Fassungslos stand ich vor meiner Frau. Aber war sie das überhaupt noch? Durfte ich sie noch so nennen? War sie noch die, die ich vor zehn Jahren geheiratet hatte?
Auf dem Papier schon, aber gefühlt war Sabine schon seit über einem Jahr nicht mehr meine Frau. Wir hatten uns auseinander gelebt, jeder zog sich zurück in seine eigene, kleine und erlogene Welt. Alles was uns noch zusammenhielt, waren Lena und Kevin, unsere Zwillinge.
Und obwohl ich nicht der leibliche Vater der beiden bin, sondern sie erst im Alter von vier Jahren kennen gelernt habe, nahm ich die beiden sofort an. Es dauerte nicht lange und sie waren gefühlsmäßig meine Kinder. Ohne Wenn und Aber. Für sie bin ich der Papa und das werde ich bleiben, bis ich meine Augen für immer schließe.
Sabine.
So sehr ich sie geliebt hatte, so sehr verachtete ich sie nun für ihr Handeln. Nie und nimmer hätte ich auch nur im entferntesten mit so etwas gerechnet. Ich dachte, unsere Ehe würde ewig halten. Was war ich für ein Träumer! Aber gut, ich musste mich damit abfinden, dass es nun einen anderen Mann an ihrer Seite gab.
Doch viel schlimmer war die Tatsache, dass nun auch für die Zwillinge jemand anderer Sorge trug. Ich wurde ausgetauscht. Nach zehn gemeinsamen Jahren einfach ausgewechselt gegen einen Anderen.
Mit aufgerissenen Augen starrte ich meine Frau an.
"Wie? Du hast jemand anderen kennen gelernt? Einfach so?"
Nervös druckste Sabine herum.
"Nein, ich kenne ihn schon länger. Aus einem Forum."
Vor Erstaunen klappte mein Kiefer gen Boden und ich verlor jeden Halt.
Sie hatte diesen Typen im Internet kennen gelernt??? Ich Schaf!
Nichts. Nicht ein Bisschen hatte ich von alldem mitbekommen. Nicht mal ansatzweise.
War ich so blind? Warum hatte sie nicht mit mir geredet? Warum wartete sie mit dieser Eröffnung so lange, bis ich nichts mehr dagegen tun konnte? Erst als alles in trockenen Tüchern war, verkündete sie mir die frohe Botschaft von Karsten, dem neuen Mann an ihrer Seite. Damit nahm sie mir jede Möglichkeit, noch an unserer Beziehung arbeiten zu können. In den letzten Jahren allerdings wurde das "uns" tatsächlich immer weniger, immer kleiner, immer leiser.
Wir waren nur noch für die Kinder da und extrem viel mit ihnen unterwegs. Je mehr wir ihnen boten - was ich auch wirklich sehr gern gemacht habe - desto mehr erlosch das Uns in unserer Ehe.
Sabine und Tobias.
Immer öfter fragte ich mich, wer diese beiden Personen waren. Wir sind uns fremd geworden, obwohl wir bei unseren Familien und ihren Freundinnen als das Traumpaar schlechthin galten. Sabine...ihre schulterlangen, blonden Haare, ihre schlanke Figur und die herrlich festen Brüste...die blauen Augen, die mich spitzbübisch ansahen bei unserem ersten Aufeinandertreffen...Sabine. Ja, sie hatte mich wirklich gerettet damals, mich aufgefangen und mir ein neues Leben gegeben.
Davon aber waren wir meilenweit entfernt, als wir geschlossen vor dem Richter standen und unsere Ehe rechtskräftig geschieden wurde.
Das war es nun also. Das Ende einer großen Liebe und einer Ehe.
Tschüss Sabine...
Die Trennung von Lena und Kevin war die Hölle für mich und natürlich vermisste ich auch Sabine, anfangs zumindest. Meine Welt war dunkel geworden, nichts mehr wie vorher. Von einem zum nächsten Moment zusammengebrochen.
Doch dem Monatelangen Leiden folgte alsbald die Einsicht, dass es keine Liebe mehr war, die uns verband, sondern die gefürchtete Routine. Unser Zusammenleben verkam schlichtweg zur Gewohnheit und erstarb unter dem Druck des Alltags immer mehr. Aber mitunter hält der Mensch mit aller Kraft auch an Gewohnheiten fest, wenn er sie in Gefahr sieht. Und das habe ich versucht, erfolglos. Ich wollte meine kleine Familie nicht verlieren, sie war alles, was ich noch hatte. Meinen Freundeskreis hatte ich ihretwegen sträflich vernachlässigt, weil ich falsche Prioritäten setzte. Selbst schuld, dafür konnte ich niemanden verantwortlich machen. Reumütig klopfte ich bei ihnen an nach der Trennung und es geschah, was ich nicht zu hoffen gewagt hatte. Sie öffneten ihre Tür für mich und ein neues Leben begann.
In Bezug auf Frauen war ich durch diesen Einschnitt in meinem Leben sehr sensibel geworden. Natürlich lernte ich hier und da attraktive und interessante Frauen kennen, aber keine von ihnen konnte mich so recht überzeugen. Keiner gelang es, mich einzufangen. Zu sehr scheute ich noch eine intensive, tiefergehende Bindung, bei der ich wieder enttäuscht werden könnte. Meine Freunde machten sich deswegen oft ein wenig lustig über mich. Sie konnten meine Sorge genauso wenig verstehen, wie meinen Trennungsschmerz damals. Aber ich war anders. Mit Sabine hatten sich all meine Wünsche und Sehnsüchte nach einem geordneten Leben erfüllt. Sie gab meinem verkorksten Leben wieder einen Sinn. Plötzlich hatte ich eine Familie, die ich umsorgen konnte. Einige aus meinem Freundeskreis wissen nicht einmal, was das ist. Können mit dieser Art Leben nichts anfangen.
Aber ich war anders als sie geworden. Hatte mich in eine andere Richtung entwickelt.
Und dann traf ich Marie. Wie es der Zufall wollte, war sie in meine Nähe gezogen. Marie war eine sehr lange Zeit mit Sabine befreundet, daher war sie keine Fremde für mich. Ich fand sie schon immer sehr nett, aber meine Augen und mein Herz sahen nur Sabine. Keine Frau hatte ich in dieser Zeit wahrgenommen, im Gegensatz zu den meisten meiner Artgenossen. Sie waren ständig auf der Jagd.
Doch Marie war mir immer sehr sympathisch gewesen und ich freute mich, wenn sie Sabine besuchte. Mit der Scheidung verlor ich sie aus meinem Blickfeld. Ich war zu sehr mit dem Verarbeiten der Trennung beschäftigt, so dass sie mir nicht sonderlich oft in den Sinn gekommen war. Schließlich war sie ja die Freundin meiner Exfrau gewesen. Obwohl ich zugeben muss, dass ich manchmal gerade dieser Tatsache wegen gern Kontakt zu Marie aufgenommen hätte.
Als sie mich an diesem sonnigen Tag von ihrem Küchenfenster aus rief und mich anstrahlte, dachte ich allerdings keine Sekunde an Sabine. Da ging in mir irgendwie die Sonne auf. Ich freute mich total über ihre spontane Einladung zum Kaffee in ihrer neuen Wohnung, der ich auch prompt am nächsten Tag folgte, da ich frei und sie Urlaub hatte.
Ich fühlte mich pudelwohl, kaum dass ich einen Fuß in ihre heiligen Hallen gesetzt hatte.
Ohne irgendwelche Anfangsschwierigkeiten fanden wir sofort in ein angeregtes Gespräch, das sich dann über Stunden hinzog. Es war sehr angenehm, mit jemandem reden zu können, der ähnliche Ansichten und Lebenseinstellungen in sich trägt wie ich. Mir war das wichtiger als gutes Aussehen oder Sex geworden. Auch hier wurde ich stets von meinen Freunden belächelt.
Diese mir wichtig gewordenen Eigenschaften fand ich bei Marie. Ohne Kompromisse, ohne Kampf nach Freiheit, ohne großartige Erklärung verstand sie mich. Sie tat es einfach, für sie war es selbstverständlich. Mein Interesse an ihr war nach wenigen, aber dafür umso aussagekräftigeren Sätzen geweckt und ich lud sie kurzerhand ein, mich auf eine Veranstaltung zu begleiten. Ihre strahlenden Augen, ihre tolle Figur und die positive Ausstrahlung taten ihr übriges. Ich war hin und weg von ihr.
Warum war mir das nicht längst aufgefallen? Ich musste blind gewesen sein.
Wir tauschten Telefon- und Handynummern aus und verabredeten uns für die nächste Woche in einem Cafe. Bereits am Abend des ersten Treffens drängte etwas in mir, ihr eine kurze SMS zu schreiben. Ich wollte, dass Marie weiß, wie wohl ich mich bei ihr gefühlt habe. Und das schrieb ich ihr dann auch in kurzen, aber prägnanten Sätzen. Es dauerte nicht lang und mein Handy piepste. Eine Nachricht von ihr. Mit Freude las ich, dass es ihr ebenso erging! Damit war der Grundstein für intensiveren Kontakt gelegt.
Ich ertappte meine Gedanken dabei, wie sie ständig um meine neue Bekanntschaft kreisten. Marie war ein so außergewöhnlicher Mensch, dass ich gar nicht anders konnte, als an sie zu denken. Oder ihr eine liebe SMS zu schicken. Wie gut, dass sie meine Leidenschaft zum Simsen teilte.
Warum war mir all dies früher nicht aufgefallen? Warum blieb es mir verborgen?
Im Laufe der Zeit entwickelte sich einerseits ein lockerer und andererseits intensiver Kontakt, der mich sehr ausfüllte, mich glücklich machte. Ich strahlte wieder, meine Tage waren heller und ich freute mich auf jedes Wiedersehen.
Irgendwann kam der erste Kuss. Und dieser hatte es in sich, denn mir wurde schwindelig und das bei einer Frau, die ich schon ein Jahrzehnt lang kannte. Als sich erst unsere Lippen - sie hat unglaublich weiche - und dann unsere Zungen berührten, dachte ich tatsächlich, der Boden unter mir geht auf. Und ich war dankbar für meine scheinbar unmännliche Fähigkeit, solche Gefühle empfinden zu können. Diese Fähigkeit machte unseren ersten Kuss zu einem unvergesslichen Erlebnis und einem wunderbaren Geschenk. Denn selbst bei Sabine hatte ich dieses unglaublich intensive Gefühl nicht gespürt, wenn wir uns nah waren. Oder war es einfach nur in Vergessenheit geraten?
Wie auch immer, ich war unendlich glücklich und ebenso dankbar, denn Marie war für mich ein Geschenk des Himmels.
Sie hat mir gezeigt, dass es selbstverständlich sein kann, dem Partner in einer Beziehung Freiheit zu schenken, ihn nicht einzuengen und die eigenen Hobbys aufzudrängen. Dass man sich - wenn man nicht täglich aufeinander hockt - noch etwas zu erzählen hat. Dass man sich noch aufeinander freuen kann. Und dass man nur gemeinsam dafür Sorge tragen kann, dass eine Beziehung lange lebt, indem man sie frisch und jung hält. Indem man sie zu etwas Besonderem macht. Und das tun wir seit über acht Jahren, von denen wir seit fünf in einer gemeinsamen Wohnung leben. Und trotzdem hat jeder sein Stück eigenes Leben, weil wir beide es so wollen. Weil Marie ein besonderer Mensch ist und wir uns wunderbar ergänzen. Aus diesem Grund möchte ich ihr ein einzigartiges Geschenk machen, welches niemand anderes auf dieser Welt jemals besitzen kann.
Ein Gedicht...
"Du hast mir so viel gegeben
nur mit dir kann ich frei sein
nur mit dir kann ich leben
du bist mein Stern am Himmelszelt
hast mich wieder zum Leuchten gebracht
verkünde es voller Stolz der ganzen Welt
nur zu dir will ich immer wieder zurück
die Zeit mit dir ist so kostbar
du bist mein wahres Glück
du hast mir so viel gegeben
nur mit dir kann ich frei sein
nur mit dir will ich leben"
Texte: Reggi67
Bildmaterialien: google.de
Tag der Veröffentlichung: 04.04.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
mein Geschenk für die zweite Runde im Kurzgeschichten-Turnier 2012