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Unvollständig



Dieser Abschnitt meines Lebens ist der tragischste und härteste in meinem bisherigen Dasein.
Der Weg, den ich gezwungen war, zu gehen, war der steinigste aller meiner bisherigen.
Darüber zu berichten fällt mir schwer, immer noch. Was für Außenstehende, Unbeteiligte kaum nachvollziehbar war, bedeutete für uns die einzige Option, um überleben zu können.

Heute ist es für mich und mein Gewissen nicht mehr wichtig, was andere über mein Muttersein und meine Entscheidung denken. Die Gesellschaft soll mich bewerten, wie sie mag. Ich kann dazu nur eines sagen:

"Bevor ihr über mich urteilt, zieht meine Schuhe an und geht ein Stück meines Weges."

Damals aber bin ich daran fast zerbrochen. Ich musste ein Stück meines Herzens und meiner Seele fortgeben. Mich von etwas trennen, was doch zu mir gehörte! In welch Adern mein Blut floss und noch immer fließt. Musste einen geliebten Menschen lernen loszulassen. Aber wie soll das je funktionieren? Dafür gibt es keine Schule oder Kurs, in dem man hätte lernen können, damit umzugehen. Und die quälenden Gedanken, dass man schier versagt hat, die kann einem auch niemand schön reden oder gar nehmen.
Auch heute noch, nach langen acht Jahren, sind die Schuldgefühle präsent, begleiten mich auf meinem Lebensweg. Sie war noch so klein, so jung und so zart. Und doch schon zerstört.
Gezeichnet von einem Trauma, das kein Mensch auf Erden durchleben müssen sollte.

Bald war es nicht mehr zu ertragen, ein Zusammenleben nicht mehr möglich. Aber sie trug keine Schuld, auch wenn sie sich das bis heute einredet. Niemals, nicht eine einzige Sekunde ihres Lebens war sie mit Schuld beladen.

Schuld trug nur er...
Es vergingen nur einige Monate, bis das Unvermeidliche eintrat. Sie musste fort, aber wie könnte ich sie je gehen lassen? Ich wollte es nicht, wusste aber tief in meinem Innern, dass sie zuhause keine Chance auf ein normales Leben mehr haben würde. Ich bin daran kaputtgegangen, innerlich zerbrochen, aber es gab keine andere Lösung.

Es war wie ein kleiner Tod für mich.
Alle Möglichkeiten waren ausgeschöpft und nun blieb nur noch die eine, letzte, alles verändernde, einschneidende Option. Unterbringung in einer heilpädagogischen Einrichtung.
Ich habe damals nicht an das Konzept "Distanz schafft Nähe" geglaubt, doch ich wurde eines Besseren belehrt. Es dauerte unendlich lange, bis wir alle uns einigermaßen an diesen Zustand gewöhnen konnten. Sie war weg, ein riesiges Loch, eine menschliche Lücke war entstanden, die sich nie wieder füllen lässt. Mit der Zeit habe ich jedoch realisieren können, dass ich nicht nur einen unglaublich schlimmen Verlust zu beklagen, sondern auch etwas gewonnen hatte.

Bald nach ihrem Umzug in die Einrichtung nahte das erste Weihnachtsfest, dem ich mit Schrecken entgegen sah. Sie würde nicht mit uns unterm Weihnachtsbaum sitzen und Geschenke auspacken. Nicht mit uns Lieder singen, nicht mit uns essen, einfach nicht da sein...

Es zerriss mir fast das Herz. Dieses Weihnachten war so anders. Der erste Heilige Abend ohne sie. Dieser Schmerz in meiner Brust nahm mir den Atem, schnürte mir die Kehle zu, lähmte mich. Ich hätte nie gedacht, dass es für mich so schlimm werden würde.

Wir waren unvollständig!

Zum ersten Mal würde sie fehlen, in der besinnlichen, der schönsten Zeit des Jahres.
Am ersten Weihnachtstag bin ich dann mit Kind, Kegel und Geschenken zur Einrichtung gefahren. Und statt hier bei uns unterm geschmückten Bäumchen, packte meine Kleine in ihrem Zimmer die Präsente aus. Sie fühlte sich dort wohl, das war nun mal jetzt der Ort, an dem sie lebte. Aber in regelmäßigen Abständen übermannte sie immer wieder die Sehnsucht nach ihrem richtigen Zuhause. Das waren dann die besonders schweren Momente und diese waren in der Weihnachtszeit noch ausgeprägter als im Alltag.
Nachdem sie dann alles aus der Verpackung geschält hatte, wurde es auch langsam Zeit für das Kaffeetrinken in der Gruppe. Zusammen mit den anderen Kindern und deren Eltern. Das war eigentlich immer sehr schön. Herr Schulte, ein damaliger Erzieher/Betreuer, holte seine Gitarre hervor und sang Weihnachtslieder mit uns.
In der Ecke, neben dem großen Tisch, leuchtete jedes Jahr ein wunderschöner, echter Weihnachtsbaum, an dessen Duft ich heute noch erinnere. Als wäre es gestern gewesen...


Zur Weihnachtszeit hatte sich die Einrichtung immer sehr viel Mühe gemacht. Schon, wenn man zur Pforte hereinkam, hieß ein riesiger, reichlich geschmückter Tannenbaum jeden in der Eingangshalle willkommen. Das ganze Haus war stets festlich hergerichtet. Leider konnte auch das nicht über den immerwährenden Trennungsschmerz hinwegtrösten.
Nach ungefähr zwei Stunden endete der Besuch und man musste sich schweren Herzens wieder trennen.

In meinem ganzen Leben werde ich nie die Momente vergessen, in denen ich aus der Tür trat und meine Süße ans Fenster. Ihr Zimmer lag zur Straße und bei jedem Abschied winkte sie mir und schickte Küsschen durch die Luft. Hatte sie das Fenster geöffnet, riefen wir uns zu - mitten auf der Straße - wie lieb wir uns haben.

Einmal kreuzte genau in diesem Moment ein älteres Ehepaar unseren Weg und wurde somit zu unfreiwilligen Zeugen. Sie waren davon offensichtlich sehr angetan und blieben eine Weile stehen. Dann lächelten sie uns auf eine besondere Art und Weise zu. Das ein oder andere Mal denke ich heute noch an diesen emotionalen Augenblick zurück. Nach und nach veränderte sich natürlich die Besuchssituation und bald durfte sie den ersten Weihnachtstag bei uns zuhause verbringen. Endlich! Denn durch diese Regelung hatten wir viel mehr Zeit füreinander. Das war etwas ganz Besonderes, als sie zum ersten Mal mit uns unterm Baum saß und ihre Geschenke daheim auspackte.

Unvergesslich!
Das Wichtigste, das über allem steht, ist jedoch der Kontakt zwischen ihr, ihren Brüdern und mir, der niemals abgebrochen ist. Sie konnte sich immer darauf verlassen, dass ich sie besuche oder nach Hause hole. Bis auf eine zeitlich begrenzte Ausnahme aus Krankheitsgründen, aber das ist eine andere Geschichte.
Dieses Jahr wird es an Weihnachten noch anders werden. Bedingt durch ihr Alter, ihre gewonnene Reife und einen Umzug in eine Wohngruppe im letzten November, wird sie am ersten Weihnachtstag sogar über Nacht bleiben. Und wenn das gut läuft, gilt für Silvester das gleiche. Das ist das erste Mal seit acht Jahren, dass wir die Möglichkeit haben, den Jahreswechsel zusammen zu feiern.
Ich kann es noch gar nicht richtig glauben.

Impressum

Texte: Recht am Text nur bei der AutorinBild: Ausschnitt unseres Weihnachtsdorfes auf der Fensterbank...
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2011

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