Ein unerklärliches Geräusch drang in mein Unterbewusstsein und beendete meine Nacht vorzeitig. Ich schreckte hoch, fegte die Bettdecke zur Seite und suchte nach meinem Wecker. Sein greller Schriftzug verriet mir unbarmherzig, dass es halb drei in der Nacht war.
Schon wieder!
Ich angelte nach meinem Bademantel und pellte mich aus meinem warmen Schlafgemach. Automatisch brachten meine Füße mich zum großen Fenster meines Schlafzimmers. Vorsichtig bewegte ich den rechten Vorhang gerade so weit, dass ich nach unten auf die Straße sehen konnte. Obwohl ich wusste, was der Asphalt mir zeigen würde, obwohl ich vorbereitet war, fuhr dennoch der Schreck durch meine Glieder. Von den Zehen bis in die letzte Haarspitze verkrampfte sich mein Körper, um dann von unsagbar starkem Zittern heimgesucht zu werden. Nur ein paar Augenblicke später stolperte ich zurück und fiel rücklings auf mein Bett. Hüllte die flauschige Decke um mich, als wäre sie mein persönlicher Bodyguard, mein starker Beschützer. Als könne sie alles Unheil von mir abwenden. Aber leider war es nicht so. Jede Nacht und immer zur gleichen Zeit drang dieses unheimlich klingende Geräusch in mein Unterbewusstsein, ließ mich erwachen und hüllte meinen Körper in Angst. Ich war nicht in der Lage, es auch nur ansatzweise zu beschreiben. Ein Gemisch aus dem Erklingen leiser Glöckchen, untermalt mit gurrendem Gelächter und einer zarten Stimme. Doch ich wollte nichts hören, nichts sehen, nichts fühlen und hielt mir jedesmal die Ohren zu. Es war unbeschreiblich gruselig und überbot alles, was ich aus Filmen kannte. Irgendwann schlief ich erschöpft wieder ein und überstand die restliche Nacht ohne weitere Vorkommnisse. Tief vergraben unter meiner Decke.
Warum tat sie das? Was hatte sie davon? Wieso musste meine Erinnerung mich so quälen? Ich habe das alles doch so nicht gewollt, nicht geplant. Aber offensichtlich verdiente ich es, nicht mehr durchschlafen zu können. Jede verdammte Nacht, alle vierundzwanzig Stunden, pünktlich um halb drei, zog es mich magisch ans Fenster. Eine unsichtbare Macht lenkte meinen Blick auf den Asphalt und meine Augen mussten hinsehen. Erblickten Nacht für Nacht das gleiche grausame Bild, das mir den Boden unter den Füßen wegzog.
Wie fast jeden Morgen holte mich der Wecker um punkt halb sieben aus einer unruhigen Nacht. Schweißgebadet hastete ich aus den warmen Federn und stolperte ins Bad, um dort unter einer kühlen Dusche den Duft der Angst fort zu spülen. Aus jeder kleinsten Pore kroch Panik und schlechtes Gewissen. Ich fürchtete, jeder in meiner Nähe könnte es riechen. Also schäumte ich meinen erhitzten Körper mit einer ganzen Handvoll Duschgel ein. Mutlos sank ich in der Dusche zu Boden und ließ meinen Tränen freien Lauf. Das laute Schluchzen durchbrach die Stille in meiner einsam gewordenen Wohnung. Nur langsam ebbte das Beben meiner Schultern ab. Das gleichmäßige Plätschern des Wassers wirkte beruhigend auf mich. Es musste etwas geschehen. Ich musste mich endlich entscheiden. So konnte es nicht ewig weitergehen. Ich hatte die Wahl, eine verdammt schwere Wahl. Was aber sollte ich tun? Würde ich jemandem helfen können, wenn ich mich meiner Vergangenheit stellte? Dem Druck meiner Erinnerung nachgeben würde? Oder wäre danach lediglich mein Gewissen reingewaschen? Mit einer Konfrontation würde ich nichts rückgängig machen können.
Nichts. Gar nichts.
Es würde sich nichts ändern, wenn ich meine Schuld zugab. Der kalte, graue Asphalt würde nicht zurückbringen, was er genommen hatte.
Doch mein Herz und mein Verstand forderten seinen Tribut. Jedoch:
Wie sollte ich entscheiden? Wie viele Nächte würde ich noch durchhalten? Wie oft noch diesen Anblick ertragen?
Wie in Trance trocknete ich meinen Körper mit deinem Handtuch. Deinem weichen, hellblauen Strandtuch mit den weißen Wolken darauf. Ich vergrub meine Nase in dem flauschigen Stoff und nahm deinen Geruch auf. Noch immer roch es nach dir, nach deinem einzigartigen Duft. Trotz der vielen Wäschen, die es bereits hinter sich hatte, strahlte es noch immer und es schien, als wollte es deine persönliche Note einfach nicht hergeben. Heißes, salziges Nass rann über mein Gesicht und bildete eine Pfütze auf eine der Wolken.
Beste Freundinnen waren wir, haben sogar zusammen gewohnt. Eine tolle WG mit viel Spaß und ebenso viel Turbulenzen. Hundertprozentiges Vertrauen verband uns, unsere Geheimnisse haben wir miteinander geteilt wie einen wertvollen Schatz.
Und dann kam Sebastian.
Wir waren beide gleichermaßen hin und weg von ihm. Ein toller Mann mit einer unglaublichen Anziehungskraft, der sich keine von uns beiden entziehen konnte. Doch er, er wollte dich. War deinem einzigartigen Charme sogleich erlegen, genau wie ich damals, als wir uns in der Berufsschule zum ersten Mal trafen. Zwischen uns stimmte sofort alles. Wir schwammen auf der gleichen Wellenlänge, verstanden uns blind. Bald schon waren wir unzertrennlich, fast wie Zwillinge. Es herrschte eine bis dahin unbekannte Vertrautheit zwischen uns beiden.
Bis Sebastian auftauchte.
Fast zärtlich hängte ich dein Lieblingshandtuch über die Stange im Bad und stellte mich vor den großen Spiegel, der immer für uns beide genügend Platz bot. Seit einigen Wochen zeigte er nur noch mein Spiegelbild. Täglich blickte ich in ein schuldiges, armseliges und einsames Gesicht, aus dem jedes Leben gewichen war. Schwerfällig hüllte ich mich in meine Arbeitskleidung und machte aus dem unansehnlichen, verheulten Gesicht ein hübsches. Ich war immer wieder erstaunt, was man mit Make up alles zaubern konnte. Nach einer halben Stunde sah ich endlich wieder aus wie ein Mensch und konnte meine Wohnung verlassen, ohne Aufsehen zu erregen. Ein abwechslungsreicher Arbeitstag erwartete mich und half mir dabei, keine Gedanken an dich und meine Schuld aufkeimen zu lassen. Die Werkstatt war der einzige Ort, an dem ich mich zumindest ein wenig nicht schuldig fühlte. Wir beide hatten uns den Traum von einer Ausbildung als Mechatronikerin erfüllt und gingen darin völlig auf. Und hier lief uns auch Sebastian über den Weg.
Sebastian.
Nach Feierabend ging alles wieder von vorne los. Die Dusche lächelte mich einladend an und ich spülte mir den Dreck aus der Werkstatt vom Körper. Meine Schuld wurde ich dadurch nicht los. Was sollte ich bloß machen? Weiterhin in diesem Horrorfilm leben und jede Nacht um halb drei diesen Anblick ertragen? Ich musste mich entscheiden, musste reinen Tisch machen mit mir und auch mit dir. Aber wie?
Warum hatte ich das nur getan, damals in dieser lauen Sommernacht? Sebastian war DEIN Freund und ich hatte nicht das Recht dazu. Aber gegen Gefühle ist der Mensch machtlos und wir beide fühlten nun einmal das gleiche für ihn. Anfangs hatte er sich für dich entschieden und ich habe das respektiert. Doch irgendwann bemerkte ich sein Interesse an mir, das immer mehr wuchs. Du mit deinen feinen Antennen hast sofort gespürt, dass da was im Busch war. Ich konnte die Angst in deinen Augen sehen, sie förmlich riechen. Aus jeder Pore deines Körpers drang die Panik, Sebastian an mich verlieren zu können. Doch ich habe es ignoriert, mein Gefühl für ihn war zu stark, fast übermächtig. Ich konnte nicht anders, ich musste in dieser Nacht zu ihm fahren. Stundenlang stellte ich mich selbst vor die Wahl, der schwersten meines Lebens:
Sebastian oder du.
Ich hatte sogar eine Liste angefertigt und mit ihrer Hilfe fiel dann meine Entscheidung. Genau fünf Minuten vor halb drei in dieser lauen Sommernacht.
Sebastian. Allein sein Name war wie Musik in meinen Ohren...
Er hatte also gewonnen, war als Sieger aus dem Ring hervorgegangen.
Getrieben von Liebe, Sehnsucht und Lust setzte ich mich ans Steuer unseres gemeinsamen Wagens. Wie stolz wir auf unseren lang ersehnten, kleinen schwarzen Flitzer waren! Ein Jahr hatten wir für den Golf sparen müssen, bis wir ihn endlich unser Eigen nennen konnten...
Du wusstest Bescheid über meine Zerrissenheit, warst in meinem Zimmer und fandest die Liste. Du kanntest mich einfach zu gut. Manchmal besser als ich selbst.
Du oder Sebastian?
Du hast mich angebettelt, nicht zu ihm zu fahren, hast geweint und gefleht. Aber ich blieb stur. Meine Entscheidung war gefallen. War sie das wirklich? In meinem Hirn leuchtete in bedrohlichen Buchstaben immer wieder dieselbe Frage auf:
Du oder Sebastian?
Ich sah seine warmen braunen Augen vor mir, seinen schönen Mund, der mich anlächelte. Du hieltest mich am Arm fest, redetest auf mich ein, hast geschrien und geschluchzt. Doch ich war so weit weg von dir wie nie zuvor. Ich sah Sebastians Gesicht am Himmel aufflackern und setzte den Golf in Gang. Du ließest von mir ab und sahst mich erstarrt, fast versteinert, an. Dein Blick im Rückspiegel war es, der mich zurückhielt. Nie in meinem Leben hatte ich dich je so gesehen. Nie in meinem Leben werde ich diesen Blick wieder vergessen können.
Jede Nacht um halb drei sehe ich dich, wie du vom kalten, grauen Asphalt zu mir hoch siehst...mit genau diesem Blick. Dein Herz, dein Schmerz, deine gesamten Gefühle für Sebastian und auch für mich lagen in diesem Moment in deinen Augen. Deinen blauen Augen, schön wie der Himmel und tief wie das Meer...
Ich blieb abrupt stehen, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr mit Vollgas wieder zurück, zurück zu dir! Als ich fast wieder bei dir war, machtest du völlig unerwartet einen Schritt auf die Straße. Ich konnte nicht mehr schnell genug bremsen, ein ohrenbetäubender Knall hämmerte mir die Realität direkt in mein Bewusstsein. Ich hatte dich voll erwischt. Du warst auf der Stelle tot. Keine Chance, weder für dich noch für mich. Alles, was ich gelernt hatte im Erste-Hilfe-Kurs setzte ich ein, um dich zu reanimieren, bis der Rettungswagen kommen würde. Doch es halft nichts, der Aufprall hatte dich bereits getötet.
Ich bin nicht mehr zu Sebastian gefahren in dieser Nacht. Ich wollte ihn nie wieder sehen, gab ihm die Schuld für deinen Tod.
Und wieder lag ich wach, aber in dieser Nacht hörte ich zum ersten Mal hin, als die Glöckchen und die zarte Stimme erklangen.
"Sebastian"
Es war nur ein Hauch, der seinen Namen in meine Ohren transportierte. Aber ich hörte es dennoch deutlich.
"Geh zu Sebastian."
Verschreckt zuckte ich zusammen, sah in meinem Schlafzimmer umher. War das eine anonyme Nachricht aus dem Schattenreich? So etwas gab es doch nur in Filmen, oder nicht?
"Er wartet auf dich, geh zu ihm!"
Das war deine Stimme! Aber wie konnte das möglich sein? Wie solltest du mit mir reden können? Andererseits ergab pötzlich alles einen Sinn. Du hattest jede Nacht versucht, mir etwas zu vermitteln, mir eine wichtige Nachricht zu senden. Von dem Ort, an dem nun deine Seele wohnte.
Sebastian.
So oft hatte er mich in den letzten Wochen nach deinem Tod angerufen. Nicht ein einziges Mal hatte ich mit ihm gesprochen. Konnte seine Stimme, gar sein Dasein nicht ertragen. Du warst auf ewig fort, für mich hatte er damit die Berechtigung seines eigenen Daseins verloren...
Insgeheim, ganz tief in mir drin, war da noch immer dieses Gefühl, welches mich damals in dieser lauen Sommernacht zu ihm treiben wollte. Aber ich ignorierte es, wie alles, was mit euch beiden zusammenhing. Doch er blieb hartnäckig. Erklärte sich immer wieder auf dem Anrufbeantworter. Trotzdem habe ich niemals wieder mit ihm geredet, ihm keine Chance geben wollen.
Wieder schien ich wie in Trance zu sein, als ich mich mitten in dieser Nacht anzog und in mein neues Auto stieg. Von unserem Golf hatte ich mich nach dem Unfall getrennt. Ich wollte gerade losfahren, als ich auf die Stelle sah, an der du gestorben bist in jener schicksalshaften Nacht. Die Stelle, die ich von meinem Fenster aus immer und immer wieder betrachten musste. Dein Gesicht leuchtete vom grauen Asphalt zu mir herauf und deine Augen spiegelten deine Gefühle wider. Doch in dieser Nacht lag ein Lächeln auf deinem Gesicht, du sahst so zufrieden aus. Und ich war hier unten, ganz nah bei dir! In dem Moment wusste ich, was ich zu tun hatte. Deine Nachricht war endlich bei mir angekommen. Und endlich konnte ich auch zulassen, dass es ein schrecklicher Unfall war und ich dich nicht vorsätzlich getötet habe. Jede Anspannung wich augenblicklich aus meinem Körper und ließ mich endlich wieder frei atmen. Wieder frei sein.
Ich kniete mich neben dein schönes Gesicht auf den Asphalt, streichelte zärtlich über deine Wange, schloss dein letztes Lächeln in mein Herz und ließ dich gehen...
Dann stieg ich ins Auto und fuhr in eine neue Zukunft.
Texte: Reggi67
Bildmaterialien: google.de
Tag der Veröffentlichung: 28.04.2012
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Widmung:
Beitrag für die 3. Runde im KG-Turnier 2012