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Silvester im Park?

"Was ist denn dahinten los?" fragte eine aufgeregte Dame und zeigte auf die Hundertschaft an Polizisten auf der anderen Seite der Straße.


"Seien Sie doch nicht so neugierig, Sie alte Schachtel!" rief ein junger Mann böse.
"Irgendjemand ist mal wieder verschwunden. Und die Polizei muss sich drum kümmern, wie immer!" schimpfte jemand, ein Raunen ging durch die gaffende Menge.

"Vielleicht ist die Kleine ja auch schon längst tot!" mutmaßte die neugierige Alte kaltherzig.
Ein alter Mann mit weißem Bart kam langsam näher.

"Was für eine Kleine? Wird ein Kind vermisst?" Sein Interesse klang aufrichtig.
Sie sah ihn kratzbürstig an. "Was weiß denn ich? Bei einer Hundertschaft muss es sich doch um ein Kind handeln, oder warum machen die sonst so einen Aufriss?"
Der alte Mann zupfte an seinem Bart, die Alte kam ihm merkwürdig vor, das konnte man sehen und spüren. Die Frau mit dem runzeligen Gesicht fühlte sich plötzlich unwohl in ihrer Haut, dann ging sie einfach weiter ihrer Wege. Der Alte sah ihr lange nach, immer noch an seinem weißen Bart zupfend.
Langsam, aber stetig entfernte sich die Hundertschaft Polizisten und es wurde leiser in der Straße, die Menschen verließen ihren Stehplatz in der ersten Reihe und schlossen die Fenster. Setzten sich wieder auf ihre weichen Sofas in ihren warmen Stuben und schauten fern oder hörten Musik oder taten eben einfach das, was sie immer taten. Sich einen Dreck um andere Menschen scheren.

"Nimm deine Finger da weg, ich sage dir, wann und wie viel du essen darfst."
Verängstigt wich das kleine Mädchen zurück, ihr Magen knurrte ununterbrochen. Seit fast zwei Tagen hatte sie kaum gegessen. Der Penner, dem sie einfach ungefragt Gesellschaft leistete, schaute sie bitterböse an. Richtige Lust auf ihr Dasein hatte er nicht. Und schon gar nicht, dass sie ihm sein Essen wegfutterte. Das ging ja mal gar nicht. Wo kämen wir denn da hin, wenn nun schon den armen, alten Pennern das Essen geraubt wurde?
Er, der arme Hermann, dem das Leben so übel mitgespielt hatte und dem es doch so schon mies genug ging, sollte nun auch noch sein mühsam zusammengebetteltes Essen teilen? Das konnte man nun wirklich nicht von ihm verlangen!
Die Kleine wärmte sich indes am Feuer, war schon ganz durchgefroren. Zwei Tage irrte sie nun schon durch den riesigen Park, versteckte sich des Nachts im Unterholz. Nur gut, dass noch keine Minusgrade herrschten, denn dann wären die Nächte ihr sicherer Tod gewesen. Hermann saß neben ihr und verschlang fast den ganzen Inhalt aus dem alten, verschlissenen Topf, den er über dem Feuer erwärmt hatte. Irgendeine Dosensuppe, auch nur eine erbettelte. Sie schmeckte scheußlich und er vermochte nicht mal erkennen, was er da eigentlich aß. Aber der Hunger trieb es rein. Das kleine Mädchen neben ihm sah neidisch in den Topf und schmatzte laut vor sich hin.

"Hier! Iss den Rest, du kleine Nervensäge!"

Lieblos klatschte er ihr die Suppe in ihre kleine Hand. Gierig schlürfte sie den Rest der heißen Speise aus der rostigen, kaputten Kasserolle. Das tat so gut! Endlich bekam ihr Magen etwas zu tun, endlich wurde ihr Hunger ein klein wenig gestillt.

"Und jetzt geh' schlafen, Kleene, es ist schon spät. Und ich bin müde."

Hermann zog sich auf sein selbst gebautes Bretterbett zurück und deckte sich mit mehreren, warmen Decken zu. Die Kleine legte sich auf den Stapel aus Pappe, den sie unter größter Anstrengung errichtet hatte und schlüpfte in den alten, zerfledderten Schlafsack, den sie irgendwo draußen gefunden hatte. Irgendjemand hatte ihn achtlos weggeworfen, vermutlich brauchte man ihn nicht mehr. So wie ihre Oma sie nicht mehr brauchte und auch einfach fortgeschickt hatte. Sie war mit ihr hierher, in den tiefsten, dunkelsten Teil des Parks gegangen und dann war sie plötzlich weg. Johanna suchte und suchte, rief nach ihr, doch irgendwann war ihr klar, sie wurde einfach hier zurück gelassen. Von der eigenen Oma! Warum, wusste sie nicht. Sie hatte ihre Oma nicht wirklich gern, zugegeben, aber rechtfertigt das so eine Tat? Was also war ihre Schuld?

Ihr bloßes Dasein! Sie war einfach da! Das war alles, das war ihre Schuld.

Ihre Oma wollte sie nicht bei sich haben, sie hielt es ziemlich genau auf den Tag zwei Jahre mit ihrer Enkeltochter aus. Vorletztes Silvester kam sie zu ihr und auch jetzt war es kurz vor Jahresende.

Hermann schnarchte so laut, dass man dachte, er fälle den gesamten Park. Das wäre gar nicht schlecht für Johanna, denn dann würde sie vielleicht wieder aus dem dunklen, tiefen und gruseligen Park herausfinden.

Aber wollte sie das überhaupt? Wo sollte sie denn hin?

Das Nachdenken und Grübeln ließ ihre Lider schwer werden und bald fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Die Nächte waren kalt, nur die lodernde Flamme wärmte Hermann und Johanna.

Schon früh am Morgen erwachte Johanna, es war noch nicht richtig hell. Etwas kitzelte sie an der Nase, an der Stirn und den Wangen. Sie schlug ihre Augen auf und blickte in einen dunklen, aber klaren Himmel, der unzählige weiße Flöckchen auf die Erde schickte. Johanna blinzelte, das kalte Weiß nahm ihr die Sicht.
Doch dann fuhr sie plötzlich hoch, da war doch jemand! Sie erkannte Umrisse einer Gestalt im langsam dämmernden Morgengrauen. Sie öffnete ihren Mund und wollte schreien, Angst erfüllte ihren kleinen Körper, als die Gestalt näher an sie herantrat. Sie blinzelte in das Gesicht eines alten Mannes, er lächelte und legte einen Finger auf seine Lippen, um ihr zu deuten, dass sie Hermann nicht wecken sollte. Plötzlich wich alle Furcht aus ihr, der Alte kam ihr merkwürdig vertraut vor. Neugierig betrachtete sie ihn, wie er an seinem weißen, langen Bart zupfte.

"Wer bist du?" fragte Johanna.

"Du bist auf jeden Fall die kleine Johanna und fünf Jahre alt. Aber bald wirst du sechs."

Johannas Augen wurden riesengroß. Das stimmte, aber...
Woher wusste der das bloß? Und warum hatte sie gar keine Angst mehr vor ihm? Der Alte setzte sich zu ihr auf die Pappe.
"Ein bequemes Bett hast du da. Hat er dir das gebastelt?" fragte er und deutete auf Hermann, der langsam aus einem Misch aus Rausch und Schlaf erwachte.

"Nein!" rief Johanna, nicht ohne Stolz, "das habe ich ganz alleine gebaut."
Der alte Mann lächelte.
"Du bist ein tolles Mädchen, aber das weiß ich ja schon lange. Doch verrate mir eines: was machst du mitten im Winter kurz vor dem Jahreswechsel hier draußen?"

"Oma ist hier mit mir spazieren gegangen und dann ist sie ohne mich weg. Sie hat mich einfach hier gelassen."

Johanna fing an zu weinen und der Alte legte tröstend einen Arm um sie. Plötzlich vernahm er eine Dunstwolke aus Alkohol und Schweiß neben sich.

"Hey, wer bist du denn und wat machste da mit meiner Kleenen?"
Hermann war unbemerkt zu den beiden gestoßen.

"Deine Kleene? Pah, dass ich nicht lache! Das ist meine Enkelin, die ich seit fast drei Jahren nicht mehr gesehen habe! Und sie wird auf keinen Fall hier in der Kälte bleiben."

Johanna und Hermann starrten den Alten mit offenem Mund an.

"Duuu bist mein Opa?" fragte das Mädchen ungläubig. Er nickte.
"Ja, Johanna. Aber du erinnerst dich natürlich nicht mehr an mich. Ist zu lange her. Deine Mutter war meine Tochter und ist ja im Himmel, wie du weißt. Dann bist du zu deiner Oma gekommen, die ich nicht mal kenne. Die Mutter deines Vaters. Sie hat jeden Versuch, mit dir Kontakt aufzunehmen oder dich zu besuchen, unterbunden", sagte er traurig.

"Aber ich habe immer an dich gedacht und als ich dich heute einfach spontan besuchen und dir ein Geschenk überreichen wollte, spürte ich, dass etwas nicht in Ordnung ist. Eine Hundertschaft Polizisten hat nach einem Kind gesucht und ich dachte sofort an dich!"

"Dann bin ich ja doch nicht allein!" rief Johanna freudig, sprang auf und tanzte um das Feuer herum wie Rumpelstilzchen. Der Alte lächelte, zückte seine Geldbörse, fingerte nach einem Fünfzigeuroschein und steckte ihn Hermann zu.

"Mach dir einen schönen Silvesterabend", sagte er, obwohl ihm klar war, dass Hermann das Geld zu flüssigem Brot machen würde.
"Am Ende der Glockenstrasse, auf der linken Seite ist ein Heim für Menschen wie dich, da findest du immer ein warmes Bett."
Doch Hermann hörte gar nicht zu, starrte nur ungläubig auf den Fünfziger in seiner alten, faltigen und kalten Hand, die in einem zerfetzten Fingerhandschuh steckte.

"Komm Opa, bring mich weg von hier, mir ist so kalt", bettelte Johanna und zog den Alten an der Hand. Dem war bewusst, dass er das Mädchen nicht einfach mitnehmen konnte, aber er war vorbereitet. Die nötigen Papiere trug er in einer Aktentasche bei sich. Er ließ sie nicht aus den Augen, denn in ihr lag die Zukunft von Johanna, sicher verwahrt. Also ging er mit seiner Enkelin zur nächsten Polizeidienststelle und klärte mittels Ausweispapieren und Dokumenten auf, dass Johanna tatsächlich seine Enkeltochter war. Und erfuhr, dass gar nicht nach ihr, sondern nach einem kleinen Jungen gesucht wurde. Der sich aber glücklicher Weise nur verlaufen hatte und längst zurück bei den Eltern war. Zwei Polizisten statteten Johannas Großmutter einen Besuch ab und luden sie auf einen Gefängnisurlaub ein, bei dem sie allerdings nicht die Wahl hatte, sie musste ihn antreten. Ihren Jahreswechsel würde sie hinter Gittern feiern müssen, obwohl sie es sich doch so herrlich gemütlich vorgestellt hatte, ganz ohne ihre nervige Enkeltochter ins neue Jahr zu rutschen. Statt dessen saß sie nun in Untersuchungshaft. In einer kleinen, ungemütlichen Zelle auf einem harten und kalten Bett.

So eine Ungerechtigkeit!

Johanna hingegen feierte ein wunderbares Silvesterfest im Kreise der Familie, die sie bisher noch nicht kannte. Mit ihrem Opa Bernhard, der Oma Irmgard, die sie auf Anhieb mochte, ihrem Onkel Ullrich, der Bruder ihrer verstorbenen Mama, seiner Frau Eva und ihren beiden achtjährigen Zwillingen Lisa und Lea.
Die Zustimmung des Jugendamtes war nur noch eine Formsache.

Endlich hatte Johanna eine richtige Familie.

- Ende -

Impressum

Texte: Recht am Text bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 29.12.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für einen guten Zweck! Ich wünsche allen einen angenehmen Jahreswechsel

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