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Schatten der Vergangenheit


"Meine liebe Cynthia.“ Der Herr, der mir gegenüber saß, machte ein ernstes Gesicht.
Zumindest versuchte er es. „Wie lange kommen Sie schon zu mir?“
Gelangweilt rollte ich mit den Augen. Mein Gott, konnte der dumme Fragen stellen!
„Meine Fingernägel könnten auch mal wieder eine Behandlung gebrauchen“, dachte ich, während ich sie kritisch betrachtete. Wie spät es wohl war? Heimlich stierte ich auf die Uhr über dem Kamin. Die Zeit verging jedes Mal in Zeitlupe, wenn ich hier saß. Da kam mir eine Minute wie eine Stunde vor.
„Was weiß denn ich? Ich frage mich schon lange, was ich hier eigentlich soll.“
Jetzt war er es, der genervt die Augen verdrehte.
„Meine liebe Cynthia“, begann er erneut.
„Ich weiß, wie ich heiße“, fuhr ich ihm frech ins Wort.
„Und stellen Sie sich vor, das ist sogar schon seit vierundzwanzig Jahren mein Name.“


Es lag viel mehr Ironie in meinen Worten, als ich beabsichtigte und mein Gegenüber sah mich irritiert an.

Hatte ich ihn endlich aus der Reserve gelockt, diesen biederen, alten Spießer?
Hatte ich es endlich geschafft? Für einen Moment glaubte ich das, aber in der nächsten Sekunde lag schon wieder dieses gütige Lächeln auf seinem Gesicht, das ich so sehr hasste! Dieses widernatürliche Urverständnis für alle Abnormalitäten, die wir Lebewesen im Laufe unseres Lebens so aufwiesen. Aber was erwartete ich auch? Schließlich war es ja sein Job, mich zu verstehen, mir zuzuhören, mir zu helfen. Dann sollte er auch etwas tun für sein Geld.
„Meine liebe Cynthia“, startete er den dritten Versuch.
„Mein Gott“, dachte ich, „der klingt wie ne Schallplatte mit nem Sprung.“
Wieder schaute ich auf meine rot lackierten Fingernägel, dann auf die Uhr über dem Kamin.
„Sie kommen jetzt seit fast einem Jahr zu mir, jeden Dienstagnachmittag.“
Er machte eine Pause.

„Ja“, dachte ich genervt, „und es hat sich rein gar nichts verändert. Es bringt mir überhaupt nichts, gar nichts!“
„Sitzen immer auf dem gleichen Platz“, setzte er seine Rede unbeirrt fort.
„Starren jedes Mal auf die Uhr und beobachten das leise vor sich hin knisternde Feuer im Kamin“.
Was sollte das denn jetzt schon wieder? Immer diese Bemerkungen! Was wollte er damit bezwecken? Wozu sprach er gerade heute explizit das Feuer im Kamin an? Wollte er erzwingen, dass ich mich erinnere?

Von diesen Erinnerungen eingeholt und überrollt wurde?

Meine Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen und ich wandte mich ihm mit bösem Blick zu.
„Ja und? Warum erzählen Sie mir Dinge, die ich ohnehin längst weiß?“
Er war enttäuscht, das sah ich ihm an. Er hoffte wohl, ich würde wütend werden, gar explodieren.
„Nun“, sagte er stattdessen mit Blick auf die Uhr, „lassen wir es für heute gut sein. Wir sehen uns dann nächste Woche, Cynthia“.

Erleichtert erhob ich mich aus dem weichen Sessel, legte meine Hand an die Schläfe und salutierte wie ein Soldat.
„Aye Aye Sir, nächste Woche, selbe Zeit, selber Ort, selber wunderlicher alter Mann!“


Ich stieß ein künstliches Gelächter aus, drehte mich um und verließ schnellstens diesen Raum, den ich so sehr hasste. Eilig kaufte ich noch ein paar Lebensmittel ein und fuhr nach Hause. Max würde bald von der Arbeit heim kommen und sicher einen Bärenhunger im Gepäck haben. Und alles, was ich jetzt wollte, war, dass Max glücklich und zufrieden mit mir am Esstisch sitzen würde. Also band ich meine Schürze um und kochte ihm sein Leibgericht. Das würde ihn gnädig stimmen. Es würde seine Sinne vernebeln und ihn ruhig stellen, wenn ich die Katze aus dem Sack ließ. Max wollte immer alles über diese Treffen mit dem wunderlichen Alten wissen. Jedes kleinste Detail ergründete er und ich fühlte mich danach immer wie ein durchlöcherter Käse.

Aber wenn er mit einem vorzüglichen Essen beschäftigt war, welches ihm auf seiner schönen Zunge zerging, dann, ja dann würde er Gnade walten lassen, so hoffte ich. Dennoch bildeten sich kleine Schweißperlen auf meiner Stirn. Obwohl ich eher ein wenig fröstelte. Wie immer, wenn ich nervös war. Mein Herz schlug schneller und kam ab und an aus dem Takt.

Das Herumdrehen des Schlüssels in der Haustür riss mich aus meinen Gedanken und brachte mich wieder an den Herd zurück. Nur einen kurzen Moment später stand Max schon hinter mir und schlang seine starken Arme um meine Taille.
Sofort schoss eine Welle wunderbaren Gefühls durch meinen Körper und paarte sich mit beginnender Erregung. Jetzt wurde mir wohlig warm! Max schaute mir über die Schulter und lugte in die Töpfe.
„Das riecht wunderbar, Schatz. Was gibt es denn?“

Ich lächelte siegessicher.
„Dein Leibgericht, mein Liebster“, säuselte ich zuckersüß. Langsam drehte er mich zu sich um.
„Oh oh, was hast du zu beichten?“ Er grinste und dabei bildete sich stets so ein niedliches Grübchen unter seiner rechten Wange. Wie ich diesen Anblick liebte... wie ich dieses Gesicht liebte...wie ich diesen Mann liebte!

Aber ich wollte jetzt nicht darüber reden, nicht in diesem knisternden Augenblick. Langsam zog ich ihn zu mir heran und legte meine Lippen auf seine. Wir begannen ein Zungenspiel und waren schnell in einem intensiven Kuss versunken. Unsere Zungen verschlangen sich ineinander...
Bis ein merkwürdiges Geräusch uns auseinander riss. Der Braten war im Begriff, anzubrennen! Jetzt aber schnell, sonst wäre alles verloren! Ich schob Max von mir weg.
„Setz dich schon mal an den Tisch, das Essen kommt gleich, Schatz.“
Nur zu gern folgte er meiner Aufforderung, denn Essen war für ihn eine heilige Handlung. Nicht nur bloße Nahrungsaufnahme, nein. Damit konnte ich ihn immer kriegen. Bei einem guten Essen konnte Max mir nichts abschlagen, jedenfalls war das bisher stets so gewesen.
In letzter Zeit aber war er etwas pingelig geworden und das sorgte mich. So auch an diesem Tag, selbst sein Lieblingsessen wollte ihn nicht milde stimmen.
„Ach Cynthia“, seufzte er, als ich von meiner heutigen Sitzung bei Professor Altenburg berichtete.
„Wann gedenkst du endlich erwachsen zu werden?“ fragte er mich kauend.
„Keine Ahnung. Wenn ich jenseits der Fünfzig bin?“
Als ich seinem ernsten Blick begegnete, änderte ich meine Strategie.
„Ach Schatz, ich bin jung, schön und gebildet. Was willst du denn noch mehr?“
„Was ich will?“

Entrüstet sah er mich an. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“
Langsam schlich sich ein Gefühl in meinen Körper, das ich nur zu gut kannte. Bei jedem weiteren Wort von Max kroch es weiter und immer weiter, bis es mich von den Zehen zu den Haarspitzen eingenommen hatte. Krampfhaft hielt ich meine Gabel fest, so sehr, dass sich die Haut über den Knochen meiner Hand weißlich verfärbte.
„Ich will endlich die alte Cynthia wieder an meiner Seite! Ich will, dass DU wieder DU bist! Nicht mehr und nicht weniger.“ Er seufzte tief. „Nichts wünsche ich mir sehnlicher, Schatz.“


Ich schluckte schwer, für einen kleinen Moment war ich berührt. Doch das hielt nicht lange an. Dieses andere, quälende Gefühl ging fast immer als Sieger aus dem Ring.
„Dann habe ich Neuigkeiten für dich: die alte Cynthia gibt es nicht mehr! Sie ist weg!“


Lautstark ließ Max die Gabel auf seinen Teller fallen, die Soße spritzte quer über den Tisch und malte unschöne Flecken auf die weiße Tischdecke. Zornig blitzte ich ihn an und ließ meine Gabel ebenfalls fallen.

„Und sie wird auch niemals wiederkommen!“
Max Blick war nicht minder wütend, langsam erhob er sich vom Tisch.
„Mir ist der Appetit vergangen“, stieß er gequält hervor, nahm seine Jacke und verließ unsere gemeinsame Wohnung. Das Gefühl in mir ebbte langsam ab, die Anspannung wich einer tiefen Trauer.
Ich tigerte in der Wohnung hin und her, auf und ab. Mein Herz hämmerte immer noch so sehr, dass es selbst mit einem Presslufthammer hätte mithalten können. Warum haute er immer ab, wenn es brenzlig wurde?

Warum konnte er sich nicht mit mir auseinander setzen? Wir waren doch schon drei Jahre zusammen und wollten im Sommer heiraten. Warum tat er mir das an? Warum verstand er nicht?
Unglaubliche Wut und Trauer stiegen in mir hoch und bekämpften sich. Ein lauter und langer Schrei trat aus meiner Kehle, bevor ich unser schickes Sideboard mit heftigen Tritten malträtierte. Ich war so unglaublich wütend, dass ich jemanden hätte umbringen können. Im nächsten Moment sackte ich in mir zusammen, lag auf den Knien vor dem beschädigten Sideboard und fing herzzerreißend an zu schluchzen. Ich schämte mich.

Wo sollte das alles noch hinführen? Tränen rannen über mein erhitztes Gesicht und verschleierten meine Augen. Ich zog meine Knie zu mir heran, schlang meine Arme um die Beine und bettete den Kopf auf meine Hände.

Mein Blick fiel wieder auf das Sidebord, in seinem Innern lag das Übel verborgen. Es war Auslöser meines Gefühlschaos und doch brachte ich es nicht übers Herz, mich davon zu trennen.
Das war der erste Ratschlag, den Altenburg mir gab. Direkt bei der ersten Sitzung.
„Sie müssen sich von der Wurzel allen Übels trennen, Cynthia“, riet er mir damals, an unserem ersten gemeinsamen Dienstagnachmittag. Doch ich wehrte mich mit Händen und Füßen dagegen. Ich liebte dieses Sideboard, ganz egal, was andere dachten oder sagten. Ganz egal, was sein Inhalt in mir auszulösen vermochte.

Ich strich mit meiner Hand über die Verzierungen aus Messing. Fast zärtlich folgte ich ihrer Spur, bis hin zur Unheilbringenden dritten Schublade in der Mitte des Möbelstückes.
Mit zitternden Händen zog ich an dem Griff, der ebenfalls aus geschwungenem Messing war. Ein kleines Stück brachte ich sie näher zu mir heran, dann hielt ich inne. Sollte ich wirklich? Sollte ich es wirklich wagen, sie zu öffnen und hinein zu schauen?

Altenburg hatte mir, nachdem er zu einem späteren Zeitpunkt in der Therapie verstand, was es damit auf sich hatte, dringend dazu geraten.

Sollte ich es jetzt wagen? Nein, es ging nicht, ich brachte es nicht fertig...schnell schob ich sie wieder zurück, als würde der Teufel persönlich darin wohnen.


„Was ist passiert, Liebling?“

Ich erschrak und schnellte herum. Max stand hinter mir und sah mich beunruhigt an. In meinem Wahn hatte ich nicht bemerkt, dass er längst heim gekommen war. Er ließ sich neben mich auf dem Boden nieder und legte einen Arm um mich. Ich fühlte mich fast wieder so geborgen wie früher und lehnte meinen Kopf an seine Schulter.


„Hast du sie geöffnet, Cynthia?“

Allein diese Frage hatte ausgereicht, dass mein Körper sich augenblicklich verkrampfte. Für einen kurzen Moment war die alte Cynthia zurückgekehrt und genoss den Augenblick der Nähe. Aber das war schlagartig vorbei. Ich befreite mich aus Max' Umarmung.
„Hast du?“ wiederholte er seine Frage. Erneut kämpfte ich mit diesem Gefühl, das in bestimmten Situationen von meinem Körper Besitz zu nehmen schien. Es schlich sich durch die Zehen bis hinauf in die letzte Haarspitze. Ich konnte mich nicht dagegen wehren, seit ungefähr zwei Jahren besaß es nun die Herrschaft über mich. Und es wurde immer schlimmer und schlimmer! Daran vermochte auch Professor Altenburg nichts ändern. Obwohl solche Fälle wie ich sein Spezialgebiet waren. Aber an mir biss er sich offensichtlich die Zähne aus.

Zornig blitzte ich Max an.
„Nein! Nein und nochmals nein! Ich werde nie in diese Schublade schauen, niemals, hörst du?“

Blind von meinen Tränen floh ich aus der Wohnung, bis die immer leiser werdenden Rufe von Max gänzlich verhallten. Ich lief durch die Gassen, wohin meine Füße mich auch trugen, ich folgte ihnen einfach. Nach einer gefühlten Ewigkeit fand ich mich vor einem mir bekannten Gebäude wieder.

In dem Hochhauskomplex vor mir befand sich Altenburgs Praxis.

Ich schaute auf die Uhr, es war noch nicht so spät, er würde noch da sein und arbeiten. Ohne lange zu überlegen, drückte ich die Klingel. Nur Sekunden später hörte ich den Türsummer und trat ein. Mit dem Fahrstuhl fuhr ich in die zehnte Etage. Altenburg stand bereits in der Tür, als ich ausstieg.

Hatte er mich etwa erwartet? Unsinn!
„Cynthia!“ rief er aus. „Was für eine Überraschung. Was machen Sie denn hier?“


„Ich...ich...“ In meinem Kopf fuhren die Worte Achterbahn, verschlangen sich ineinander und ich wusste nicht, was ich zuerst sagen sollte oder wollte. Altenburg begriff sofort.
„Bitte kommen Sie doch erst einmal herein, Cynthia. Sie sind ja ganz durchnässt.“
Er machte einen Schritt zur Seite und gewährte mir Einlass. Was hatte er gerade gesagt?
Ich wäre nass? Verwundert schaute ich an mir herunter. Nicht mal den Regen, der mich so zugerichtet haben musste, hatte ich bemerkt. Das machte mir Angst.


„Hier“. Der Professor reichte mir ein Handtuch und ich rieb mich notdürftig trocken. Dann folgte ich ihm in den mir verhassten Raum. Aber das Gefühl, das ich sonst schon beim Betreten verspürte, stellte sich nicht ein.

Langsam ließ ich mich in dem weichen Sessel nieder.

„Was führt Sie zu so später Stunde noch zu mir, Cynthia? Ist etwas passiert?“

Seine Augen blickten mich ehrlich interessiert und besorgt an, das war mir vorher nie aufgefallen. Ich räusperte mich und sagte ganz ruhig: „Erinnern Sie sich an den Satz, den Sie mir letzten Dienstag während unserer Sitzung gesagt haben?“

Professor Altenburg lächelte wissend.
„Natürlich erinnere ich mich. Es war ein Zitat von Gustav Heinemann.

>>Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte<<“

Sein Blick schien irgendwie erheitert. „Warum fragen Sie?“
„Weil mir ein Licht, besser gesagt, eine ganze Lichterfontäne aufging, als ich vorhin ziellos durch die Stadt lief.“ Ich machte eine Pause und seufzte tief.
„Wenn ich mich nicht ändere, werde ich das Liebste auf der Welt verlieren: Max.“
„Hat er etwas angedeutet, was auf eine mögliche Trennung hinweist?“
Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, aber ich weiß es, ich spüre, dass er nicht mehr lange durchhält. Gerade heute hat er mir wieder gesagt, dass er sich nach der alten Cynthia sehnt.“
Altenburg lehnte sich zu mir nach vorn. „Und was gedenken Sie zu tun um dies zu erreichen?“
Gespannt erwartete er meine Antwort.
„Mich der Vergangenheit stellen?“

Er nickte zustimmend.
„Es wird auch höchste Zeit, Cynthia. Weiß Max, dass Sie hier sind?“ Ich verneinte.
„Vermutlich wird er zu seinem besten Freund gegangen sein um mit ihm den Abend zu verbringen, wie so oft.“

Traurig schaute ich zu Boden. Altenburg erhob sich von seinem Ledersessel.
„Nun, in diesem Falle wäre es hilfreich, wenn er nicht daheim wäre.“

Fragend sah ich zu ihm hoch.

„Wir beide gehen jetzt zusammen in Ihre Wohnung. Ich begleite Sie, während Sie sich dem Übel stellen. Wäre das in Ordnung?“
Ich nickte und versuchte die Angst zu ignorieren, die sich arglistig in meinen Kopf einschlich.
Doch sie setzte sich hartnäckig dort fest und ließ mein Herz hämmern wie den Bass in einer zu lauten Discothek. Die mir bekannten Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn, mein Atem ging nur noch Stoßweise und viel zu flach.
„Ruhig, ganz ruhig Cynthia“, versuchte ich mich zu beruhigen.

„Es ist doch nur eine Schublade, nur eine einfache Schublade.“

Ja, aber es war eine Schublade mit explosivem Inhalt...


Max war tatsächlich nicht zuhause, was die Sache ungemein erleichtern würde.
„Los, Cynthia. Sie schaffen es! Tun Sie es für sich und Max, für Ihre Beziehung.“
Altenburgs Worte hallten immer wieder in meinem Kopf nach, während ich erneut mit zitternden Händen die Schublade allen Übels herauszog. Doch dann hielt ich inne.
„Nicht aufgeben, Cynthia. Sie können es, ich weiß es,“ hörte ich die Stimme des Professors wie durch eine Nebelwand, die mich zu umwoben schien. Ich zog auch noch das letzte Stück heraus, bis zum Anschlag.

„Sie machen das sehr gut, Cynthia. Jetzt fassen Sie ganz langsam hinein und holen ihn heraus.“

Alles in mir sträubte sich dagegen. Ich schien wie gelähmt.
„Nein, ich kann nicht, ich schaffe es einfach nicht.“ Ich stolperte ein paar Schritte zurück
„Ich habe solche Angst.“ Plötzlich spürte ich eine warme Hand, die sich beruhigend auf meine linke Schulter legte. Altenburg stand neben mir.
„Sie sind viel stärker, als Sie glauben, Sie können es.“
Er sah mir tief in die Augen, als wollte er mich hypnotisieren.
„Sie sind bis hierher gekommen und werden auch den Rest des Weges schaffen. Glauben Sie mir und vertrauen Sie sich selbst.“

Mit einem Mal war alles ganz leicht und ich schwebte buchstäblich zurück zum Sideboard und angelte das Übel aus der Schublade. Dann hielt ich es in meinen immer noch etwas zittrigen Händen.

Altenburg lächelte mich nickend an. „Und jetzt öffnen Sie ihn.“
Ich schaute den Brief in meiner Hand an und stellte fest, dass er schon ein wenig vergilbt war. Schließlich lag er schon seit fünf Jahren in seinem Gefängnis. Immer noch zitternd nahm ich den Brieföffner und drang damit zum Inneren des Umschlages vor. Mit klopfendem Herzen faltete ich ihn vorsichtig auseinander und las:

Meine liebe Cynthia,

ich weiß, dass Du Dir wahnsinnige Vorwürfe machst wegen Carol.
Du hast beschlossen, von hier weg zu gehen. Aus diesem Grund schreibe ich diesen Brief und lege ihn in Deinen Koffer. In der Hoffnung, dass Du irgendwann bereit sein wirst, ihn zu lesen.
Deine Mutter und ich sind unendlich traurig darüber, dass du uns verlässt, weil Du mit Deiner vermeintlichen Schuld nicht leben kannst und Dich hier alles an Carol erinnert.
Ich weiß, dass Du Dir die Schuld an ihrem Tod gibst. Aber das ist Unsinn, Kleines. Es war ein tragischer Unfall und Du trägst keinerlei Schuld daran. Allein die Tatsache, dass Du die Ältere bist und nicht auf sie aufgepasst hast, ist kein Argument. Und es tut Deiner Mutter aus tiefstem Herzen leid, dass sie Dir in ihrer unendlichen Trauer die Schuld an dem Feuer gegeben hat. Bitte Cynthia, glaube mir und ihr, dass sie es nicht so gemeint hat. Du bist doch erst neunzehn Jahre alt und auch noch nicht erwachsen. Damals warst du gerade achtzehn geworden und mit der Verantwortung für deine zehnjährige Schwester überfordert, was ich jetzt verstanden habe. Du konntest doch nicht ahnen, was sie anstellen würde, während Du im Garten gelesen hast und eingeschlafen bist. Du dachtest doch, sie würde friedlich in ihrem Zimmer spielen. Stattdessen hat sie sich die Streichhölzer aus dem Hängeschrank in der Küche geangelt und damit das Feuer gelegt, in dem sie umkam. Dich trifft keine Schuld, mein Engel.
Leider sprichst Du seit einem Jahr nicht mehr mit uns und jetzt willst du fort. Das macht mich so fertig, so traurig, aber ich kann dich verstehen.
Wenn ich daran denke, welche Last wir Dir auferlegt haben, wird mir Angst und Bange. Bitte Cynthia, tu Dir nichts an, wie du es ein paar Monate nach Carols Tod angedeutet hattest. Ich möchte meine zweite Tochter nicht auch noch verlieren. Ich liebe Dich...wir lieben Dich von ganzem Herzen. Aber wir wollen Dich nicht drängen, wir lassen Dir alle Zeit der Welt, die Du brauchst, um wieder zu Dir zu finden. Um Deine Sprache wieder zu finden. Du kannst jederzeit zu uns kommen. Wenn du uns brauchst, sind wir für Dich da. Auf immer und ewig! Unsere Tür wird immer für dich offen sein.
Wir denken an Dich.

Dein dummer Vater, der Dich sehr liebt!



Tränen liefen über mein Gesicht, Tränen der Erleichterung und des Glücks. Ich trug gar nicht die Schuld an Carols Tod, es war also tatsächlich ein tragischer Unfall. Jetzt war ich scheinbar alt genug, es zu verstehen.


Eine Zentnerschwere Last schien sich von meinem Herzen zu lösen und lautstark zu Boden zu fallen. Ich lächelte. Nach unendlich langer Zeit lächelte ich wieder. In meinen Augen fand sich der verloren gegangene Glanz wieder. Wärme durchströmte mich und vertrieb die Kälte aus meinem Blick. Mein Körper entspannte sich, fühlte sich viel weicher an.

Max...

Altenburg hatte seinen Job erledigt, einen verdammt harten, aber guten Job! Er umarmte mich herzlich und verabschiedete sich, als Max heim kam.


"Wir sehen uns dann nächste Woche zum Abschlussgespräch", sagte er Augenzwinkernd. Er war sichtlich erleichtert, dass ich den steinigen Weg über den riesigen Berg geschafft hatte.


Endlich strahlten meine Augen wieder, ich konnte es spüren und es fühlte sich so gut an!
„Bist du es wirklich?“

Max schaute mir tief in die Augen.
„Ja, du bist zurück“, sagte er zärtlich.
Ich lächelte und griff zum Telefon.
„Bevor ich mich dir ganz hingebe, muss ich etwas ganz Wichtiges erledigen.“

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 06.07.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
2. Platz im Kurzgeschichten-Wettbewerb mit dem Thema: "Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte" (Gustav Heinemann)

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