Mit voller Wucht schlug Peter seine Faust gegen die Wand.
„Autsch!“ zischte er wütend, als er den Schmerz fühlte. Die Kacheln im Badezimmer waren härter als er dachte. Und obwohl es wehtat, schlug er noch mal und noch mal gegen die weißen, unschuldigen Vierecke. Wenn er nur daran dachte, dass er gleich in die Schule gehen musste, wurde er unglaublich wütend.
„Schule ist doof!“ schrie er sein Spiegelbild an und hämmerte erneut gegen die Kacheln. Seine Hand war schon ganz rot, aber das störte Peter überhaupt nicht.
„Ich will nicht in die Schule, sie ist einfach nur blöd!“
Eigentlich meinte er gar nicht so sehr die Schule, sondern einige der Schüler.
„Hier, das ist für dich!“ schrie er, als sich die hämisch grinsende Fratze von Dieter auf einer der Kacheln spiegelte. Seine Faust landete mitten auf Dieters rechtem Auge. Widerwillig nahm Peter seine Zahnbürste und reinigte seine Zähne, so wie es seine Mutter ihm aufgetragen hatte.
„Ist alles in Ordnung bei dir da drin?“ fragte sie durch die geschlossene Tür. Peter murmelte ein Ja und schaute wohlwollend auf die Kachel mit Dieters Gesicht, dessen rechtes Auge nun blau war.
„Das geschieht dir recht. Jetzt siehst du endlich mal so aus wie ich!“ stellte er mit Genugtuung fest und stopfte die Zahnbürste in den Becher. Während er sich das Haar kämmte, schaute er wieder in Dieters Gsesicht.
„Hau endlich ab!“ befahl er und machte ein unbeschreiblich wütendes Gesicht. Das Abbild von Dieter löste sich auf und verblasste mehr und mehr, bis die Kachel schlussendlich bloß wieder ein weiße, langweiliges Viereck war.
Seit mehr als drei Monaten wurde er nun von seinem Mitschüler Dieter und deren Gefolge massiv gemobbt. Martin, Udo, Chris und Dieter waren das bekannteste Quartett der Schule und berühmt für ihre Vorliebe des Mobbens. Jeder, wirklich jeder Schüler des Burggymnasiums hatte Ehrfurcht vor ihnen. Keiner wagte je, ihnen zu widersprechen. Darauf stand die Höchststrafe und das durfte Peter auch schon einmal am eigenen Leib erfahren. Er erlebte schreckliche Stunden damals…in dem dunklen Keller von Dieters Eltern. Wenn er heute nur daran dachte, kam sein Mageninhalt der Speiseröhre verdächtig nahe. Von den Schweißausbrüchen und dem Herzklopfen ganz zu schweigen. Seit diesem Nachmittag im Kellergewölbe des Hochhauses in der Sandstrasse hielt er sich lieber im Hintergrund und war froh, wenn er an einem Tag mal nicht Dieters Spott ausgesetzt war.
„Peter! Was machst du denn so lange im Bad?“ Seine Mutter wurde langsam ungeduldig.
„Du kommst noch zu spät“, warnte sie ihn.
„Na und? Dann gehe ich eben einfach gar nicht hin“, dachte er. Aber er ging gern zur Schule und schrieb auch gute Noten. Auch das war oft Anlass für Gemeinheiten von Dieter. Peter erkannte schnell, dass da jedes Mal der pure Neid aus Dieters Worten sprach. Wenn er eine Eins geschrieben hatte, konnte man drauf wetten, dass Dieter sofort zur Stelle war und ihn niedermachte. Er selbst hatte es nur einmal zu einer Zwei geschafft und das war in Kunst. Das war offensichtlich das einzige Fach, das ihm lag, denn in allen anderen hagelte es nur Dreier und Vierer. Peter hatte noch immer die Hoffnung, dass Dieter aufgrund seiner mittelmäßigen Noten das Gymnasium verlassen muss, aber irgendwie boxten seine Eltern ihn jedes Mal da raus. Weiß der Geier, wie die das immer wieder schafften. Jetzt klopfte es beharrlich an der Badezimmertür. Schnell schloss Peter auf und huschte an seiner Mutter vorbei in den Flur. Schnappte sich sein Brot, das Getränk und zog sich fix seine Jacke an. Entschuldigend schaute er in das ungeduldige Gesicht seiner Mutter und streifte seinen Rucksack über.
„Bis heute Mittag. Pass auf dich auf!“ sagte sie und schloss hinter ihrem Sohn die Tür. Peters Schulweg war kurz, aber lang genug, um Angst zu bekommen vor dem Tag in der Schule. Er spürte, wie sein Magen rebellierte und Übelkeit sich breit machte. Sie war ihm nicht fremd, diese Übelkeit, sondern im Gegenteil zu einem ständigen Begleiter geworden. Und dieser Begleiter ließ sich nicht abschütteln oder vertreiben. Nein! Ständig war sie bei ihm und versaute ihm den Tag, diese doofe Übelkeit.
„Warum kannst du nicht mal zur Abwechslung in Dieters Bauch für Unruhe sorgen?“ fragte er grimmig.
„Schau mal an, unser Streber!“ hörte Peter hinter sich jemanden sagen. Dieter! Diese fiese Stimme würde er immer erkennen! Immer und überall! Er ging einfach weiter, ohne darauf zu antworten.
„Bleib gefälligst stehen, du Loser!“ befahl Dieter. Auf Peters Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen und sein Atem wurde schneller.
„Was mach ich bloß? Stehen bleiben oder einfach weitergehen?“ hämmerte es in seinem Schädel. Die Schule war keine 10 Meter mehr entfernt, aber was nutzte das schon? Auch dort konnte er sich nicht viel sicherer fühlen, denn die Lehrer wurden ebenso wenig Herr der Lage wie er selbst. Außerdem war das letzte, was er wollte, ein Verräter sein! Eine kleine Petze, die sich nicht wehren kann! Eine kleine Heulsuse! Nein, das auf keinen Fall! Es war wie ein Teufelskreis, aus dem es kein Entkommen gab.
„Hey!“ Grob wurde Peter an seinem Schulrucksack festgehalten und dann zu Boden geworfen.
„Wenn ich dir befehle, stehen zu bleiben, dann hast du gefälligst zu gehorchen!“ Mit einem gezielten Tritt schoss er Peters Schulrucksack weg.
"Das darfst du nicht!" schrie dieser nun verzweifelt. Dieter lachte nur hämisch, baute sich vor Peter auf und platzierte einen Fuß auf seiner Brust, als hätte er einen Kampf gewonnen. Dieter fühlte sich immer wie ein Sieger und Fairness war ein Fremdwort für ihn. Wahrscheinlich gab es das für ihn gar nicht oder er hatte einen Duden zuhause, in dem dieses Wort ganz einfach fehlte. Gab es unterschiedliche Duden? Peter überlegte kurz, ihm seinen zu schenken und das Wort Fairness ganz dick und rot zu unterstreichen. Das Klingeln der Schulglocke holte ihn zurück in die Wirklichkeit, aus der er nur zu gern entfliehen würde. Noch immer spürte er den dreckigen Schuh auf seiner Brust und fürchtete um seine neue Jacke. Sie war nicht nur neu, sondern auch noch dazu hell. Und es war nicht wirklich von Vorteil, mit einem riesigen, dreckigen Schuhabdruck auf seinen Klamotten in der Schule aufzukreuzen. Weder war es modern noch besonders in. Und Peter hätte gern darauf verzichtet, dass Dieter ihm seine Jacke verziert, aber leider war er nicht in der Position, dagegen etwas tun zu können. Also ertrug er die Peinlichkeiten seines Mitschülers stumm und wünschte ihm die Pest an den Hals. Oder die Krätze! Oder wenigstens die Windpocken! Die würden ihn sicher für ein paar Wochen außer Gefecht setzen. Leider schien Dieter ein gutes Immunsystem zu haben, denn nur selten wurde er krank. Zum Leidwesen vieler geplagter Dieteropfer. Doch irgendwie schien Peter sein Lieblingsopfer zu sein, denn an ihm verschwendete er die meiste Energie. Er schloss die Augen und wünschte sich, es wäre schon Schulschluss und er zuhause.
„Steh endlich auf, Peter! Oder willst du den ganzen Tag hier liegen bleiben? Mitten auf dem Bürgersteig!“ drang eine fremde Stimme an sein Ohr. Peter öffnete langsam seine Augen und sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. „Hallo?“ fragte er vorsichtig. Aber es antwortete niemand, er saß ganz allein mitten auf dem Gehweg. Mittlerweile waren nämlich längst alle Schüler in den Klassen.
„Wer zum Teufel hatte da mit mir gesprochen?“ Auf dem Weg in seine Klasse stellte er sich immer wieder diese Frage. Sie ließ zu, dass er sich kaum auf den Unterricht konzentrieren konnte, obwohl er gerade in seinem momentanen Lieblingsfach bei Dr. Mertens saß: „Einführung in die Psychologie“
Das war nun schon die zehnte Doppelstunde bei dem sympathischen Lehrer. Eigentlich war er kein richtiger Lehrer, sondern Psychologe von Beruf. Vor einigen Jahren hatte er damit angefangen, Schnupperkurse für weiterführende Schulen anzubieten. Das fand großen Anklang, auch bei den Schülern. Heute sprach er über das Unterbewusstsein und welche Rolle es für den Menschen und das Gehirn spielt. Peter fragte sich sofort, ob diese Stimme vorhin sein Unterbewusstsein gewesen sein könnte. Das ihn vor dem Zuspätkommen bewahren wollte. Er kam nämlich niemals zu spät, darauf legte aber nicht nur seine Mutter wert. Für Peter gab es nichts peinlicheres, als nach dem zweiten Erklingen der Schulglocke ins Klassenzimmer zu kommen. Alle Augenpaare sind auf einen gerichtet und man fühlte sich wie ein Alien. Von den vorwurfsvollen Blicken der Lehrer ganz zu schweigen. Das löste damals solch ein Unbehagen in Peter aus, dass er fortan nie mehr zu spät kommen wollte. Und bis jetzt hatte er das auch ganz gut im Griff. Heute allerdings war es schon sehr knapp, doch er hatte es gerade noch geschafft, seinen Hintern auf den Stuhl zu schwingen, bevor Dr. Mertens das Klassenzimmer betrat. Er war wirklich ein sehr netter Mensch und Peter überlegte kurz, ihm von den Schwierigkeiten zu berichten, die alle Schüler mit Dieter und seinem Gefolge hatten. Aber er verwarf den Gedanken schnell wieder, als Dieter ihm einen bitterbösen Blick schickte. Konnte dieser Gorilla etwa Gedanken lesen? Irgendwie musste man diesen Kerl doch ruhig bekommen. Dass er sich genauso normal wie die anderen verhält. Was ist bei dem nur schief gelaufen, dass er andere ständig piesacken musste?
Schnell vergingen die Stunden und es war Mittag. Peter packte nervös seine Sachen in den Rucksack, denn garantiert heckte Dieter schon die nächste Gemeinheit für ihn aus. „Was kann ich nur tun, damit das endlich aufhört?“ fragte er sich, aber er wusste heute genauso wenig eine Antwort wie gestern und vorgestern und davor und davor…
Gedankenversunken trat er den kurzen, aber dennoch gefährlichen Heimweg an. Dieter war alles zu zutrauen und Peter vermutete ihn hinter jeder Ecke. In allen Sträuchern, die seinen Weg kreuzten, sah er die hämisch grinsende Fratze von Dieter. Nervös bewegte sich sein Kopf hin und her, bis er plötzlich eine Stimme hörte.
„Dieter ist nicht da, Peter. Du kannst unbesorgt nach Haus gehen.“ Abrupt blieb Peter stehen. Er war sich sicher, dass er diese Stimme heute schon einmal gehört hatte. Natürlich! Das war die Stimme, die ihn heute Morgen vor dem Zuspätkommen bewahrte. Also hatte er sich das doch nicht eingebildet. Langsam drehte er sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Dann entdeckte er sie, es war Nicole, ein Mädchen aus seiner Parallelklasse. Sie lächelte und kam auf Peter zu. Nicole riet ihm, mit der Schule und auch seiner Mutter über die Sache zu reden. Doch Peter blockte ab, weil er Angst hatte, riesige Angst. Nicole aber ließ nicht locker und so saß er an diesem Nachmittag mit ihr und seiner Mutter gemeinsam an einem Tisch. Peters Mutter wusste schon seit langem, dass ihren Sohn etwas quälte. Er hatte sich zurückgezogen und eingeigelt. Sie kam nicht mehr an ihn ran und konnte ihm nicht helfen. Ihr waren die Hände gebunden, bis heute. Eine unendliche Traurigkeit überfiel sie, aber auch unbändige Wut darüber, dass so etwas an einer Schule unentdeckt blieb. Oder wollten es die Lehrer einfach nicht sehen, weil auch sie machtlos waren? Bereits einige Tage später fanden sich Dieter, dessen Eltern, Peter und seine Mutter, der Direktor und die Klassenlehrerin zu einem Gespräch in der Schule ein. Als Peter Herrn Mertens entdeckte, war er erleichtert. Der nette Psychologe nickte ihm lächelnd zu und Peter fühlte sich ein wenig sicherer. Er war froh, dass er bei der Klassenlehrerin angeregt hatte, ihn ebenfalls zu diesem Termin einzuladen. Das Gespräch verlief anfangs stockend und sehr emotional, doch im Laufe der Zeit brachte es Unfassbares hervor. Niemals wäre Peter in den Sinn gekommen, dass auch Dieter ein schweres Leben haben könnte. Aber genau so schien es ganz offensichtlich zu sein. Der Vater gängelte ihn, wo er nur konnte. Setzte ihn seit der Schulzeit unter Druck und leider, ja leider, schlug er ihn auch. Dieter erfuhr also selbst schon seit langer Zeit Gewalt. Zuhause, der Ort, an dem man sich sicher und geborgen fühlen sollte, gab es für Dieter überwiegend Druck und Schläge. Seine Mutter arbeitete stets so viel, dass sie von alledem nichts mitbekommen hatte und ehrlich schockiert war. Fast hatte Peter Mitleid mit ihm, aber konnte das Dieters Verhalten anderen Schülern gegenüber rechtfertigen? Natürlich, Gewalt erzeugt meist ebenfalls Gewalt. Wurde Dieter vom Unterdrückten zum Unterdrücker? Kann es richtig sein, anderen Menschen genau das anzutun, das man selbst erfährt? Nein, zum einen, weil man ganz genau weiß, wie es sich anfühlt und zum anderen, weil man dadurch in einen Teufelskreis gerät, dem man allein kaum noch entrinnen kann…und wer soll und kann verantworten, dass dabei Unschuldige zu Schaden kommen? Nach dieser Offenbarung in der Schule trennten sich Dieters Eltern. Dem Jungen ging es daraufhin wesentlich besser. Er fühlte sich wieder wohl zuhause und sein Verhalten änderte sich zunehmend. Bald war eine deutliche Besserung des Klassenklimas zu spüren und Peter ging nun wieder gern in die Schule. Freunde sind Dieter und Peter nicht geworden, aber sie waren nun endlich keine Feinde mehr.
Texte: copyright liegt bei der Autorin
Cover: google.de
Tag der Veröffentlichung: 29.11.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
für meinen Sohn