mich an Leon. Ich höre ihn lachen und spielen. Ja, verdammt! Er hat Recht, warum ist er so viel vernünftiger als ich? Aber ich kann nicht anders, kann nicht so tun, als hätte es meinen kleinen Liebling nie gegeben. Das kann niemand von mir verlangen. Das wäre fast so, als verleugne ich seine Existenz. Und er hat existiert. Fünf wundervolle Jahre auf dieser Erde und seit knapp sechs Jahren in meinem Herzen. Und darin wird er ewig leben. Erneut schleicht sich das salzige Nass in meine Augen und verschleiert meinen Blick. „Mensch Mama“, sagt Sven sanft und legt liebevoll seinen Arm um mich. „Der Psychiater hat doch gesagt, du sollst langsam Abschied nehmen und dich nicht mit Erinnerungen quälen“, verweist Leons großer Bruder auf die letzte gemeinsame Therapiesitzung. Ich winde mich aus seiner Umarmung und schaue ihn böse an. „Vermisst du deinen kleinen Bruder denn überhaupt nicht?“ Sein entsetztes Gesicht nehme ich zwar wahr, aber es lässt mich kalt. Ich weiß, ich habe ihn verletzt, aber auch das lässt mich kalt. So wie alles, was um mich herum passiert. Einzig in Leons Zimmer bin ich kein innerlicher Eisblock. Sobald ich es betrete, fühle ich etwas. Und obwohl es nur Trauer und Schmerz ist, fühle ich. Fühle mich lebendig.

Außerhalb dieser vier Wände bin ich tot. Gestorben. Genau wie er.

Warum? Warum nur musste uns das passieren? Ich schluchze los, flüchte in mein Schlafzimmer und schließe mich ein. Wie so oft in letzter Zeit. Ich höre Sven irgendetwas rufen, aber ich kann sein gutgemeintes Gerede nicht ertragen, genauso wie seine Gegenwart. Warum hat er nicht aufgepasst damals? Warum hat er ihn nicht beschützt an diesem verdammten Tag im August? Das laute Knallen der Tür reisst mich aus meinen Gedanken. Mein fünfzehnjähriger Sohn hat wieder einmal die Flucht ergriffen, wie immer in solchen Situationen. Dass auch er seine Grenzen hat und traurig über den Verlust seines kleinen Bruders ist, das will ich nicht wahrhaben. Mir ist nur mein eigener Schmerz wichtig. Er steht an erster Stelle. Damals, an dem dunkelsten Tag meines Lebens machte ich unter anderem auch Sven für das verantwortlich, was passiert war. Und insgeheim tue ich das wohl immer noch...Dabei ist Sven ein toller Junge. Er besucht die neunte Klasse eines angesehenen Gymnasiums und wird sein Abitur machen. Sven ist immer so fürsorglich mit seinem kleinen Bruder umgegangen. Leon war sein Ein und Alles. Bis zu diesem verdammten Tag in einem sehr heißen Sommer...

 

Es war der 23. August. Die Sonne schien von einem perfekten, wolkenlosen Himmel. Und das Schönste: Es war ein Samstag und ich musste nicht arbeiten. Denn eigentlich ging meine Arbeitszeit von Montag bis Freitag. Sven, Leon und ich wollten zusammen schwimmen gehen, hatten schon alles gepackt. Die große Sporttasche stand bereit und auch für Speis und Trank war gesorgt. Plötzlich schrillte das Telefon. Unwillkürlich zuckte ich zusammen, weil ich Angst hatte, dass mein Chef mich wieder einmal ins Büro ordern könnte. Meine Vorahnung sollte sich bestätigen. „Herr Müller, Sie wissen doch, dass ich heute einen Schwimmausflug mit meinen Kindern geplant habe“, sagte ich viel zu kleinlaut. Wie schaffte es dieser blöde Kerl bloß jedes Mal, dass ich mich immer so klein fühlte, wenn er mich am Wochenende anrief? Ich kann mir das bis heute nicht erklären. Schuldbewusst sah ich meine Jungs an. „Du musst schon wieder arbeiten, Mutti, stimmts?“ Sven ließ entnervt und geräuschvoll seinen Rucksack auf den Parkettboden plumpsen. „Du hast es versprochen, Mama. Du hast es mir versprochen!“ heulte jetzt auch Leon und warf sich neben Svens Rucksack auf den Boden. Nun stand ich dumm da. Warum musste ich einen Job haben, bei dem immer jemand enttäuscht wurde? Dummerweise waren es immer meine Kinder...“Ich hasse dich, Mama!“ Leon schlug mit seinen Armen und Beinen auf den harten Parkett. „Du bist so gemein! Immer musst du arbeiten!“ Was sollte ich darauf antworten? Er hatte ja recht und eben auch das Recht auf seine Mama am Wochenende. Wie sollte er mit seinen fünf Jahren denn auch verstehen, dass ich arbeiten musste, um Geld zu verdienen? Damit wir überhaupt solche Ausflüge machen konnten. Damit wir jeden Tag Essen auf dem Tisch haben und auch mal in den Urlaub fahren konnten. All das war ihm egal, er wollte hier und jetzt mit seiner Mutter und seinem großen Bruder schwimmen gehen. Ich überlegte fieberhaft, was ich tun sollte und dann kam mir die alles verändernde Idee...

Meine alleinstehende Nachbarin Heike, die quasi immer zu Hause war und meine Kinder über alles liebte, sollte mit Leon und Sven in den Wasserpark vorfahren. Und ein Auge auf die beiden haben, bis ich nach getaner Arbeit auch dort eintreffen würde. Ich erklärte meinen Jungs, was ich vorhatte und Leon war sofort einverstanden. Er mochte unsere Nachbarin gerne. Heike war natürlich sofort Feuer und Flamme, packte zügig ihre Schwimmsachen und stand knapp zehn Minuten später bei mir im Wohnzimmer. Gott sei Dank war es für Leon kein Problem, erst mal mit ihr Vorlieb zu nehmen, bis Mama in den Wasserpark nachkommen würde. Sven rümpfte die Nase, er war noch immer sauer auf mich. „Wehe, du kommst nicht spätestens in ein paar Stunden nach, Mutti. Dann rede ich kein Wort mehr dir mit, echt!“ drohte er mir und ich nickte lächelnd. Ich konnte ihn ja verstehen. „Jetzt macht aber, dass ihr los kommt,“ sagte ich mit Blick auf die Uhr und begleitete die drei zu Heikes Auto. Ich wartete, bis meine Jungs es sich bequem gemacht und angeschnallt hatten. Leon war total stolz darauf, dass er sich schon in seinem Kindersitz allein angurten konnte. Ich küsste ihn liebevoll auf die Wange, streichelte ihm über die dunklen Locken und dann sagte er leise: „Ich hab dich doch lieb, Mama. Bis nachher.“ Er hatte offenbar ein schlechtes Gewissen wegen seines Wutausbruches, doch das brauchte er gar nicht. Waren seine Gefühle doch nur all zu verständlich. Auch Sven streichelte ich übers Haar, wünschte ihnen viel Spaß und winkte ihnen nach, bis Heikes Auto aus meinem Sichtfeld verschwunden war... „Ich hab dich doch lieb, Mama. Bis nachher.“  Die liebevollen Worte meines Fünfjährigen klangen noch lange in mir nach und auch heute höre ich seine letzten Worte und seine einzigartig piepsige Stimme jeden Tag.

 

„Ich hab dich auch lieb, mein Schatz.“

 

Das war das letzte Mal, dass ich meinen kleinen Liebling lebend sah. Noch heute spüre ich diesen Kuss und seine weiche Wange auf meinen Lippen. Nicht im Traum hätte ich gedacht, dass dies der letzte sein würde. Ein Abschiedskuss für immer sein würde.

Warum? Warum nur hat das Schicksal ihn mir so früh genommen? Warum durfte er nur fünf kleine Jahre alt werden? Warum hat sich das Schicksal nicht mich geholt? Es ist so unfair...Dieser verdammte Samstag im August hat mein Leben für immer verändert. 

 

Ich ging zurück ins Haus, schnappte mir meine Sachen und sprang ins Auto. Kurz darauf saß ich bereits an meinem Schreibtisch im Büro. „Herr Müller, ich muss Ihnen etwas sagen.“ „Ja?“ knurrte der alte Herr durch seinen grauen Vollbart und sah mich mürrisch an. Er machte mir stets irgendwie Angst, aber mir war nach dem Erlebnis mit den Kindern klar geworden, dass ich etwas ändern musste. „Ab sofort werde ich an den Wochenenden nicht mehr arbeiten. Ihnen war bewusst, dass ich Kinder habe, als Sie mich eingestellt haben...“ legte ich vorsichtig nach und ging schon mal vorsorglich in Deckung. Er räusperte sich. „Nun, das war doch bisher auch kein Problem für Sie. Woher der plötzliche Sinneswandel?“ „Den Rest schaffst du auch noch. Los!“ machte ich mir selbst Mut. „Das kann ich Ihnen gern sagen. Ich musste heute zum wiederholten Male meine beiden Jungs enttäuschen und sie mit einer lieben Nachbarin in den Wasserpark schicken statt ihrer Mutter.

Bumm, die Bombe war geplatzt.

Es fühlte sich so gut an, es endlich ausgesprochen zu haben. Ich fühlte mich wie von einer Last befreit. Der alte Müller schob seine Brille zurecht und sah mich ernst an. „Nun gut, ich denke darüber nach. Aber jetzt erledigen Sie bitte schnellstens den Auftrag Sander.“ Er machte eine kurze Pause und dann entdeckte ich ein angedeutetes Lächeln auf seinem Gesicht. „Damit Sie zügig in den Wasserpark zu Ihren Kindern kommen.“ Damit verließ er mein Büro und ich war gleichermaßen erleichtert wie erstaunt. Nicht im Traum hätte ich mir vorgestellt, dass es so einfach werden würde. Und fragte mich, wieso ich das nicht schon viel früher getan hatte. In diesem Augenblick wusste ich noch nicht, dass es längst zu spät war. Zu spät für alles...

 

Das Schrillen meines Handys holte mich aus meiner Arbeit. Ein Blick aufs Display verriet mir, dass Sven mich anrief. Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Es war ausgemacht, dass er mich nur bei Vorliegen eines Notfalls auf der Arbeit anrufen dürfe. Mit klopfendem Herzen nahm ich ab. „Sven? Alles ok?“ Ein dunkle Stimme meldete sich mit einem Namen, den ich sofort wieder vergaß und bat mich, umgehend in das Franziskuskrankenhaus zu kommen. Ich fuhr hoch, alles in mir war plötzlich hellwach. Adrenalin schoss spürbar durch meine Adern.

„Warum?“, fragte ich laut. „Warum soll ich ins Krankenhaus kommen?“

Ich ahnte Schreckliches, wollte es aber nicht wahrhaben. „Was soll ich im Krankenhaus?“ wiederholte ich. „Beruhigen Sie sich bitte, Frau Lehmann“, hörte ich die dunkle Stimme sagen. „Wie soll ich mich beruhigen, wenn Sie mir nicht sagen, was los ist!“ Meine Stimme war nur noch ein hysterisches Gekreische. „Bitte kommen Sie einfach so schnell wie möglich her“, bat der Mann am anderen Ende. Mittlerweile stand auch Herr Müller in der Tür, alarmiert von meiner lauten Stimme und sah zu, wie ich meine Tasche nahm und meinen Arbeitsplatz verließ. „Was ist denn los, Frau Lehmann?“ rief er mir hinterher. Unfähig zu einer Antwort, hob ich nur abwehrend einen Arm und stieg ins Auto. Eine lange, quälende Viertelstunde später betrat ich wie durch ein Wunder unversehrt das Krankenhaus. Ich irrte durch die Flure, bis ein Polizist mich ansprach. „Frau Lehmann?“ Ich nickte angstvoll. Seine nächsten Worte hörte ich nur noch wie durch eine Nebelwand, um mich herum drehte sich plötzlich alles. Die Stimme des Uniformierten klang immer verzerrter, alles wirkte surreal und weit weg, bis plötzliche Stille herrschte.

Stille und Schwärze.

Ich war ohnmächtig geworden. Irgendwann schlug ich die Augen wieder auf und fand mich in einem weißen Bett liegend wieder. „Mama!“ Ich sah in die geröteten und ängstlich schauenden Augen meines Sohnes Sven. Er warf sich in meine Arme. „Gott sei Dank bist du nicht auch tot!“ heulte er los und schluchzte und hörte gar nicht mehr auf. Was hatte er gesagt? Auch tot? Wer war denn tot? Heike? Oh Gott, hatten sie etwa einen Unfall? Und wo war ich hier eigentlich? Ich löste mich von Sven und sah mich um. In der Ecke auf einem Stuhl saß zusammengekauert und leichenblass meine Nachbarin. Heike war also auch wohlauf. Plötzlich wurde ich stockstarr und innerlich eiskalt.

„Wo ist Leon?“ fragte ich mit erstickter Stimme. „Beruhigen Sie sich bitte, Frau Lehmann. Sie sind ja völlig verwirrt und vorhin sogar ohnmächtig geworden“, klärte mich ein Polizist auf, der mir irgendwie bekannt vorkam. Jedoch konnte ich ihn nicht einordnen. Daraufhin schluchzte Heike los und Sven umklammerte mich noch fester.

„Wo Leon ist will ich verdammt noch mal wissen!“ schrie ich. Meine Stimme hallte gespentisch in diesem Raum, in dem wir uns alle versammelt hatten. Alle außer meinem kleinen Schatz.

„Mama, er ist tot.“

Mein Herz setzte für einen langen Moment aus, um dann in einem immensen Tempo derart loszuhämmern, dass es mir wehtat in der Brust. "TOT" hallte es immer wieder in meinem Kopf. Meine Augen starrten Sven ungläubig an, mein Atem stockte und mir wurde schwindelig.

„Nein, das kann nicht sein“, flüsterte ich tonlos. „Ihr nehmt mich auf den Arm. Wo bist du, mein kleiner Liebling?“

Ich suchte das ganze Zimmer ab, aber von Leon war nichts zu sehen. Mein Hirn wehrte sich mit aller Kraft gegen diese Aussage. Nein!!! Ich schaute sogar unter dem Bett nach. Leon hat sich daheim immer so gern dort vor mir versteckt und sich dann mit seinem leisen Glucksen verraten. Doch natürlich fand ich ihn auch dort nicht. Erst jetzt nahm ich wahr, dass Sven einen Kopfverband trug und mehrere Läsionen im Gesicht hatte. Auch die Schulter schien lädiert. Heike trug eine Halskrause, wirkte aber ansonsten unversehrt. Sie sah mich schuldbewusst an. Dann erzählte sie, was passiert war. Heike und Sven saßen im Auto vorn, Leon hinten allein in seinem Kindersitz. Die Sonne blendete viele Autofahrer an dem 35 Grad heißen Tag. Keine Wolke hing am Himmel, dafür sattes Blau. Der rote Audi tauchte aus dem Nichts auf und knallte mit voller Wucht in die Seite, auf der Leon hinten in seinem Sitz schlief. Er war sofort tot. Hatte vermutlich nicht mal den Aufprall selbst mitbekommen. Ein schwacher Trost, aber der Gedanke, dass er nicht leiden musste, gab mir etwas Halt. Heike und Sven erlitten wie durch ein Wunder und Dank der Airbags nur mittelschwere Verletzungen.

„Und er hat wirklich nichts mitbekommen? Er hatte keine Schmerzen?“ Meine Fragen glichen eher einem Flehen. Der Mann in Uniform versichterte mir, dass mein Kleiner nach dem Aufprall sofort tot gewesen sein muss. Sven setzte sich wieder zu mir.

„Mama, Leon ist auf dem Weg zum Wasserpark eingeschlafen. Er hat nicht geweint oder geschrien. Wirklich Mama, es ging alle so schnell. Er hat nichts davon gemerkt“, versicherte er mir, während ihm die Tränen herunterliefen.

„Das mag sein, Sven“, sagte ich erst leise und dann lauter:„aber er ist tot. Tot! Verstehst du? Weg für immer. Und Ihr beide seid Schuld daran!

Die letzten Worte waren ein einziger Schrei, geformt von unendlichem Schmerz. Sven fing an zu weinen, aber ich schrie weiter. So lange, bis mir die Puste ausging und ich weindend zusammenbrach. Der Polizist betätigte die Schwesternklingel und schickte Sven raus, wollte ihm den Anblick seiner Mutter nicht länger zumuten. Doch mein Schmerz war in diesem Augenblick übermächtig. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich auch nur annähernd ähnliches verspürt. Mein Kopf war mit einem Mal wattig und leer und mein Herz tat so furchtbar weh. Die Schwester gab mir ein Beruhigungsmittel und verließ das Zimmer. „Warum bist du dem Auto nicht ausgewichen, Heike?“ fragte ich meine Nachbarin kraftlos. Das Zeug begann schnell zu wirken. „Das war nicht möglich, Mona. Er kam wie aus dem Nichts. Ich wünschte, ich hätte was tun können...“ Sie brach ab und in Tränen aus. Dann setzte die Wirkung der Spritze gänzlich ein und ich fiel in einen tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen war ich nur noch ein Schatten meiner selbst. Trotzdem bat ich die Schwester, mich zu meinem Sohn zu bringen um Abschied nehmen zu können.

„Ich halte das für keine gute Idee, Frau Lehmann. Sie sind sehr schwach und Ihr Sohn sieht nicht mehr so aus wie sie ihn kennen. Glauben Sie, dass sie die Kraft für so einen Anblick haben?“

Natürlich war mir bewusst, dass in diesem Kühlding nicht mehr der kleine Leon war, den ich kannte. Aber wie sonst sollte ich verinnerlichen, dass er wirklich und wahrhaftig tot war, wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde? Jeden verdammten Tag würde ich auf die Haustür starren und hoffen, dass er heim kommt. Ich musste ihn sehen und ihm Auf Wiedersehen sagen. Denn dass wir uns irgendwann wiedersehen, davon bin ich überzeugt.

„Ja. Btte bringen Sie mich zu meinem Sohn“, sagte ich entschlossen. Der Polizist war inzwischen auch wieder da und begleitete mich in die Pathologie. Der Moment, in dem das Leichentuch angehoben und ich Leons lebloses Gesicht erblickte, zog mir den Boden unter den Füßen weg. Seine Lippen waren nicht mehr rot wie eine Kirsche, sondern blassblau. Alles war weiß wie die Kacheln in diesem ebenfalls toten Raum. Und blau und ach ich weiß es nicht mehr. Seine Lider waren geschlossen und er sah ein wenig so aus, als schliefe er nur. Mir wurde schwindelig und der Polizist stützte mich, damit ich nicht falle. Ganz langsam bewegte ich meine Hand in Richtung seines Gesichtes und streichelte seine kühle Wange. Dann beugte ich mich runter zu ihm und gab ihm einen Kuss. Mein Liebling war so unendlich kalt. Die Wärme, die er gestern Vormittag noch ausstrahlte, war gänzlich aus seinem Körper gewichen...

„Ich liebe dich und werde es mein ganzes Leben lang tun“, flüsterte ich. Die Tränen, die über mein Gesicht liefen, tropften auf Leons dunkle Löckchen.

„Kommen Sie, Frau Lehmann, das reicht. Ich bringe Sie zurück auf Ihr Zimmer.“

Der Polizist wollte mich von meinem kleinen Liebling wegziehen, aber ich stand wie angewurzelt da und konnte mich keinen Meter bewegen. „Nein, ich möchte noch einen Moment bei ihm bleiben.“ Er nickte verständnisvoll. „In Ordnung, ich bin direkt vor der Tür, wenn Sie mich brauchen.“ Als ich mit meinem Sohn allein war, ließ ich meinen Gefühlen freien Lauf. „Es tut mir so leid, mein Schatz. Ich werde mir nie verzeihen, was passiert ist.“ Zärtlich strich ich die widerspenstige Locke aus seiner Stirn, die ihn immer ein wenig spitzbübisch aussehen ließ.

„Ich war nicht da, als du mich gebraucht hast. Wäre ich nicht zur Arbeit gefahren, würdest du jetzt noch leben. Warum nur? Warum du?“ 

 

Es war allein meine Schuld. Oder? Ich war Schuld am Tod meines Sohnes. Und Sven. Und Heike. Und vor allem der andere Autofahrer. Davon war ich lange Zeit überzeugt. Dass es eine Verkettung unglücklicher Zufälle war, wollte ich nicht akzeptieren. Es war einfacher, irgendjemandem die Schuld zu geben. Aber dies nachzuempfinden vermag nur jemand, der selbst schon ein Kind verloren hat.

 

„Das ist Vergangenheit, Frau Lehmann. Ich kann Ihnen nur dringend raten, mit Ihrem Sohn Sven zu reden“, legt mir mein Psychiater in unserer letzten Sitzung ans Herz. Es sind mittlerweile dreizehn Monate seit der Beerdigung vergangen und ich bin noch immer innerlich wie tot.

„Ich kann nicht, Dr. Fricke. Ich kann einfach nicht. Ich habe keine Worte für das, was ich getan habe und besonders für das, was ich Sven sagen möchte...“ Kleinlaut sitze ich meinem Psyhiater gegenüber und fühle mich schuldig. So schuldig, dass ich seinem Blick noch immer ausweiche. Meine Augen ruhen auf dem Teppich vor dem Kamin. Sein Muster beruhigt mich seltsamerweise.

„Sie müssen. Sonst ist es irgendwann zu spät und Sie verlieren auch Ihren anderen Sohn. Wollen Sie das?“

In diesem Moment platzt der sprichwörtliche Knoten, die unsichtbaren Ketten, die mein Herz gefangen gehalten haben, zerspringen. Die Vorstellung, ihn zu verlieren, gibt mir einen spürbaren Stich ins Herz. Ich liebe Sven doch über alles. Wie konnte ich das nur so lange verdrängen? Endlich sehe ich mein Gegenüber an.

„Schreiben Sie ihm einen Brief. Auch so kann man sich mitteilen, wenn man Worte nicht aussprechen kann.“

Mit diesem Rat beendet Dr. Fricke unsere letzte Sitzung und ich bedanke mich bei ihm. Endlich.

Endlich fühle ich wieder etwas anderes als Wut, Schmerz und Trauer. Zuversicht macht sich in mir breit und wärmt meinen Körper. Zuhause angekommen setze ich mich unverzüglich an meinen Schreibtisch, nehme mir Briefpapier und lasse den Stift für mich sprechen...

 

Mein lieber Sven,

da ich nicht die richtigen oder irgendwie noch keine Worte habe im Moment, folge ich dem Rat unseres Psychiaters und schreibe dir einen Brief. Ich schäme mich sehr. Dafür, dass ich so ungerecht dir gegenüber war und das tut mir von Herzen leid. Ich habe Dir eine Mitschuld am Tod vom kleinen Leon gegeben und das kann ich nie wieder gut machen. Doch jetzt ist es endlich auch zu mir durchgedrungen, dass niemand Schuld daran ist, sondern eine Verkettung unglücklicher Umstände zu diesem tragischen Unfall geführt haben. Du konntest ihm gar nicht helfen oder ihn beschützen, auch wenn wir beide uns genau das noch immer so sehr wünschen. Ich möchte Dich nicht auch verlieren, sondern im Gegenteil dir wieder näher sein. Diese innere Kälte hat mich zu einem anderen Menschen werden lassen. Ein Mensch, der nichts mehr gefühlt und niemanden mehr an sich ran gelassen hat. Das möchte ich gern ändern, weil ich Dich doch liebe! Und das von ganzem Herzen. Bitte verzeih Deiner dummen Mutter und gib uns eine Chance. Ich weiß, wir beide schaffen das. Gemeinsam können wir alles schaffen.

 

In Liebe, Deine Mutter

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.01.2015

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