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zarte, kleine Lydia


Auf dem Heimweg von der Schule vor ein paar Wochen sah sie ihn zum ersten Mal.
Er lehnte lässig mit der Schulter an einer Laterne und sah sie an.

Nein, eigentlich starrte er sie an, nicht eine Sekunde ließen seine Augen von ihr ab. Lydias Herz begann zu klopfen und bald pochte es bis in ihre Ohren.
Er war so süß, so unglaublich süß. Und er interessierte sich tatsächlich für sie, Lydia.

Das hatte bisher noch kein Junge getan. Aber er, er schaute stets nur sie an.

Jeden Morgen, wenn sie zur Schule ging, stand er da und beobachtete sie. Nach Schulschluss das gleiche Spiel, er lehnte lässig an der Laterne, die Arme vor der Brust verschränkt und starrte zu ihr herüber.

Seine stechend grünen Augen durchbohrten sie, aber er sprach sie nicht an. Auch lag niemals ein Lächeln auf seinem Gesicht, nie sah sie seine Zähne. Lediglich seine Augen sprachen mit ihr, sein Mund blieb verschlossen.

Lydia war ein besonderes Mädchen, mit sensiblen Antennen. Viele ihrer Mitschüler mieden sie deshalb, es machte ihnen wohl Angst. Sie war immer davon ausgegangen, dass es an ihrem leuchtend roten Haar und den Sommersprossen lag, die sich über ihr Gesicht verteilten. Dass es an ihrem sensiblen Charakter und den feinen Antennen lag, wusste sie nicht. Zu keiner Zeit hatte auch nur einer ihrer Mitschüler sie je darauf angesprochen.

Daher gefiel es ihr natürlich sehr, dass endlich ein männliches Wesen sie wahrnahm und sogar beobachtete.

 

 

Außer ihrer besten Freundin Hannah war Lydia eigentlich niemandem besonders wichtig. Abgesehen von Arne, den sie schon seit der Grundschule kannte und Emine. Ein türkisches Mädchen aus der Nachbarschaft, mit der sie sich ab und an mal zum Schwimmen oder Eisessen traf.

Aber das war's dann auch schon, mehr richtige Freunde konnte sie nicht vorweisen. Trotzdem war sie glücklich, genau diese Drei zu kennen.
Noch ein paar Meter und sie stand vor ihrer Haustür. Leise schloss sie auf und schlich in den Flur.


„Ich habe dir gesagt, dass du nicht so mit mir reden sollst, Leonard. Ich bin doch keine Schlampe!“


Lydia seufzte, als sie die aufgebrachte Stimme ihrer Mutter vernahm.

„Nicht schon wieder!“ dachte sie sich.
Streit und Diskussionen gehörten für Lydias Eltern zur Tagesordnung. Es verging kaum ein Tag, ohne dass die beiden sich an den Kragen gingen. Lydias Mutter traf sich mit anderen Männern, diese Tatsache kränkte ihren Vater. Ihre Eltern dachten immer noch, sie wüßte nichts davon...


„Dann benehme dich nicht wie eine solche!“


Das war die energische Stimme ihres Vaters. Mit ihrem Rucksack schlich Lydia nach oben in ihr Zimmer und erledigte die Hausaufgaben. Mit einem Mittagessen konnte sie wohl heute nicht mehr rechnen.

Um die Streitigkeiten ihrer Eltern nicht anhören zu müssen, stopfte sie die Kopfhörer ihres MP3 Players in ihre Ohren. Flink hatte sie alle Aufgaben erledigt, denn trotz der Situation daheim war Lydia eine gute Schülerin. Beim Lesen konnte sie herrlich abschalten, also nahm sie eines ihrer Lieblingsbücher aus dem Regal und war kurz später so darin vertieft, dass sie gar nicht bemerkte, wie ihr Vater das Zimmer betrat. Zärtlich legte er eine Hand auf ihre Schulter.
„Man Paps, hast du mich erschreckt!“

Lydia nahm die Stöpsel aus den Ohren.
„Tut mir leid, Kleines, dass du schon wieder einen Streit zwischen deiner Mutter und mir mitbekommen hast.“

Mittlerweile hatte sie sich an diesen Zustand gewöhnt. Sie konnte nichts dagegen tun, gar nichts.

Ihr Vater setzte sich zu ihr auf's Bett.
In Lydias Bauch gluckerte es hörbar. Ob sie heute wieder mit leerem Magen schlafen gehen müsse?

Leonard Berger schob seiner Tochter zehn Euro in die Hand.
„Kauf dir was ordentliches zum Essen, meine Süße.“

Er seufzte.

„Hier bekommst du heute nichts Anständiges mehr.“

Schuldbewusst sah er zu Boden.

„Wie so oft“, dachte Lydia, küsste ihren Vater auf die Wange und machte sich auf den Weg zum Italiener, der nur ein paar Straßen weiter war.
„Guten Abend Lydia“, begrüßte Gino das junge Mädchen. Sie ging oft hierher, wenn zuhause wieder mal die Küche kalt blieb. Das junge Mädchen setzte sich etwas abseits, bestellte eine Gemüselasagne und eine Cola.

Während sie auf ihr Essen wartete, beobachtete sie die Leute draussen vor der Tür.

Plötzlich tauchte der Junge auf, der alltäglich an der Laterne stand und betrat das Lokal. Lydias Herz blieb vor Schreck fast stehen!

Oh nein! Sie würde keinen Bissen herunter bekommen vor Aufregung.

Aber sie hatte doch solch einen riesigen Hunger!

Der Junge zeigte auf das Menü mit der Pizza Tonno, einem gemischten Salat und einer Cola.

Auch er nahm ebenfalls etwas abseits in dem hinteren Teil des Lokals Platz.

Als er Lydia endlich erblickte, errötete sie leicht. Er nickte ihr zu, verzog aber keine Mine. Sein durchdringender Blick lag auf ihr.

Lydia verlor sich in seinen Augen.
„Ich will nicht wieder zurück nach Hause. Nimm mich mit zu dir, Fremder.“
Sofort schämte sie sich für ihre Gedanken und zwang ihr Essen hinunter. Auch er bekam sein Menü serviert und stillte seinen Hunger. Wenigstens gab Lydias Magen jetzt Ruhe, denn sie war satt.

Mittlerweile wurde es draußen dunkel und Lydia begann zu frösteln. Sie sah zu dem Fremden rüber, der sich gerade erhob und auf sie zu ging.
„Oh nein! Der kommt jetzt nicht wirklich zu mir und spricht mich an!“
Ihre Knie wurden weich und ihre Handflächen feucht. Nervös rieb sie sie an ihrer Jeans und atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Doch der junge Mann ging an ihr vorbei und verschwand auf der Besuchertoilette.
Verwirrt sah Lydia ihm nach und doch war sie irgendwie erleichtert.

Was sollte sie auch mit ihm reden? Worüber sollten sie sich unterhalten? Er war immer ganz still, selbst hier im Restaurant hatte er nicht geredet. Seine Bestellung gab er Wortlos auf, das machte Lydia nachdenklich.

Es ängstigte sie auf eine unerklärliche Art und Weise, dass er nicht sprach.

Lydia beschloss zu gehen, zahlte und verabschiedete sich von Gino. Die frische Luft tat ihr jetzt gut und sie lief Richtung Elternhaus.

In dem Moment, als sie die dunkle Gasse betrat, fasste sie jemand am Arm. Erschreckt fuhr sie herum und blickte in die stechend grünen Augen des Jungen, der sie mit einem Blick ansah, der ihr Angst machte.

Langsam hob er einen Arm und strich mit einer Hand über ihr leuchtend rotes Haar. Unwillkürlich machte Lydia einen Schritt zurück.

Er konnte sie doch nicht einfach so anfassen! Ohne sie zu fragen!

Der Fremde glich den Abstand wieder aus, trat ganz nah an Lydia heran und vergrub sein Gesicht in ihrem weichen Haar, das in leichten Wellen über ihre Schultern glitt.

Er schien wie berauscht, fast wie besessen.
Dass Lydia ganz offensichtlich Angst hatte, war ihm offenbar völlig egal.

Rotes Haar...er musste es immerzu ansehen und irgendwann auch anfassen. Er wusste nicht, dass er sie am Abend in dem Restaurant treffen würde. Dieser Zufall verhalf ihm früher als geplant in den Genuss ihrer Haare zu gelangen.

Das verängstigte Mädchen wich immer mehr zurück und verstand nicht, was geschah. Mit einem Mal war die Schüchternheit, die Stille aus dem fremden, jungen Mann gewichen, die sichere Distanz war fort!

Lydia begann zu weinen, als er sie in eine dunkle Ecke drängte. Immer und immer wieder griff er nach ihrem Haar, das schien alles zu sein, das ihn an ihr interessierte. Immer wieder roch er daran, sie spürte seinen Atem, überall an ihrem Kopf, ihrem Nacken und dem Hals. Lydia wurde übel, sie wollte sich los reißen, schreien, wegrennen! Aber es gelang ihr nicht, der Fremde hatte sie fest im Griff.


„Wenn du schreist, wird dir das nicht gut bekommen...“ flüsterte er drohend, während seine Hand ihren Mund verschloss.

Zum ersten Mal sprach er mit ihr. Wie oft hatte Lydia sich gewünscht, er würde sie ansprechen!

Jetzt hörte sie erstmals seine Stimme und es machte ihr unendliche Angst. Sie nickte hastig und er ließ ihren Mund wieder frei.
Mit weichen Knien schwankte sie umher, die Mauer hinter ihr verhinderte, dass sie zu Boden ging. Lydia lehnte sich dagegen und schaute ungläubig dem Menschen ins Gesicht, der im Begriff war, ihr Leben zu zerstören, ihre Seele zu schunden.

Erst jetzt fiel Lydia auf, dass er gar kein Junge mehr war, sondern wesentlich älter als sie selbst.

Sie schätzte ihn Mitte bis Ende Zwanzig.


„Was wollen Sie von mir? Bitte lassen Sie mich gehen, bitte...“ flehte sie leise.
Ihr Herz drohte zu zerspringen, in ihr pochte alles unerträglich.


„Ich will dein Haar“, flüsterte der Fremde mit heiserer Stimme.


„Ich bin besessen von rotem Haar.“


„Ich liebe es“, hauchte er und ließ erneut seine Hände durch ihre Mähne gleiten. In schmalen Strähnen rann es durch seine Finge, während er dem Schauspiel erregt und fasziniert zusah. 


„Aber...ich bin doch fast noch ein Kind...?“

 

Lydia hatte ihre Stimme kaum noch unter Kontrolle, sie fühlte sich mit einem Mal schwer wie Blei und fiebrig, wie sie es von einer Grippe kannte.


„Ich weiß, zarte kleine Lydia. Aber das fasziniert mich. Du hast genau das richtige Alter.“


Das Mädchen erschrak. Woher wusste er ihren Namen und was meinte er mit „genau das richtige Alter“?


Sie war doch erst dreizehn Jahre alt! Das ganze Leben lag noch vor ihr! Wollte er es hier und jetzt vorzeitig beenden? Wegen ihrer Haare? In diesem Moment hasste sie die Farbe Rot!

Das konnte doch nur ein Albtraum sein!

Aber warum wachte sie nicht auf?


„Jetzt will ich es vollbringen“.


Ein Anflug von Wahnsinn spiegelte sich in seinen Augen.

Was tat er da? Langsam schob sich eine Hand unter seine Jacke.


Lydias Herz krampfte sich zusammen, als er einen blinkenden Gegenstand aus der Innentasche hervor zog.

Ihrem vermeintlichen Schicksal ergeben schloss sie die Augen, wollte nicht sehen, was er jetzt tat.


„Sieh mich an, zarte kleine Lydia“, befahl er.

Vorsichtig schlug sie die Augen auf und erspähte den Gegenstand in seiner rechten Hand.

Eine silberfarbene Schere.


„Oh nein, bitte bitte nicht!“ Lydia schüttelte ihren Kopf hin und her. „Bitte tun Sie mir nicht weh“.


„Ich will doch nur dein Haar. Ich muss es besitzen! Ich brauche es!“


Er klang wie ein Irrer, ein Wahnsinniger! Sie hatte keine Chance.

Dicke Tränen strömten über ihr Gesicht. Sie schluchzte unaufhörlich und zitterte am ganzen Leib.


„Du musst nicht weinen, zarte kleine Lydia. Es wird ganz schnell gehen“, flüsterte er in ihr Ohr.
Er hielt die Schere vor ihr Gesicht.


„Ich mache nur Schnippel Schnappel und schon habe ich, was ich begehre.“


Mit fest geschlossenen Augen, den Atem anhaltend, stand Lydia da, die kalte Wand im Rücken.


Harrte aus der Dinge, die sie jetzt erwarten würden. Doch dann fühlte sie einen harten Schlag, irgendetwas knallte gegen ihren Schädel und sank dann zu Boden. Sie riss die Augen auf und sah an sich herunter.

Der Fremde lag zu ihren Füßen.


„Es ist vorbei“, sagte eine vertraute Stimme beruhigend.


„Paps...Gott sei Dank.“

Erleichtert fiel sie ihrem Vater um den Hals, dann wurde sie ohnmächtig.

Leonard Berger alarmierte über sein Handy die Polizei und einen Krankenwagen, die nur Minuten später eintrafen. Er trug seine Tochter zum Streifenwagen und platzierte sie auf den Beifahrersitz. Während sich ein Sanitäter um Lydia kümmerte, machte er seine Aussage.


„Ich musste ihn niederschlagen, es war Notwehr. Er war im Begriff, meiner Tochter etwas anzutun.“

Der Polizist nickte verständnisvoll, während der andere Beamte den Fremden durchsuchte.

In der Geldbörse fand er seinen Ausweis. Langsam kam der Niedergeschlagene zu sich, er blutete am Hinterkopf. Die Sanitäter verfrachteten ihn in Handschellen in den Rettungswagen.

Mit heulenden Sirenen steuerte dieser das nächste Krankenhaus an.

 

 

Lydia hingegen fehlte körperlich nichts, aber sie hatte einen gewaltigen Schock.


Nur langsam kam sie wieder zu Sinnen.


„Was ist passiert? Papa?“ Fragend sah sie ihren Vater an.


„Es ist alles gut, meine Süße.“ Schützend legte er einen Arm um seine Tochter.

 

Erinnernd an die Worte des Fremden, fasste sie nach ihrem Haar. 

Gott sei Dank, es war noch da!

 

 

Sie war erleichtert, aber auch unglaublich müde. Die Polizei brachte die beiden nach Hause. Leonard Berger blieb so lange am Bett seiner Tochter sitzen, bis sie eingeschlafen war. Ihre Mutter war nicht daheim.
Er ergriff Lydias kühle Hand und versprach: „Hier wird sich einiges ändern, du bist und bleibst mein größter Schatz. Ich muss viel besser auf dich Acht geben. Und das werde ich von nun an auch tun“.

Eine Hausdurchsuchung des Fremden brachte Klarheit ins Dunkel. Sein gesamtes Schlafzimmer war verziert mit roten Haarsträhnen. Keine einzige Tapete zierte die Wände.

Bilderrahmen und sogar der Deckenspiegel waren umrandet von leuchtend rotem Haar.

Es erinnerte eher an ein Gruselkabinett, als an einen normalen Wohnraum.


Spätere Recherchen ergaben, dass der junge Mann offenbar früher einige Jahre in einer Psychiatrie verbrachte. Seine Besessenheit von rotem Haar konnte nicht ergründet werden und somit wurde er irgendwann als Therapieresistent aufgegeben.

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin
Bildmaterialien: google
Tag der Veröffentlichung: 22.06.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag zum Kurgeschichtenwettbewerb Juni 2011 mit dem Thema "Besessenheit"

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