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Alles nur Fassade


Lautstark und in einem Schwall schickte das Bahnhofs-WC meine zu Kotze gewordene Pein ins Nirwana der endlos weiten Abflussrohre. Ich wünschte manchmal, dass man auch seinen Seelenschmerz einfach runterspülen könnte. Doch Gefühle lassen sich nicht überlisten. Höchstens verarbeiten und damit musste ich dringend beginnen. Wenn es nicht längst schon zu spät war...
Ich schnappte mir zwei dieser grünen Papiertücher, die immer ein wenig zu rau waren und wischte meinen Mund ab. Danach zückte ich mein Schminktäschchen und zog meine Lippen nach. Ein roter, voller Mund machte sich gut in einem blassen Gesicht. Eine nicht unbeträchtliche Anzahl Männer schien da irgendwie drauf zu stehen. Also malte ich irgendwann nur mehr meine Lippen an und ließ mein Gesicht, wie es war. Schön, aber blass. Ähnlich einer Porzellanpuppe, aber so edel wie diese teuren, kleinen Damen war ich schon lange nicht mehr. Ich sah in den kaputten Spiegel des Bahnhofsklos. Der Sprung teilte mein schneeweißes Gesicht fast genau in der Mitte. Hübsche, aber traurige, blaue Augen sahen mir entgegen, darunter eine Stupsnase, die früher jeder niedlich fand und um die mich viele Mädchen beneideten. Mittlerweile hatte ich die Dreißig überschritten. Um genau zu sein, stand mein dreiunddreißigster Geburtstag bevor.
"Eine Schnapszahl!" dachte ich bitter und suchte in den unendlichen Weiten meiner Handtasche nach dem kleinen Flachmann, den ich für Notfälle immer dabei hatte. Zitternd drehte ich den Verschluss ab und nahm einen großen Schluck des beruhigenden Gesöffs zu mir. Das bittere Zeug wirkte sofort, zumindest bildete ich mir das ein. Ich zupfte meine Klamotten zurecht, trat vor die Tür und ließ das gekachelte Weiß, das mir Zuflucht für einen Moment bot, hinter mir. Ich sah auf die Graffiti, die das Bahnhofsklo von außen zierten. Sie waren schöner als das Gekritzel, welches man im Innern, insbesondere den Klohäuschenwänden, betrachten konnte.

"Träum nicht, ich will heute noch mal irgendwann nach Hause!"

Die Stimme meines Mannes holte mich in die Realität zurück, aus der ich so gern flüchtete. Seine azurblauen Augen, die ich früher einmal liebte, blitzten mich zornig an. Grob schnappte er nach meiner Hand und zog mich einfach hinter sich her.

"Wie viel Kohle hast du heute gemacht?"
Ich griff unter meinen Rock und befreite ein paar Hundert Euro aus meinen Netzstrümpfen. Stolz hielt ich Reiner das Bündel hart erarbeitetes Geld entgegen.
"Na, das hat sich heute ja ordentlich gelohnt!" Sichtlich erfreut ließ Reiner die Scheine durch seine gepflegten Finger gleiten, bevor er sie in seine Brusttasche steckte. Seufzend blickte ich dem Geld nach, das ich mir in den letzten Stunden verdient hatte. Was ich mir davon hätte alles kaufen können. Ein tolles Geburtstagsgeschenk zum Beispiel. Von Reiner hatte ich nichts zu erwarten an meinem Ehrentag. Ohnehin würde er den sowieso vergessen, wenn meine Eltern nicht zu Besuch kämen, sich den Bauch mit meinem selbstgebackenen Kuchen voll schlagen würden und wie immer auf Reiners falsche Art hereinfielen.

"Kind, was hast du für ein Glück mit deinem Mann!" schwärmte meine Mutter nach jedem Treffen. Langsam konnte ich es nicht mehr hören. Wenn die wüssten, was Reiner mit mir machte und das schon seit ein paar Jahren.
Aber ich ließ es ja zu, wehrte mich nicht.
Anfangs waren wir noch glücklich, doch irgendwann fing er an zu spielen und machte immer mehr Schulden. Dieses Dilemma brachte ihn schlussendlich auf den kranken Gedanken, seine Frau auf den Strich zu schicken. Geld musste her und einer seiner Saufkumpanen steckte ihm den Tipp mit dem Anschaffen. Den er auch stehenden Fußes befolgte und innerhalb weniger Wochen aus seiner eigenen Ehefrau eine Edelnutte machte.
Mein Vater, der Fels in meiner Brandung, mein Ein und Alles, war schwer herzkrank geworden und ihm hätte ich niemals die Wahrheit zumuten können. Er war der Grund, warum ich alles stillschweigend hinnahm. Ich liebte ihn über alles, war ein schreckliches Papakind, mein ganzes Leben lang. Damit erpresste mich Reiner, das war mein wunder Punkt. Ihm war nur zu gut bewusst, dass mein alter Herr so eine Nachricht nicht überleben würde. Damit hatte er mich jahrelang in der Hand. Ich tat, was er wollte und ich schwieg. Und mit der Zeit war ich eine perfekte Schauspielerin und mir völlig fremd geworden.
Doch dann kam alles anders.

Ein einziger Anruf veränderte alles.

Nichts war mehr wichtig.

Noch Monate später ließ das Klingeln meines Telefons mich aufschrecken. Meine Mutter überbrachte mir damals an diesem frühen Morgen um 05:17 Uhr die schlimmste Nachricht meines Lebens. In der Nacht musste der Notarzt kommen und noch auf dem Weg ins Krankenhaus verstarb mein Vater an einem Herzinfarkt. Die Ärzte hatten alles versucht, vergeblich. Eine Welt brach für mich zusammen, diese Nachricht zog mir den Boden unter den Füßen weg. Es war, als öffnete sich ein riesiges, schwarzes Loch unter mir. Ich drohte, ins Bodenlose zu fallen, endlos tief wurde ich nach unten gerissen. Ein unbeschreiblicher Schmerz hüllte mein Herz ein, hielt es fest im Griff. Meine Brust war wie zugeschnürt, ich konnte kaum atmen oder sprechen. Dieser Zustand hielt einige Wochen an, bevor ich endlich meine Sprache und meinen Überlebenswillen wiederfand. Bevor ich mich aus einer Art Starre löste. Dann schlich sich die Wahrheit über mein Leben und meinen Mann Stück für Stück ans Tageslicht.

Wie zu erwarten, glaubte mir niemand.
Ich hatte die Rolle der glücklichen Ehefrau offenbar so perfekt gespielt, dass niemand auch nur im Ansatz daran dachte, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte zwischen Reiner und mir. Meine Mutter blickte mich entsetzt und abschätzend zugleich an. Sie glaubte kein einziges Wort von dem, was endlich nach Jahren der Demütigung aus mir herausbrach. Ich befreite mich der unsichtbaren Ketten, die ich mir selbst auferlegt hatte und keiner glaubte mir. Mein Bekanntenkreis war taub auf dem Ohr, niemand konnte sich Reiner als Zuhälter oder Spieler vorstellen. Selbst meine beste Freundin Andrea war Reiners Charme erlegen. Er war ein verdammt guter Blender und Menschen glauben eben gern an das Gute. Zudem sah er gut aus und konnte sich hervorragend verkaufen. Das war sein Vorteil. Und diese Tatsache nutzte er schamlos aus.
"Komm Elena, erzähl mir doch nicht so einen Blödsinn!", war ihre erste Reaktion. "Dein Mann hat dich aufgrund seiner Schulden auf den Strich geschickt?"

Meine Freundin lachte ungläubig auf. Ich nickte stumm.
"Warum solltest du so etwas mitmachen?"
Beschämt senkte ich den Blick.
"Weil ich ihn damals noch geliebt habe und dummerweise glaubte, ich müsse ihm helfen. Aber seine Spielsucht hat uns immer weiter in den Ruin getrieben und irgendwann war auch meine Liebe erloschen."
Sprachlos schaute Andrea mich an. Dann schüttelte sie heftig ihren Kopf. Offensichtlich konnte sie nicht ertragen, dass ihr Bild, das sie von Reiner praktisch unantastbar in Stein gemeißelt hatte, kleine Risse bekam. Sie tippte sich hysterisch an die Stirn.
"Du spinnst doch! Warum hast du dann all die Jahre geschwiegen?"
Ich spürte bittere Tränen aufsteigen. Mein Herz wurde schwer.
"Wegen Paps, du weißt doch, wie sehr ich ihn geliebt habe."
Meine Stimme zitterte und war plötzlich dünn wie ein Nylonfaden. Jetzt kam meine beste Freundin zu mir und benahm sich auch wie eine solche. Liebevoll legte sie einen Arm um mich. "Ja, ich weiß", sagte sie tröstend und ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Meine unendliche Trauer tränkte ihre weiße Bluse. Nach ein paar Minuten setzte sie sich wieder mir gegenüber an den Küchentisch.

"Trotzdem kann ich nicht glauben, dass Reiner so ein Schwein sein soll."

Abermals tat sich der Boden unter mir auf und ich drohte, in den Abgrund zu stürzen.


Endlos, haltlos, einsam.


Warum nur glaubte sie mir nicht? Warum wollte sie sich unbedingt am Bild des perfekten Ehemannes klammern? Warum nur wollten alle Menschen um mich herum an diesem vermeintlich harmonischen Leben zwischen meinem Mann und mir mit aller Kraft festhalten? Ich suchte Andreas Blick und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Das war es! Sie liebte ihn! Hatten die beiden vielleicht sogar ein Verhältnis miteinander? Bei dem Gedanken stellte sich unwillkürlich ein Würgereiz ein. Eindringlich sah ich sie an.
"Andrea?" Sie blickte mich erwartungsvoll wie ein kleines Kind an.
"Kann es sein, dass du Gefühle für Reiner hegst oder sogar ein Verhältnis mit ihm hast?"
Pures Entsetzen spiegelte sich in ihren Augen wider. Jedenfalls für einen Moment.
"Um Gottes Willen, Elena! Nein! Natürlich nicht!"
Ich konnte das nicht glauben. Nicht nach ihrer Reaktion.
"Warum bestürzt dich dann all das, was ich dir erzählt habe, so sehr? Tut mir leid, Andrea, aber das ist keine normale Reaktion. Ich dachte, du bist meine beste Freundin und nicht Reiners."
Sie schluckte schwer.

"Du hast Recht, Elena. Ich liebe Reiner, schon immer. Und ich habe vor Jahren einmal mit ihm geschlafen, es war eine einmalige Sache."
Ihre Beichte traf mich mitten ins Herz. Nicht aber, weil sie mit meinem Mann geschlafen hatte. Nein, das war mir egal. Dass sie in der Lage war, mich so zu hintergehen, das war es, was mich fassungslos machte. Dass sie nicht mit mir über ihre Gefühle und über das, was sie beschäftigte, gesprochen hatte. Dass sie es nicht einmal versucht hatte. Niemals. In all den ganzen Jahren.
Aber ich brauchte sie jetzt, wollte meine Enttäuschung nicht die Oberhand gewinnen lassen. Alle hatten sich nach meiner Offenbarung von mir abgewandt. Es kostete mich unendlich viel Überwindung, mich vom Stuhl zu erheben, auf sie zuzugehen und meinen Arm um sie zu legen. Jetzt tröstete ich sie, obwohl es doch anders herum sein sollte. Andrea erhob sich ebenfalls und dann weinten wir zusammen. Lagen uns in den Armen, wie zwei Kinder und ließen den Tränen freien Lauf...

"Es tut mir so leid, Elena. Es tut mir so leid", brach es immer wieder aus ihr heraus. Ich spürte, dass sie es ehrlich meinte und konnte ihr in diesem Moment verzeihen. Das überraschte mich selbst, aber ich war froh, sie zu haben.
Mit ihr an meiner Seite reichte ich die Scheidung ein und befreite mich aus den Fängen Reiners. Es wurde eine Härtefallscheidung und schon bald bewohnte ich eine eigene, kleine Wohnung in einem anderen Stadtteil. Als Andrea einen netten Mann kennenlernte, freute ich mich unglaublich für sie. Reiner war endlich Vergangenheit, für uns beide.
Ich war noch nicht bereit für einen neuen Mann. Aber die Therapie, die ich begonnen hatte, tat mir unheimlich gut. Meine Therapeutin war ein echter Profi und hatte besonders eines allen anderen voraus: Sie glaubte mir ohne Vorbehalte. Und mit ihrer Hilfe fand ich nicht nur wieder in ein gutes Leben zurück, sondern lebte endlich mein eigenes. Auch der Flachmann mit den Beruhigungstropfen für den Notfall gehörte bald der Vergangenheit an. Ich brauchte dieses Zeug nicht mehr, um mein Leben zu ertragen. Im Gegenteil:
Ich fing an, es zu genießen.

Impressum

Texte: Reggi67
Bildmaterialien: google.de
Tag der Veröffentlichung: 05.03.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag für die finale Runde im Kurzgeschichten-Turnier

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