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Marie war mehr als aufgebracht und rutschte auf ihrem Stuhl hin und her.
"Aber ich bin zu alt dafür!"
Der Mann, der ihr gegenüber hinter seinem schwarzen Schreibtisch verweilte, legte die Stirn in Falten.
"Zu alt? So ein Unsinn! Sie sind eine Frau in den besten Jahren."
Marie wollte protestieren, doch dann senkte sie den Kopf und schluchzte leise. Ihre zitternden Hände lagen gefaltet in ihrem Schoß. Sie konnte und wollte nicht glauben, was ihr da passiert war.
"Was ist denn so schlimm am Wunder des Lebens, Frau Zimmermann? Möchten Sie denn gar keine Kinder? Mit Anfang Dreißig hat eine Frau die nötige Ruhe und Kraft dazu, die vielen jungen Müttern fehlt", versuchte er sie zu überzeugen. Doch seine Worte sausten ungehört durch ihre Ohren und verpufften in dem recht großen Raum.
"Ich muss jetzt gehen", flüsterte Marie und erhob sich schwerfällig von dem ebenfalls schwarzen Ledersessel, der von der Farbe her zu ihrer Stimmung passte.
"Aber in einer Woche möchte ich Sie wiedersehen. Wir müssen noch die Blutuntersuchung durchführen und den Mutterpass anfertigen."
Doch sie war längst zur Tür hinaus und atmete befreit auf. Im Innern der Praxis hatte sie sich plötzlich wie eingesperrt gefühlt, hier draußen sog sie die Freiheit tief in ihre Lungen.
Ziellos schlenderte sie durch die Einkaufspassage, bis sie sich in einem hübschen, kleinen Cafe niederließ um dort eine heiße Schokolade zu genießen. Gedankenverloren malte sie mit dem silbernen Löffel kleine Kreise in die Sahne, die ihr Getränk zierte. Allmählich schmolz das süße Weiß dahin und ertrank immer mehr in dem Kakao. In Maries Brust schmerzte es plötzlich, die Erinnerungen an jenen Tag holten sie ein.
Ihr täglicher Weg zur Arbeitsstelle führte sie durch ein verlassenes Waldstück. Nie im Leben hätte sie damit gerechnet, dass jemand ihr etwas Böses wollen würde. Nie, niemals...sie glaubte stets an das Gute in jedem Menschen, doch nun wurde ihr gnadenlos vor Augen geführt, wie naiv sie gewesen war. Nun war es passiert, nun war nichts mehr wie vorher.
Jetzt stand sie da. Mit diesem kleinen Lebewesen in ihrem Bauch, das zwar nichts für sein Entstehen konnte, aber nun mal nicht von Marie erwünscht war.
Und dann sollte es auch noch ausgerechnet an Heilig Abend zur Welt kommen.
An Weihnachten?
"Du hast es auf mich abgesehen, oder?" fragte Marie spöttisch und schaute nach oben, als würde von dort Gott persönlich auf sie herunter schauen und tatsächlich mit ihr plaudern.
Die junge Frau war von Kindesbeinen an immer sehr gläubig gewesen. Nicht nur ihrer Erziehung wegen, sondern weil Marie es schon sehr früh in sich gespürt hatte. Diese intensive Verbindung zu Gott. Viele machten sich deshalb über sie lustig, aber das war ihr egal. Die wenigen Freunde, die sie hatte, akzeptierten Marie und ihren Glauben.
Sie legte passend Geld auf den Tisch und verließ das Cafe.
Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug und eines Tages hielt Marie das erste 3D Ultraschallbild ihres Sohnes in den Händen. Zitternd betrachtete sie es. Bildete sie sich das nur ein oder leuchtete ihr tatsächlich vom Köpfchen ihres Ungeborenen ein Heiligenschein entgegen? Das konnte nur Einbildung sein. Oder eine Fatamorgana. Oder einfach nur eine simple Sinnestäuschung. Denn das war unmöglich, einen Jesus gab es schon und sie war nicht die Jungfrau Maria. Doch das intensive Betrachten des Bildes ließ eine ungekannte Wärme in ihr entstehen. Sie schaffte es, den Schmerz zu verdrängen, ihn sogar fast auszulöschen. Dieses Kind mit dem leuchtenden Ring um sein kleines Köpfchen nahm Marie förmlich in seinen Bann. Ein Hauch von Magie lag in der Luft, dem sie sich nur schwer entziehen konnte. Eines war klar: ein aussagekräftigeres, klareres und schöneres Ultraschallbild hatte Marie in ihrem bisherigen Leben noch nicht gesehen. Und davon hatte sie schon einige betrachten dürfen, von ihren Freundinnen, die bereits Mutter geworden waren. Aber kein einziges trug diesen einzigartigen, goldschimmernden Heiligenschein. Was hatte das alles zu bedeuten? Marie wusste darauf genau so wenig eine Antwort, wie ihr langjähriger Freund Johannes, dem sie als einzigem Menschen von ihrem Erlebnis im Waldstück berichtet hatte. Er kannte die Wahrheit über die Entstehung ihres ungeborenen Kindes. War ihr einziger Verbündeter in ihrer höchsten Not gewesen. Ausnahmslos harrte er aus an ihrer Seite, hörte sie an, trocknete ihre Tränen, die kaum zu bändigen waren. Sie flossen wie ein Wasserfall, über Wochen hinweg. Johannes ertrug alles geduldig, ließ Marie nicht allein. Auf ihn war Verlass und allein er und seine tiefe Liebe waren der Grund, sich für dieses Kind zu entscheiden. Für dieses Kind, das aus einer Vergewaltigung entstanden war und das Marie vehement ablehnte. Alles in ihr sträubte sich gegen die Vorstellung, es auf diese Welt zu bringen. Sie wollte durch es nicht immer wieder an dieses Erlebnis erinnert werden. Erst Johannes konnte ihr näher bringen, dass der Kleine nichts für seine Entstehung konnte und dafür nicht mit dem Tod bestraft werden sollte. Nicht für die Tat seines Erzeugers büßen dürfe und auch ein Recht auf Leben hatte. Irgendwann war Marie bereit.
Bereit, dieses Kind als das anzunehmen, was es ist. Das größte Wunder auf Erden.
Und ihr Kind war heilig.
Was sonst sollte der helle Schein bedeuten, der ihr bei jedem Betrachten entgegen leuchtete? Was wollte er ihr damit sagen? Eine Abtreibung wäre für Marie als überzeugte Christin ohnehin nicht in Frage gekommen. Jedoch die Gefühle für das Ungeborene waren negativ, sie konnte es lange Zeit nicht lieben. Johannes hatte ihr Herz für das Kleine öffnen können. Auch er betrachtete versonnen das Ultraschallbild und strich zärtlich mit dem Finger über das Köpfchen.

Unaufhörlich fiel die weiße Pracht vom Himmel und bedeckte Wiesen, Straßen und Autos.
Marie sah an sich herunter, ihr Bauch hatte stark an Umfang zugenommen. Sie war bereits im neunten Monat. Es war nicht mehr lange hin bis Weihnachten. Das kleine Städtchen, in dem sie mit Johannes lebte, war schon lange auf das Fest der Liebe vorbereitet. Dekorierte Fenster, geschmückte Geschäfte und auch der typische Duft lag in der Luft. Der Zauber dieses Festes hatte sich mit aller Macht über die kleine Stadt gelegt und sie eingehüllt. So stark wie nie zuvor fühlte Marie es. So stark wie nie zuvor spürte sie ihre Verbindung zu Gott. Sie wusste, dass er sie und das Ungeborene retten wollte. Zärtlich streichelte sie über ihren Bauch. Sie wusste, es würde nicht mehr lange dauern. An Heilig Abend würde es so weit sein, da war sie ganz sicher. Sie trug ein gesegnetes Kind unter ihrem Herzen.

Impressum

Texte: Reggi67
Bildmaterialien: google
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag zur zweiten Runde im Kurzgeschichten-Turnier 2012

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