Ich hatte es geschafft! Kaum zu glauben, dass ich die Japaner mit meinem - zugegebenermaßen sehr riskanten - Konzept überzeugen konnte. Die gesamte Chefetage stand dem anfangs höchst skeptisch gegenüber. Aber nach der Präsentation hatte ich alle auf meiner Seite und sogar ein anerkennendes Lächeln vom begehrtesten Junggesellen der gesamten Firma ergattert. Darum würden mich alle Kolleginnen noch nach vielen Jahren beneiden. Er ist ein absoluter Traummann. Dunkle Locken, stahlblaue Augen, muskulöser Körper und ein umwerfendes Lachen, welches zwei Reihen schneeweißer Zähne offenbarte. Doch Joe lachte eher wenig und in seinen wunderschönen Augen lag oft ein trauriger Ausdruck. Warum wohl? Das hatte ich mich schon einige Male gefragt. Nachdenklich stieg ich in einen unserer geräumigen Fahrstühle, ließ die schicke Aktentasche seufzend zu Boden gleiten und drückte auf den Knopf mit dem roten E. Ich befand mich im zwölften Stockwerk unseres Gebäudes und als ich registrierte, dass der Aufzug völlig menschenleer war, breitete sich ein wenig Unwohlsein in mir aus. Ich war noch nie ein Freund dieses elektronischen Fahrwerks, aber die vielen Treppen hinunter laufen wollte ich auch nicht unbedingt. Vielmehr wollte ich schnell nach Hause und meinen Erfolg feiern. Meine Augen suchten das Innere des viereckigen Gefährts ab, doch ich blieb allein. Allein mit meinem Spiegelbild, das mir von gegenüber einen unsicheren Blick zuwarf. Ich schüttelte meinen Kopf und zupfte meine Kleidung zurecht. Der Aufzug setzte sich mit einem Ruck in Gang und fuhr nach unten. Erleichtert atmete ich auf und lehnte mich gegen die silberfarbene Aluminiumwand hinter mir. Die digitale Anzeigentafel verriet mir in roten Lettern, dass ich gleich in der sechsten Etage ankommen würde.
"Dann ist die Hälfte schon mal geschafft", dachte ich und schloss meine Augen.
Dann passierte es. Ein erneuter Ruck und der Fahrstuhl kam zum Stehen. Genau wie mein Herz. Zumindest fühlte es sich so an. Es dauerte einen Moment, bis es wieder normal weiterschlug und ich realisierte, dass ich offenbar irgendwo zwischen der sechsten und siebten Etage fest hing. Das konnte doch nicht wahr sein.
Ein Anflug von Angst drohte mir die Sinne zu vernebeln. Panisch drückte ich sämtliche Knöpfe, die mir zur Verfügung standen. Doch es geschah nichts. Nichts rührte sich mehr. Nichts bewegte sich.
"Hör damit auf. Diese verdammten Knöpfe zu drücken, bringt doch nichts. Du musst ruhig und besonnen handeln, Anett!" mahnte die Frau in dem Spiegel. Oder war es nur meine innere Stimme, die mich zu beruhigen versuchte? Das Licht fing an zu flackern, was nichts Gutes verhieß. Sofort schickte ich ein Stoßgebet gen Himmel, dass er mir wenigstens die Beleuchtung in meinem Gefängnis auf Zeit erhalten möge. Resigniert ließ ich mich auf dem weichen Boden nieder. Mein Arbeitgeber hatte sich nie lumpen lassen, immer nur das Beste. Sogar die Aufzüge sind mit sündhaft teurem Teppichboden ausgelegt. Doch was nutzte mir das jetzt? Abgesehen von einer weichen Sitzgelegenheit gar nichts. Ich sah in das flackernde Licht über mir und überlegte. Suchte nach einer Lösung. Dann fing ich an, laut um Hilfe zu rufen, obwohl ich mir relativ sicher war, dass man mich zwischen all diesem Beton nicht hören würde. Irgendwann ging mir nicht nur die Puste aus, sondern auch meine Stimme versagte. Plötzlich hörte ich ein mir bekanntes Geräusch. Es kam aus meiner Tasche. Mein Handy verriet mir durch den Ton, dass ich eine Nachricht erhalten hatte. Zitternd fingerte ich es aus den unendlichen Tiefen meiner kleinen, schwarzen Ledertasche.
Im Display leuchtete eine fremde Nummer auf. Den Text las ich trotzdem: "Respekt, Anett. Wie Sie die Japaner um den Finger gewickelt haben, war wirklich großartig! Anerkennende Grüße von dem Dunklen links gegenüber." Fieberhaft dachte ich nach, von wem diese SMS hätte sein können. Mein Herz schlug wie ein Presslufthammer und ich konnte mich kaum richtig erinnern. Natürlich!
Joe!
Der höchst attraktive Joe saß bei dem Meeting auf der linken Seite mir gegenüber. Er hatte mir diese Nachricht gesendet? Wie war er an meine Nummer gekommen? Egal, ich drückte auf Rückruf und wartete, bis das erlösende Freizeichen an meinem Ohr ertönte. Warum mir mein Mobiltelefon nicht früher eingefallen war, kann ich mir bis heute nicht erklären. Und dann kroch diese angenehme, dunkle Stimme in meine Ohrmuscheln und ich bekam eine Gänsehaut. Doch schon bald wurde ich unsanft wieder in die Realität zurückgeholt, da das Licht nun endgültig, nach einem letzten Aufflackern, seinen Geist aufgab.
Der Presslufthammer in meiner Brust setzte erneut ein. In meinem ganzen Körper spürte ich das Rasen meines Herzens, es rauschte in meinem Kopf und pochte in meinen Ohren.
Ich litt unter Klaustrophobie und saß gnadenlos in der Falle.
"Anett? Was ist mit dir? Hey, Anett?" hörte ich Joe wie durch eine dichte Nebelwand rufen.
"Joe", sagte ich atemlos in die Dunkelheit, "ich sitze im Fahrstuhl unserer Firma fest." Jetzt hatte ich nur noch Joe, nichts außer ihm an meinem Ohr. Ich konnte nichts sehen, einzig seine Stimme hielt mich noch davon ab, wahnsinnig zu werden. Meine ganze Hoffnung setzte ich in diese Verbindung mit einem eigentlich fremden Menschen. Denn obwohl wir schon seit einigen Jahren Arbeitskollegen waren, wusste ich so gut wie nichts von ihm. Doch genau jetzt - in diesem Moment - war er die wichtigste Verbindung in meinem Leben.
Meine Stimme zitterte genauso wie mein Körper. Alles in mir klapperte hörbar. Egal! Verdammt noch mal, ich wollte nur noch raus aus diesem dunklen Monsterding. Es schien seine unsichtbaren Fangarme nach mir auszustrecken, um mich an sich zu reißen und zu verschlingen.
"Bleib ganz ruhig, Anett. Ich werde dich da rausholen. Hast du schon den Notschalter betätigt?"
"Bestimmt schon zwanzig Mal, aber es hilft leider nicht", erklärte ich mit erstickter Stimme.
Doch Joe antwortete nicht mehr, es knackte und rauschte in der Leitung, bis sie endgültig abbrach. Leise schluchzte ich vor mich hin, bald wurden meine Lider schwer und ich sank zu Boden.
Das laute Schrillen meines Handys ließ mich ruckartig nach oben schießen.
"Hallo" hauchte ich in das Mikrofon meines Smartphone.
"Du hast nicht mehr viel Zeit, Anettchen", sagte eine seltsam verzerrte Stimme, die ich nicht zuordnen konnte, "fühlst du dich wohl in deinem unfreiwilligen Gefängnis?"
"Wer spricht da?" fragte ich panisch.
Trieb da jemand ein krankes Spiel mit mir? Was sollte das? Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte und erneut einem Presslufthammer glich.
"Nur keine Panik, meine Liebe", hörte ich die Stimme wieder, "bald hast du es hinter dir. Es dauert nicht mehr lange..."
Stille, unerträgliche Stille umfing mich.
"Du wirst gleich Gesellschaft bekommen, Anettchen."
Gesellschaft? Mein Kopf fühlte sich seltsam leer an, mein Brustkorb wie zugeschnürt.
Was für Gesellschaft? Die Gedanken fuhren Achterbahn durch meine Hirnwindungen.
Was sollte das bedeuten?
"Du wirst sie weder sehen noch hören."
"Sie?" fragte ich, fast ein wenig hoffnungsvoll.
"Die Gesellschaft, du Dummerchen!"
"Tödliche Gesellschaft, um genau zu sein, meine Liebe."
Ich ließ vor Schreck das Handy fallen, fühlte meine Hände, meine Arme und Beine nicht mehr. Alles war taub, wie gelähmt. Mein Atem stockte entweder oder ging stoßweise. Fühlte meinen Kopf nicht mehr, als säße ein Vakuum auf meinem Hals.
Was war hier los? Was geschah mit mir? In meinen Ohren rauschte und pochte es. So stark wie in diesem Moment, war der Drang aus dem verhassten Gefängnis zu entkommen, die ganze Zeit über nicht.
Nein, er war gefühlt tausend mal so stark wie jemals zuvor in meinem ganzen Leben.
"Du hast nur noch 30 Sekunden!"
Da war sie wieder, diese verdammte Stimme! Was hatte sie gesagt?
30 Sekunden? 30 Sekunden bis was? Was ist in 30 Sekunden anders als vorher?
"Was passiert nach diesen verdammten 30 Sekunden?" Meine Stimme klang hysterisch, panisch und verzweifelt zugleich.
"Nun dauert es keine 30 Sekunden mehr, bis du uns auf tragische Weise verlassen wirst, Anettchen."
"Geruchslos, Beweislos und wir sind endlich Anettlos", tönte die Stimme hämisch und ihr Lachen erinnerte mich plötzlich an jemanden.
Darüber nachdenken konnte ich nicht mehr, mein Hals fühlte sich an, als hätte ich einen Ball verschluckt, mein Brustkorb wie gepresst und die Luft wurde zunehmend knapper. Doch diesmal lag es nicht an der Panik. Ich wusste, mein letztes Stündlein hatte geschlagen, bzw. Sekündlein.
Gerade, als ich mich meinem Schicksal ergeben wollte, öffnete sich geräusch- und kraftvoll der Aufzug und das hereinfallende Licht blendete mich. Es dauerte eine Zeit, bis ich realisierte, dass Joe und einige Einsatzkräfte mich befreit hatten. Völlig entkräftet sank ich in seine Arme und er hielt mich...
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2013
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Widmung:
Beitrag für das Kurzgeschichtenturnier 2012/2013