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Honigsonne

"So ein Herbstspaziergang ist doch etwas wunderschönes."
Dominik konnte seiner Freundin nur Recht geben. Der goldgetränkte Weg, inmitten saftiger Wiesen, breitete sich so einladend vor ihnen aus, dass sie gar nicht anders konnten, als ihn zu beschreiten. Die Farbenvielfalt dieser Jahreszeit zog sie magisch an. Die Bäume am Rande des Weges glitzerten wie Honig in der Spätsonne.

"Ich habe plötzlich Lust auf ein Honigbrot bekommen", lachte Lorena spitzbübisch und leckte sich die vollen Lippen.
"Hmmmm", seufzte Dominik, "würde es ein süßer Kuss vorerst auch tun?"

Bei diesen Worten kam er ganz nah an Lorena heran.
"Bis wir den Platz für unser Picknick erreichen, dauert es nämlich noch eine Weile", flüsterte er liebevoll und küsste ihre roten Lippen. Nun war es Lorena, die verzückt seufzte und sich bereitwillig in die Arme ihres Freundes sinken ließ. Mitten auf dem Weg standen sie engumschlungen da und küssten sich innig. Die Sonne strahlte hinter ihren Silhouetten verführerisch und wärmte ihre Körper. Gänsehaut überzog den von Lorena, wie immer, wenn sie ihrem Freund so nahe war. Wohlig lehnte sie sich an seine Schulter, sog seinen herben Duft ein und schloss die Augen. Eine Weile noch genossen sie den Moment, bevor sie weiter dem goldschimmernden Horizont entgegen spazierten. Hand in Hand schlenderten sie weiter, bis sie an eine Weggabelung kamen.
"Gleich ist es soweit, mein Schatz, gleich sind wir da. Aber du musst mir jetzt vertrauen und dir von mir die Augen verbinden lassen."

Dominiks Stimme klang verheißungsvoll, dennoch verkrampfte sich Lorenas Körper unwillkürlich. Vertrauen, das sagte sich so leicht. Ihrem Freund war bewusst, dass Lorena seit ihrer Kindheit ein Problem hatte, anderen Menschen Vertrauen zu schenken. Ein einziges, aber schwerwiegendes und tiefgreifendes Erlebnis hatte ausgereicht, um für lange Jahre ihre Seele sterben zu lassen. Dennoch ließ sie sich zitternd von ihrem Freund das Augenlicht - zumindest zeitweise - nehmen.
"Keine Angst, ich will dir nur eine wunderschöne Überraschung bereiten, die du aber erst sehen sollst, wenn sie ganz und gar hergerichtet ist", erklärte Dominik ruhig und sanft. Lorena entspannte sich zunehmend und auch ihr Herz pochte nicht mehr so stark. Die anfängliche Angst wich einer wachsenden Neugier. Es dauerte einige Minuten, bis Dominik ihre Augen wieder frei gab. Als sie sich wieder an das Licht gewöhnt hatte, war das erste, das sie sah, ein Strohpuppenbrautpaar. Verzückt lächelte sie es an. Die beiden Puppen sahen so niedlich aus mit dem weißen Hochzeitskleid und dem schwarzen Anzug. Wie ein echtes Brautpaar. Nur eben aus Stroh. Dann blickte sie hinter die Frischvermählten und entdeckte das eigentliche Highlight. Ein vielfältiges, großes und farbenfrohes Picknick. Liebevoll zubereitet auf einer hübschen Decke. Verziert mit Kerzen, die unter Glaskuppeln - geschützt vor dem Wind - friedlich vor sich hin flackerten. Tränen der Rührung verschleierten Lorenas Blick. Verstohlen wischte sie das salzige Nass, das sich nun langsam den Weg über ihre Wangen suchte, aus dem Gesicht. Erneut streifte ihr Blick das Brautpaar aus Stroh. Behutsam ging sie näher heran, doch Dominik unterbrach ihre Handlung, indem er ihr zärtlich über das Gesicht strich und dann eine herrlich saftige Traube zwischen ihre Lippen gleiten ließ. Lorena lächelte ihn verliebt an und ließ sich nur zu gern von ihm weiter füttern. Der Traube folgten weitere kleine Obststückchen, Erdbeeren mit Sahne und viele andere Köstlichkeiten. Den Abschluss bildete ein herzhaftes Brot - bestrichen mit süßem, goldenen Honig - das sich genussvoll auf ihrer Zunge verteilte. Sie liebte den Geschmack von Honig, schon seit ihrer Kindheit. Er vermittelte ihr ein Gefühl von Geborgen- und Sicherheit. Wenn sie traurig war, legte der Honig sich wie ein wohltuender und schützender Mantel auf ihre Seele. Leider auch auf ihre Hüften, weshalb sie als Teenie gemobbt wurde. Doch irgendwann widerstand sie der süßen Versuchung, verlor an Gewicht und entwickelte sich zu einer schönen, jungen Dame. Ihrem Selbstbewusstsein hatte diese Veränderung enorm gut getan. 

Und dann traf sie Dominik, der nach und nach mit seiner sanften, offenen und ehrlichen Art ihr Herz eroberte. Wieder glitt ihr Blick zum Strohpärchen. Da war irgendetwas, das ihren Blick einfing. Es glänzte in der späten Herbstsonne und zog ihre Augen magisch an. Neugier hatte sie gepackt, langsam erhob sie sich von der flauschig weichen Decke und kniete nun vor den Vermählten aus Stroh. Als sie sich zur Braut vorbeugte, erkannte sie einen Ring, dessen Schönheit ihr den Atem raubte. Sein Gold glänzte wie Honig in den Strohhaaren der weiblichen Puppe. Versonnen lächelte Dominik seine Freundin an, von der er hoffte, dass sie demnächst seine Frau sein würde. Er liebte sie mit jeder Faser seines Körpers, jeder Herzschlag galt einzig und allein ihr, er sah andere Frauen nicht einmal mehr an. Er sah nur sie. Seit zwei Jahren sah er nur sie. War noch genauso verliebt wie am ersten Tag. Sie musste...konnte nur die Richtige sein. Nicht mal annähernd hatte er solche Gefühle jemals erleben dürfen. Lorena war die Frau, die ihm fehlte. Sie war sein Gegenstück, sein Yang, seine Erfüllung. Ihr ging es ebenso. Lorenas Herz klopfte ihr bis zum Hals, während er ihr die Frage aller Fragen stellte und den Ring ansteckte. Sie nickte einfach nur stumm, kein Wort verließ ihre Lippen. Eine Gemisch aus Rührung und unglaublichen Gefühlen machten sie schier sprachlos und so fiel sie Dominik einfach um den Hals und nickte immer und immer wieder. Es war der 21. Oktober 2012 und sie würde diesen Tag und das Strohpuppenbrautpaar nie wieder in ihrem ganzen Leben vergessen.

Es ziert nun den Garten von Lorena und Dominik. Später werden ihre Kinder und Enkelkinder noch davon erzählen können...

Impressum

Texte: Reggi67
Bildmaterialien: google
Tag der Veröffentlichung: 22.11.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für den Kurzgeschichtenwettbewerb im November 2012

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