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Amanda

„Hier ist es so schön, Mami.“
Elisa war begeistert von dem vielen Grün, welches ihr während der langen Fahrt immer wieder begegnete. Dabei handelte es sich bloß um große Wiesenfelder am Rande der Straße, die sich km weit hinzogen.

„Das sind doch nur schnöde Wiesen!“ kommentierte ihr Bruder Eric gelangweilt. Elisa zog eine Schnute und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Mutter schmunzelte, als sie ihre Tochter im Rückspiegel sah. Elisa sah aus wie ein Engel mit ihren langen, blonden Löckchen und den großen, blauen Augen. Sie blickte zu Eric rüber. Er sah völlig anders aus. Schwarzes Haar umrahmte sein Gesicht und seine dunklen Augen wirkten manchmal fast düster. Sie sahen sich überhaupt nicht ähnlich. Diese Tatsache war aber nicht weiter verwunderlich, wenn man wusste, dass Eric ein Adoptivkind war.
Er war ein Teenager und wie alle Menschen dieses Alters oft sehr verwunderlich. Elisa wurde geboren, als Eric in die Schule kam. Er hasste sie. Sofort, nachdem sie geboren war und man ihm dieses schreiende, kleine Bündel zum ersten Mal in den Arm gelegt hatte. Angewidert schaute er damals auf das sabbernde Etwas herunter und wünschte es zum Teufel. Verfluchte immer wieder den Tag, an dem sie geboren wurde. Dieser Tag veränderte alles in seinem bis dahin perfekten Leben. Seine Eltern konnten ihm nun nicht mehr ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Nein, er musste sie fortan mit diesem kleinen, nervigen Monster teilen. Wie ein Engel sah sie aus, aber in Wirklichkeit war sie der Teufel, da war Eric sich ganz sicher. Sie machte merkwürdige Dinge und trotzdem himmelten sie alle an. So sehr sich Eric auch bemühte, er konnte sie einfach nicht in sein Herz schließen. Es war kein Platz darin für diese kleine Kröte.
Für den Rest des Weges hing Eric seinen trüben Gedanken nach. Immer wieder schaute er seine kleine Schwester hasserfüllt von der Seite an. Sein Gesicht hellte sich erst auf, als sie an einem großen Jahrmarkt vorbei fuhren. Elisa sah ebenfalls mit großen Augen auf den Platz mit all seinen bunten Sehenswürdigkeiten und Fahrgeschäften. Ihre Augen leuchteten und zum ersten Mal, seit die Fahrt vor Stunden begann, strahlte auch Eric.
„Mum, da müssen wir unbedingt hin“, rief er aufgeregt nach vorn. Die Mutter lächelte.
„Aber natürlich werdet ihr den Jahrmarkt besuchen.“
Endlich hatte Eric etwas, auf das er sich freuen konnte, endlich ein kleiner Lichtblick in seinem trostlosen Leben. Elisa schaute noch immer gebannt auf das fröhliche Treiben. Es war später Nachmittag und eine leichte Dämmerung lag über der Stadt. Der Jahrmarkt hatte bereits seine Lichter eingeschaltet, was ihn noch schöner erscheinen ließ.
„Jetzt ist es nicht mehr weit, wir sind gleich da, Kinder.“
Seine Mutter holte Eric zurück in die Realität.
„Mum, kann ich gleich noch zum Jahrmarkt gehen?“
„Nein Eric, heute nicht mehr. Aber morgen kannst du mit Elisa gern hingehen.“
Erics Gesicht verfinsterte sich. Er wollte allein gehen, wollte ohne die nervige Kröte den Jahrmarkt erkunden. Wieder einmal durchkreuzte seine Mutter seine Pläne. Wieder einmal musste er sich seiner verhassten Schwester annehmen. Diese sah ihn mit ihren blauen Augen ganz unschuldig an.

„Wie kann man die nur loswerden?“ fragte sich Eric. Nichts ahnend lächelte Elisa ihren Bruder an.

„Ich könnte sie ja einfach auf dem Jahrmarkt vergessen“, dachte Eric und grinste böse zurück.

Nur ein paar Minuten später parkte die Mutter vor einem schönen, großen Haus inmitten von sattem Grün.

An einem Baum, der vor dem Haus stand, lehnte lässig ein Mann.

„Papa!“ rief Elisa und stürmte aus dem Auto direkt in die Arme ihres Vaters. Eric stieg betont langsam aus dem Wagen und ging auf das Haus zu, in dem sie nun die zwei Wochen der Herbstferien verbringen würden. Eric begrüßte kurz seinen Vater und schaute sich dann das Ferienhaus ganz genau an. Er wusste nicht warum, aber es wirkte sehr geheimnisvoll auf ihn.
„Dein Zimmer ist im ersten Stock, neben dem Bad, Eric!“ informierte der Vater ihn, während er mit Elisa tobte.
„Und wo schläft die kleine Kröte?“ fragte er sich. Elisa hatte ihr Reich unter dem Dach. „Typisch!“ ärgerte sich Eric. „Fräulein bekommt natürlich wieder mal eine Extrawurst.“
Zwei Stunden und ein gemeinsames Abendbrot später lagen die Millers längst im Bett und schliefen. Nur Eric war noch wach und schaute an die Decke. Morgen würde er endlich auf diesen tollen Rummel gehen können. Er musste nur Elisa irgendwie loswerden. Viele Gedanken später fiel er in einen unruhigen Schlaf. Eric träumte wirres Zeug von Elisa und dem Jahrmarkt, doch beim Frühstück dachte er längst nicht mehr an seinen beunruhigenden Traum. Der Morgen verging im Fluge und bereits direkt nach dem Mittagessen durften Elisa und Eric sich auf den Weg zum Jahrmarkt machen. Sie mussten den Eltern versprechen, vor Anbruch der Dunkelheit wieder zurück zu sein. Jede volle Stunde fuhr ein Bus zum Rummelplatz und so standen die Geschwister nach einigen Minuten vor ihrem Ziel. Elisa wollte jedes Karussell ausprobieren, egal wie gefährlich es auch aussah. Eric hatte alle Mühe, sie von den waghalsigsten Aktionen abzuhalten. Obwohl es ihm eigentlich recht wäre, wenn sie vielleicht vom Riesenrad fallen und sich sämtliche Knochen brechen würde. Oder von einem dieser ultraschnellen Dinger geschleudert würde. Eric fand seine nicht gerade frommen Wünsche nicht schlimm, erzählte aber dennoch niemandem davon.
„Eric, mir ist schlecht“.

Eine blasse und strubbelige Elisa blickte zu ihm hoch. Eric zuckte nur die Schultern und sagte unbekümmert: „Selbst Schuld!“

Plötzlich hörte er ein unappetitliches Würgen und im nächsten Moment hatte Elisa die Zuckerwatte, das Eis und die Bratwurst vor seine Füße gekotzt.
„Elisa! Kannst du nicht einmal aufpassen?“

Eric verlor langsam aber sicher die Geduld mit diesem kleinen blonden Teufel, der ihn nun mit erschrockenen, großen Augen ansah. Ein wenig Spucke lief aus Elisas Mundwinkel und Eric verzog erneut angewidert das Gesicht.
„Komm jetzt weiter, du kleine Nervensäge!“

Lieblos zog er das kleine Mädchen mit sich.
„Ich will jetzt unbedingt zum Haus der Wünsche.“
Ein paar Minuten später standen sie vor einem hübschen, bunten Haus.

Über der Tür stand in goldenen Buchstaben: „Achte genau darauf, was du dir wünschst“
„Du wartest hier, Elisa. Rühr dich nicht von der Stelle, hörst du?“
Damit verschwand Eric in dem Haus, das angeblich jeden Wunsch wahr machte. Elisa wartete artig eine geschlagene Viertelstunde auf ihren Bruder. Als sie ihn herauskommen sah, wirkten seine Augen noch dunkler als sonst und sein Blick war schauerlich düster. Elisa begann zu frösteln und wollte sofort heim. Auf dem Weg nach Hause sagte Eric kein Wort, er sah seine Schwester nicht einmal an. Als Elisa abends in ihrem Bett lag, konnte sie einfach nicht einschlafen. Ihr Nachttischlämpchen brannte noch und aus irgendeinem Grund schaute sie zum Spiegel gegenüber an der Wand. Seltsam, er war beschlagen, aber Elisa sah noch etwas. Wie von Geisterhand wurden Buchstaben in das beschlagene geschrieben. Niemand anderes war im Zimmer und doch stand da plötzlich ein Wort auf dem Spiegel. Das blonde Mädchen war zu Tode erschrocken, gab aber keinen Mucks von sich. Schnell zog sie sich die Decke über den Kopf und schaukelte in ihrem Bett hin und her. „Das bilde ich mir nur ein, das bilde ich mir nur ein“, dachte sie immer und immer wieder. Nach einer Ewigkeit zog sie vorsichtig die Decke bis unter ihre Augen und lugte zum Spiegel. Das Wort war immer noch sichtbar.
„Eric!“ schrie sie so laut sie konnte nach ihrem Bruder, der sein Zimmer direkt unter ihrem hatte. Ihre Eltern schliefen im Untergeschoss und würden sie vermutlich gar nicht hören. Es ertönte ein Plumpsen, ein lautes Poltern und dann wurde auch schon Elisas Zimmertür aufgerissen.

„Mensch Elisa, was schreist du denn so rum? Ich bin aus dem Bett gefallen!“

Wütend sah er sie an, doch sie hörte ihm gar nicht zu. Ihr Blick war fest auf den Spiegel gerichtet und Eric folgte ihm. Verdutzt bemerkte er, dass er beschlagen war und las das Wort, das ihn zierte.
„Wieso hast du denn Amanda auf den Spiegel geschrieben?“ fragte er seine Schwester. Doch Elisa war immer noch wie hypnotisiert. „Elisa, ich rede mit dir. Wieso hast du…?“
Eric hielt inne. Elisa konnte noch gar nicht schreiben. Was war hier los? Und wer war Amanda? In diesem Moment hörte man ein lautes Poltern. Eric und Elisa sahen sich erschrocken an. Es kam vom Dachboden, der über Elisas Zimmer lag und durch eine Verbindungstür zugängig war.

„Was ist hier los?“ flüsterte Eric mehr zu sich selbst. Elisa fing schrecklich zu weinen an, ihr kleiner Körper zitterte vor Angst. Auch Eric wurde langsam mulmig zu Mute. Er schnappte sich die Taschenlampe aus Elisas Nachtschränkchen.
„Du bleibst schön in deinem Bett, hörst du? Ich bin gleich wieder da“.
Vorsichtig stieg er den Dachboden hinauf und leuchtete mit zittrigen Händen alle Ecken und möglichen Verstecke aus. Und obwohl er dieses Poltern ebenso deutlich wie Elisa vernommen hatte, erwartete ihn nichts als lauter Staub und altem Holz dort oben. Eric stieg die knarrenden Stufen wieder nach unten zu Elisa.
„Ich habe oben alles abgesucht, aber da ist niemand“, sagte er und schloss die Tür zum Dachboden.

„Hast du gehört, Elisa? Da oben ist nichts, du kannst beruhigt…“
Verdutzt stellte Eric fest, dass das Bett seiner Schwester leer war. Er zog die Decke weg, aber auch dort war das kleine Mädchen nicht zu finden.

„Das ist nicht lustig! Komm raus, Elisa!“

Eric durchsuchte das gesamte Haus, aber keine Spur von Elisa. Leise schlich er wieder zurück in ihr Zimmer und schaute noch einmal überall nach. Plötzlich hörte er hinter sich ein langsames Atmen, gefolgt von einem leisen Rascheln. Eric zuckte zusammen und schaute hektisch im Zimmer umher, doch es war niemand zu sehen. Dann fiel sein Blick erneut auf den Spiegel. Eric konnte dabei zusehen, wie er langsam beschlug und jemand anfing, darauf zu schreiben. Die Taschenlampe fiel ihm aus der Hand, sein Atem stockte.

Langsam las er die Worte, die dieser Jemand auf dem Spiegel hinterließ:

„Ich habe deinen Wunsch erfüllt. Amanda“
Das Blut gefror Eric in seinen Adern, er wurde kreidebleich. Taumelnd ließ er sich auf Elisas Bett fallen.

Es war noch warm von ihr…
Also gab es Amanda tatsächlich, von der diese alte Dame im Haus der Wünsche erzählt hatte.
Sie versprach ihm, dass irgendeine Amanda seine Schwester holen würde, aber Eric hatte nicht daran geglaubt.

Er dachte, das sei ein Scherz und die Alte wolle ihm nur Angst machen.

Doch nun war Elisa wirklich und wahrhaftig weg. Aber wo war sie? Tot? In einer anderen Welt?

Oder hatte er das alles nur geträumt und es war gar nicht geschehen?

„Eric, was machst du hier? Und wo ist deine Schwester?“
Eric war auf Elisas Bett eingeschlafen. Seine Mutter hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah ihren Sohn fragend an. Jetzt, wo sein Wunsch tatsächlich in Erfüllung gegangen war, fragte Eric sich erneut, wo seine Schwester abgeblieben war. Und was sollte er seinen Eltern sagen? Er konnte ihnen ja schlecht die Wahrheit erzählen, sie würden ihm nie und nimmer glauben.
„Ich habe dich etwas gefragt, junger Mann.“

Die Stimme seiner Mutter hatte diesen ermahnenden Klang, aber Eric wusste keine Antwort. Er stürzte an ihr vorbei nach unten und rannte aus dem Haus. Geradewegs zur Haltestelle, um mit dem Bus zum Jahrmarkt zu fahren. Doch sie war nicht mehr da, kein Schild, keine Bank war mehr zu sehen.

Was war geschehen? Eric rannte los, Richtung Jahrmarkt, er rannte und rannte, bis er atemlos an dem Platz ankam, an dem gestern noch die Kirmes aufgebaut war. Aber da war nichts mehr. Nur Wiese und Bäume. Als hätte es den Jahrmarkt nie gegeben. Bestimmt hatte er sich nur verlaufen, ja, das war der falsche Platz, ganz sicher.

Eric suchte die gesamte Umgebung ab, aber er fand den Rummelplatz nicht mehr. Jetzt konnte er nicht mehr in das Haus der Wünsche zu der Alten, die seine Schwester holen ließ.
Aber das war noch nicht alles. Die alte Frau hatte eine Gegenleistung für die Erfüllung von Erics Wunsch verlangt. Er aber nahm ihre Worte nicht ernst und versprach ihr großzügig, was sie begehrte.

Sein Lachen…und nun konnte er nichts mehr tun. Der Jahrmarkt war fort, die Alte und das Wunschhaus ebenso. Und das bedeutete:
Elisa war unwiederbringlich fort, genauso wie sein Lachen.

Impressum

Texte: alle Rechte bei der Autorin
Bildmaterialien: google.de
Tag der Veröffentlichung: 31.10.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
geschrieben für unsere Halloweenparty

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