Ich will heim.
Keine Ahnung, warum plötzlich. Irgendwann war dieses Gefühl einfach da.
Wurde größer und größer, bis es übermächtig schien. Dabei hatte ich mich so auf die gemeinsame, kleine Studentenbude mit Yvonne, meiner besten Freundin, gefreut.
Wir haben uns eine richtig gemütliche, schnuckelige Wohlfühloase eingerichtet, in der sogar das Lernen Spaß macht. In einer wunderschönen Stadt, direkt an einem ebenso schönen See. Aber Potsdam ist nun mal nicht Konstanz. Im Gegenteil, ich befinde mich gefühlte zehntausend Kilometer von daheim weg. Kurz auf einen Kakao zuhause vorbeischauen und mit Mutti in der großen Küche plaudern, gestaltet sich bei dieser Distanz äußerst schwierig.
Auch wenn die tatsächliche Entfernung nur aus ungefähr achthundert Kilometern besteht.
Oh weh, was ist bloß los mit mir? Ich bin doch schon einundzwanzig Jahre alt und plage mich mit Heimweh herum wie ein Kleinkind?
Ich will heim.
"Dieses Gefühl lässt sich vom Alter weder beeindrucken noch beeinflussen", sinnierte mein Psychologieprof letzte Woche, als ich mich ihm anvertraute. Sympathisch, der alte Herr. Fast jeder in meinem Kurs mag ihn und seine Art des Lehrens. Er hat die erforderliche Strenge und dennoch dann und wann einen Witz auf den Lippen, wenn es passt. Daheim in Konstanz würde ich ihn sicherlich sehr vermissen. Was rede ich? Nicht nur Professor Fink, sondern viele Dinge hier aus Potsdam würden mir in meiner Heimat fehlen, ganz bestimmt sogar.
Aber den Sonnenaufgang am Hörnle, daheim in Konstanz, kann unser Ausblick auf den See nicht toppen. Dieses Schauspiel ist absolut einzigartig, zumindest für mich. Ich sehne mich so sehr danach, dort mit Freunden oder meiner Familie zu sitzen und die aufgehende Sonne zu genießen, zu zelebrieren.
Ein wunderschönes Bild, das sich in letzter Zeit immer wieder in meine Gedanken schleicht und dieses Gefühl von Sehnsucht und Heimweh erzeugt. Dieses Ineinander übergehen der Farben am Horizont, diese einzigartige Stimmung, die ich schon so oft auf Leinwand gebannt habe, lässt sich durch nichts ersetzen. Menschen, die im Sand oder auf der Wiese nebeneinander sitzen und gefangen den Blick gen Horizont richten. Unbezahlbar.
Ich will heim.
Yvonne schaut mich besorgt an.
"Was ist los mit dir? Hast du denn gar keinen Hunger?"
Wir sitzen uns am Frühstückstisch gegenüber. Lustlos stochere ich in meiner Müslischale herum und male Bilder aus den Flocken, die sich in der Milch vor mir verstecken. Mein Gesicht auf die linke Hand gestützt. Dann fühle ich etwas auf meiner Stirn.
"Sag mal, hast du Fieber, Claudia?" Ihr ernstes Gesicht bringt mich tatsächlich zum Schmunzeln.
"Das ist nicht witzig, du fühlst dich ganz warm an und deine Augen wirken, als hättest du Drogen genommen, so glasig." Meine Mundwinkel sinken wieder nach unten. Ich winke ab und schiebe, immer noch lustlos, einen Löffel voll fröhlich aussehender Cornflakes in meinen Mund. Widerwillig kaue ich sie klein und schlucke die Masse herunter. Ich habe keinen Hunger, der Löffel gleitet zurück in die Schale.
"Ich leg mich wieder hin", sage ich, erhebe mich schwerfällig vom Küchenstuhl, weil mein Körper sich wie Blei anfühlt und will zurück ins Bett gehen. Doch nach ein paar Schritten wird mir schwarz vor Augen und ich sinke zu Boden wie ein nasser Sack. Yvonnes erschreckter Aufschrei und das Herbeirufen unseres Hausarztes entzieht sich meinem Bewusstsein. Davon erfahre ich erst, als ich wieder zu mir komme und der Doc sich gerade über mich beugt, um seine Untersuchung durchzuführen.
"Was ist passiert?" frage ich, noch etwas benommen.
"Fräulein Winter, Sie sind zusammengeklappt. Sie haben hohes Fieber und ihr Kreislauf hat ein wenig schlapp gemacht, das kann schon mal passieren." Er sieht mein erschrecktes Gesicht, denn ich bin noch niemals einfach umgekippt.
"Keine Sorge," beruhigt er mich lächelnd, "Sie werden schon wieder."
Hohes Fieber? Was meint er damit? Wieso bin ich so plötzlich krank geworden?
"Ich habe weder Schnupfen, noch Husten oder Halsweh. Wieso fühle ich mich so schlecht, ohne eigentlich krank zu sein?" frage ich den Doc. Er fühlt meinen Puls und schaut auf die Uhr an seinem haarigen Arm.
Ich will heim.
"Gestern war sie noch fit," mischt sich nun auch Yvonne ein, "aber es ging ihr trotzdem schlecht, nur eben nicht körperlich."
"Aha, interessant", stellt unser Hausarzt fest und setzt sich auf den Stuhl neben mich. Er wendet sich Yvonne zu.
"Erzählen Sie."
"Sie hat seit ein paar Wochen Heimweh, das irgendwie ständig schlimmer wird. Claudia hat zu nichts mehr Lust, geht kaum noch aus, selbst die Uni besucht sie nur noch sporadisch."
Die beiden reden über mich, als sei ich gar nicht anwesend.
"Hallo? Ich bin noch da", mache ich deshalb auf mich aufmerksam.
Das Mittel gegen Fieber, welches Doc Hölter mir verabreicht hat, tut langsam seine Wirkung. Mein Verstand wird klarer und ich stabiler. Behutsam setze ich mich auf. Nun wendet sich der Doc mir zu.
"Es stimmt, was Yvonne sagt. Eigentlich fühle ich mich wohl hier, aber seit ungefähr drei Wochen wird meine Sehnsucht nach daheim täglich schlimmer. Es tut sogar richtig weh im Herzen", erkläre ich traurig und schäme mich ob meiner Gefühle. Verlegen starre ich auf meine Füße, eine leichte Röte überzieht mein blasses Gesicht.
"Fräulein Winter, Sie brauchen sich dessen nun wirklich nicht zu schämen. Heimweh ist ein ganz normales Gefühl. Nur..."
Er räuspert sich.
"Nur?" hake ich nach.
"Nun ja, wenn es so ausgeprägt ist, wie bei Ihnen momentan, dass es körperlich krank macht - also Symptome verursacht - dann sollte man nach einer Lösung suchen."
Ich will heim.
"Claudia!" Meine Mutter starrt mich ungläubig an, "Claudia? Was machst du denn hier?"
Ihre Stimme klingt entsetzt und besorgt zugleich.
"Hallo Mama!" Ich schmiege mich in ihre schützenden Arme, will sie gar nicht mehr loslassen.
"Komm doch erst mal rein, Kind", sagt sie, schon liebevoller und streichelt über mein Haar.
"Mein Hausarzt und mein Psychologieprof haben mir dringend Heimat verschrieben, weil ich solche Sehnsucht nach euch hatte", erkläre ich bei einer Tasse heißem Kakao, den ich auf unserem alten, gemütlichen Sofa schlürfe.
"Und was machen wir nun? Wie stellst du dir das jetzt weiter vor?"
Der Ausdruck auf ihrem Gesicht ist mir wohlbekannt, da ist Vorsicht geboten. Aber so hart, wie sie oft tut, ist meine Ma gar nicht. Nur weiß sie nicht, dass ich ihr Geheimnis kenne. Ich habe sie furchtbar lieb.
"Ich möchte wieder heim, Mama, auch wenn ich dann auf meine beste Freundin verzichten muss. Aber das ist ja nicht für immer und so oft es geht werden wir uns an den Wochenenden sehen."
Wieder dieser Ausdruck in ihren Augen, ich muss konkreter werden.
"Ich möchte hier weiter studieren, hier in meinem geliebten Konstanz", schließe ich meinen Vortrag.
Meine Mutter sieht mich ernst an, sehr ernst.
"Unter einer Bedingung, Claudia. Du wirst in dieser Entscheidung konsequent bleiben und nicht in ein paar Wochen zurück nach Potsdam wollen. Haben wir uns da verstanden, junge Dame?"
In dem Moment geht die Tür auf. Mein Vater lässt geräuschvoll seine Aktentasche zu Boden fallen, als er mich entdeckt.
"Kleines!" ruft er liebevoll, "ist etwas passiert'? Was machst du denn hier, mitten an einem Montagnachmittag?"
Er drückt mich so fest an sich, dass ich kaum noch Luft bekomme.
Ein wunderbares Gefühl, seine ehrliche Freude über unser unerwartetes Wiedersehen zu spüren, während er mich im Arm hält.
"Es ist schön, dass du da bist, Prinzessin. Wie lange bleibst du?"
Ein Lächeln legt sich auf mein Gesicht, Zufriedenheit erfüllt meinen gesamten Körper, mein Herz und meine Seele.
"Für immer, Papa, für immer."
Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2011
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