Endlich.
Endlich ist es vorbei.
Endlich muss ich ihn nicht mehr teilen.
Sonntagvormittag, gegen 11:30 Uhr
Gleich würde er wieder - wie jeden Sonntag - seinen Rucksack packen. Das wichtigste Utensil dieser Füllung war der Feldstecher. Gefolgt von ein paar Flaschen seines Lieblingsbieres und deftigen Wurstbroten. Das Bier musste Arbeit haben und war eigens dafür da, die Stullen hinunter zu spülen. Jaja, natürlich. Herbert hielt mich schon immer für dumm. Und ich ließ ihn gern in dem Glauben, das machte mir vieles einfacher. Manchmal musste ich ihm auch Käsebrote machen, je nach Lust und Laune meines Göttergatten.
"Aber stell auch genug Bier raus, Charlotte!" rief er jeden Sonntagvormittag in die Küche.
Jaja, natürlich mein Liebster, wie könnte ich das auch vergessen?
Die Stullen mussten ja hinunter gespült werden. Gehorsam angelte ich drei Flaschen des gelben Zeugs aus dem Kühlschrank und stellte sie rechts neben die Brote. Schon schlurfte mein Angetrauter in die Küche um alles sorgsam in seinem giftgrünen Rucksack zu verstauen. Sein Heiligtum, den Feldstecher, durfte ich ohnehin nicht berühren. Darauf stand die Höchststrafe.
Unsere Küche war klein, also quetschte sich Herbert nah an mir vorbei, zu nah.
Das noch nicht ganz verdaute Frühstück machte sich uncharmant durch einen Würgereiz bemerkbar, der sich unweigerlich einstellte, als ich die Duftwolke meines Angetrauten vernahm, die er verströmte.
Offensichtlich hatte er heute noch nicht geduscht. Gleichgültig kratzte er sich an seinem Hinterteil, das nur durch einen ausgeleierten, nicht mehr ganz weißen Feinripp bedeckt wurde. Oben herum sah es auch nicht attraktiver aus. Das alte, verschwitzte Unterhemd trug er sicher schon eine Weile, es klebte ihm förmlich am Körper und machte diesen Anblick höchst unappetitlich.
"Was ist los, Charlotte? Ist dir dein Frühstück heute nicht bekommen? Du siehst schlecht aus."
Charmant wie immer, mein Herbert. Und so mitfühlend...
"In der Tat, Liebster", säuselte ich zuckersüß und kämpfte noch immer mit meiner Übelkeit, "mir ist nicht gut, ich leg mich noch mal hin, wenn du fort bist."
Eine gute halbe Stunde später war Herbert samt Rucksack verschwunden. Wie jeden Sonntag zog er sich auf seinen Hochsitz zurück, den er einem befreundeten Ehepaar für ein paar Tausend Euros abgeluchst hatte, nachdem er einmal dort oben gewesen war und die Aussicht genossen hatte. Diese aber bestand nicht etwa aus einer grünen Oase, wie er mir stets weismachen wollte. Sondern aus jungen, feschen Dingern, die pünktlich zum Frühling hin ihre Liebe zur Natur entdeckten und sich auf der angrenzenden Seufzerwiese eben dieser, der Sonne und manchmal auch der Liebe hingaben.
Diese riesige, saftige, grüne Aue heißt nicht wirklich Seufzerwiese, aber eines Nachts habe ich sie heimlich mit einer Flasche Sekt auf diesen Namen getauft. Und zwar haargenau eine halbe Stunde, nachdem ich diese Wiese ebenfalls mit vielen, kleinen und leisen Seufzern bepflanzt hatte. Dazu verholfen hatte mir der schöne Thomas, den ich ganz unspektakulär eines Morgens beim Bäcker kennen gelernt hatte. Ein Traum von einem Mann: Dunkle, kurze Haare, stahlblaue Augen, markante Nase, männliches Kinn und ein unglaublich erotischer, wunderschöner Mund, der zum Küssen einlud. Das taten wir dann auch, ganz heimlich, des Nachts auf der Seufzerwiese.
Seinen Geruch mochte ich, animalisch und verwegen. Bei ihm stellte sich kein Würgereiz ein.
Nach unserer ersten, unvergesslichen Nacht trafen wir uns regelmäßig. Jeden Mittwochabend verwandelten wir Herberts Hochsitz in eine Oase der Leidenschaft. Der bekam davon nicht mal ein Fünkchen mit.
Wenn er sich nachts - sturzbetrunken - zu mir ins Bett legte, wurde mir jedes Mal schlecht. Mittwochabend war seit jeher der Skatabend mit seinen Kumpels, daher hatte ich in dieser Zeit freie Bahn für den schönen Thomas. Herbert merkte nicht einmal, dass ich fort war und nach einem anderen Mann roch.
War mir nur Recht so!
Ein schlechtes Gewissen hatte ich nur bedingt, denn auch Thomas war seit einigen Jahren verheiratet. Ich liebte ihn nicht, wollte nur meine unerfüllten Bedürfnisse mit ihm stillen.
Das reichte mir. Nicht aber Thomas, der bald mehr von mir wollte. Eines Tages hielt er mir die Scheidungspapiere unter die Nase. Ich dachte, das sei schon die Krönung, aber da hatte ich mich kräftig geirrt. Das absolute Highlight folgte nur Sekunden später.
"Willst du mich heiraten, Charlotte?" fragte er mich, wobei er auch nicht auf den Kniefall verzichtete.
"Ich bin schon verheiratet", sagte ich unbekümmert und zog ihn wieder nach oben.
Thomas war verletzt, aber mir war das egal. Ich würde doch nicht aus einer Horrorehe ausbrechen, um mich dann in die nächste zu stürzen. Auch wenn Thomas der beste Liebhaber war, den ich jemals hatte. Das allein konnte kein Grund für eine Ehe sein. Gut, er war zudem noch der attraktivste Mann in meinem bisherigen Leben, aber auch das erschien mir als Grund für den Bund fürs Leben nicht ausreichend. Je mehr Thomas mich bedrängte, desto kleiner wurde die Flamme meiner Leidenschaft für ihn. Wie ein langsam verwelkendes Pflänzchen starb auch meine Lust auf ihn und so kam es, wie es kommen musste. Ich beendete diese Liaison.
Bald darauf lernte ich Joachim kennen. Ein Mann von Welt, der mich einerseits auf Händen trug und andererseits ein absoluter Macho war. In ihm fand ich meine wahre Erfüllung, meine wahre Bestimmung. Ich war mittlerweile Ende Dreißig und seit über zehn Jahren mit Herbert verheiratet. Das war eine harte Zeit und eine noch härtere Probe, die mir das Leben stellte. Es war an der Zeit, etwas zu ändern. Dieser kleine Perversling zog sich noch immer jeden Sonntagvormittag auf seinen Hochsitz zurück und beobachtete ungeniert das Treiben junger Mädchen auf der Seufzerwiese.
Joachim und ich trafen uns jeden Mittwochabend in der hölzernen Oase, zumindest in den warmen Monaten. Im Herbst und Winter harrte er traurig und einsam auf seiner Lichtung aus. Sehnte unseren Besuch schon ungeduldig herbei, wartete auf Gesellschaft. Ich hatte den Hochsitz mittlerweile liebgewonnen, fest in mein Herz geschlossen. War erfüllt von Dankbarkeit für die schönen Stunden, die er mir durch sein Dasein ermöglichte.
Sonntagvormittag, gegen 11:30 Uhr
Ich stand wieder einmal mehr in der Küche und schmierte die Brote für Herbert. Diesmal allerdings mit einer exzellenten Zugabe, die meinem Göttergatten ganz besonders schmecken würde. So ein Brot hatte er in seinem ganzen Leben noch nie gegessen und würde es auch nicht mehr.
Sonntagnachmittag, 14:45 Uhr
Polizeisirenen ließen mich hochschrecken, ich sah aus dem Fenster. Ein Krankenwagen beendete die Kolonne, die Richtung Hochsitz fuhr. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich.
Doch dann hellte sich mein Gesicht auf.
War es schon geschehen?
War die Schmach nach über zehn Jahren endlich beendet?
War nun tatsächlich alles vorbei?
Eine gute Stunde später wurde ich von einem Polizeibeamten darüber informiert, dass mein Göttergatte samt einer jungen Studentin leblos im Hochsitz aufgefunden wurde.
Ich brach in Tränen aus und schluchzte dem Beamten ungeniert ins Telefon. Er sprach mit beruhigenden Worten auf mich ein. Doch ich hörte ihm gar nicht zu...
Dieser Perversling hatte es nicht anders verdient, aber wieso diese Studentin? Fieberhaft dachte ich nach, meine Gedanken fuhren Achterbahn, schwammen hin und her in meinem Hirn.
Es konnte nur eine Möglichkeit geben: sie hatte ebenfalls Hunger und er gab ihr großzügig etwas von seinen vergifteten Stullen ab.
Oh dieser Trottel!
Diese Tatsache machte mich in einer Sekunde zur Doppelmörderin. Aber das war mir egal, ich wollte meinen geliebten Hochsitz für mich alleine. Ohne Störenfried, ohne leere Bierflaschen, die überall herumstanden, ohne Herberts Dunstwolke, die sogar Mittwochs noch im Hochsitz schwebte und mich zum Würgen brachte.
Nachdem das Telefonat beendet war, legte ich den Hörer lächelnd auf.
Endlich.
Endlich ist es vorbei.
Endlich muss ich ihn nicht mehr teilen.
Epilog
Die Polizei hat selbstverständlich Untersuchungen eingeleitet, die vor allem Charlotte betrafen. Ob sie ihr allerdings auf die Schliche gekommen sind, das überlasse ich allein der Fantasie der Leser. Ich habe absichtlich dieses Ende gewählt und gewähre somit Raum für eigene Gedanken
Texte: Reggi67
Bildmaterialien: google.de
Tag der Veröffentlichung: 08.02.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Mein Beitrag zum Wettbewerb im Februar 2012