Cover

Das Feld der Toten



"Nein, nein und nochmals nein! Ich mache nicht mit bei eurem idiotischen Plan!"
Lisa tippt sich vielsagend an die Stirn und schaut ihre Freunde an, als kämen sie vom Mars höchstpersönlich.
"Na gut, dann machst du eben nicht mit, du kleine Memme!" plustert sich Marlon auf.
"Och nö, als einziges Mädchen möchte ich nun auch nicht mitgehen!" Moni schaut Lisa flehentlich an. Doch diese lässt sich nicht erweichen.
"Nein, bei so einem Scheiß mache ich nicht mit!"
Nun mischt sich Marian ein, der heimlich in Lisa verliebt ist. Er setzt seinen eingeübten, treuen Hundeblick auf und tätschelt ihren Arm. Eine leichte Schamesröte zieht über ihr hübsches Gesicht. Lisa mag den 16jährigen Hobbykicker, ist aber viel zu schüchtern, es ihm zu gestehen.

"Liebespaar! Küsst euch mal! Auf den Arsch, das macht Spaß!" singen nun Sven und Marlon im Chor. Moni rammt unliebsam ihre Ellbogen in die Rippen der Jungs.
"Hört auf, euch wie kleine Kinder zu benehmen. Das ist total peinlich."
Doch Marlon und Sven lachen sie nur aus.
"Bor, wie die kleinen Kinder", sagen nun Lisa und Moni im Chor. Dann lachen alle zusammen und verabreden sich für den nächsten Tag Punkt 19 Uhr vor dem alten Bunker.
Von dort aus hat man den besten Blick auf den Friedhof, denn dieser ist das Ziel der Clique am nächsten Abend, dem 31. Oktober 2012.

Endlich ist es soweit. Halloween. Die nahegelegene Turmuhr schlägt bedeutungsvoll und bedrohend sieben Mal, während die Teenies nacheinander im alten Bunker eintrudeln.
Nachdem wieder Stille eingekehrt ist, hört man nur mehr den Wind rauschen und das Herbstlaub gespenstisch rascheln, wenn es wie von Geisterhand über den Asphalt getragen wird. Vielleicht sind es tatsächlich kleine, unsichtbare Geister, die zwischen den Blättern umherschleichen und den Boden kitzeln. Ein lautes Geräusch lässt die kleine Gruppe plötzlich zusammen zucken.
Lisa entfährt sogar ein leiser Schrei, woraufhin Marian sofort beschützend seinen Arm um sie legt. Nochmals ertönt das laute Knacken. Kurz darauf lacht jemand. Sven! Er tritt auf herumliegende Äste, die der letzte Sturm von den Bäumen auf die Bürgersteige gefegt hat.

"Du Blödmann!" Schon wieder bekommt Sven den harten Ellbogen von Moni zu spüren.
"Das wird langsam zur Gewohnheit!" lacht Marlon und zeigt auf Sven, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Seite hält.
"Tz, Weichei!" meint Moni nur unbekümmert. Und wieder stimmen alle in fröhliches Gelächter ein, welches aber schnell verstummt, als sie am Feld der Toten ankommen. Ihr weiterer Weg führt Moni, Lisa, Marlon, Marian und Sven nun direkt über ein völlig dunkles, Häuserloses und leblos wirkendes Wiesenstück. Keine Menschenseele weit und breit zu sehen. So weit das Auge reicht, ist nichts außer Feld und Dunkelheit. Um direkt zum Friedhof zu gelangen, müssen die fünf Freunde das riesige Feld überqueren, da der Hintereingang, der immer offen ist, an diesem grenzt.
"Ich will da nicht rein..." flüstert Lisa und ihre Stimme zittert leicht.

Dieser Friedhof ist etwas Besonderes. Er ist als einziger überdacht, mit einer riesigen Glaskuppel, durch die man in einer klaren Nacht die Sterne sehen kann. Nostalgische Laternen beleuchten den Ort der letzten Ruhe nur ganz sanft. Weiches Licht umspielt die bunt bepflanzten Gräber. Und manchmal spielt der Wind den Toten ein Ruhelied. Vielleicht steht deshalb auf dem Schild über dem Eingang in goldenen, altdeutschen Buchstaben: "Ruhe sanft".
"Ein Ort, der zum Sterben einlädt", schwärmt Moni mit leuchtenden Augen, nachdem die Freunde unbeschadet das gruselige Feld überquert haben. So eine Nacht der Sterne wollen die Fünf auch mal hier erleben, da sind sie sich einig. Zehn Augen sind nun auf die Glaskuppel über dem Friedhof gerichtet und starren gebannt in den dunklen Himmel. Plötzlich lässt ein Geräusch die fünf zusammenzucken.
"Was war das?" fragt Sven ängstlich und gesellt sich näher zu seinen Freunden. Da ist es schon wieder.
"Schrrr schrrr schrrr".
Es klingt, als würde jemand Erde haken mit einer dieser großen Mistgabeln.
"Schrrr schrrr schrrr" macht es wieder und es ist, als käme es immer näher und näher. Lisa und Moni fallen sich vor Angst in die Arme und schreien los. Die Jungs jedoch behalten einen kühlen Kopf und können die Mädchen besänftigen. Als wieder Ruhe einkehrt und das Geräusch verstummt, fühlt es sich fast so an, als wäre es nie da gewesen.
"Was bitte war das?" fragt Marian nach einer Weile in die sehr still gewordene Runde. Doch keiner hat eine Erklärung dafür. Lisa zittert noch immer wie Espenlaub und lässt sich von Marian nur zu gern in den Arm nehmen und ins Innere des Friedhofs führen. Nur zögerlich folgen Marlon, Moni und Sven den beiden. Aber hier draußen bei dem unheimlichen Geräusch will auch niemand bleiben. Nur weg von hier. Wie Verbrecher schleichen sie durch den Hintereingang ins Innere.

Ein unglaubliches Lichtspiel erwartet sie dort. Jedes einzelne Grab hat sein eigenes, kleines und sanftes Licht, das diesen Friedhof besonders erscheinen lässt. Auch Sterne, Sonnen und Halbmonde, kleine Engel und Kreuze zieren einige Gräber. Besonders warm leuchtende Schutzengel beleuchten jedes Kindergrab, als würden sie ihre letzte Ruhe bewachen. Eine Welle der Rührung erfasst die Fünf und über Moni's Wange läuft sogar eine kleine Träne. Ungewohnt still und bedächtig schreiten die Freunde weiter voran, bis sie vor ihrem Ziel angelangt sind. Der Leichenhalle. Dort werden die Toten aufgebahrt, bis sie beerdigt werden.

Die Zwischenstation, bevor sie wirklich und wahrhaftig ihre letzte Ruhe finden.
Sven und Marlon hatten die glorreiche Idee, dass dort zwei aus der Gruppe ein paar Stunden allein verweilen müssen. Jedes Jahr darf sich ein anderer etwas für Halloween ausdenken und diesmal ist Sven an der Reihe. Die anderen gehen währenddessen zurück zum Bunker und warten dort. So ist der Plan. Das Los soll entscheiden und Moni zieht erst Marians und dann Lisas Namen aus dem Sack.


Lisa wird plötzlich ganz bleich, ungläubig schüttelt sie ihren Kopf hin und her, die Angst steht ihr ins Gesicht geschrieben.


"Wir beide schaffen das zusammen, du brauchst wirklich keine Angst haben", flüstert Marian ihr leise zu.

Froh darüber, dass er ihr Mitstreiter ist, ringt sie sich sogar ein Lächeln ab. Doch die Anspannung lässt ihren Körper trotzdem in einer Art Starre verharren.
Dann geht alles ganz schnell. Marlon, Sven und Moni verabschieden sich und lassen Lisa mit Marian in der Leichenhalle zurück. Sven schließt die dicke Eisentür und bemerkt dabei nicht, dass er nun für seine beiden Freunde auf der anderen Seite ein Gefängnis geschaffen hat. Die Tür ist nur von außen zu öffnen. Um vom Inneren wieder nach außen zu gelangen, braucht es einen besonderen Schlüssel und diesen trägt nur das Personal an einem Schlüsselbund bei sich. Lisa und Marian sind gefangen und wissen es nicht einmal.

Niemand weiß es.
Angst lässt die anderen drei das Feld der Toten in Windeseile überqueren. Erst als sie wieder am alten Bunker angelangt sind und die schwere Eisentür hinter ihnen ins Schloss fällt, atmen sie erleichtert auf.


"Es ist schon ziemlich gruselig da draußen heute Nacht", stellt Moni frierend fest. Dann begeben sich die Freunde über die Eisentreppe in den oberen Teil des Bunkers. Ein kleiner Turm mit einem atemberaubenden Ausblick nicht nur auf den Friedhof erwartet sie und verschlägt den dreien schier den Atem. Sie kleben förmlich an ihren Ferngläsern, die sie mitgenommen haben um die ganze Aktion zu überwachen.

Marlon ist der erste, dem die unheimliche Gestalt auffällt, die den gläsernen Friedhof betritt.
"Bor, sieht der krass gruselig aus!" ruft Sven und schüttelt sich. Moni wird seltsam ruhig und hängt sich an Marlons Arm.


"Ja, und wie er das eine Bein nachzieht, sieht auch komisch aus. Bestimmt hat ihn jemand gejagt und angeschossen!" fantasiert Marlon. Moni jedoch behält als einzige das Wichtige im Auge.
"Lisa und Marian sind diesem unheimlichen Typ ausgeliefert. Wir müssen sie warnen."

Aufgeregt kramt sie ihr Handy hervor und wählt Marians Nummer.


"Ähem, das kannst du dir sparen..." stammelt Sven und hält Moni Marians Handy unter die Nase.


"Wenn schon das Spiel mit der Angst, dann richtig!" mischt sich Marlon ein, als er Monis wütendes Gesicht sieht.


"Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?" ruft sie in die Stille. Ein Anflug von Panik färbt ihre Stimme und hüllt den Turm ein.
"Wie sollen wir sie denn jetzt warnen, ihr Schwachköpfe?"

 

Langsam vermischt sich ihre Angst mit Hysterie.
"Die beiden sind vielleicht einem Wahnsinnigen völlig hilflos ausgeliefert, also tut etwas!"
"Wir beobachten erst mal weiter den Friedhof. Der Typ weiß ja gar nicht, dass Lisa und Marian in der Leichenhalle sind", schlägt Sven vor.
"Stimmt auffallend!" nickt Marlon und richtet sein Augenmerk wieder auf den sanft beleuchteten Friedhof. Es dauert einen Moment, bis er den gruseligen Alten wieder entdeckt hat. Er kniet vor einem Grab, einem Kindergrab. Es hat einen dieser Leuchtengel vor dem Stein.

In der Zwischenzeit sind Lisa und Marian ganz eng zusammen gerückt. Das junge Mädchen zittert noch immer am ganzen Körper und Marian nimmt sie nur zu gern in seine Arme um sie zu beschützen. Plötzlich ertönt wieder dieses Geräusch, welches sie vorhin schon zusammenschrecken ließ.
"Schrrr schrrr schrrr" macht es, nur ganz leise, aber die beiden hören es dennoch deutlich. Ein gequälter Schrei presst sich durch Lisas trockengewordene Kehle. Schnell verschliesst Marian Lisas Mund.
"Pssst, sei still!"
Jetzt hört man ein leises, fast nur den Hauch eines Pfeifens. Marian wird klar, dass er nicht mehr allein mit Lisa auf dem Friedhof ist. Angst kriecht in ihm hoch, doch noch kann er sie beherrschen. Das Pfeifen dringt nun auch an Lisas Ohr und die beiden erkennen, dass jemand ganz in ihrer Nähe sein muss. Dieses unheimliche Geräusch und das Pfeifen verschmelzen miteinander und klingen dadurch noch bedrohlicher. Marian und Lisa kauern in der hintersten Ecke der eiskalten Halle.

Dann wird das Pfeifen lauter, kommt näher, dafür verstummt das unheimliche Scharren. Jemand macht sich an der Tür zur Leichenhalle zur schaffen. Es klickt und klackt und die Klinke bewegt sich fast unmerklich. Lisa gefriert das Blut in den Adern, ihr Gesicht ist blass und fahl geworden. Das Pfeifen wird lauter und intensiver, kommt näher, dafür verstummt das unheimliche Scharren. Die beiden wissen, es ist jemand direkt vor der Tür. Sie schauen sich mit Hilfe eines Feuerzeugs in der Leichenhalle um.

Nichts.

Es gibt keinen anderen Ausgang als die Tür, vor der jemand zu stehen scheint.

Wo sollen sie hin? Sie können nicht entkommen. Es scheint ausweglos.

"Ich gehe jetzt rüber zu den beiden!" sagt Moni mutiger, als sie wirklich ist.
"Wir können sie doch nicht ihrem Schicksal überlassen!"
"Aber ich hab' Angst", gesteht Sven kleinlaut.
"Unsinn, du bist ein Junge! Du darfst keine Angst haben!" bestimmt Moni und nimmt ihn einfach an die Hand.
"Wartet auf mich, ich will auch mit!" Marlon poltert hinter den beiden her und gemeinsam stehen sie bald erneut vor dem Feld der Toten.

 

Die drei fassen sich bei den Händen und marschieren geschlossen los. Zügig überqueren sie zum dritten Male das dunkle, absolut verlassene Feld, um ihren Freunden zu Hilfe zu eilen. Zu ihrem Entsetzen hat sich schlagartig von einer Sekunde auf die nächste dichter Nebel gebildet. Jetzt sehen sie noch weniger als vorher. Marlon zückt eine Taschenlampe hervor wie von Zauberhand.


"Man kann nie wissen. Sicher ist sicher!" sagt er nur und leuchtet den erleichterten anderen beiden und sich den Weg über das Feld.

Sie haben sich ein paar Meter vor gearbeitet, als Moni plötzlich aufschreit und den Blick auf ihre Füße richtet.


"Iiiiiih, irgendwas hat meinen Fußknöchel berührt!" schreit sie und tänzelt auf der Wiese herum.


"Bestimmt die Toten, das ist doch das Feld der Toten!" lacht Sven.

Doch nur eine Sekunde später wird er kreidebleich und schaut ebenfalls an sich runter. Auch er spürt nun etwas, das seine Fußknöchel umschlingt und festhalten will.
"Hört auf, mich zu verarschen!" ruft Marlon, aber es ist zu spät. Auch er fühlt nun dieses kalte, schlangenähnliche Zeugs an sich.

Langsam kriecht es seine Waden hoch. Mutig hält er die Taschenlampe auf das gruselige Etwas. Was er sieht, lässt ihn augenblicklich erstarren. Sein Mund ist weit geöffnet, doch kein Laut entweicht ihm. Seine Augen sind weit aufgerissen, doch er kann nicht fassen, was er da sieht.
Blutrote, schlangenartige Gebilde, die wie aus dem Nichts aus dem Boden wachsen und ihre Fangarme um die Knöchel und Waden der drei legen. Mit einem Mal geht ein lautes Rauschen über das Feld der Toten und der Wind spielt das Lied vom Tod.

Innerhalb weniger Sekunden sind die drei blass, blutleer und leblos. Wie Zombies wanken sie über das Feld hinüber zum Friedhof. Immer näher und näher kommen sie der Leichenhalle, in der Lisa und Marian gefangen sind. Als sie nah genug sind erkennt man auch, dass der unheimliche Unbekannte genau so ein Lebloser ist, wie sie selbst geworden sind. Zusammen betreten die vier nun die Leichenhalle. Und alle haben das gleiche Ziel. Sie wollen Lisa und Marian zu ihresgleichen machen.

Brutal stoßen sie die Tür auf, suchen mit gierigen Augen den kalten Raum ab.

Doch von den beiden fehlt jede Spur.

Impressum

Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Bildmaterialien: google.de
Cover: google
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
meinen Kindern zu Halloween... Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig. ;-))

Nächste Seite
Seite 1 /