Ich stand hier unten, festen Boden unter meinen zarten, nackten Füßen. Alles in mir war angespannt, mein Körper fühlte sich hart an, fast wie Stahl. Lediglich mein Kopf war in der Lage, sich zu bewegen. Ich schaute - wie alle um mich herum - gebannt und fasziniert gen Himmel. Dann begann ich zu zittern, hielt den Atem an. Die leuchtend rote Hose des jungen Mannes, der sich hoch oben, weit über meinem Kopf aufhielt, flatterte bedrohlich im auffrischenden Wind. Die Wolken schwebten hinter seinem Kopf vorbei, erinnerten an kleine Lämmer auf der Suche nach Essen. Für einen Moment war ich abgelenkt durch die weiße Pracht. Schnell richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen. Ein Raunen ging durch die Menge, die sich hier unten, auf der sicheren Straße eingefunden hatte. Alle Anwohner des kleinen Viertels hatten ihre Häuser verlassen, um ihn zu sehen. Manche das erste Mal seit vielen Jahren. Er hatte es geschafft, sie aus ihren dunklen Löchern hervor zu locken. Sie ans Tageslicht zu holen, sich der Sonne zu stellen. Angestrengt blinzelten sie in den Himmel, nur um ihn zu sehen. Ihn und seine Kunststücke. Man konnte spüren, wie die Menschenmenge das Atmen einstellte, wenn er seine gefährlichen Einlagen einfließen ließ.
Hier in Kaltua hatte man so etwas noch nie gesehen. Unser kleines, zartes, aber auch unscheinbares Dorf fand man auf keiner Karte, auf keiner Weltkugel. In keinem Atlas waren wir wert, erwähnt zu werden. Uns gab es praktisch gar nicht. Wir existierten schlichtweg nicht. Natürlich interessierte mich gerade deswegen brennend, wie der Mann mit den signalroten Hosen wohl den Weg zu uns gefunden hatte. Seit Jahrzehnten war kein Fremder, kein Wanderer oder gar Tourist hier gewesen. Was gab es hier auch schon großartig zu sehen? Weitläufige Wälder, ein paar schöne Seen, die die Reichen im Sommer aus den Häusern lockten und die alte Taverne, die immer gut besucht war. Bei Familienfeiern oder Dorffesten fanden fast alle Bewohner Platz in ihrem Innern und der Rest konnte es sich draußen auf den Stühlen gemütlich machen und dabei im Sonnenuntergang versinken. Pablo, der Besitzer des Lokals war ein gemachter Mann. Er und seine Frau Ines hatten für alle Zeiten ausgesorgt.
Als Maria mit ihrer Taverne schon vor Jahren pleite machte, kamen sie plötzlich in den Genuss der Monopolstellung in Kaltua. Seit acht Jahren arbeitete ich nunmehr bei ihnen.
Dann gab es hier noch eine Handvoll Häuser, die farblich gekennzeichnet waren. Wer in einem weißen Haus wohnte, galt als arm. Die Bewohner der gelben Häuser indes waren für ihren Reichtum bekannt. Letzteren begegnete man oft auf der Straße. Die weißhäusigen dagegen sah man selten bis gar nicht. Und wenn, dann erkannte man sie sofort an ihrer Blässe. Denn sie verschanzten sich in der Regel zuhause im Dunkeln.
Doch jetzt - in diesem Moment - den Seiltänzer atemlos betrachtend, lag ein ganz besonderer, vor langer Zeit verloren gegangener, Glanz in ihren Augen. Ihre blasse Haut glänzte im Schein der Sonne und die Wangen leuchteten rosig.
Der elegante Seiltänzer hatte das stabile Seil genau an der Grenze zwischen arm und reich anbringen lassen. Exakt zwischen einem weißen und einem gelben Haus mit einer schönen Veranda war es gespannt.
War das so geplant von ihm?
Wer war er überhaupt?
Wo kam er her?
Warum führte ihn sein Weg ausgerechnet nach Kaltua?
Ich selbst wurde nicht in diesem unscheinbaren Nestchen geboren, meine Eltern haben mich hier zurück gelassen. Sie waren sehr arm, hatten alles verloren, während ich unterwegs war und sich schweren Herzens von mir getrennt. Sie legten mich vor rund fünfundzwanzig Jahren auf einer Veranda ab, klopften an die Tür und verschanzten sich im Dickicht. Erst als der Korb mit mir darin sicher im Innern des gelben Hauses angelangt war, machten sie sich auf den Heimweg. Sie wohnten im Nachbarort Kinthea. Aus der Ferne haben sie meine wohl sehr gute Entwicklung verfolgt und irgendwann erfuhr ich die Wahrheit über meine Herkunft. Mit der Zeit lernte ich Kaltua und seine merkwürdigen Einwohner lieben.
Natürlich war es nicht mit einer normalen Stadt zu vergleichen, da wir eher eine große Familie sind, was die Anzahl der kaltuanischen Bürger betrifft. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, sie zu zählen. Natürlich war mir bewusst, dass es mal ein paar mehr oder weniger sind. Die Alten starben irgendwann oder es kam dann und wann ein neuer Erdenbürger auf die Welt. Aber zum Zeitpunkt meiner Zählung kam ich auf genau 246 Seelen. Und heute, an diesem windigen, aber sonnigen Tag versammelten sich alle hier auf diesem Platz. Unter dem Seiltänzer, dessen Füße bedrohlich hin und her schwankten auf dem dünnen Seil.
Wieder ging ein Raunen durch die Menge, die ansonsten still war wie bei einer Beerdigung.
Niemand sagte ein Wort, nicht mal ein Husten war zu vernehmen. Knapp 492 Augen sahen nur noch ihn, den Seiltänzer mit den feuerroten Hosen und dem weißen Hemd. Nun flatterte beides unruhig im stärker werdenden Wind und ein paar meiner Altersgenossinnen standen kurz vor einer Ohnmacht. Auf nur einem Bein balancierte der junge Mann - nein er schwebte förmlich - von dem weißen Haus rüber zum gelben, meinem Elternhaus.
Regungs- und atemlos verfolgte ich das Schauspiel. Meine Augen nahmen jedes Detail auf, nichts wollte ich verpassen. Der Seiltänzer war so einzigartig.
Mutig, schlau und stark. Viel mehr, als jeder einzelne von uns es war. Er machte es uns vor, es sah so einfach aus. Aber die sturen Kaltuaner verstanden seine Botschaft nicht.
Oder wollten sie es nicht verstehen?
Wollten sie, dass alles so bleibt, wie es war?
Hielten sie unwissend an traditionellen Gewohnheiten fest?
Warum?
Weil sie es nicht besser kannten.
Der Seiltänzer zog dennoch alle in seinen Bann und schaffte es, dass zum ersten Mal seit Jahrzenten alle Bewohner zusammen standen. Miteinander. Kein Unterschied zwischen Arm und Reich. Alle waren zusammen, wurden nicht getrennt wie bei Festen oder Feiern. Die Blassen und die Gesunden standen Schulter an Schulter, in Reih und Glied, um nur ja nichts zu verpassen.
Ein Bild ungeahnter Stärke, welches ich nie in meinem Leben wieder vergessen möchte. Es bescherte mir eine besondere Wärme und Zufriedenheit, die mein Herz aufgehen ließ.
Mit verklärtem Blick starrte ich in die Menschenmenge, noch immer ein wenig ungläubig.
Er hatte sie alle zusammengeführt. Weiß und gelb, vereint, eingestanzte Gefühle wie Neid, Missgunst, Geiz oder gar Hass waren plötzlich so weit weg wie nie. Verzauberte Lächeln lagen auf blassen, alten, jungen, faltigen und gebräunten Gesichtern.
Ein unglaublich harmonisches Bild.
Ernest, der Hochseiltänzer.
Er hatte zweifellos etwas magisches. Führte alt und jung, arm und reich, blass und gesund wieder zusammen. Die immer größer werdende Schere zwischen Armut und Reichtum konnte vielleicht endlich - allein durch sein Dasein - gestoppt werden.
Wie lange hatte ich davon geträumt, mit Elisa, dem Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, befreundet zu sein? Sie wohnte direkt neben mir, aber ich musste sie ignorieren.
Konnte ich sie nun endlich wahrnehmen? Mit ihr am See schwimmen gehen, ein Eis essen?
Und durfte ich nun Sascha, dessen Eltern ebenfalls arm waren, meine Liebe gestehen? Durfte ich endlich meine Zeit mit ihm verbringen? Unten am See, an dem wir uns schon so oft ignorieren haben müssen.
Kaltua, ein Dorf im Ausnahmezustand.
Ich musste die Gunst der Stunde nutzen, bevor dieser magische Moment wieder vorbei war und die Stimmung zerplatzen würde wie eine Seifenblase.
Der blonde Strubbelkopf und die klaren, blauen Augen stachen sofort aus der Menge hervor. Sascha. Mutig lächelte ich ihn an, doch er blickte verstohlen zu Boden. Mein Blick schweifte wieder hinauf in die Wolken, auf denen Ernest zu tanzen schien. Ich sah in sein Gesicht.
War das ein Lächeln? Unmerklich nickte er mir zu und ermutigte mich, auf Sascha zuzugehen. Ich spürte etwas. Ich fühlte Saschas Augen auf mir. Und tatsächlich. Sein Blick ruhte auf mir, er strahlte mich an. Er hatte ebenfalls den Mut gefunden, zu seinen Gefühlen zu stehen.
Ernest beendete seine Vorführung mit einem gefährlichen Sprung vom Seil. Doch er fand Halt auf dem sicheren Boden. Dieses Wagnis honorierten die Bewohner Kaltuas mit tosendem Applaus. Er verneigte sich tief. Er stand inmitten der Menschenmenge, die einen Kreis um ihn gebildet hatte. Wie hypnotisiert starrte ein jeder auf den Hochseiltänzer mit den roten Hosen. Nur einen Wimpernschlag später lagen sich alle erleichtert in den Armen. Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf Ernest Gesicht, während er pfeifend sein Säcklein packte und weiterzog.
Texte: Reggi67
Bildmaterialien: bookrix.de
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Beitrag für den KG-Wettbewerb im Mai 2012