Cover

„Nein, nicht Sie schon wieder. Ich habe Ihnen doch bereits mehrfach mitgeteilt, dass ich nicht die Irene Dorff bin, die Sie suchen.“
Der Mann am anderen Ende räusperte sich und sagte dann mit ruhiger Stimme:
„Sie werden mich nicht so schnell loswerden, denn Sie sind und bleiben die Einzige, die in Frage kommt.“
„Aber wenn ich es doch nicht bin! Ich sage Ihnen jetzt zum letzten Mal, dass ich keine Amalia Dorff kenne. Ich habe diesen Namen noch nie in meinem Leben gehört.“
Jetzt seufzte der Mann.
„Sie müssen die verstorbene Dame aber gekannt haben. Alle Hinweise führen zu Ihnen.“
Er machte eine kurze Pause.
„Bitte, denken Sie noch einmal nach. Vielleicht haben Sie Fotoalben, die Sie durchsehen und Ihnen dabei helfen können.“
Langsam verlor ich meine Geduld.
„Junger Mann! Und wenn Sie noch etliche Male hier anrufen, wird das nichts an der Tatsache ändern, dass meine Großmutter keine Halbschwester namens Amalia Dorff hatte.“
Wütend knallte ich den Hörer auf die Gabel. Dieser Verrückte hatte vielleicht Nerven. In fast regelmäßigen Abständen rief er einmal pro Woche bei mir an.
Immer und immer wieder sagte ich ihm, er sei falsch verbunden. Aber aus unerfindlichen Gründen glaubte mir dieser Typ das nicht.
Am Abend, als ich in meinem Sessel saß, mit einer warmen Decke und einem Buch, schoss mir sein Vorschlag mit dem Fotoalbum in den Kopf. Mein Blick fiel auf das Sideboard rechts gegenüber. Vielleicht hatte er Recht? Vielleicht sollte ich doch einmal in die alten Alben schauen...
Nein, es wird mir nicht helfen, da ich keine Amalie Dorff kenne. Eine halbe Stunde später hatte ich noch nicht viel Nennenswertes gelesen, meine Augen ruhten erneut auf dem alten Sideboard. Seufzend erhob ich mich und schlich langsam zum ihm rüber. Seit Ewigkeiten habe ich nicht mehr hineingeschaut und seit dem Vorfall gar nicht mehr. Mit zitternden Händen öffnete ich die Schublade mit den Alben. Wie von selbst strichen meine Finger zärtlich über das obere Album und erfühlten den Goldrand, den es zierte.
Plötzlich schoss blitzschnell und nur für ein Zehntel einer Sekunde ein Bild in meinen Kopf. Nur für einen kleinen Augenblick sah ich das Bild einer alten, vornehmen Dame. Ich zuckte zusammen, schüttelte den Kopf, fegte das Bild fort und schloss die Schublade wieder.

******


„Nein, Herr Frohmeier, ich kenne noch immer keine Amalia Dorff“, sagte ich und ärgerte mich über die Hartnäckigkeit dieses Menschen.
„Aber das kann einfach nicht sein, Frau Dorff. Sie irren sich, müssen sich irren!“ Verzweiflung schwang in seiner Stimme mit. Ich wurde sanfter.
„Herr Frohmeier, bitte glauben Sie mir doch endlich. Nur, weil die Dame zufällig denselben Nachnamen hat…“
„Das ist kein Zufall, glauben Sie mir. Und es hängt so viel davon ab! Sie müssen Nachforschungen anstellen, Frau Dorff. Bitte!“
Er klang so verzweifelt, dass sich ein wenig Mitleid in mir einstellte. Das bereitete mir aber eher Unbehagen.
„Also gut, ich werde mir heute unsere alten Familienfotos ansehen. Aber versprechen Sie sich nicht zu viel davon, Herr Frohmeier.“
„Danke! Sie ahnen gar nicht, wie erleichtert ich bin.“
Doch, ich konnte es erahnen, der Klang seiner Stimme verriet es mir.

Noch am selben Abend saß ich in meinem Sessel und schaute angespannt auf das alte Album, das auf meinem Schoß lag. Es musste eine Ewigkeit gedauert haben, bis ich mich dazu durchringen konnte, es auf zu schlagen. Unendliche Aufregung und Herzrasen machten sich in mir breit. Zitternd blätterte ich die erste Seite um und gelang zu den alten, vergilbten Schwarzweißfotos. Der Schlag meines Herzens nahm noch einmal an Frequenz zu und das Atmen fiel mir langsam schwer.

Nur Sekunden später schlug ich das Album wieder zu. Wie von Zauberhand normalisierte sich mein Herzschlag und ich wurde ruhiger. Was hatte das zu bedeuten?
Ich wusste, was es bedeuten konnte, wehrte mich aber mit aller Kraft dagegen.

In den nächsten Tagen nahm ich keine Telefonate entgegen. Ich wollte Herrn Frohmeier aus dem Weg gehen. Wollte nicht, dass er erneut von mir verlangen könnte, mich meiner Vergangenheit zu stellen. Sie sollte bleiben, was sie ist. Unwiderruflich ausgelöscht und schwarz.

Irgendwann, als ich gar nicht mehr daran dachte, schoss plötzlich wieder das Bild dieser alten Dame vor mein inneres Auge. Wieder zuckte ich regelrecht zusammen und langsam machten mir diese Erscheinungen Angst. Was hatte das alles zu bedeuten? Ich war kurz davor, wahnsinnig zu werden. Immer öfter erschienen solche Kurzbilder im Auge meines Kopfes. Ganz verschiedene, ich fragte mich, ob man sie zusammensetzen konnte und sich dadurch das Puzzle in meinem Kopf fügen würde. Seit diesem Vorfall, seit damals war nichts mehr wie vorher.
Wochenlang hatte ich im Koma gelegen. Als ich daraus erwachte, sah ich zuerst das grelle Licht an der Krankenhausdecke, aber tief in mir war alles schwarz. Leer und tiefschwarz. Ein schwerer Verkehrsunfall hatte mich für Wochen in diesen Zustand zwischen Leben und Tod befördert. Mir wäre der Tod fast lieber gewesen, als diese Leere in mir ertragen zu müssen. Aber ich war selbst Schuld, denn ich wollte mich nicht erinnern. Nicht an den Unfall, nicht an das, was vorher geschehen war und nicht an mein früheres Leben. Es war mein eigener Bruder, der mich zum Krüppel gefahren hatte!
Mit voller Wucht, klar bei Verstand hetzte er sein schwarzes Gefährt auf mich. Er war viel schneller, ich hatte keine Chance.

Es grenzte an ein Wunder, dass ich den Sturz überlebt habe. Er drängte mich so dicht an die Böschung, dass ich nicht ausweichen konnte und mit meinem kleinen Golf den Abhang hinunter stürzte. Dann fuhr er einfach weg. Ließ mich achtlos da liegen. Rief keinen Krankenwagen, keine Hilfe. Ein Spaziergänger hatte alles beobachtet und die Rettung verständigt. Trotzdem: mein Leben war kaputt, zerstört durch den eigenen Bruder. Aus Habgier, Eifersucht und unzähliger anderer niedere Motive. So hatte man es mir erzählt, aber ich konnte mich nicht erinnern. Wollte mich nicht daran erinnern! Wollte nicht zulassen, dass mein eigener Bruder, den ich liebte, mir so etwas angetan hatte.
Danach habe ich mich von meiner Familie zurückgezogen und bin in eine kleine Wohnung am Stadtrand gezogen. Am liebsten war mir, in die USA zu ziehen. Aber das würde immer ein Traum bleiben, denn durch die Folgen des Unfalls hatte ich meine Arbeit verloren. Von einem Tag auf den anderen war ich abhängig geworden und gehörte nun auch zum Volke der Hartzianer. Ich bekam fortan mein Geld vom Staat. Die Operation, die meine Beine heilen und mir die Krücken ersparen könnte, konnte ich mir nicht leisten, also fügte ich mich meinem Schicksal und war ergeben. Konnte es eigentlich noch schlimmer werden?

Was hatte es mit dieser Amalia Dorff auf sich? Mit einem Mal keimte eine ungeheure Neugier in mir auf und ich sah mir endlich die alten Bilder an. Aufmerksam betrachtete ich jedes einzelne und sog jedes noch so kleinste Detail in mir auf.
Und dann passierte es. Wie aus dem Nichts kam die Erinnerung zurück. Amalia Dorff, ja natürlich! Wie konnte ich das vergessen? Sie war die ältere Schwester meiner Mutter und ist vor vielen Jahren nach Amerika ausgewandert. Ich hatte früher viel Kontakt mit ihr. Ich mochte sie. Plötzlich fiel mir alles wieder ein. Auch, dass sie mich stets liebevoll „Renchen“ oder „Reni“ nannte.

******

„Oh mein Gott, Frau Dorff! Wie ich mich freue, dass es Ihnen doch noch eingefallen ist. Das ist so wunderbar.“
Ullrich Frohmeier freute sich wie ein kleines Kind. Warum, das wusste ich noch immer nicht.
„Ja, natürlich, jetzt kann ich Ihnen endlich sagen, worum es geht. Aber ich musste erst sicher gehen, keinen Fehler zu machen.“
Jetzt wurde es spannend und ich war mittlerweile mehr als aufgeregt.
Er räusperte sich und erklärte dann:
„Amalia Dorff ist vor einigen Wochen in den USA verstorben. Sie war bereits fast 90 Jahre alt.“
„Ich weiß. Sie erwähnten diesen Umstand bei einem unserer Telefonate. Schade, ich hätte sie gern noch einmal wieder gesehen. Gerade jetzt...“ sagte ich mit großem Bedauern.
„Nun, sie hatte schon vor einigen Jahren ihr Testament gemacht.“
Er machte eine kurze Pause.
„Frau Dorff hat Sie als Haupterbin eingesetzt.“
„Nein!“ schrie ich fassungslos.
„Doch!“
Ich war gerührt.
„Das Vermögen Ihrer Großtante beläuft sich auf ca. 500.000 Euro.“
Jetzt war ich geschockt. Mit offenem Mund stand ich wackelig in meiner kleinen Diele und musste mich abstützen.
„Frau Dorff, sind Sie noch da?“
„Ja, Herr Frohmeier, ich bin noch da und gerade sehr froh, dass Sie nicht falsch verbunden waren.“

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Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Beitrag zum Wortspiel mit dem Thema "falsch verbunden"

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