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Annabelle


"Ich gehe davon aus, dass Sie die Angelegenheit streng vertraulich behandeln."
Der schwarzgekleidete Mann, der mir gegenüber auf dem etwas wackeligen Stuhl saß, sah mich mit einem Blick an, der keinen Widerspruch duldete.
Ich räusperte mich geräuschvoll.
"Das ist meine Spezialität, Mr. Thompson."
"Pssst!" zischte er, einer kampfeslustigen Python gleich.
Hektisch blickte der junge, etwas übergewichtige Mann in meinem kargen Büro umher.
"Keine Namen! Nie! Unter keinen Umständen nennen Sie jemals meinen Namen."
Wissend nickte ich und hob beruhigend meine rechte Hand.
"Haben Sie mich nicht explizit wegen meiner hundertprozentigen Diskretion aufgesucht?"
Siegessicher sah ich in seine müden, braunen Augen, erwartete aber dennoch gespannt seine Reaktion.
"Nennen Sie mich künftig einfach Mr. T. Egal, ob wir uns treffen oder telefonieren", sagte er stattdessen und erhob sich schwerfällig von dem einzigen Stuhl, der mein Büro zierte. Abgesehen von meinem schwarzen Ledersessel, auf dem ich nur mein eigenes Hinterteil platzierte und akzeptierte.
"Man versicherte mir sogar tausendprozentige Diskretion Ihrerseits", ließ er verlauten und wandte sich zum Gehen. "Man sagte, Sie wären der Beste!"

Man erzählte sich allerlei in dem kleinen Kaff, in dem ich seit mehr als zwanzig Jahren tätig war. Die Bewohner wussten aber definitiv nicht viel über mich. Stattdessen spekulierten sie damals reichlich über meine Person und mein plötzliches Erscheinen in diesem recht unspektakulärem Nest. Aber keiner von ihnen kam jemals nah genug an mich heran.
Nichts und niemand. Mit Ausnahme einer Person, aber das ist eine andere Geschichte.

***

"Das wird keine leichte Aufgabe. Wir suchen nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen", stellte George, mein langjähriger Partner, fest. Er hatte nur bedingt Recht, so schlecht standen unsere Chancen nicht, den Fall aufzuklären. George übertrieb maßlos, wie so oft. Es gab nicht viel, was mich davon abhalten konnte, einen Fall zu übernehmen. Und ich brauchte Herausforderungen dieser Art wie die Luft zum Atmen. Sie hielten mich am leben.

"Wir werden sie schon finden!" erwiderte ich überzeugt, während ich mir eine Kippe zwischen die Lippen schob. Ich betätigte den Zigarettenanzünder und fragte mich, ob George langsam den Spaß an unserer Arbeit verlor. Immerhin arbeiteten wir bereits seit über zehn Jahren zusammen.
Aber diesen Fall musste ich einfach übernehmen. Er versprach, der einzigartigste meiner bisherigen Laufbahn zu werden. So viel stand fest.
Ich zog noch einmal die mittlerweile etwas vergilbte Aufnahme hervor, die Mr. T mir zur Verfügung gestellt hatte. Fast akribisch studierte ich das Foto, sog jedes noch so kleinste Detail auf und speicherte es in meinem Hirn ab. Wenn ich eines besaß, dann ein fotografisches Gedächtnis.
Für meinen Beruf war diese Begabung unabdingbar. Oder war es eher eine Berufung?
Ich vergaß nie ein Gesicht, das ich einmal gesehen hatte.

***

George parkte unseren unauffälligen, schwarzen Volvo vor dem Motel, in dem es laut Mr. T passiert sein sollte. Sensorartig checkte ich das Gebäude vom Erdgeschoss bis zum Dach ab. Diese billige Absteige sollte der Ort gewesen sein, an dem er seinen Liebling zum letzten Mal im Arm gehalten hatte? Unvorstellbar, ich hatte den Thompsons besseres zugetraut.

"Einzel- oder Doppelzimmer?" fragte der schmierige Typ mit den fettigen Haaren am Empfang. Beim Doppelzimmer grinste er und ließ eine Reihe verstümmelter Zähne hervor blitzen.
"Pack dein Grinsen wieder in die Schublade", empfahl ich ihm trocken und orderte zwei Einzelzimmer. Sein Lachen erstarb augenblicklich, wortlos reichte er uns die Schlüssel.

"Was gedenkst du, in diesem Dreckloch zu finden?" fragte mich George sichtlich genervt.
"Keine Ahnung!" knurrte ich nur und widmete mich weiter meiner - zugegebenermaßen - recht erfolglosen Spurensuche. Irgendetwas musste hier doch zu finden sein, irgendein Hinweis, wohin Mr. T's Liebling verschwunden sein könnte. Wer hatte sie mitgenommen?
Wurde sie entführt? Von dieser Theorie ging mein Mandant zumindest aus und auch ich zog diese Möglichkeit in Betracht. George und ich schlugen uns die halbe Nacht um die Ohren und als der Morgen bereits graute, waren wir nicht wirklich schlauer.
Daher ging ich nun zu Schritt zwei auf meiner Fallbearbeitungsliste über. Diese persönliche Vorgehensweise passte ich jedem meiner Fälle an.

***

"Wie lange arbeiten Sie schon hier, Mister?" Ich stattete dem schmierigen Kerl von der Rezeption einen Besuch ab. Diesmal hielt ich ein Maß an Höflichkeit für angebracht.
"Warum wollen Sie das wissen?"

War dieser Typ nervig!
"Ich stelle die Fragen und Sie antworten", machte ich unmissverständlich klar, während ich mich mit einem Blick, der nichts Gutes verhieß, auf den Tresen lehnte. Seine Mundwinkel zuckten verdächtig.
"Seit fünfzehn Jahren ungefähr." Das gab mir schon mal die Gewissheit, dass er zum Zeitpunkt von Mr. T's Anwesenheit in diesem Motel bereits angestellt war.
"Sind Sie ein Bulle?" Seine Frage schickte eine Wolke seines Mundgeruchs in meine Nase.
Ich rümpfte selbige und flüsterte: "Das werden Sie sich wünschen, wenn ich mit Ihnen fertig bin. Ansonsten bin ich nichts für Sie."

Ich schaute mich um und vollendete meinen Vortrag: "Außer einem wahrgewordenen Albtraum."
Er riss die Augen auf sah mich entsetzt an. Pure Angst lag in seinem Blick.
Schon als ich diese verkommene Kaschemme betreten hatte, roch ich den faulen Braten. Der Stinker hatte etwas zu verbergen, da war ich ganz sicher.
Jetzt war es Zeit, das Spiel zu beginnen. Eindringlich sah ich in seine geröteten Augen.
"Erinnern Sie sich an die Familie Thompson, die im Sommer 1990 hier zwei Wochen gewohnt hat?" fragte ich ihn ohne Umschweife und ohne ihn aus den Augen zu lassen. Trotz des Verbotes von Mr. T, denn ich hatte meine eigenen Methoden und ließ mir nicht reinreden.

Niemals.

Unter keinen Umständen.
Dem schmierigen Typen wich jegliche Farbe aus dem verschwitzten Gesicht. Ich konnte quasi sehen, wie es hinter seiner faltigen Stirn ratterte. Dennoch versuchte er mich mit einem:

"Nein, im Sommer '90 habe ich einen verlängerten Urlaub in Griechenland gemacht", zu überzeugen.

"Und da sind Sie völlig sicher?"

Er nickte heftig, um seine Aussage zu untermauern, was mich nicht im geringsten überzeugen konnte. Seine Mimik sprach eine andere Sprache. Nun musste ich mich nur noch auf die Lauer legen, damit mir keine einzige Aktivität dieses Schmierlappens entgehen konnte. Eine weitere schlaflose Nacht würde mich erwarten. Aber das war es wert, Mr. T zahlte gut. Obwohl es mich schon ein wenig verwunderte, wieso er sich nicht selbst um die Sache kümmerte. Es konnte doch nicht so schwer sein, seinen Liebling von damals wieder zu finden. Oder verheimlichte er mir etwas?
Länger darüber nachzudenken, war mir nicht vergönnt. Ich harrte in meinem Versteck aus, es war bereits Nacht und ich musste wachsam bleiben. Der Empfangstyp näherte sich, ich konnte ihn nicht erkennen, aber seine Duftwolke ließ keinen Zweifel zu. Ich hielt die Luft an, es war recht eng in diesem Schacht. Hinter dem Metallgitter würde er mich nicht sehen. Davon gab es hier mehrere. Insbesondere hier oben, auf der letzten, aber unbewohnten Etage. Mein Gefühl sagte mir, dass er hierher kommen würde, reine Intuition. Und wie so oft, lag ich mal wieder goldrichtig. George hatte sich im Gewölbe des Untergeschosses verschanzt, aber wie es aussah, würde er dort vor Langeweile sterben. Vielleicht schlief er längst.

***

Wenn ich Glück hätte, würde der Typ mich direkt zu ihr führen, zu Mr. T's Liebling.
Sie musste ganz etwas Besonderes sein, wenn er sie all die Jahre über nicht vergessen hatte.
Zugegeben, die Aufnahme von ihr faszinierte auch mich auf eine gewisse Weise, zog mich in ihren Bann. Ich konnte ihn verstehen. Ich bin so emotional wie ein Kühlschrank, aber der Anblick dieses zarten Gesichtchen und der blonden Locken rührte mich irgendwie. Ich konnte mich dagegen nicht erwehren, nicht mal ein kleines Bisschen.
Der Kerl von der Rezeption holte mich zurück in die Realität, er fummelte an irgendeinem Schloss. Zumindest klang es so. Ich war mucksmäuschenstill, mir sollte keine seiner Handlungen mehr entgehen.
"Da bist du ja, mein Schatz", hörte ich ihn flüstern. Die Erregung in seiner Stimme bescherte mir Übelkeit, beinahe hätte ich mir in diesem verdammt engen Schacht auf meine Knie gekotzt. Wurde ich jetzt, auf meine alten Tage, etwa noch sentimental, oder was?
"Du gehörst mir, nur mir." Er küsste sie, ich hörte es ganz deutlich.
"Keine Sorge, ich werde nicht zulassen, dass er dich mir wegnimmt. Du bleibst bei mir, ein Leben lang. Mein kleiner Schatz..."
Ich hielt es nicht länger aus und befreite mich aus meinem engen Gefängnis. Der Kerl war so in seiner Gefühlsduselei vertieft, dass er mich erst bemerkte, als ich längst neben ihm stand und ihm seinen Schatz blitzschnell entriss. So einfach gab er sich jedoch nicht geschlagen, holte sein Eigentum zurück und sprintete los, bis zum Dachaufgang am Ende dieser Etage. Ich zückte mein Handy und orderte George zu mir nach oben. Keine Minute später standen wir gemeinsam auf dem Dach und hielten Ausschau nach dem Kerl und seinem Schatz. So nah dran war ich selten, so schnell wie dieser Fall ließen sich nicht alle lösen.
Noch war er aber nicht beendet, noch war ich nicht am Ziel. Wir suchten das gesamte Dach und seine Vorsprünge ab, schauten hinter jeden Stein und in jeden Winkel. Er konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Wo hatte er sich verkrochen?
Plötzlich vernahm ich wieder dieses erregte Flüstern.
Ich deutete George ruhig zu sein und mir zu folgen. Dass er sich mit ihr vergnügte, fand ich abartig, aber ebenso war es hilfreich, denn es würde mich direkt zu ihm führen in dieser dunklen Nacht. Also ließ ich ihn gewähren, ließ ihm Zeit mit ihr. Waren sowieso die letzten Sekunden, die er mit ihr teilen würde. Da konnte ich ruhig ein wenig Gnade walten lassen.
Wieder sprach er mit ihr, natürlich antwortete sie ihm kein einziges Mal. Wie sollte sie auch?
Es dauerte nicht lange und wir entdeckten ein etwas verstecktes Steingewölbe. Es war ins Dach eingelassen und somit nicht als solches direkt erkennbar. Jetzt stöhnte dieser Kerl auch noch.

Genug! Das reichte als Henkersgenuss.

George zog seine Waffe und richtete sie ins Innere des Gewölbes.

Dass er sich nicht zurückhalten konnte, wurde diesem Kerl nun zum Verhängnis.
Das Entsichern der Pistole ließ Mister Rezeption ertappt aufschrecken und sein Blick schnellte nach oben. Ich blendete ihn mit meiner Minitaschenlampe und griff nach dem Objekt der Begierde. Nun hielt ich sie in meinen Händen und dieses Mal würde sie mir nicht durch die Finger gleiten. Dieser arme Irre war mit sich selbst genug gestraft, würde also sowieso lebenslang bekommen. Lebenslang mit sich und seinen Macken, lebenslang mit seiner gestörten Persönlichkeit. Ich gab ihm den Rat, sich dringend in Behandlung zu begeben.
"Kann ich ihn nicht einfach erschießen?" fragte George unbekümmert.
Ängstlich winselte Mister Empfangsdame um sein niederes Dasein.
Nein, mein letzter Fall sollte nicht mit einem unsinnigen Mord in die Geschichte eingehen.

***

"Annabelle! Du bist wieder da! Ich kann es kaum fassen!" Beherzt drückte Mr. T seine kleine Porzellanpuppe aus Kindertagen an sich. Ich konnte sogar eine kleine Träne auf seiner Wange ausmachen. Glücklich strahlte er mich an.
"Ich weiß, es ist eines Mannes unwürdig, mit einer Puppe zu spielen, statt mit Autos oder anderen typisch männlichen Dingen. Doch bereits bei der ersten Begegnung, im Laden vom alten Baker, hatte mich ihre grenzenlose Schönheit fasziniert. Ich habe meinen alten Herrn damals förmlich angebettelt. Mit dem Ergebnis, dass er sie mir dann zum nächsten Geburtstag schenkte."
Ich lächelte und sah mir die Puppe an. Selbst nach so vielen Jahren war sie noch immer wunderschön.

"Ich kann Sie verstehen, Mr. T, Annabelle ist in der Tat etwas Besonderes. Und ich habe Ihnen mein Wort gegeben, dass wir sie finden werden. Und mein Wort pflege ich zu halten und das grundsätzlich."
Von Annabelles zartem Gesicht, den azurblauen Augen und den blonden Locken, die es umrahmten, musste man einfach fasziniert sein. Offensichtlich wurde ich senil, sentimental oder noch etwas Schlimmeres. So fasste ich den Entschluss, mich zur Ruhe zu setzen. Es war an der Zeit, meinen Lebensabend mit meiner eigenen Annabelle - aus Fleisch und Blut - zu verbringen. Sie wartete schon sehr lange darauf.
Mr. T legte freundschaftlich seinen Arm auf meine Schulter und brachte meine Gedanken ins Hier und Jetzt zurück.
"Danke, Sie haben mir ein Stück meiner Kindheit zurückgebracht."

 

ENDE

Impressum

Texte: Reggi67
Bildmaterialien: bookrix
Tag der Veröffentlichung: 02.03.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag für die Schreibarena Thema:"wir werden sie finden!"

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