***
Überraschend stand er mit einem großen Koffer vor
ihrer Tür. Genauso überraschend war seine
Umarmung für sie. Stürmisch riss er sie an sich,
um sie dann abrupt wieder von sich zu stoßen.
Die wenigen Worte, die er sprach, verstand sie nicht.
Dann ging er, ohne sich umzudrehen.
Erst als sie ihn nicht mehr sah, schloss sie die Tür.
Ein Tränenschleier vernebelte ihr den Blick und
fassungslos ging sie in die Knie.
Warum?
Er hatte schon vor einigen Tagen angedeutet, dass er
wegfahren will für einige Tage. Aber nun fühlte es sich
so an, als ob er die Absicht hatte, nicht mehr wieder
kommen zu wollen.
Die Vorstellung, dass es wirklich so sein würde,
raubte Mia den Atem.
Sie würde ihn also nie mehr wieder sehen?
Das konnte und wollte sie in diesem Augenblick einfach
nicht glauben.
Mühsam ging sie zum Fenster und starrte auf die Straße.
Sie konnte ihre Gefühle nicht fassen,
zu plötzlich kam alles.
Trauer. Wut. Hilflosigkeit. Angst. Verlust.
Wie sollte sie ohne ihn leben?
Antonio konnte sie doch nicht einfach so verlassen.
Immerhin waren sie zwanzig Jahre Freunde.
Lebten als Nachbarn in trauter Gemeinsamkeit.
Immer und überall stand er ihr zur Seite.
Er war wie ein Vater zu ihrer Tochter,
die zur Welt kam, als ihr leiblicher Vater Victor
schon längst über alle Berge war.
Mia musste schwer schlucken.
Denn plötzlich und unerwartet trat Victor wieder
in ihr Leben.
Victor.
Den sie nie vergessen konnte.
Victor.
Der ihr Herz gebrochen hatte.
Wegen dem sie nie wieder eine Beziehung haben wollte.
Sie wusste nicht, ob sie ihm von ihrer gemeinsamen
Tochter erzählen sollte, die nun in Amerika studierte.
Tagelang diskutierte sie mit Antonio darüber.
Nächtelang kehrte sie in die Arme ihrer ersten großen
Liebe zurück, die damals verschwand, um eine andere
Frau zu heiraten.
Und die auch heute nur mal vorbeischauen wollte.
Und nun ist Antonio gegangen.
Plötzlich verstand Mia.
Stöhnend schloss sie die Augen und lehnte die Stirn
an die Fensterscheibe.
Antonio hatte sie geliebt.
Und er hatte auf sie gewartet.
Dass sie Victor wieder in ihr Leben ließ,
war zu viel für ihn.
Diese Erkenntnis traf sie wie ein Schlag.
Nun machte die Umarmung, die so ganz anders war,
für Mia endlich einen Sinn.
Erstarrt blickte sie aus dem Fenster.
Sie wagte kaum zu atmen.
Warum nur hatte sie es nicht gemerkt, dass Antonio
mehr als nur Freundschaft für sie empfand.
Wie schmerzhaft muss das alles für ihn gewesen sein,
zu sehen, wie sie sich nach all den Jahren immer
noch nach ihrer alten Liebe verzehrte.
Daran mochte Mia im Moment gar nicht denken.
Oder bildetet sie es sich nur ein,
dass Antonio sie lieben könnte?
Sie war verwirrt.
Immer wieder schaute sie zum Fenster hinaus,
in der Hoffnung Antonio könnte zurückkommen.
Sie wollte, dass er sie in den Arm nehmen würde
und ihr sagen würde, dass alles gut werden würde.
Und sie würde sich an ihn schmiegen
und sich fallen lassen.
Bei der Vorstellung liefen ihre Tränen unaufhaltsam.
Ihre Starre löste sich.
All ihre unterdrückten Gefühle für
Antonio kamen plötzlich hoch.
Warum nur hatte sie sie nie zugelassen.
Denn das sie da waren, das spürte sie auf einmal
ganz deutlich.
Zärtlich flüsterte sie seinen Namen.
Antonio.
Und es fühlte sich verdammt gut an.
Mia schüttelte ihren Kopf und versuchte
einen klaren Gedanken zu fassen.
Sollte sie Antonio anrufen?
Aber die Idee verwarf sie sofort.
Was hätte sie sagen sollen?
Sie bedauerte sehr, dass sie beide anscheinend zu
rücksichtsvoll und vorsichtig gewesen waren.
Was wäre gewesen, wenn sie nur einmal ihrem
Herzen gefolgt wären?
Wenn sie ohne zu zögern sich ihren Gefühlen hingegeben
hätten.
Sie taten es beide nicht.
All die Jahre sagten sie sich:
Nein, das kann nicht sein.
Wir sind doch nur Freunde.
Und dann war da immer noch Victor.
Tage später bekam Mia wieder Post von Victor.
Er müsse auf Geschäftsreise und könne in der
Stadt zwischenlanden und ein paar Stunden mit ihr
im Hotel verbringen. Er wünsche es sich so sehr.
Mia hatte in den Tagen eine Entscheidung getroffen.
Am Morgen der Ankunft hatte sie ein flaues Gefühl,
obwohl sie sich absolut sicher war.
Sie war zu früh am Flughafen,
wartete auf die Ankunft des Fliegers.
Dann war es soweit.
Victor kam ihr lächelnd entgegen und begrüßte sie
mit einer innigen Umarmung.
Viel zu lange, wie Mia empfand.
Als sie sich gerade aus seiner nicht enden wollenden
Umarmung löste, sah sie wie Antonio, wie aus
dem Nichts, die Treppe herunterkam.
Ihre Blicke trafen sich.
Die Distanz stand zwischen ihnen.
Victor sah ihre vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen
nicht und er sah auch nicht den enttäuschten Blick
von Antonio, der sofort die Richtung wechselte
und wieder aus Mias Blick entschwand.
Mia wusste nicht ob sie weinen oder lachen sollte.
Was machte Antonio hier?
Mit wenigen Worten erklärte sie Victor,
dass es ein Fehler war sich wieder zu treffen,
dass sie nicht für eine Affäre bereit wäre und
seine Frau nicht noch einmal hintergehen würde.
Victor war empört.
Dass hätte sie ihm doch auch schreiben können,
dann hätte er sich den Flug sparen können.
Wutentbrannt verließ er Mia am Flughafen.
Mia war erschöpft.
Sie wollte das alles Victor persönlich sagen,
um einen Schlussstrich ziehen zu können.
Dann wollte sie auf Antonio warten.
So wie er auf sie gewartet hatte.
Das ausgerechnet in dem Augenblick, als sie
sich mit einer Umarmung begrüßten, Antonio
erschien, war für Mia mehr als absurd.
Nun musste sie ihn nur noch finden.
Und ihm alles erklären.
Würde er ihr glauben?
Das war doch nur ein Missverständnis.
Texte: beim Autor
Bildmaterialien: beim Autor
Cover: beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 30.05.2019
Alle Rechte vorbehalten
Widmung: