Was hatte er da gerade gesagt? Das konnte doch nicht sein Ernst sein!
„Nein, kommt nicht in Frage, Robert!“
Mein bester Freund setzte seinen Hundeblick auf. Nur schwer konnte ich seinen braunen Dackelaugen widerstehen und das wusste der Mistkerl auch ganz genau! Doch diesmal half auch das erst einmal nichts. Und überhaupt, der war doch wohl von allen guten Geistern verlassen!
"Bitte Selina, du musst das für mich tun."
Energisch schüttelte ich meinen blonden Lockenschopf.
"Nur dieses eine Mal", flehte Robert, "danach bitte ich dich nie wieder um etwas."
Das klang widerum verlockend. Ich mochte Robert total, aber er hatte schon seine Macken.
Und er zog mich des Öfteren in seine Schlamassel hinein, was mir überhaupt nicht behagte.
"Warum erzählst du deinem Bruder auch so einen Schwachsinn?"
Mein engster Freund scharrte verlegen mit den Füßen.
"Ich weiß auch nicht, warum ich das gesagt habe", murmelte er. Na toll! Und ich sollte es nun ausbaden? Seit mehr als drei Jahren war ich mit Robert befreundet, aber seinen Bruder kannte ich noch nicht. Er war der einzige Teil seiner Familie, mit dem überhaupt noch Kontakt bestand.
Mit seinen Eltern hatte er bereits gebrochen, bevor wir uns auf damals auf der Silvesterfeier eines gemeinsamen Bekannten kennengelernt hatten. Robert ging einen anderen Weg, als seine Eltern für sein Leben ursprünglich vorgesehen hatten. Ihr Wunsch war, dass er Medizin studiert, um in späteren Jahren die Praxis seines Vaters übernehmen zu können. Dieser Plan jedoch durchkreuzte Roberts eigenen Traum, in dem Autos eine große Rolle spielten. Schon im Kindesalter war sein Zimmer übersät mit Matchboxautos und Co und als Jugendlicher half er in der KFZ-Werkstatt von Peters Vater aus und lernte somit alles Wesentliche, Wissenswerte und Wichtige über die geliebten Vierräder. Also war es fast schon eine Berufung, dass Robert seit nunmehr sechs Jahren Automobile an den Mann brachte. Und das in einem sehr renommierten Autohaus.
Und Peter war immer noch der wichtigste Mensch in Roberts Leben. Seit mittlerweile zehn Jahren bildeten sie eine unzertrenntliche Symbiose und Peters Eltern waren zu Ersatzeltern für Robert geworden. Er nannte sie beim Vornamen und fuhr gemeinsam mit ihnen und Peteer in den Urlaub. Ein wenig beneidete ich ihn darum. Und jetzt hatte sich Udo, sein älterer Bruder, für einen Besuch angemeldet. Er war vor vielen Jahren nach Amerika ausgewandert und Robert freute sich irrsinnig auf ihn. Leider ist Udo stocksteif und konservativ, zumindest war er es noch bei der letzten Begegnung mit Robert. Aus diesem Grund hatte sein kleiner Bruder ihm nie von seiner großen Liebe, Peter, erzählt. Schwul sein war in seiner Familie ein absolutes No-Go. Noch viel schlimmer, in den Augen seiner Eltern waren Homosexuelle krank und widerwärtig. Wie brachte man Menschen mit solch einer Einstellung bei, dass man selbst schwul war? Der eigene Sohn...
Daher hatte Robert es vorgezogen, für immer zu schweigen. Aber nicht aus Feigheit, sondern um Peter zu schützen. Mehr als einmal musste er unglaublichen Szenen beiwohnen, die sein Vater veranstaltete, wenn er einem offensichtlich schwulem Pärchen auf der Straße begegnete.
Diese negativen Erlebnisse brannten sich derart in seine damals noch sehr junge Seele, dass er sich schwor, seinem Vater gegenüber jede noch so kleinste Emotion zu verbergen. Seine Mutter blieb bis zu seinem Auszug vor acht Jahren sein Ansprechpartner. Doch auch sie kam nicht gegen seinen herrischen Vater an. Vielleicht wollte sie es gar nicht. Vielleicht war auch sie irgendwann des Kämpfens müde geworden und hatte sich untergeordnet. Dem Schicksal ergeben...
"Bitte Selina, es ist doch nur für eine Woche", unterbrach Robert meine Gedanken.
Eine Woche lang die Freundin für meinen besten Freund spielen? Darauf hatte ich ungefähr so viel Lust wie auf einen Berg Akten in meinem Büro. Andererseits wollte ich ihn aber auch nicht hängenlassen. Also gab ich mir einen Ruck und sagte bestimmend: "Aber ohne knutschen oder anfassen. Ist das klar?"
Robert lächelte erleichtert. "Glasklar." Ich musterte ihn streng.
"Versprich mir, dass du deinem Bruder bald reinen Wein einschenkst."
Er nickte. "Das werde ich. Wenn der richtige Zeitpunkt da ist. Auch weil ich es Peter schuldig bin." Mit verklärtem Blick sah er mich an, seine Augen schimmerten verdächtig.
"Er hat mir gestern Abend einen Antrag gemacht."
Ich zuckte zusammen, Neid erfüllte mich und vernebelte meine Sinne.
"Ganz romantisch, mit allem Drum und Dran", schwärmte Robert weiter.
Seit einem Jahr war ich mittlerweile Single und kein Mann in Sicht. Abgesehen von Thorsten, meinem leicht übergewichtigen Arbeitskollegen, der für die Buchhaltung zuständig war. Er machte mir schon seit längerem den Hof, aber bisher ohne nennenswerten Erfolg. Er war einfach nicht mein Typ, ich fand ihn unattraktiv. Ich suchte bei ihm noch nach dem "gewissen Etwas". Steve, unser Techniker aus der zehnten Etage, war dagegen heiß! Sehr heiß! Mein Interesse galt einzig und allein ihm. Braungebrannt, stählerne Muskeln und eine wahre Pracht dunkler Locken, die sein markantes Gesicht weicher wirken ließ. In seinen grünen Augen loderte ein Feuer des Verlangens. Steve strotzte vor Erotik, seine Ausstrahlung war der Wahnsinn. Wenn es irgendwo brannte, war er sofort zur Stelle und löste das Problem umgehend. Eben ein Mann für alle Fälle, nur leider nicht für mich...
Ich wurde traurig, trotzdem schaffte ich es, mich für Robert zu freuen. Ich gratulierte ihm und drückte meinen besten Freund fest an mich. Wie es sich für eine beste Freundin gehörte!
***
Gerade war es mir gelungen, mich vom Neidgefühl des Vorabends zu verabschieden, indem ich mich in die Arbeit stürzte, als Thorsten plötzlich an meinem Schreibtisch stand.
"Gehen wir in der Mittagspause zusammen ins Nudelparadies um die Ecke? Was meinst du, Selina?"
Ich wollte gerade etwas erwidern, da schob er noch lächelnd nach:
"Ich möchte dich gern einladen, weil du mir schon so oft geholfen hast."
Langsam sah ich zu ihm hoch, seine blauen Augen strahlten mich an.
"Eigentlich habe ich gar keine..."
Er winkte ab und lachte. "Aber du musst doch auch mal Pause machen und etwas essen. Also ich habe Hunger."
Ich schaute an ihm herunter.
"Es wird dich aber nicht umbringen, wenn du mal nichts isst, oder?"
Das war gemein, aber er hatte nun mal einige Kilos zu viel. Sein Blick veränderte sich, er wirkte verletzt. Dennoch sagte er lächelnd:
"Da hast du wohl Recht, ein paar Kilos weniger bringen mich sicher nicht um. Aber wer arbeitet, muss auch essen."
Damit drehte er sich um und ging zurück an seinen Schreibtisch. Auf die Arbeit konnte ich mich nicht mehr konzentrieren, ich schämte mich für meine Ehrlichkeit. Immer wieder schielte ich in unserem Großraumbüro rüber zu Thorsten. Doch er würdigte mich keines Blickes mehr und konzentrierte sich ganz auf seine Arbeit. Zur Mittagspause ging er allein. Ich blieb mit knurrendem Magen zurück und arbeitete durch. Ehe ich mich versah, war es früher Abend geworden. Meine Kollegen, bis auf Uta, waren längst gegangen und man hörte nichts mehr, außer dem Tippgeräusch meines Rechners.
"Mach nicht mehr so lange!" rief sie mir noch zu, bevor auch sie dann das Büro verließ. Das war schon eine Weile her und ich immer noch in meine Akten versunken. Dabher bemerkte ich gar nicht, dass plötzlich jemand hinter mich trat.
"So spät noch hier?" fragte eine dunkle und sehr sexy Stimme, die ich sofort Steve zuordnete. Ich schnellte herum und sah direkt in seine stechend grünen Augen, die mich belustigt musterten. Was tat er noch hier?
"Musst du nachsitzen, meine Schöne? " fragte er lasziv. War jetzt mein Moment mit ihm gekommen?
Ich kicherte verlegen wie ein schüchterner Teenager. Dann ging alles ganz schnell. Er packte mich, presste seinen Körper gegen meinen und drückte seine begierigen Lippen auf meine. Obwohl ich es auch wollte, ihn schon so lange heimlich begehrte, löste ich mich aus seinem Griff.
"Stop!" rief ich atemlos und ging einen Schritt zurück.
"Was tust du denn da? Wieso bist du überhaupt hier?"
Steve grinste breit.
"Süße, ich weiß, dass du schon länger auf mich scharf bist."
Er kam wieder näher zu mir.
"Und du weißt es auch", flüsterte er mir zu.
Das stimmte definitiv. Ich wollte ihn! Schon seit Monaten sehnte ich mich nach seinem Körper. Hatte davon geträumt, mit ihm zu schlafen.
Doch in meiner Vorstellung trieben wir es nicht auf meinem harten Schreibtisch.
Steve war das scheinbar egal, denn ich fühlte seine gierigen Hände und Lippen überall auf meinem Körper. Es war genau das, was ich die ganze Zeit wollte, wovon ich träumte und trotzdem sperrte ich mich dagegen. Nicht hier und nicht jetzt! Ich war nicht bereit. Was also sollte ich tun? Mich Steve hingeben, obwohl es mir eindeutig zu schnell ging? Ihn zu mir nach Hause einladen?
Weiter kam ich mit meinen Gedanken um den richtigen Weg nicht, denn Steve hatte mich bereits meines Rockes und meiner Bluse entledigt. Jetzt war er eindeutig zu weit gegangen, ich angelte nach meiner Kleidung, wollte mich wieder bedecken. Angst legte sich wie ein Schleier über mein Verlangen und erstickte es, bevor es überhaupt richtig aufloderte. Ich begann zu frösteln.
"Lass uns bitte aufhören, Steve...bitte...!" flehte ich, doch er ließ sich davon nicht beirren. Mein Flehen wurde lauter, vehementer und entwickelte sich zu einem Schreien.
"Dich hört hier doch eh keiner, Kleine, also lass es einfach."
Unbekümmert machte er da weiter, wo ich ihn unterbrochen hatte. Tränen stiegen mir in die Augen und mir blieb die Luft weg. Was dachte unser Haustechniker sich eigentlich? Dachte er überhaupt noch? An mich? Nein, sicher nicht! Er dachte nur an sich und seine Befriedigung! Und für so ein Schwein hatte ich monatelang geschwärmt? Ich kam mir plötzlich unsagbar albern vor. Und dann packte mich die nackte Angst. Wollte der Kerl mich tatsächlich hier und jetzt vergewaltigen? Was sollte ich nur tun? Wie konnte ich aus dieser Situation wieder herauskommen?
"Lass sie sofort los, Steve!" Im ersten Augenblick begriff ich gar nicht, was los war, aber als mein Peiniger endlich von mir abließ, realisierte ich die Situation. Und ich konnte wieder atmen, endlich konnte ich wieder atmen. Allmählich kehrten meine Sinne zurück und ich nahm meine Umgebung wieder wahr. Dann sah ich einen verschwitzten und wütenden Steve, der drohend auf jemanden zu ging. Thorsten! Was machte denn der hier? Egal, ich sammelte flink meine Kleider zusammen und zog mich in Windeseile an. Derweil schlug Steve Thorsten ins Gesicht, obwohl dieser ihn davor gewarnt hatte. Offensichtlich glaubte unser Techniker nicht, dass mein Arbeitskollege tatsächlich Kampfsporterfahrung hatte. Dennoch sorgte ich mich um Thorstens Versehrtheit, aber ich unterschätzte ihn, ebenso wie Steve. Was zur Folge hatte, dass er durch gezielte Handgriffe Thorstens zu Boden ging.
"Komm, raus hier!" rief mein Retter mir zu. Doch ich stand wie angewurzelt da und starrte auf den am Boden liegenden Steve. Thorsten schnappte nach meiner Hand und zog mich aus dem Büro, hinaus in die Freiheit. Noch niemals vorher war ich so froh über seine Anwesenheit. Eine beruhigende Wärme schlich sich in meinen Körper. Im Licht der Straßenlaterne lächelte ich ihn verschämt an.
"Danke, vielen Dank, Thorsten. Wenn du nicht gekommen wärest..."
"Du musst mir nichts erklären, Selina. Es ist deine Sache, was du treibst, aber es schien mir, dass du nicht dasselbe wolltest, wie Steve."
Da hatte er nicht ganz Unrecht, obwohl ich in den letzten Wochen genau danach geschmachtet hatte. Im romantisch angehauchten Schein der Laterne erinnerten mich seine Augen an das Meer, so blau und tief und klar...
"Warum warst du eigentlich noch mal in der Firma? Du hattest doch längst Feierabend", wollte ich wissen. In seine Augen schlich sich ein trauriger Schimmer.
"Scheinbar haben deine Worte mich doch mehr durcheinander gebracht, als ich annahm."
Erneut überkam mich Scham ob dieses Fettnäpfchens, in das ich mit voller Absicht getreten war.
"Ich hatte erst am Abend bemerkt, dass ich mein Handy auf dem Schreibtisch liegenlassen habe. Also bin ich noch mal in die Firma..."
"Gott sei Dank. Ich möchte lieber nicht wissen, was geschehen wäre, wenn du nicht noch mal zurück gemusst hättest."
Ich fühlte Tränen auf meinen Wangen, das Ganze hatte mich doch mehr mitgenommen, als ich dachte. Tröstend nahm Thorsten mich in seine Arme und drückte mich sanft an sich. Er roch gut. Komisch, das war mir vorher nie aufgefallen. Wider Erwarten fühlte ich mich wohl in seiner Nähe.
Es war überhaupt nicht unangenehm. Auch seine warme Hand, die beruhigend über mein blondgelocktes Haar strich, empfand ich als sehr angenehm. Ich spürte, wie sein Herz aufgeregt klopfte und hätte ewig mit ihm so stehenbleiben können.
"Habe ich irgendetwas verpasst?" fragte jemand in die Stille.
Robert!
Den hatte ich völlig vergessen. Verlegen räusperte ich mich.
"Ich...ich...ähem..." stammelte ich und löste mich aus der schützenden Umarmung.
Die Verabredung mit meinem besten Freund hatte ich völlig vergessen. Wir wollten ja vor seinem Bruder verliebtes Pärchen spielen, besser gesagt wollte vornehmlich Robert das. Nervös blickte ich hin und her.
"Ich lass euch beide dann mal alleine", beschloss Thorsten und wandte sich zum Gehen.
"Noch mal vielen Dank für deine Hilfe. Bis morgen!" rief ich ihm nach. Er drehte sich noch einmal um und winkte mir kurz zu. Ich sah ihm hinterher, bis die Dunkelheit ihn verschlungen hatte.
"Hilfe?" fragte Robert verwirrt, "ich habe also doch etwas verpasst!"
Während der Autofahrt berichtete ich über mein Erlebnis mit Steve.
"Du musst den Kerl auf jeden Fall anzeigen, Selina. Das war definitiv eine versuchte Vergewaltigung. Du hattest echt Glück, dass dein Kollege zur rechten Zeit erschien. Das hätte böse ausgehen können."
War es das wirklich? Eine beinahe Vergewaltigung? Hatte ich Steve nicht die ganze Zeit eindeutige Signale gesendet? Hatten meine gierigen Blicke ihn nicht geradezu aufgefordert, mich einfach zu nehmen? Ich wollte ihn nicht anzeigen, alles in mir sträubte sich dagegen.
Robert setzte mich nur ungern zuhause ab, er wollte mich in diesem Zustand nicht allein lassen. Aber ich wollte es so, mir war nicht nach Gesellschaft und allein konnte ich in Ruhe über mein weiteres Vorgehen nachdenken. Also fuhr Robert allein zu seinem Bruder und entschuldigte mich unter irgendeinem Vorwand. Ich hingegen wusste einfach nicht, was ich machen sollte.
Zur Arbeit wollte ich auf keinen Fall, also ließ ich mich erst einmal krankschreiben. Steves Anwesenheit ertragen zu müssen, war im Moment unmöglich. Aber ich konnte ihm auch nicht ewig aus dem Weg gehen. Ich musste mich meiner Angst stellen. Doch vorerst wählte ich den Weg des Verkriechens, den einfacheren Weg. Und versuchte, mich abzulenken.
Mein schauspielerisches Repertoire gab nicht sonderlich viel her, Roberts Bruder wirkte skeptisch. Mich verwunderte das nicht allzu sehr, ich war nicht wirklich bei der Sache. Dachte immerzu an diesen Vorfall in der Firma. Robert und ich hielten ununterbrochen Händchen und bewarfen uns förmlich mit Kosenamen. Das war wohl zu viel des Guten! Einen Tag vor seiner Abreise bat Udo mich dann um ein Gespräch. Aber ich hielt mich zurück, wollte Robert das Ruder überlassen. Es war seine Entscheidung, nicht meine. Er musste den Schritt zur Wahrheit wagen. Ich konnte ihn dabei nur unterstützen, den Rücken stärken. Schweren Herzens, aber doch vollen Mutes weihte Robert Udo schlussendlich in die Abgründe seines Lebens ein. Er hatte eine riesen Angst vor seiner Reaktion, aber zu unserem Erstaunen ging er ganz gut mit der Homosexualität seines kleinen Bruders um. Ich mochte Udo auf Anhieb. Von der früheren konservativen Einstellung war nicht mehr viel übrig geblieben. Auch er hatte seine Lektion gelernt, seinen eigenen Weg gefunden. Ich freute mich von Herzen für die beiden. Und der Abschied tat auch mir ein wenig weh. Doch glücklicher Weise plante Udo bereits den nächsten Besuch bei seinem kleinen Bruder.
***
"Hallo Thorsten!"
Erstaunt blickte ich meinen Arbeitskollegen an, der vor meiner Tür stand. Das war eine Überraschung! Er lächelte liebevoll.
"Komm rein. Magst du einen Kaffee?"
"Danke", sagte er nickend und ging durch den Flur ins Wohnzimmer.
"Ich wollte nur mal nach dir schauen, weil du schon seit einer Woche nicht mehr in der Arbeit warst", rief er Richtung Küche. Mit zwei heißen Schwarzen setzte ich mich zu ihm auf das Sofa.
"Danke." Er nahm einen großen Schluck des leckeren Gesöffs. Dann schaute er mir tief in die Augen, fast so, als wollte er darin etwas finden.
"Wie geht es dir, Selina? Warst du schon bei der Polizei?"
"Es geht mir ganz gut", sagte ich.
Er wirkte erleichtert.
"Und nein, ich habe Steve bisher noch nicht angezeigt."
Verständnislos blickte er mich an und stellte seinen Kaffeebecher auf den Tisch.
"Selina, du musst diesen Mistkerl anzeigen."
Zärtlich nahm er meine Hand und drückte sie. Ich schüttelte meinen Kopf.
"Nein, das will ich nicht, Thorsten..."
Meine Hand ließ ich in seiner verweilen, es fühlte sich gut an, wärmte mich.
"Warum nicht?"
Ich suchte nach den richtigen Worten.
"Weil...weil ich es provoziert habe. Weil ich ihn angehimmelt habe. Da musste er doch denken, dass ich es auch will!" schoss es aus mir heraus.
"Unsinn!" protestierte Thorsten, "eine Frau, die einen Mann anhimmelt, ist doch nicht zwangsläufig Freiwild für den Kerl."
Er rückte ein Stück näher an mich heran.
"Selina, überlege dir das gut. Stell dir nur mal vor, er hat das, was er dir angetan hat, auch schon mit anderen Frauen gemacht."
Thorsten klang verzweifelt. Seine Worte berührten mich, brachten mich zum Nachdenken. Vielleicht hatte er Recht und ich war gar nicht Steves einziges oder erstes Opfer. Vielleicht kämen noch viele nach mir. Ich wollte mich nicht länger in mein Schneckenhaus zurückziehen und mich selbst bemitleiden. Ich musste raus und etwas tun! Endlich hatte ich den für mich richtigen Weg gefunden.
***
"Es freut mich, dass Sie wieder da sind, Fräulein Schmitz", begrüßte mich mein Chef eine Woche später.
"Warum sind Sie nicht sofort zu mir gekommen nach dem Vorfall? Dann hätte ich sofort Konsequenzen ziehen können."
Er lächelte mich aufmunternd an.
"Diesem Techniker wurde fristlos gekündigt. Offenbar waren Sie nicht sein einziges Opfer. Schlimme Sache. Ich hoffe, Sie haben sich einigermaßen erholen können von diesem schrecklichen Erlebnis."
Seine Anteilnahme wirkte ehrlich und ich fühlte mich wider Erwarten wohl an meinem Arbeitsplatz, dem ich außer in meiner Urlaubszeit, noch nie so lange ferngeblieben war. Umgehend stürzte ich mich auf meinen Aktenberg und freute mich, wieder hier zu sein. Bei Thorsten zu sein...meinem etwas übergewichtigen Arbeitskollegen, der mich aus einer äußerst brenzligen Situation gerettet hatte. Steve anzuzeigen hatte mir viel Mut abverlangt, aber es war das einzig Richtige! Angst vor ihm hatte ich keine mehr, was nicht seiner reuevollen Entschuldigung zu verdanken war. Nein. Viel eher meinem besten Freund, der auf mich Acht gab und dem Mann, der über einen Umweg doch noch zu meinem Herzen fand. Thorsten. Auch ich hatte meine Lektion gelernt: Lass dich nicht zu sehr von Äußerlichkeiten beeinflussen. Der wahre Kern eines Menschen ist mit den Augen nicht zu erkennen. Das Leben bot mir in den letzten Wochen viele Wege. Es scheint, als hätte ich meinen gefunden.
"Geh deinen Weg. Es gibt so viele Wege."
Texte: Recht am Text bei mir
Bild: www.ohm-hochschule.de
(c) Reggi67
Tag der Veröffentlichung: 10.10.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Diesen Text widme ich meiner besten Freundin, die ich am 26. August 2011 verloren habe. In meinem Herzen aber wird sie niemals vergessen sein. Sie hat mir im Leben oft den richtigen Weg aufgezeigt.