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Schlängellinien

 manchmal

manchmal

weint die Sonne

und das Regenfass ist leer

der Schmetterling hat lahme Flügel

und ich sehne mich nach Meer

manchmal

 

manchmal

singt der Tag

und die Nacht hat ein Lächeln übrig

das schwarz ist weiß

und die Zeit schäumt über

manchmal

 

manchmal

will ich rückwärts gehen

ein Stein sein

kein Platz für Gefühle

manchmal

 

manchmal

 bin ich da

und will doch nicht sein

ich klopfe an meine Tür

und mache nicht auf

manchmal

 

manchmal

will ich auch sein

 

 

 

 

 

 

 

... Ameli, 30 Jahre, Reiseverkehrsfrau, wohnhaft in Köln, liiert seit 5 Jahren, keine Kinder...

 

So kurz und knapp fasste Ameli ihr Leben zusammen. Einzelne Wörter, einfach so als Brocken dahin geworfen. Kein Lebensfluss. Mehr fiel ihr jedoch nicht ein und mehr hielt sie auch nicht für bedeutsam.

 

Ameli.

Für ihren Namen konnte sie nichts. Sie fand ihn nicht schön, aber auch nicht anstößig. Er wurde ihr gegeben.

30 Jahre.

Und nichts dahinter. Es wäre für die Menschheit kein Verlust, wenn es sie nicht geben würde.

Reiseverkehrsfrau.

Einfach nur ein Beruf, um Geld zu verdienen.

Wohnhaft in Köln.

Sie könnte auch in jeder anderen Stadt wohnen.

Liiert seit 5 Jahren.

Ihr Freund Lucas wäre entsetzt, wenn er wüsste, dass sie ihre Beziehung zu ihm als Liaison bezeichnete.

Keine Kinder.

Das Thema stand für sie überhaupt nicht zur Debatte.

 

Nun fing Ameli aber an über diese Brocken zu stolpern. Dabei stellte sie fest, dass sie bisher überhaupt nur durch ihr Leben gestolpert war. Immerhin, so dachte sie zumindest ein wenig positiv, war sie stark genug, um sich immer wieder aufzurappeln. Aber nun im Alter von 30 Jahren, konnte sie sich nicht mehr ertragen. Sie wollte endlich herausfinden, wer sie eigentlich war und wer sie sein wollte. Sie wollte nicht mehr stolpern. Das Gefühl, noch nicht richtig im Leben angekommen zu sein, wurde immer unerträglicher für sie. Die inneren Kämpfe, die sie täglich mit sich ausfocht, zermürbten sie und machten sie unruhig und launisch. Zeitweilig verkroch sie sich, träumte in ihrer eigenen Welt und dann war sie wieder irgendwie da. Sie war eine Einzelgängerin und schwer zu fassen. Nicht nur für andere, sondern vor allem auch für sich selbst.

Sie musste sich eine Auszeit nehmen.

Sie sehnte sich nach Sonne in ihrem Leben.

 

September

Sonntag

 

Es war der letzte Sonntag im September als Ameli mit ihrer Freundin Elisa in dem kleinen Dorf am Meer ankam. Es war noch einmal ein schöner Spätsommertag im Herbst. Die Häuser lagen verschlafen vor ihnen, als sie die einzige Straße, die es gab, entlangfuhren. Es war keine Menschenseele zu sehen.

Ameli registrierte es mit Wohlwollen. So hatte sie es sich vorgestellt. In Stille und Abgeschiedenheit wollte sie über sich ungestört nachdenken. Wie das allerdings genau aussehen sollte, wusste sie noch nicht so recht. Auf alle Fälle war es ihr Ziel. Sie war frohen Mutes.

Elisa dagegen schaute wehmütig aus dem Autofenster. Sie fuhr extra langsam den schmalen Weg zum Haus hinauf. Da stand es nun, einsam auf dem Hügel. Ihr Haus. Wie viele schöne Stunden hatte sie hier mit ihrem Mann Paul verbracht? Es war vorbei. Der schöne Ausblick aufs Meer ließ sie innerlich aufstöhnen. Sie vermisste es seit langem. Langsam stieg sie aus dem Auto aus. Ihr wurde schlagartig klar, dass sie es nicht fertig bringen würde, ihr Haus zu betreten. Sie hatte gedacht, dass sie endlich so weit wäre. Fehlanzeige. Sie kramte den Schlüssel aus ihrer Tasche und hielt ihn Ameli traurig entgegen.

Ameli verstand, sie würde alleine ins Haus gehen müssen.

Die vergnügte Stimmung, die die Zeit während der Fahrt bestimmte, schlug nun schlagartig ins Gegenteil um. Elisa und Ameli wussten, dass es Zeit zum Abschied nehmen war. Sie wollten es beide kurz und schmerzlos hinter sich bringen.

„Ameli, ich wünsche dir viel Glück. Melde dich, wenn du was brauchst“, waren Elisas letzten Worte an Ameli. Sie fand es gut, dass sich Ameli die Auszeit nahm. Sie war aber nicht davon überzeugt, dass es so der richtige Weg war. Sie hätte es besser gefunden, wenn Ameli eine Therapie gemacht hätte. Sie konnte sie jedoch nicht dazu bewegen.

Sie schlossen sich in die Arme und fühlten beide, dass es ihnen schwer fiel sich zu trennen. Sie kannten sich schon so lange und Elisa hatte Ameli wirklich sehr ins Herz geschlossen, obwohl auch sie oftmals ihre Tücken und Macken zu spüren bekam.

Elisa wollte Ameli gar nicht mehr loslassen.

„Nun fahr schon los Elisa. Mach es uns nicht so schwer. Pass auf dich auf. Und sag Lucas bitte nichts, wenn er dich anruft und nach mir fragt. Das muss ich schon selber machen. Ich bin mir sicher, dass dir irgendetwas einfallen wird. Ich bleibe hier so lange, wie ich es brauche. Mach Dir um mich bitte keine Sorgen.“

Ameli wartete noch so lange vor dem Haus bis Elisa mit ihrem Auto nicht mehr zu sehen war.

Dann ging sie ins Haus und schloss die Tür. Sie schloss nicht nur die Haustür hinter sich zu, sondern sie schloss auch die Tür hinter sich selbst zu.

 

Sie stellte ihre Tasche ab und atmete tief durch.

Was sollte sie tun?

Unschlüssig stand sie einige Minuten ganz still im Flur. Es war dunkel im Haus. Als erstes musste sie unbedingt Licht ins Haus lassen.

Wenige Minuten später nahm sie ihren dicken Pullover aus der Reisetasche, setzte sich auf die Veranda und blickte auf das weite, offene Meer.

Ihre Auszeit begann.

 

Seit 2 Stunden saß Ameli bereits in dem wunderschönen alten Schaukelstuhl und starrte auf das Meer. Sie war versunken in ihren Gedanken. Sie schaute den Wellen zu, wie sie kamen und gingen. Sie beobachtete die Möven im Wind und gab ihnen einen Wunsch mit auf die Reise.

Ihre Wünsche.

Aus der Ferne betrachtet sah sie glücklich und zufrieden aus. Wie das Bild doch täuschen konnte. Die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Aber das wusste nur sie.

Ameli versuchte alles bewusst wahrzunehmen und auf sich wirken zu lassen. Sie wollte sich mit jeder Empfindung spüren und ernst nehmen.

Ameli zeig mir, wer du wirklich bist und was du wirklich willst, waren ihre Worte an sich. Sie flüsterte sie leise. Sie blieben in der Luft hängen und wurden dann vom Wind davon getragen.

Die Ruhe tat ihr tatsächlich gut. Sie atmete tief ein und aus. Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. Sie schien sich wirklich langsam zu entspannen. Das Meer war beruhigend still.

Im Schaukelstuhl, auf und ab schaukelnd, kamen ihr plötzlich die Gedanken an eine Großmutter. Sie sah sich als kleines Kind auf dem Schoß dieser Großmutter sitzen. Die Großmutter las ihr ein Märchen vor. Sie hatte weißes Haar, welches zu einem Knoten im Nacken zusammengebunden war. Die Gesichtshaut fühlte sich weich und trocken an. Die Stimme hatte einen warmen und ruhigen Klang.

Ameli schaukelte und fühlte sich bei den Gedanken wie ein kleines trauriges Kind.

Sie hatte keine Großmutter.

Sie saß nie auf dem Schoß einer Großmutter.

Sie blieb an ihrer Kindheit hängen.

Wann hatte sie das letzte mal an ihre Kindheit gedacht?

Kindheit.

Ihre Augen weiteten sich. Ihr Lächeln erlosch. Sie fühlte plötzlich eine Schwere in sich und leichtes Magendrücken. Sie konnte sich nicht mehr vom Platz rühren. Sie hörte auf zu schaukeln. Wie gelähmt saß sie regungslos im Schaukelstuhl. Ihr Blick war starr und ausdruckslos.

Langsam wurde ihr bewusst, dass sie irgendetwas tun müsste. Sie hatte jedoch keine Kraft aufzustehen und die Stille hüllte sie immer mehr ein und ließ sie nicht mehr los. Sie war unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als einfach nur sitzen zu bleiben. Sie beschloss, sich treiben zu lassen. Es war keiner da, auf den sie Rücksicht nehmen musste und es war auch keiner da, der sich um sie sorgte. Sie war alleine.

Ich war immer alleine, schoss es ihr durch den Kopf.

Wieder sah sie sich als kleines trauriges Kind.

Alleine.

Tränen füllten ihre Augen und liefen schließlich über ihr Gesicht. Eine tiefe Traurigkeit machte sich in ihr breit.

Stimmte das Bild vom traurigen Kind?

Sie wusste es nicht. Sie hatte alles verdrängt.

Im Moment wusste sie überhaupt nicht, was eigentlich stimmte. Alles, aber auch alles schien ihr auf einmal unwirklich. In ihrem Kopf herrschte plötzlich das reinste Chaos.

Sie lauschte angestrengt dem Rauschen des Meeres. Sie sah die Wellen, die sich langsam am Strand entrollten. Das war real. Das stimmte. Das hörte und sah sie, klar und deutlich.

Wirklichkeit des Moments. Sie saß tatsächlich im Schaukelstuhl auf der Veranda im Ferienhaus ihrer Freundin.

Alleine.

Dann wurde ihr erstmalig so richtig bewusst, was sie getan hatte. Sie hatte von heute auf morgen alles hinter sich gelassen. Sie war überwältigt von ihrem Mut. Anerkennend nickte sie. Sie war zum ersten mal so richtig stolz auf sich und sie fühlte instinktiv, dass sie das Richtige getan hatte.

Gleichzeitig hatte sie aber auch ein starkes Gefühl von Angst. Ihr Magendrücken war immer noch da und verstärkte sich zunehmend. Sie bekam Gänsehaut.

Ihr kamen die Bilder der letzten zwei Tage zurück.

 

Vor zwei Tagen hatte sie ihren letzten Arbeitstag im Reisebüro. Sie hatte stillschweigend gekündigt. Keiner, außer Elisa, wusste davon. Nach 10 Jahren hatte sie am Freitag ihren Arbeitsplatz verlassen und so getan, als wenn sie Montag wieder kommen würde. Sie empfand nichts.

Am Samstag ging sie nicht zur Verabredung mit Lucas. Sie meldete sich auch nicht bei ihm. Sie schaltete ihr Handy aus. Sie wollte für keinen erreichbar sein. Sie schlief bei Elisa, um mit ihr am nächsten Tag ans Meer zu fahren.

 

Als sie das nun alles noch einmal durchlebte, war sie fassungslos darüber, dass ihr ihr Leben so bedeutungslos erschien, dass sie es einfach so mit einem fremden Haus am Meer eingetauscht hatte. Und dass sie nichts, aber auch gar nichts, bereute.

Vermisste sie es überhaupt?

Ihr Leben?

Es war ihr einfach gleichgültig in diesem Moment. Sie fühlte sich wieder so, als wenn sie überhaupt nie gelebt hätte. Sie kniff sich in den Oberarm, um sich wieder irgendwie zurückzuholen. Sie war so unendlich weit weg.

Leise flüsterte sie.

Wie kann das nur sein?

Wie kann ich nur einfach alles so hinter mir abbrechen? Sonst habe ich immer nur geträumt und bin wieder zurückgekommen.

Und jetzt?

Wo will ich hin?

Was habe ich vor?

Wieder wurden ihre leisen Worte vom Wind davongetragen.

Dann fiel ihr schlagartig Lucas ein. Was würde er wohl denken? Wie konnte sie ihm das nur antun?

Aber auch diese Fragen verloren sich im Nichts. Wie benebelt schaute sie in ein tiefes schwarzes Loch. Ihre Gefühle passten sich immer mehr dem Hin und Her des Meeres an. Sie durchlebte mit den Wellen Höhen und Tiefen ihres Lebens. Sie fing an mit den Wellen zu schaukeln.

Hin und her, auf und ab.

Mehr her als hin, mehr ab als auf.

Sie fand keinen inneren Halt mehr. Sie wurde schwächer und schwächer. Sie hatte das Gefühl, als wenn ihr der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Sie schwamm im Meer. Sie war eins mit dem Meer.

Mehr Meer.

Nur noch Wasser um sie herum. Die Wellen schwappten über sie. Ihre Atmung wurde hektisch. Sie schwankte hin und her, ihre Augen verdrehten sich und plötzlich wurde ihr schwindlig und speiübel. Mit Müh und Not schaffte sie es gerade noch rechtzeitig bis ins Bad. Sie musste sich übergeben. Es kam in heftigen Schüben. Der Klumpen im Magen machte ihr das Leben schwer. Ihn freizugeben war nicht leicht. Er wollte nicht so recht. Aber sie wollte.

Sie hatte plötzlich das Gefühl, dass sie die Chance hatte, ihr ganzes verdammtes Leben mit einem mal auskotzen zu können. Sie wollte alles loswerden. Sie kotzte und kotzte, als wenn es ums Überleben ginge. Sie war erstaunt mit welcher Freude sie plötzlich kotzen konnte. Sie freute sich, dass immer noch mehr kam. Sie wollte gar nicht mehr aufhören. Sie wollte alles von sich geben, bis zum letzten Rest. Sie würgte und würgte, bis nichts mehr kam. Sie steckte sich sogar noch den Finger in den Hals, um wirklich sicher zu sein, dass sie restlos entleert war.

Erst als wirklich nichts mehr kam, gab sie endlich Ruhe. Sie spülte sich den Mund aus und vermied es in den Spiegel zu schauen. Sie fühlte sich schrecklich und sie hatte keine Lust in ihr Gesicht schauen zu müssen.

Sie quälte sich durch den Flur in den großen Wohnbereich. Die Treppe zum Schlafzimmer flößte ihr Respekt ein. Die Stufen wollte sie nicht erklimmen. Sie würde das Ziel nicht erreichen. Sie stolperte fast über ihre Reisetasche und war froh, als sie endlich das Sofa erreichte. Völlig erschöpft sank sie nieder. Sie fühlte sich wirklich innerlich leer. Leer im Kopf und leer im Körper. Am Fußende sah sie eine Decke liegen. Sie wollte sie sich über den Körper ziehen, wel sie leicht fröstelte. Es gelang ihr kaum, so sehr war sie geschwächt. Als sie so da lag, hatte sie das Gefühl, dass sie nie mehr aufstehen könnte.

Trotz der Leere in sich und der völligen Kraftlosigkeit fühlte sie sich irgendwie sicher an diesem Platz. Und fast erleichtert dachte sie noch, dass sie das Gefühl der Leere schließlich wunderbar mit einem neuen Anfang verbinden könnte. Sie könnte sich neu füllen. Neu, im Sinne von neuen und besseren Gefühlen für sich.

Mit dieser doch angenehmen Aussicht schlief sie irgendwann in sich gekauert wie ein Baby ein.

 

***

Montag

 

Chris kam wie jeden Tag von seinem Fischfang auf dem Meer zurück. Ein paar kleine Fische zappelten im Netz. Es würde gerade für die Familie reichen, dachte er schwermütig. Die Fahrt zum Fischmarkt konnte er sich sparen.

Als jüngstes von drei Kindern wohnte er immer noch bei seinen Eltern. Seine beiden größeren Brüder wollten mit der Fischerei nichts zu tun haben. Sie sind frühzeitig von zu Hause weggegangen und kamen selten heim. Chris ärgerte sich manchmal über seine Brüder. Er fühlte sich von ihnen im Stich gelassen, denn er musste bleiben, um das Fischereierbe seines Vaters weiter zu führen. Er hatte gespürt, dass es von ihm erwartet wurde.

Und er blieb. Er wollte seinen Vater und vor allem seine Mutter nicht enttäuschen.

Aber in dem Fischerdorf änderte sich einfach nichts. Alles wiederholte sich. Von Jahr zu Jahr immer wieder das Gleiche. Chris kam sich vor wie in einer Endlosschleife. Auch dem Meer hatte er sich angepasst. Ob Wellen, Sturm, Regen oder Flaute, er fischte jeden Tag. Es war sein Leben. Es musste sein Leben sein. Obwohl er noch so jung war, kam er sich manchmal wie ein Alter vor.

Auf dem Weg nach Hause wanderte sein Blick zum Haus auf dem Hügel, mit dem schönsten Blick aufs Meer. Er hatte das ungleiche Ehepaar, dem das Haus gehörte, seit Monaten nicht mehr gesehen. Keiner aus dem Dorf hatte je Kontakt mit ihnen. Der Arzt strahlte eine Verschlossenheit und Arroganz aus und die Frau zeigte sich schüchtern und zurückhaltend.

Wer brauchte so eine Gesellschaft?

Chris.

 

Die Frau ging oft alleine am Strand spazieren. Und sie hatte eine Vorliebe für das Nacktbaden. Geschmeidig glitt ihr Körper dann in den Wellen dahin. Chris beobachtete sie manchmal von einer verborgenen Düne aus. Er sah, wie sie sich auszog und er stellte sich dann vor, wie es wohl wäre, ihren Körper zu berühren. Außer der mütterlichen Umarmung hatte er noch keine Erfahrung, wie sich ein weiblicher Körper tatsächlich anfühlte. An solchen Tagen spürte er dann besonders das körperliche Verlangen und abends musste er selbst Hand anlegen, um seine Lust zu stillen. Obwohl er danach immer friedlich einschlief, überkam ihn morgens ständig die Scham.

 

Chris hing seinen Gedanken an die fremde Frau nach. Irgendetwas irritierte ihn jedoch an diesem Morgen. Er schaute noch einmal zurück. Aus der Ferne sah er, dass die Terassentür offen stand. Das wäre für einen Montag sehr ungewöhnlich. Sein Instinkt sagte ihm, dass dort irgendetwas nicht stimmte. Er war sich unschlüssig, ob er nachschauen sollte. Vielleicht am Abend.

Jetzt musste er erst einmal den dürftigen Fang nach Hause bringen. Er sah schon in Gedanken, wie sein Vater wieder abwertend mit dem Kopf schütteln würde und Chris würde wieder das Gefühl der Untauglichkeit verspüren. Sein Vater musste gar nichts sagen, Chris spürte es durch und durch.

Was musste er nur tun, damit sein Vater stolz auf ihn sein würde?

Hatte er nicht schon genug auf sich genommen, indem er für seine Brüder bei ihm geblieben war?

Konnte er dafür nicht wenigstens ein wenig Dankbarkeit erwarten?

Aber immer mehr ärgerte er sich darüber, dass er unfähig war sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Er konnte es nicht fassen und fragte sich, was ihn derart blockierte und handlungsunfähig machte.

Er merkte gar nicht, dass er schon zu Hause angekommen war, so tief war er in seinen Gedanken versunken.

Seine Mutter begrüßte ihn. Mit Stolz betrachtete sie ihren Sohn und mit Trauer im Herzen sah sie, dass er wieder einmal unglücklich war. Sie hatte einen Blick dafür.

„Ich hatte nicht viel im Netz, es reicht aber für heute Abend. Es muss mal wieder Fisch geben“, sagte Cris liebevoll und lächelnd zu seiner Mutter, drückte sie und gab ihr einen dicken Kuss auf die Wange. Chris liebte seine Mutter über alles. Sie stand ihm jederzeit zur Seite und er konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals böse auf ihn war.

Christine schaute ihren Sohn mit einem Lächeln an, obwohl ihr gar nicht danach zu mute war. Sie merkte schon längst, dass ihr Sohn sich mit seinem Leben hier im Dorf abgefunden hatte und sie wünschte ihm nichts sehnlicher, als eine nette Frau und das Leben in der Ferne. Aber Chris wollte anscheinend nicht weg und sie wusste nicht warum. Sie ahnte nicht, dass ihr Sohn deshalb selbst einen inneren Kampf mit sich führte.

„Im Haus der Spiegels ist die Terassentür offen“, sagte Chris unvermittelt. „Ich habe schon lange keinen mehr dort gesehen? Weißt du etwas?“

„Die Spiegels? Die haben sich doch getrennt. Meint die Ilse zumindest. Und die muss es doch wissen. Es wird erzählt, dass sie sich oft gestritten hätten.“

Chris hatte Frau Spiegel immer nur alleine am Strand gesehen. Herr Spiegel verließ kaum das Haus. Die Ilse könnte recht haben. Er hätte so eine schöne Frau nie alleine gelassen, da war er sich sicher. Er musste seufzen.

„Ich werde bei Gelegenheit mal nachschauen. Im Dorf interessiert sich ja keiner für das Haus. Wer weiß, was da los ist.“ Insgeheim wünschte er sich, dass die Ilse recht hätte. Das würde ja bedeuten, dass Frau Spiegel vielleicht alleine in dem Haus wäre. Bei diesem Gedanken verspürte Chris wieder dieses heiße Gefühl in der Lendengegend und ihm schoss Schamröte ins Gesicht. Er wandte sich schnell von seiner Mutter ab, damit sie davon nichts mitbekam.

Nach dem Abendessen wollte er sofort nachschauen.

 

***

Montagnachmittag

 

Ameli lag immer noch zusammengerollt, wie ein Baby im Mutterleib, auf dem Sofa. Sie hatte einfach nicht die Kraft aufzustehen. Sie fiel immer wieder in einen unruhigen Schlaf und hatte die schrecklichsten Alpträume. Schweißgebadet, mit Tränen in den Augen wachte sie jedes mal auf. Sie wusste nicht welcher Tag war und wie lange sie schon auf dem Sofa lag. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Irgendwann, so dachte sie, müsse sie doch mal Hunger bekommen. Aber wie sehr sie auch versuchte in ihren Körper hinein zu spüren, sie fühlte nichts.

Eine Leere ... ein dunkles Loch ... ein endloses Nichts.

Sie hatte anscheinend wirklich alles ausgesperrt aus ihrem Körper, dachte sie. Sie konnte einfach nur daliegen, vor sich hinstarren und nichts wahrnehmen.

Sie versuchte wieder aufzustehen, aber sie konnte nicht.

Sie wollte um Hilfe schreien, aber wer sollte sie denn hören? Ihr fiel ein, dass sie noch nie um Hilfe gerufen hatte und noch nie jemanden um Hilfe gebeten hatte.

Warum auch?

Warum nicht?

Sie fing heftig an zu weinen. Es floss einfach so aus ihr heraus. So, wie sie vor ein paar Stunden ihr gesamtes Inneres ausgekotzt hatte, so flossen jetzt die Tränen aus ihr heraus, ohne Ende.

Was soll ich denn noch geben? Ich habe doch nichts mehr, flüsterte sie leise.

Sie war über ihre eigenen Worte überrascht, nicht über den Inhalt sondern über den Klang, der plötzlich die Stille durchdrang. Wieder wurde ihr schmerzlich bewusst, dass sie alleine war. Nicht alleine in dem Sinne, dass keiner da war, sondern wirklich mit sich alleine. Wieder machte sich diese tiefe Traurigkeit in ihr breit. Es tat so unheimlich weh.

Höre auf zu weinen, Ameli.

Seh auf, Ameli.

Bitte.

Sie hörte auf sich und stand langsam auf. Ganz langsam. Wie in Trance ging sie durch die Räume. Sie waren ihr alle bekannt durch die vielen Bilder und Erzählungen ihrer Freundin. Dennoch war sie verwundert, dass ihr alles so vertraut vorkam, so, als wenn es ihr eigenes zu Hause wäre. Sie fand sich sofort zurecht. Es beruhigte sie ein wenig. Sie hörte endlich auf zu weinen.

Sie schaffte es im Bad eine Dusche zu nehmen. Sie hätte hinterher aber nicht sagen können, ob das Wasser kalt oder heiß gewesen war. Sie sah nur, dass es dampfte und ihre Haut gerötet war.

In der Küche fand sie eine Flasche Saft unter der Spüle und ein paar Kekse im Schrank. Sie trank ein paar Schlucke und aß ein Keks. Dabei schaute sie aus dem Küchenfenster, ohne etwas zu sehen. Ihr Magen rebellierte, sie merkte es nicht.

Merkte sie überhaupt etwas?

Ihr kam es vor, als wäre sie Stunden unterwegs gewesen, so erschöpft fiel sie wieder zurück auf das Sofa. Wenn sie sitzen geblieben wäre, hätte sie vielleicht das tosende Meer gesehen und den dunklen Himmel, der nichts gutes vorhersagte. Sie hätte dann bestimmt die Terassentür geschlossen. Aber in ihrem Zustand nahm sie einfach nichts wahr. Sie zog sich die Decke über ihren schlaffen und zitternden Körper und fing an, sich im Takt des Windes hin und her zu wiegen. Die Geräusche hatten etwas beruhigendes, etwa so, wie das Ticken eines Weckers.

Rhythmus.

Sie fühlte sich wieder wie ein kleines Kind und sehnte sich in die Arme ihrer Mutter.

Mutter?

Sie hörte weit in der Ferne das Gute-Nacht-Lied.

Viel zu selten hat sie es mir mit ihrer schönen und lieblichen Stimme vorgesungen, dachte Ameli traurig. Dann sah sie ihre Mutter neben sich, als dunkles Etwas, ohne Gesicht. Sie erinnerte sich, dass sie ihre Mutter oft gebettelt hatte, es noch ein mal zu singen. Es hatte nie etwas geholfen, ihre Mutter ging einfach nur fort und schloss die Tür.

Ameli fing an, das Gute-Nacht-Lied leise zu summen. Sie konnte sich ganz genau daran erinnern. Plötzlich kam ihr sogar der Text wieder in den Sinn. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie schaute suchend zur Tür. Mama komm zu mir zurück, schienen ihre Augen zu sagen. Zeige mir dein Gesicht. Lass mich deine Stimme hören.

Dass sie jetzt an ihre Mutter denken musste, kam ihr komisch vor. Sie dachte schon seit Jahren nicht mehr an ihre Mutter. Sie zwang sich, in den dunklen Erinnerungen zu bleiben. Ihre Hände wurden eiskalt. Sie zog die Decke enger um ihre Schultern.

Wann hatte sie ihre Mutter zum letzten mal gesehen? Wann war das?

Ameli erinnerte sich mit Schrecken an den Tag, an dem ihre Mutter ihr ihre letzte Illusion zerstört hatte. Sie spürte einen tiefen Schmerz in ihrer Brust und sie krümmte sich noch mehr zusammen. Ameli machte sich ganz klein und fing an zu wimmern.

Sie sah sich in ihrem grünen Kleid vor ihrer Mutter stehen. Sie wollte, wie schon so oft wissen, wer ihr Vater war und wo er war. Sie bekam von ihrer Mutter nie eine Antwort darauf. An jenem Tag wollte sie sich aber nicht wieder wegschicken lassen.

Ameli sah wieder den quälenden Gesichtsausdruck ihrer Mutter ganz klar vor ihren Augen. Ihr wurde noch kälter.

Was sie damals von ihrer Mutter erfuhr, konnte sie kaum glauben. Sie eröffnete ihr, dass ihr erstes Kind, ein Junge, im Alter von vier Monaten gestorben war. Ihr Vater hätte den Verlust nicht ertragen können, er wollte sofort wieder Vater werden. Als dann aber feststand, dass das Baby, also sie, ein Mädchen werden würde, hätte er sie verlassen. Ihre Mutter hatte alle Bilder von ihm vernichtet und auch nie wieder Kontakt mit ihm aufgenommen.

Dieses Geständnis, so erinnerte sich Ameli jetzt, war damals ein riesiger Schock für sie. Sie war 16 Jahre. Sie hatte bis dahin immer irgendwie gehofft, dass ihr Vater doch noch den Weg zu ihr finden würde. Sie träumte oft von ihm. Aber mit dieser Enthüllung platzte ihr Traum wie eine große Seifenblase. Ihr Vater war an diesem Tag für sie gestorben. Wenig später verließ sie nach einem heftigen Streit ihre Mutter. Für immer. Auch sie war für sie gestorben.

Ameli spürte plötzlich wieder dieses Bedürfnis in sich, zu schreien. Sie schloss ganz fest die Augen, um es nicht zu tun. Sie zog ihre Knie weiter zu sich ran und hielt sich fest umschlungen. Wie immer, war sie nicht in der Lage, ihren Schmerz freien Lauf zu lassen.

Aber immerhin konnte sie weinen.

Endlich weinte sie.

Still und unaufhörlich.

Die Gedanken an ihre Mutter wurden immer intensiver und hörten einfach nicht auf. Ihr wurde bewusst, so richtig bewusst, dass ihre Mutter durch den schmerzlichen Verlust von Kind und Mann eine schwere Zeit durchmachen musste. Sie mochte es sich gar nicht weiter vorstellen. Aber ihr wurde auch erstmalig bewusst, dass ihr durch das Schicksal ihrer Mutter etwas sehr sehr wichtiges vorenthalten wurde. Nämlich ihre eigene glückliche Kindheit, an die sie sich gerne erinnern würde. Sie konnte sich aber, wenn überhaupt, nur an dunkle Schatten erinnern. Die Schatten, die bis zum heutigen Tag ihr Leben verdunkelten.

Geräuschvoll zog sie ihre Nase hoch und schluchzte immer heftiger. Sie konnte sich augenblicklich nicht vorstellen, dass sie sich jemals wieder von dieser tiefen Traurigkeit, die sie immer mehr erfasste, erholen würde.

Sie sah sich als kleine Ameli in ihrem dunklen Zimmer unter der dunklen Decke liegen. So wie sie sich immer unter dieser dunklen Decke versteckt hatte, so hatte sie auch ihre Gefühle in sich versteckt. Aus Angst den Schmerz, den diese hervorrufen könnten nicht auszuhalten, hatte sie ihre Gefühle im Verborgenen gelassen. Schon als kleines Kind hatte sie damit angefangen.

Der Schmerz in Ameli wurde immer gewaltiger. Sie merkte, wie er in ihr wuchs und wie er ihr die Luft zum Atmen nahm. Sie schluckte und schluckte und verwehrte ihm so den Weg in die Freiheit. Sie hielt alles in sich fest, so wie immer.

Ihr wurde jedoch auf einmal augenblicklich klar, dass genau das ihr Problem war. Sie musste endlich Zugang zu ihren Gefühlen finden, sie zulassen und auch ausleben.

Aber wie sollte sie das nur anstellen? Sie hatte doch keine Übung darin.

Sie weinte immer heftiger.

Ihr wurde die Tragweite ihrer eigenen Gefühllosigkeit bewusst. Genau dadurch war sie einfach nicht fähig, jemanden in ihr Leben zu lassen. Es gab nur sie für sich. Sie wollte sich nie von jemanden abhängig machen. Sie musste immer die volle Kontrolle über sich haben.

Warum ist ihr das alles nicht schon längst in den Sinn gekommen?

Warum jetzt mit einem mal so heftig?

Es donnerte wie ein Schnellzug an ihr vorbei und war wieder verschwunden. Sie wollte es festhalten, es ging nicht. Sie war sich sicher, dass sie es zurückholen musste. Auf einmal bekam ihre Kindheit und ihre Mutter eine große Bedeutung für sie. Die Kindheit und die Mutter, die für sie nicht mehr existierten.

Wo waren nur die ganzen Erinnerungen hin?

Waren sie wirklich so schrecklich, dass sie sie komplett aus ihrem Körper und ihrem Hirn verbannen musste?

Ameli konnte immer noch nicht aufhören zu weinen. Sie weinte Tränen um ihretwegen und sie weinte auch Tränen um ihre Mutter.

Leise flüsterte sie:

Mama ich verzeihe dir. Vergib auch mir, dass ich dich verlassen habe. Ich komme zu dir zurück. Du musst mir helfen.

Schluchzend legte sie sich unter die Decke, die ihr immer noch Schutz und Dunkelheit gab.

Ihr Körper bebte. Sie war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht merkte, dass jemand am Fenster stand und sie beobachtete.

 

***

Montagabend

 

Chris hielt es nicht mehr zu Hause aus. Er eilte gleich nach dem Abendessen zum Haus am Hügel. Schon von Weitem sah er, dass die Terassentür immer noch offen stand, obwohl doch augenscheinlich ein Sturm mit viel Regen im Anmarsch war. Das Auto der Spiegels stand nicht vor der Tür. Es musste aber jemand da sein. Er klingelte nicht, sondern schlich sich um das Haus. Er lugte durch das Küchenfenster, sah aber nur eine Flasche Saft und ein paar angefangene Kekse auf dem Küchentisch liegen. Auch im Bad nichts auffälliges. Diese Räume lagen auf der Rückseite des Hauses. Oben musste ein geräumiges Schlafzimmer sein, dachte er. Nach vorne zur Meerseite war eine lang gestreckte Veranda mit einem anschließenden Wohnbereich, in welchem sich ein wunderschöner großer Kamin befand. Das hatte er damals beim Hausbau beobachtet. Er war fasziniert von diesem gewaltigen Haus, was so gar nicht in diese Gegend passte. Nicht nur von der Größe, auch von der Farbgestaltung, wich es enorm von den hier ansässigen Gewohnheiten ab. Mit dem kräftig ausladenden grünen Dach und den dunklen Hauswänden in Terrakotta hatte es etwas Majestätisches. Auch das war ein Grund, warum die Spiegels nicht beachtet wurden im Dorf.

Der reiche Arzt und seine bescheidene Frau.

Bevor Chris um die Ecke bog, hörte er ein Wimmern und Schluchzen. Er konnte das Geräusch nicht so recht einordnen. Eine Katze?

Langsam bewegte er sich vorwärts und dann stand er vor der weit geöffneten Terassentür. Er sah im Inneren des großen Raumes eine rote Couch vor dem Kamin stehen. Auf der Couch lag jemand unter einer Decke und wimmerte. Er starrte minutenlang auf die Couch. Er sah weiter nichts, aber er vermutete, dass eine Frau unter der Decke lag und weinte.

Ein Mann würde so etwas nicht machen.

Chris klopfte zaghaft ans Fenster. Keine Reaktion.

Er wusste nicht so recht was er machen sollte. Der Sturm brachte die ersten Regentropfen. Chris merkte es erst, als er schon völlig durchnässt war. Er konnte sich immer noch nicht entschließen, irgendetwas zu tun. Er versuchte es noch einmal mit Klopfen. Wieder nichts.

Leise zog er die Terassentür von außen zu, in der Hoffnung, dass der Wind sie nicht wieder aufreißen würde. Dann ging er mit einem komischen Gefühl nach Hause. Er fühlte sich wie ein Eindringling in eine Intimsphäre. Ihm war nicht wohl in seiner Haut und er wusste schon jetzt, dass er nicht gut schlafen würde.

 

Sein Vater wartete vor der Haustür im Schutz des Vordaches auf ihn. Er hatte bemerkt das Chris noch einmal das Haus verlassen hatte, nachdem er anders als sonst, hastig sein Abendessen runtergeschlungen hatte.

Als er seinen Sohn trotz strömenden Regen langsam die Straße runterkommen sah, überkam ihn väterlicher Stolz. Sen Sohn hatte die gleiche stattliche Größe wie er und war genauso gut durchtrainiert, wie er in seinen besten Zeiten. Auch das dichte blonde Haar und die strahlend blauen Augen hatte er von ihm geerbt. Er konnte nicht verstehen, warum Chris manchmal so niedergedrückt durch den Tag schlich. Er hatte doch alles und musste sich um nichts kümmern.

Wie konnte ein junger Mensch nur so undankbar sein?

Er nahm sich vor, mal ein Wort von Mann zu Mann mit seinem Sohn zu wechseln. Seine Frau lag ihm damit schon monatelang in den Ohren. Frauen immer mit ihrem Geschwätz, dachte Ernst und machte ein mürrisches Gesicht. Er hätte ihr nie recht gegeben, gerade deshalb schob er das Gespräch von sich.

Auch Chris sah seinen Vater schon von Weitem und wünschte sich, dass er ihn in Ruhe lassen würde. Jetzt wollte er nicht mit ihm reden. Er war ein wenig durcheinander.

Aber sein Vater sagte lediglich, „na, dann sieh mal zu, dass du wieder trocken wirst.“ Eigentlich wollte er wissen, wo Chris war, aber er war unfähig diese simple Frage an ihn zu richten. So kurz und wenn überhaupt verliefen seit Jahren die Gespräche zwischen den beiden. Sie redeten ständig aneinander vorbei. Sie vermieden es auch, sich in die Augen zu schauen. Sie kämpften beide einen stillen Kampf, konnten ihn nicht in Worte fassen.

Christine hatte ihre liebe Not mit diesen beiden Sturrköpfen. Wie gerne hätte sie einfach mehr Unterhaltung und Lebensfreude unter ihrem Dach. Wie oft sehnte sie sich die Zeiten zurück, als ihre drei Jungs noch klein waren und wie der Wirbelwind durch das Haus fegten. Da war sie abends geschafft und fiel müde und zufrieden ins Bett. Heute hatte sie nicht mehr viel zu tun. Sie grübelte viel und konnte nachts nicht mehr schlafen. Es wurde nur noch laut und lustig, wenn Tom und Michael mit ihren Kindern zu Besuch kamen. Aber das war selten und auch da war ihr Mann wie ein mürrischer Esel. Christine würde gerne mehr Oma für ihre Enkelkinder sein. Sie hatte anfangs gedacht, dass sie in den Ferien auf sie aufpassen könnte. Das wollten ihre Söhne aber nicht. Genauer gesagt, waren die Schwiegertöchter dagegen. Sie grollte ihnen aber deswegen nicht. Sie wollte ihnen nicht reinreden.

Seufzend hatte sie die Szene vom Küchenfenster aus beobachtet und schüttelte traurig den Kopf. Sie wusste, dass sie daran nichts ändern konnte.

Chris steckte noch schnell den Kopf zur Küchentür herein und wünschte seiner Mutter eine gute Nacht. Sie tat ihm leid. Er sah oft an ihrem wehmütigen Lächeln, dass auch sie nicht glücklich war.

Wie sollte man auch an diesem einsamen Ort glücklich sein, dachte Chris.

Chris konnte, wie vermutet, die ganze Nacht nicht schlafen. Immer wieder hörte er das Schluchzen. Jetzt war er sich überhaupt nicht mehr sicher, ob er das Richtige getan hatte. Vielleicht brauchte die Frau, oder war es vielleicht doch Frau Spiegel, Hilfe? Am liebsten wäre er noch einmal zurück zum Haus gelaufen. Aber dann dachte er wieder, dass es ihn nichts anginge. Immerhin hatte er die Terassentür geschlossen und der Sturm konnte kein Unheil anrichten. Das Haus stand somit sicher geschützt auf dem Hügel und das zählte erst einmal in seinen Augen und beruhigte ihn ein wenig. In den Morgenstunden schlief er unruhig ein, um wenig später von seinem Wecker geweckt zu werden.

 

***

Dienstag

 

Die Netze mussten eingeholt werden. Die tägliche Aufgabe ist Chris in Fleisch und Blut übergegangen und ohne zu überlegen, war er schon auf dem Weg zum Kutter. Sofort fiel ihm aber wieder die fremde Frau ein und er nahm sich vor, später doch noch einmal nachzuschauen.

Der Wind hatte sich über Nacht wieder gelegt und es versprach ein schöner Tag zu werden. Der Herbst zeigte sich von seiner guten Seite. Chris schaute von seinem Kutter zum Horizont.

Dieses Bild, schon Tausend mal gesehen, erfreute ihn immer wieder. Es öffnete ihm das Herz und er musste lächeln. Er konnte sich wirklich nicht vorstellen, für längere Zeit dieses Bild zu missen. Es würde ihm fehlen. Er brauchte diesen Blick in die Ferne über das Meer, mehr als alles andere.

Vielleicht konnte er auch deswegen nicht weg von hier?

Manchmal sah er Frau Spiegel bei ihren morgendlichen Spaziergängen. Sie war die einzige Person, die in der Frühe am Nordstrand spazieren ging. Vielleicht deshalb, um genau diese Stille zu genießen. Sie kam bestimmt aus einer Großstadt. Aber nun war sie schon Ewigkeiten nicht mehr hier gewesen. Wo war sie nur?

Für Chris war sie all die Jahre seine heimliche Freundin, die Freundin, die er heiß begehrte, die Freundin, die er nie bekommen würde. Trotzdem gab sie ihm irgendwie Kraft. Allein schon ihre Anwesenheit in seiner Nähe, verursachte in ihm ein Gefühl der Freude. Obwohl er nie ein Wort mit ihr gewechselt hatte, ihr nie gegenüber gestanden hatte, sie nie berührt hatte, war sie für ihn etwas sehr Wertvolles. Er dachte oft an sie, an ihre fließenden Bewegungen im Wasser, an ihren schönen Körper. Und nun lag in ihrem Haus vielleicht eine andere Frau. Das wollte er so nicht wahrhaben.

Es ließ ihm einfach keine Ruhe.

Ausgerechnet heute war das Netz krachend voll. Am liebsten hätte er allen Fischen die Freiheit gegeben. Die Ungewissheit nagte an seiner Seele. Aber Chris wusste sich zu beherrschen und erledigte gewissenhaft mit sicheren Händen seine Aufgaben. Mit den Händen, die ihm des Nachts andere Freude bereiteten und die darauf warteten den zarten Körper einer Frau zu berühren. Ein kurzes Stöhnen entrang sich seiner Kehle und Chris war froh, dass er alleine arbeitete und ihn keiner fragen konnte, warum er stöhnte.

 

Zur gleichen Zeit, während Chris mit dem Fischfang beschäftigt war, wachte Ameli auf. Sie erinnerte sich, dass sie in Gedanken an ihre Mutter eingeschlafen war und, dass sie zu der wichtigen Einsicht gekommen war, wieder Kontakt mit ihr aufzunehmen.

Mutter?

Mutter.

Was sie jetzt allerdings ein wenig irritierte, war, dass es irgendwie dunkel im Zimmer war. Sie schaute zur Uhr neben dem Kamin. Sie zeigte 07.00 Uhr. Zu dieser Zeit sollte es doch eigentlich heller sein, dachte Ameli überrascht. Ihr Zustand kam ihr schon sehr befremdlich vor, aber dass sie sich jetzt noch nicht einmal auf normale Dinge, wie, morgens um sieben ist es hell zu dieser Jahreszeit, verlassen konnte, dass machte ihr irgendwie Sorgen.

War sie jetzt verrückt?

Sie richtete ihren Blick zu den Fenstern und zur Terassentür. Alles geschlossen. Dass sie die Fensterläden noch nicht geöffnet hatte, fiel ihr wieder ein. Zu schön war der Anblick des Meeres als sie die Terassentür öffnete und der Schaukelstuhl auf der Veranda ließ sie alles vergessen. Und nun war die Terassentür zu.

Obwohl sie völlig geschwächt war, stand sie ruckartig auf und lief mit einer unglaublichen Schnelligkeit zur Terassentür und stieß sie auf. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie musste sich am Terassengeländer festhalten, sonst wäre sie umgefallen. Nachdem sich ihr Körper an die aufrechte Haltung gewöhnt hatte und sie die Augen wieder öffnen konnte, blickte sie auf das weite Meer hinaus.

Sie sah in der Ferne ein einsames Fischerboot.

Genau diesen Anblick hatte sie sich immer gewünscht. Morgens aufstehen, ein Blick aufs weite Meer werfen und mit ein bisschen Glück noch ein einsames Fischerboot sehen.

Es war wundervoll.

Aber genau dieser ruhige Anblick des Meeres hatte sie hier bei ihrer Ankunft um den Verstand gebracht, dachte sie verzweifelt. Sie konnte immer noch nicht begreifen, was mit ihr passiert war.

Was hatte sie dermaßen aus der Fassung gebracht, dass sie sich die Seele aus dem Leib gekotzt hatte, stundenlang geweint hatte und sich in einen Trance ähnlichen Tiefschlaf begeben hatte?

Sie stand auf der Veranda und dachte nach.

Sie kam hier her, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Sie wollte endlich anfangen, sich ernst zu nehmen. Sie wollte auch glücklich sein, wie all die Anderen. Sie wollte dazugehören zu der Masse, die da draußen um sie herum war. Sie wollte nicht mehr das Gefühl haben, kein Gefühl zu haben. Sie hatte ihr verstecktes Leben in sich satt. Sie wollte sich nicht mehr ständig fragen:

Ameli was machst du ? Bist du überhaupt da?

Nun hatte sie angefangen, über sich nachzudenken. Sie hatte angefangen, in sich hinein zu spüren. Sie war bereit, längst Verborgenes an die Oberfläche zu holen. Sie musste feststellen, dass das verdammt weh tun konnte. Die erste Erkenntnis schien ihr noch sehr oberflächlich, aber es war immerhin ein Anfang. So richtig wusste sie noch nicht, was sie damit anfangen sollte.

Dass das alles mit ihrer Mutter und ihrer Kindheit anfing, musste wohl einen Sinn haben, dachte sie.

Mutter.

Kindheit.

Dunkelheit.

Mühsam schleppte sie sich zurück zum Sofa. Sie saß da und schaute sich um. Sie war sehr unentschlossen, was sie überhaupt tun sollte. Auf alle Fälle müsste sie die ganzen Fensterläden endlich öffnen. Licht musste ins Haus. Plötzlich verspürte sie Hunger. Ihr wurde leicht schwindlig. Sie war jedoch froh, dass ihre Lebensgeister wieder erwachten.

Auf dem Weg zur Küche fiel ihr auf, dass ihr Gepäck immer noch im Flur stand und dass sie sich seit ihrer Ankunft noch nicht umgezogen hatte. Sie starrte fassungslos an sich herunter.

Sie blickte vorsichtig ins Bad. Zumindest hatte sie nicht am Klo vorbei gekotzt und geduscht hatte sie auch schon. Sogar die Zahnbürste machte den Eindruck, dass sie schon benutzt wurde. Das Badehandtuch lag auf dem Boden vor der Dusche. Befriedigt stellte sie fest, dass sie sich wenigstens wie ein normaler Mensch gereinigt hatte. So richtig konnte sie sich aber nicht daran erinnern. Wann sollte das gewesen sein?

Die Küche sah allerdings ziemlich unbenutzt aus, stellte sie fest. Ein paar vertrocknete Kekse lagen auf dem Küchentisch rum und der Saft auf dem Küchentisch war vergoren, weil sie anscheinend die Flasche nicht verschlossen hatte. Oder war der Saft schon schlecht, als sie ihn getrunken hatte? Hatte sie ihn überhaupt getrunken? Auch das wusste sie nicht so genau.

Im Kühlschrank war kaum etwas Essbares zu finden, aber das hatte sie auch nicht wirklich erwartet. Immerhin fand sie ein großes Dosenlager unter der Spüle. Sie musste lächeln, als sie sich vorstellte, dass ihre Freundin ihren Mann mit Dosenfutter abspeiste. Das passte zu ihr. Mit Kochen hatte sie genauso wenig am Hut, wie sie selber. Und schicke Restaurants gab es hier in der Einöde anscheinend nicht.

Sie entschied sich für eine Kartoffelsuppe. Kartoffelsuppe?

Sie wunderte sich, warum ihre Wahl auf Kartoffelsuppe fiel. Unter allen Suppen rangierte Kartoffelsuppe sonst auf dem letzten Platz. Dennoch öffnete sie mit sicherem Griff die Dose, füllte sie in eine Schüssel um und stellte sie in die Mikrowelle. In wenigen Minuten war die Suppe warm.

Als sie dann alleine am Küchentisch die Suppe aß, traten ihr plötzlich wieder Tränen in die Augen. Sie schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn und verfluchte sich für ihre weinerliche Stimmung.

Was ist nur los mit mir, fragte sie sich.

Bitte nicht schon wieder weinen, flehte sie sich an.

Sei brav Ameli.

Sie war sich sicher, dass sie hier mit sich alleine bestimmt des Öfteren Selbstgespräche abhalten würde.

Sie suchte nach einem Radio. Als die ersten Klänge ihr Ohr erreichten, ging es ihr wesentlich besser. Sie aß die Suppe auf, ohne dass sie großen Geschmack daran fand. Kartoffelsuppe zum Frühstück. Sie wurde satt. Lange saß sie am Küchentisch mit ihrem leeren Teller.

Dann fiel ihr wieder die Terassentür ein. Irgend jemand musste sie verschlossen haben. Aber warum? Und wer?

 

Wenig später stand Ameli auf der Veranda. Sie hatte eine dampfende Kaffeetasse in der Hand. Sie schaute wieder aufs Meer. Es lag ruhig und friedlich vor ihr. Kleine Wellen plätscherten an den Stand.

Das Fischerboot war nicht mehr zu sehen.

Am Horizont sah sie große Frachter.

Was hatten sie wohl an Bord?

Wohin ging ihre Reise?

Ameli stellte sich vor, dass sie auf einem dieser großen Schiffe wäre. Nur Wasser um sich herum. Kein Entkommen möglich.

Gefangen im Meer.

Sie spürte Angst in sich hochkommen und ihr wurde abermals übel. Sie fing an zu zittern, obwohl es nicht kalt war. Sie nahm einen kräftigen Schluck Kaffee und wunderte sich über den Verlauf ihrer Gedanken. Sie hätte doch eben so gut auch an Freiheit denken können.

Ihr Blick glitt langsam den Strand entlang. In der Ferne sah sie einen Mann, der in Richtung Haus kam.

 

Chris sah in der Ferne eine kleine zierliche Frau, die in seine Richtung schaute. Sie hatte langes Haar und nun wusste er, dass es nicht Frau Spiegel war. Ihm war, als wenn die Frau ihn mit ihrem Blick zu sich zog. Es war wie ein Sog.

Sie schien zu sagen: Komm her. Ich warte auf dich.

Er ging Schritt für Schritt auf sie zu und behielt sie fest im Blick. Er hätte noch eine andere Richtung einschlagen können, es gab noch einen einzigen Strandaufgang als Fluchtmöglichkeit. Er nahm ihn nicht.

Warum sollte er?

 

Ameli wandte ihren Blick nicht von dem herannahenden Mann ab. Sie konnte das Gesicht immer besser erkennen. Sie spürte keine Angst vor dem Fremden. Ihr kam es eher so vor, als wenn sie ihn erwarten würde.

Schlüssel, fiel ihr spontan ein.

 

Chris kam immer näher. Er fühlte sich derart von dieser fremden Frau angezogen, dass er sich ihr fast schon wie hypnotisiert näherte.

 

Ameli sah diesem jungen Mann tatsächlich mit freudiger Erwartung entgegen, die ihr nicht unangenehm war. Sie hatte das Gefühl, dass sie ihm etwas geben müsste.

Aber was?

Und wofür?

Sie wusste es nicht.

Sie fühlte sich leicht.

Leicht abgehoben.

Träumte sie?

 

Als sie sich gegenüber standen und sich in die Augen blickten, war keiner von beiden fähig, auch nur ein Wort zu sagen. Sie wussten beide nicht, wie ihnen geschah. Chris hob zaghaft seine Hände und berührte vorsichtig Amelis Haar, wie, um sich zu vergewissern, ob diese Gestalt vor ihm auch echt sei. Sie war echt.

Er vergrub seine Hände in ihren vollen braunen Locken. Er konnte nicht anders. Er musste es tun. Es fühlte sich schön an.

Ameli ließ es einfach geschehen. Sie schaute intensiv in seine blauen Augen und fand in seinem sehnsuchtsvollen Blick ihre eigene Sehnsucht wider. Es schien ihr, als hätte ihr Gegenüber gefunden, was er suchte. Sein Blick war ruhig und erfüllt von einer unbeschreiblichen Freude.

Für sich spürte sie eine Sehnsucht nach etwas für sie Ungreifbarem. Sie konnte es im Moment nicht benennen. Es kam aber mit einer Wucht aus ihrem tiefsten Inneren hervor. Ungestillte, sehnsuchtsvolle Gefühle übermannten sie heftig. Sie sprudelte über. Sie kam sich wie eine geschüttelte, unter Verschluss gehaltene, Seltersflasche vor, die nun geöffnet wurde. Ihr Kopf schaltete sich ab und sie schoss aus ihrem schweren Körper. Sie fühlte sich auf einmal unglaublich frei.

Schlüssel, fiel ihr wieder ein.

Aufgeschlossen.

Wohin sollte das führen?

Sie musste doch träumen?

Auch ihre Hände fingen nun an sich zu bewegen. Sie streichelte sein Gesicht und berührte sein Haar. Immer wieder kreuzten sich ihre Blicke und sie konnten nicht mehr voneinander lassen.

Wie ferngesteuert nahmen vier Hände Besitz vom jeweils fremden Gegenüber.

Ohne zu denken, gaben sie sich ihren Sehnsüchten hin.

Chris seiner Sehnsucht nach Liebe und Ameli ihrer Sehnsucht ohne Namen.

Sie sprachen immer noch kein Wort. Die Situation war so eigenartig, dass man dafür auch keine Worte gefunden hätte. Sie kamen sich immer näher.

Für Chris ging ein Traum in Erfüllung. Wie oft hatte er sich diese Berührungen vorgestellt und nun war er mittendrin und alles ging so einfach.

Als sich ihre Lippen berührten, spürten beide, dass es passte.

Sehnsucht traf auf Sehnsucht.

Mit einer Selbstverständlichkeit, als wenn es nur diese eine Möglichkeit gäbe, waren sie beide bereit dem anderen die Sehnsucht zu erfüllen. Zwei unbekannte Menschen trafen aufeinander und ließen nur ihre Augen und Herzen sprechen.

Ameli fühlte sich schon lange nicht mehr wie Ameli. Ihr kam es so vor, als wenn sie einer anderen Ameli zuschauen würde. Alles lief in Zeitlupe ab, und sie hatte das Gefühl, dass sie jetzt genau aufpassen müsste, was passieren würde. Sie stand neben Ameli und ließ Ameli machen. Was sie sah, war eine Vorführung über Sehnsucht und Liebe.

Ohne Gier spielten die zwei Personen dieses Spiel. Als wenn ihnen nichts fremd war, gaben sie alles von sich preis, zärtlich und hingebungsvoll. Sie ließen sich fallen und genossen es, Zentimeter für Zentimeter den fremden Körper zu erkunden.

Sie schaute zu, wie er Ameli liebkoste.

Voller Neugier und mit einer unglaublichen Zärtlichkeit strich er mit seinen Händen und seiner Zunge langsam über Amelis Haut, fand Nischen und Wölbungen und ließ sich alle Zeit der Welt diese Kostbarkeiten zu erforschen.

Weich.

Warm.

Feucht.

Sie sah zu, wie Ameli ihm alles zurückgab.

Vereint und völlig zufrieden, lagen sie wie ein Knäuel ineinander verschlungen, auf dem Sofa.

Seine Sehnsucht war gestillt.

Ihre Sehnsucht war geweckt.

Sie sahen sich wieder an, und ihnen wurde gleichzeitig klar, dass sie sich nicht kannten und immer noch kein Wort miteinander gesprochen hatten. Aber keiner wagte den Anfang zu machen. Keiner wollte diese unglaubliche Situation mit einem falschen Wort zerstören. Sie blieben liegen und schliefen schließlich erschöpft ein.

Chris wachte als erster auf. Als er die fremde Frau friedlich neben sich schlafen sah, wusste er, dass alles Wirklichkeit war, was er vor kurzem erlebt hatte. Er schaute an seinem nackten Körper herunter, legte erschrocken seine Hand auf seine Mitte und versuchte sich in Griff zu bekommen. Da waren seine Handversuche gar nichts dagegen. Er hätte am liebsten geschrien vor Glück. Er wollte aber auf gar keinen Fall die fremde Frau wecken. Er hätte immer noch nicht gewusst, was er ihr hätte sagen sollen. Er war völlig verwirrt und überrascht über das, was gerade hier passiert war mit ihm. Leise zog er seine Sachen an, die verstreut auf dem Boden herumlagen und verschwand aus dem Haus, indem nicht ein Wort gefallen war, dass aber noch Sehnsüchte gefangen hielt.

Ameli hörte das Klicken der Tür. Sie spürte noch die Wärme an ihrer Seite. Als sie unter ihre Decke lugte, war sie nackt. Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

Was war das denn, fragte sie sich.

Das war nicht ich, sagte sie sich.

Sie ging zum Fenster und sah die fremde Gestalt, die soeben noch das Bett mit ihr geteilt hatte, um die Ecke huschen. Stattlicher Körperbau von hinten, waren ihre ersten Gedanken.

Unwillkürlich glitt ihre rechte Hand über ihre straffe Brust, den Bauch entlang und verharrte an der Innenseite ihres Schenkels. In Gedanken verloren, mit Blick aufs Meer, fing sie an, langsam und sanft ihre Hand in dem feuchtwarmen Gebiet zwischen ihren Beinen zu bewegen. Die Feuchtigkeit verriet ihr, dass alles eben kein Traum gewesen war. Ihr kam es aber trotzdem so vor. Ein Schauer durchlief ihren Körper. Sie hörte nicht auf, ihre Finger zu bewegen. Sie musste sich selbst noch einmal spüren.

Ich Ameli.

Leicht abgestützt am Fensterbrett, stöhnte sie und genoss gleichzeitig die Weite, die sich vor ihr auftat.

Sie schaute und spürte.

In kürzester Zeit kam sie in ihrer Hand. Sie schämte sich nicht dafür. Sie hatte es noch nie getan.

Ich Ameli.

Zufrieden und glücklich, wie schon lange nicht mehr, legte sie sich wieder ins Bett und schlief endlich, ohne Alptraum, einen langen Schlaf.

 

***

Mittwoch

 

Früh am Morgen wachte Ameli auf. Es wurde gerade hell. Sie fühlte sich wie im Urlaub. Sie dachte an nichts. Sie fühlte sich frei und sogar ein wenig entspannt. Das gab es selten. Diesen Augenblick musste sie einfach genießen. Sie rekelte sich im Bett und kuschelte sich noch einmal zusammen. Sie schloss die Augen und versuchte die Gefühle des Augenblicks festzuhalten. Sie wollte sie für immer in sich speichern, um sie in schlimmen Momenten wieder abrufen zu können. Für kurze Zeit schlief sie noch einmal ein.

Der Himmel war wolkenlos als Ameli wieder erwachte. Sie stand auf und schaute aus dem Schlafzimmerfenster. Der Blick war fast noch schöner, als der von der Veranda. So unglaublich weit. Ameli nahm sich, entgegen ihren Gewohnheiten die Zeit, sich dieser Schönheit hinzugeben. Viel zu schnell kam allerdings ihre sonstige Unruhe wieder zurück. Sie musste irgendetwas tun. Sie konnte nicht so tatenlos am Fenster stehen. Zeit verschwenden.

Aber da war noch etwas anderes. Sie fühlte Lebendigkeit in sich, gepaart mit ein wenig Zufriedenheit. Die Stimmung fühlte sich gut an, anders als sonst.

Warum nur?

Spürte sie nur deswegen keine Anspannung in sich, weil sie vor keinem glänzen musste, weil sie sich nicht beweisen musste und weil sie sich nicht verstellen musste?

Ameli?

Ameli.

Nachdenklich verließ sie das Schlafzimmer. Im Flur stand immer noch ihre Tasche, die darauf wartete endlich einmal ausgepackt zu werden. Sie zog ihre Joggingsachen an und verließ das Haus.

Plötzlich kam sie sich aber gar nicht mehr lebendig vor, sondern klein und schwach. Dunkle Gedanken überfielen sie und am liebsten hätte sie sich augenblicklich verkrochen. Sie verlangsamte ihren Schritt und blieb stehen. Dann fing sie, völlig unerwartet für sich selbst, an zu schreien. Wutentbrannt schrie sie dem Wind ihren Frust entgegen.

Warum bin ich so?

Warum will ich mich immer verstecken?

Warum kann ich das Leben nicht einfach fließen lassen? Warum muss ich so sein?

Immer weiter fluchend ging sie die kleine Böschung zum Strand hinunter. Unentschlossen schaute sie nach links und rechts. Selbst die Wahl der Laufrichtung fiel ihr schwer.

Sie sah das kleine Fischerboot und sie musste unwillkürlich an ihren unbekannten Liebhaber denken. War er es?

Sie spürte eine leichte Spannung in ihrem Unterbauch. Schnell schob sie diese Gedanken fort und begann zu laufen. Das Fischerboot ließ sie hinter sich.

Das war ich nicht.

Das war ich wirklich nicht.

Sie wollte jetzt an gar nichts denken, sie wollte jetzt nur die Freiheit spüren, die grenzenlose Freiheit, die sich vor ihr auftat und sie wollte ihren Körper auspowern. Sie spürte wieder den Drang nach Leere. Leere konnte nicht wehtun. Und die Chance, den Körper neu aufzufüllen, war verlockend.

Neue Gefühle.

Bessere Gefühle.

Ihr Leben schien ein ständiger Kampf um ein Neuanfang zu sein. Wann wäre der Kampf endlich zu Ende?

Sie rannte um ihr Leben und fand erst das Ende, als sie erschöpft am Strand zusammenbrach. Sie empfand es als eine angenehme Erschöpfung. Sie legte sich auf den Rücken in den kühlen Sand und blickte in den wolkenlosen Himmel. Die Sonne war da.

Ameli schloss die Augen. Sie ließ den Sand durch ihre Finger rieseln. Sie wollte jeden einzelnen Sandkorn spüren. Es gelang ihr nicht. Resigniert hielt sie inne. Sie lag ganz still und fing wieder an, mit sich zu hadern. Der Unterschied zwischen wollen und sein schien ihr auf einmal unüberbrückbar. Ihr ganzes Vorhaben sich hier zu finden kam ihr auf einmal lächerlich vor.

Sie gab einen lauten Schrei von sich. Wieder schrie sie. Ihre Wut fand einen Weg nach draußen. Ameli fühlte Befreiung. Sie verbuchte das als einen riesigen Fortschritt.

Nein. Sie wollte nicht aufgeben.

Sie fing noch einmal an, den Sand durch ihre Finger rieseln zu lassen. Weich und trocken fühlte er sich an. Sie hielt ihn in ihren Händen, beugte die Arme an und ließ ihn dann langsam an ihren Unterarmen entlang rieseln. Sie spürte wieder nichts. Sie wollte schon wieder aufhören. Doch dann sagte sie sich, mach weiter Ameli, habe Geduld mit dir. Spüre den Sand. In Gedanken verfolgte sie die Sandkörner, wie sie an ihrem Unterarm entlang rieselten. Immer wieder holte sie neuen Sand mit ihren Händen und langsam, ganz langsam setzte ein Kribbeln ein. Sie hielt die Augen weiterhin geschlossen. Das Kribbeln durchzog ihren ganzen Körper und ihre Gedanken gingen unwillkürlich zu dem Unbekannten. Sie spürte eine Welle des Begehrens in sich aufkommen. Oder war es Neugier? Wie war das nur möglich? Was hatte das zu bedeuten?

Sie war sich sicher, dass er wieder kommen würde. So, wie er ihr in die Augen geschaut hatte, bestand da gar kein Zweifel für sie.

Aber wollte sie das?

Und wozu sollte das gut sein?

Sie würde ihn nicht suchen. Wenn er nicht zurückkommen würde, wäre es nicht schlimm für sie.

Sie lächelte in sich hinein.

Es war ein Traum. Sie blieb liegen und träumte.

Wie immer.

Lautes Mövengekreische holte sie aus dem Traumland zurück. Ameli öffnete die Augen und blinzelte in die Sonne.

Sie wollte doch nicht mehr träumen.

Langsam ging sie zum Haus ihrer Freundin zurück. Sie war durchgeschwitzt und innerlich zur Ruhe gekommen. Sie fühlte sich sogar ein wenig glücklich.

Ameli blieb an der Tür stehen und schaute zurück aufs Meer. Fragend, wo bin ich?

Alles schien ihr auf einmal irgendwie anders zu sein. Irgendwie unreal. Sie dachte an Dinge, die längst vergessen schienen. Sie machte Sachen, die sie noch nie getan hatte. Sie war eine andere Ameli.

Sie war ganz durcheinander.

Was hatte der Fremde in ihr entfacht?

Sie grübelte, was es sein könnte. Sollte es ein Hauch von Vertrauen gewesen sein?

Vertrauen?

Sie fragte sich, warum?

 

Auf ihrem Handy fand sie 10 neue Nachrichten und 12 entgangene Anrufe. Sie war sich nicht sicher, ob sie das wirklich wissen wollte. Sie fing aber an, die Nachrichten zu öffnen.

... Wo bist du, wir waren verabredet, schon vergessen. Gruß Lucas... Ameli, kommst du mit ins Kino? ... Ameli, kannst du meine Haare färben... Amelie, John hat mich verlassen.... wo bist du?...Ameli ich brauche dich... Ameli ich mache mir Sorgen. Wo bist Du? Lucas ...

Das reichte. Ameli löschte alle Nachrichten ohne den Rest gelesen zu haben. Die Anrufe waren ausnahmslos von ihrer Freundin Elisa und von Lucas. Sie blickte auf ihr Handy und schrie es auf einmal an.

Lasst mich alle in Ruhe. Ich bin selber gerade ein Sonderfall. Ich will euch nicht zuhören und ich will euch auch nicht helfen. Ich denke jetzt ausnahmsweise nur an mich. Und es geht mir gut damit. Und ich werde das jetzt so lange tun, bis ich mein Gleichgewicht wiedergefunden habe und dann komme ich als neue Ameli zurück und ihr werdet euch alle wundern.

Erstaunt über ihren Ausbruch klopfte sie sich anerkennend auf die Schulter und warf ihr Handy in die Tasche und schwor sich, genau das zu tun, was sie eben aus sich herausgeschrien hatte.

Im Spiegel sah sie eine entschlossene Ameli.

War sie das wirklich?

So will ich sein, dachte sie.

 

Nach dem Duschen machte sich Ameli fertig für die Fahrt ins Dorf. Sie brauchte unbedingt etwas zum Essen. Sie wusste, dass sie in der Garage ein Fahrrad finden würde. Sie fand nicht nur eins, sondern gleich zwei Fahrräder. Sie hätte nicht gedacht, dass Elisas Mann hier Fahrrad fahren wollte.

Ameli konnte Elisas Mann nicht sonderlich leiden, deswegen sagte sie meistens Herr Doktor anstatt Paul.

Die Garage war genauso perfekt, wie es auch der Herr Doktor war, stellte sie fest. Etwas anderes hätte sie auch nicht erwartet. Alles wohl geordnet im Regal verstaut, keine Müllecke und kein unnötiges Zeug. Hier regierte ausnahmslos Herr Doktor, der Perfekte. Sein Fahrrad sah allerdings, wie vermutet, unbenutzt aus.

Ameli lehnte sich an die Garagentür und ließ ihren Blick in die Runde schweifen. Sie dachte an ihre Freundin Elisa.

 

Elisa war ein paar Jahre älter als Ameli und lernte Paul auf einer Weihnachtsparty, wo sie gemeinsam waren, kennen. Auch Ameli fand ihn damals ausgesprochen attraktiv und ermutigte Elisa sogar am Ball zu bleiben. Der ausgelassene Mann entpuppte sich dann jedoch als ein arroganter Arzt. Aber Elisa fand alles aufregend, die tolle Wohnung, die teuren Reisen, kurzum, sie ließ sich nach Amelis Meinung einfach nur blenden. Warum sie ihn nach nur drei Monaten heiratete, hatte Ameli nie verstanden. Anfangs bekam Elisa gar nicht mit, dass Paul sie ständig betrog und später wollte sie es einfach nicht mehr sehen. Dass aber ausgerechnet er sie dann verließ, das hätte Ameli so nicht erwartet. Auch Elisa konnte bis heute nicht begreifen, warum er einfach so ging. Die Kränkung saß tief, das konnte Ameli verstehen und sie konnte auch ihre Freundin verstehen, dass sie in dieses Haus keinen Schritt mehr setzen wollte. Paul hatte Elisa das Haus einfach großzügig überlassen. Er ist ins Ausland gegangen. Weit weg von ihr. Die Scheidung wollte er nicht.

 

Nun, Ameli sollte es recht sein. Jedenfalls nahm sie sich jetzt Elisas Fahrrad und fuhr hinunter ins Dorf, um ein paar Kleinigkeiten einzukaufen.

Vielleicht traf sie ja den Fremden?

Wieder musste sie sich ertappen, dass sie an ihn dachte. Das gefiel ihr gar nicht. Was sollte das? Was war nur los mit ihr?

Das Dorf war idyllisch. Jedes Häuschen hatte einen kleinen Vorgarten. Sie konnte erkennen, dass die Leute hier viel Zeit mit der Gartenpflege verbrachten und es schien ihr so, als wenn alle im Wettkampf stünden, wer den schönsten Garten hätte. Ameli erfreute sich an den Blumen.

Sie liebte Blumen. Sie holte tief Luft, um die duftenden Gerüche einzuatmen. Lucas schenkte ihr manchmal einen schönen großen Blumenstrauß. Er wusste, dass er ihr damit eine Freude machen konnte. Über die Pracht konnte sie sich tagelang wie ein kleines Kind freuen.

Ameli verglich Blumensträuße iimmer mit ihrem eigenen Leben, allerdings in anderer Reihenfolge. Beim Blumenstrauß folgte dem strahlenden Blühen ein unwiderrufliches Verblühen. Sie dagegen fand, dass sie irgendwie immer wieder zum Leben erwachte. Nachdem sie ganz unten, mit gesenktem Kopf am Boden zerstört war, konnte sie wenig später wieder wie ein blühender Blumenstrauß aussehen. Vom Verblühen zum Blühen.

Anders der Blumenstrauß, vom Blühen zum Verblühen.

Blumenstrauß sein, wollte Ameli nicht.

Pflanzen dagegen waren für Ameli das pure Leben. Andere brauchten Kinder oder Haustiere. Sie brauchte regelrecht Pflanzen. Sie freute sich über jeden neuen Trieb und über jedes neue Blatt bei ihren vielen Pflanzen. Sie war traurig, wenn eine Pflanze ohne bestimmten Grund einzugehen drohte. Sie konnte um nichts in der Welt je eine Pflanze wegwerfen. Bis jetzt hatte es jede Pflanze aus ihrem Pflanzenfriedhof immer wieder geschafft, ein neues Leben zu beginnen. Darauf war sie stolz. Und so wollte auch sie sich immer wieder hochrappeln. Dass sie sogar mit ihren Pflanzen sprach und ihnen Namen verpasste, hatte sie noch keinem erzählt.

Nachdem sie mehrere Gärten bewundert hatte, kam sie endlich am Lebensmittelladen an. Sie stellte ihr Fahrrad ab. Sie fand es merkwürdig, dass sie unterwegs keinen Menschen getroffen hatte. Bei dem schönen Wetter hätten sie doch in ihren Gärten sein müssen. Aber als sie in den Laden kam, fand sie, was sie suchte. Alle vereint beim Dorfklatsch.

Ameli blieb wie angewurzelt in der Tür stehen. Als Unbekannte zog sie sofort alle Blicke auf sich. Obwohl sie sich nicht sonderlich zurecht gemacht hatte, merkte sie sofort, dass hier eine andere Uhr tickte. Muttis in Kittelschürzen und Opas mit dicken Bäuchen. Als Ameli eintrat, verstummte der ganze Laden sofort. Ameli wäre am liebsten im Boden versunken. Wie zu Schulzeiten errötete sie bis hinter den Ohren. Wenn Lucas jetzt hier gewesen wäre, hätte er sie in den Arm genommen und hätte ihr leise ins Ohr geflüstert: oh, wie süß, meine kleine Tomate. Wäre nur Lucas jetzt hier, dachte sie. Aber da stand sie nun alleine mit ihren hautengen Röhrenjeans und ihrem knappen Oberteil, wo, wie ihr Chef zu sagen pflegte, die Hälfte herausfiel. So, wie sie von allen angestarrt wurde, wurde ihr klar, dass sie was sagen musste. Sie nahm allen Mut zusammen.

„Hallo. Ich bin Ameli. Ich wohne zur Zeit oben im Haus meiner Freundin. Sie kennen bestimmt Herrn und Frau Spiegel? Sie kamen manchmal am Wochenende oder zum Urlaub hierher. Aber nun kommen sie nicht mehr und deswegen bin ich jetzt hier. Und nun brauche ich was zum Essen und ich hoffe, ich bekomme hier alles was ich will. Ich habe mir alles aufgeschrieben, was ich brauche.“ Sie machte eine Pause und guckte in die Gesichter der Leute. Sie starrten sie immer noch an, aber wie Ameli merkte, einwenig erstaunt. Keiner sagte etwas.

Sie kam sich plötzlich sehr albern vor. Wie kam sie eigentlich dazu, den Leuten hier einen halben Vortag zu halten? War sie nicht ganz dicht? Sie war peinlich berührt und betete zu Gott, dass endlich mal einer was sagen würde. Dann fiel ihr wieder der Unbekannte in ihrem Bett ein, der auch kein Wort gesagt hatte. Plötzlich fand sie die Vorstellung lustig, an einen Ort geraten zu sein, wo keiner redete. Sie fing unvermittelt an zu lachen. Sie konnte sich gar nicht mehr einkriegen und die Situation wurde immer komischer für sie. Endlich stimmten auch die Dorfbewohner in ihr Lachen ein und das Eis war gebrochen.

„Na Kindchen, dann zeig mal her, was du brauchst. Reich mal deinen Zettel rüber“, sagte die Ladenbesitzerin, eine dicke freundliche Frau.

„Ich bin die Emma aus dem Emmaladen und ein kurzes Hallo hätte eben auch gereicht.“ Die restliche Kundschaft stimmte ihr lächelnd zu. Dann vertieften sie sich wieder in ihre eigenen Plaudereien und nahmen keine Notiz mehr von Ameli.

Ameli reichte ihr dankbar den Zettel und trotz ihres verpatzten Auftritts fühlte sie sich irgendwie angenommen.

Freudig schob sie das Fahrrad den Hügel zum Haus wieder hoch. Herr Doktor hatte sogar an ein Körbchen für den Einkauf gedacht. Ameli war angenehm überrascht.

Als sie ihre Einkäufe auspackte, klingelte es an der Tür.

Sie wusste, dass er kommen würde, aber dass es so schnell gehen würde, damit hätte sie nicht gerechnet. Plötzlich war sie total aufgeregt. Sie flatterte wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Küche und ging zur Tür.

„Du bringst mir keinen Blumenstrauß mit?“ hörte sie sich sagen. In ihrem Kopf war völlige Leere. Was sagte sie da gerade? Blumenstrauß? So ein Blödsinn, schoss es ihr durch den Kopf.

„Blumenstrauß?“ fragt Chris erstaunt.

„Ähm, vergiss es“, antwortete Amli leise, immer noch völlig neben sich. Sie schüttelte unmerklich den Kopf, um sich zu sammeln. Man, sah der Mann gut aus. Das machte es nicht leichter.

„Tag, erst mal“, sagte Chris schüchtern, schaute sie dabei jedoch ganz keck an.

Ameli wollte ihn eigentlich auch nur begrüßen, statt dessen hörte sie sich sagen: „Komm her und gib mir einen Kuss.“ Wenn schon kein Blumenstrauß, dann wenigstens ein Kuss, oder was hatte sie sich nun dabei gedacht? Ehe sie sich aber über ihre Verrücktheit erschrecken konnte, stellte sie sich gleich die Frage, ob er sich wohl trauen würde? Sie stand einfach nur noch da und wartete ab.

Mit so einer Begrüßung hatte Chris nun wirklich nicht gerechnet. Aber da kein anderer weit und breit zu sehen war, musste wohl er gemeint sein. Er tat einfach wie ihm geheißen und gab ihr einen Kuss auf den Mund. Schließlich lagen seine Lippen schon an ganz anderen Stellen dieser Frau.

Weich und warm.

Ameli holte tief Luft. „Das war viel besser als ein Blumenstrauß. Ach übrigens, ich heiße Ameli.“

„ Chris.“

„Und?“

„Was und ?“

„Ja, hat man euch hier das Reden nicht beigebracht?“

„Wieso?“

„Ich höre immer nur einzelne Wörter.“ Ameli guckte Chris ganz neckisch an. Am liebsten hätte sie ihm die Sachen vom Leib gerissen, so süß sah er aus in seiner Hilflosigkeit. Wie kam sie nur auf diese Idee?

„Bist du immer so?“, fragte Chris. Es ärgerte ihn selbst, dass er keinen ordentlichen Satz zu Stande brachte, aber langsam fand er die Unterhaltung auch eigenartig. Nach dieser Nacht hatte er sich das alles irgendwie anders vorgestellt.

„Wie bin ich denn?“, fragte Ameli auf einmal ganz spitz.

Chris fand, dass sie sich diese Frage doch wohl selbst beantworten konnte. Er atmete tief ein und aus. Dann sagte er.

„Im Moment weiß ich nicht, ob ich dich komisch finden soll oder ob du einfach nur durch geknallt bist.“

Ameli schaute Chris mit großen Augen an. Er hatte ja so recht. Ihr war schon längst klar, dass sie hier eine komische Show abzog. Und sie wusste langsam auch nicht mehr, wie sie die Situation retten konnte. Sie winkte ab, als wenn sie die kurze Unterhaltung damit einfach wegwischen konnte. „Komm erst mal rein“, sagte sie nur.

Chris folgte ihr ins geräumige Wohnzimmer. Sie nahm auf dem Sofa Platz und Chris setzte sich ihr gegenüber in den Sessel. Er schaute sie einfach nur fragend an.

Ameli wollte sich erklären. Es lag in der Luft, dass sie was sagen musste. Sie kam sich wieder so hilflos, wie im Emmaladen vor.

„Also, Chris, es tut mir leid. Wirklich. Ich bin nicht immer so.“ Vor Wut über sich selbst und aus purer Verzweiflung traten ihr völlig aus dem Nichts Tränen in die Augen. Ameli betete zu Gott, dass er ihr helfen möge. Bloß nicht schon wieder weinen. Schon gar nicht vor diesem hübschen jungen Mann. Sie blinzelte schnell die Tränen weg.

„Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist“, sagte sie dann wieder ein wenig gefasster. „Ich bin seit Sonntag hier. Ich bin hierher gekommen, um mich, wie sagt man so schön, selbst zu finden. Die Ameli, die ich bin, die will ich nicht mehr sein. Seit ich hier bin, bin ich nur am Weinen. Soviel habe ich mein ganzes Leben noch nicht geweint. Dann kommst du daher, wir reden kein Wort miteinander aber wir schlafen zusammen, als wenn es das Normalste auf der Welt wäre. Ich habe seit 5 Jahren einen Freund und weiß nicht, warum ich es getan habe. Ich bin verwirrt, durchgedreht oder was weiß ich.“

Chris war überrascht über Amelis Offenheit. Dass sie einen Freund hatte, schockierte ihn. Er ging darüber hinweg. Es tat ihm weh. Unheimlich weh.

„Ich weiß auch nicht, wie mir geschieht. Ich habe dich den Abend zuvor auf dem Sofa liegen sehen. Ja, du hast geweint.“ Chris Worte kamen wie ein Flüstern daher.

„ Dann hast du die Terassentür zugemacht?“

„Ja. Ein Sturm zog auf und es regnete. Ich hatte mich gewundert, warum an einem Montag die Terassentür auf ist. Die Spiegels sind doch sonst immer nur am Wochenende hier. Ich habe sie von außen zugedrückt. Ich wusste nicht, ob du Hilfe brauchst und bin wieder gegangen, weil du nicht geantwortet hast.“ Er bemühte sich, seiner Stimme einen kühlen Ausdruck zu verleihen. Ihm steckte ein Kloß im Hals. Warum musste sie einen Freund haben, schoss es ihm ständig durch den Kopf.

„Ach so. Elisa, also Frau Spiegel, ist meine Freundin. Die zwei kommen nicht mehr her. Sie haben sich getrennt.“

„Ich habe sie oft beim Schwimmen beobachtet“, sagte Chris mehr zu sich und fand es schade, dass er sie nicht mehr sehen würde. Aber nun wollte er sowieso nur noch eine Frau sehen. Und diese Frau saß ihm gegenüber und hatte einen Freund. Er wollte weg, so sehr schmerzte es ihm.

„ Soso, du hast sie beim Schwimmen beobachtet?“ Ameli wusste, dass ihre Freundin immer nackt baden ging. Als sie Chris in die Augen schaute, mussten sie beide lächeln, wohlwissend um diese Tatsache.

Plötzlich verspürte Ameli das Bedürfnis, Chris zu küssen.

Was trieb sie nur dazu? Sie wusste es selbst nicht. Sie hing mit ihrem Blick an seinen Lippen und da sie beide jetzt nichts mehr sagten, musste sie es einfach tun. Sie beugte sich vor und küsste Chris.. Es kam ihr vor, als wenn sie Chris schon Ewigkeiten kennen würde. Wie war das nur möglich? Sie fühlte sich sicher in seiner Nähe. Dieses Gefühl war ihr fremd bei anderen Männern und machte ihr unheimliche Angst.

Sie hatte doch Lucas?

Am liebsten hätte Ameli laut aufgeschrien. Sie war verzweifelt. Was löste Chris in ihr aus?

Das waren auf einmal zu viele Gefühle. Ameli konnte mit ihnen nichts anfangen. Sie wollte aufstehen und davonlaufen. Sie zwang sich, sitzen zubleiben. Sie fing an zu schwitzen.

Chris merkte, dass Ameli mit sich haderte. Auch für ihn war alles unglaublich verwirrend und schwierig. Auch seine Gedanken schlugen Purzelbaum.

Sie saßen schweigend da und waren mit sich selbst beschäftigt.

„Magst du was essen?“ durchbrach Ameli die Stille.

Obwohl Chris keinen Hunger hatte, folgte er ihr in die Küche. Ameli starrte in den Kühlschrank und hatte keine Ahnung, was sie aus den Zutaten zaubern könnte.

„Chris, ich kann gar nicht kochen und bin auch sehr einfallslos in Sachen essen-zu-bereiten.“

„O.k. Das ist dann wohl mein Part. Ich stehe oft bei meiner Mutter in der Küche. Dann zeig mal her.“ Chris ging zu Ameli und schaute in den Kühlschrank.

„Ach du meine Güte, daraus kann ich auch nicht viel machen.“ Chris musste nun doch lachen, obwohl ihm dazu überhaupt nicht zu Mute war. Er fand Schokolade, Gewürzgurken, Buttermilch, Quark, Salat, Äpfel und wieder Schokolade. Aus so einer Zusammenstellung konnte selbst er nichts machen.

„ Ich habe ehrlich gesagt gar keinen Hunger. Ich mach dir einen Vorschlag, Ameli. Morgen Abend komme ich wieder und bringe alles mit, was man für ein nettes Abendessen braucht. Dann können wir zwei uns was Leckeres machen und sehen weiter.“

„Hört sich gut an. Heißt das, dass du jetzt gehen willst? Du bist doch gerade erst gekommen. Du kannst mich doch jetzt nicht alleine lassen?“ Panik schwang in Amelis Stimme mit.

„Wenn du willst, bleibe ich noch“, erwiderte Chris schnell. Er bemerkte, dass Amelis Stimmung sich schlagartig veränderte. Von komisch zu panisch.

„Schau, hier ist noch eine Flasche Wein. Die könnten wir doch zusammen trinken.“ Ameli hielt Chris die Flaschen hin und hielt Ausschau nach ein paar Gläsern. Sie wirkte auf einmal gehetzt und ängstlich. Genauso fühlte sie sich auch.

„Ameli, was ist los?“ Chris schaute sie verdutzt an. Er merkte, dass Ameli immer mehr die Fassung verlor.

Ameli schossen schon wieder die Tränen in die Augen. Sie wollte einfach nicht schon wieder alleine sein. Wie war das nur möglich? Es kam ihr sehr seltsam vor. Zu Hause konnte sie nicht oft genug alleine sein. Ihr war klar, dass sie sich total kindisch benahm, aber sie konnte nicht anders.

Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Aber was?

„Bleib nur noch ein bisschen. Bitte. Ich kann jetzt nicht alleine sein. Ich weiß, ich muss dir sehr komisch vorkommen. Ich rede nur wirren Mist. Ich kann einfach keinen klaren Gedanken fassen. Ich bin von zu Hause abgehauen. Ich habe meinen Job gekündigt. Ich habe meinem Freund noch nicht einmal Bescheid gesagt, dass ich hier bin. Warum gehe ich einfach weg und sage ihm nicht wohin und warum? Warum gehe ich mit dir ins Bett? Eigentlich müsste ich dich jetzt wegschicken. Aber nein, ich will dass du bleibst. Kannst du mir das alles mal erklären?“

Chris schüttelte den Kopf. Er wollte gerade etwas erwidern, aber Ameli hob abwehrend die Hände und redete weiter, mehr zu sich selbst.

„Chris, seit Jahren weiß ich nicht was ich will. Ich laufe ständig vor mir selber weg. Als wenn ich Angst vor der Wahrheit hätte, aber vor welcher Wahrheit? Ich will immer nur weg. Was fehlt mir? Ich weiß einfach nicht, warum ich nicht zur Ruhe komme.“ Sie schaut Chris fragend in die Augen.

„Nein sag nichts. Du weißt die Antwort auch nicht. Bleib einfach nur hier und halt mich fest.“

Amelis Worte lösten in Chris Wärme aus. Er breitete seine Arme aus und nahm Ameli liebevoll in sich auf. So klein und zierlich wie sie war, verschwand sie in seiner Umarmung und sie fühlten sich beide von einer Zärtlichkeit übermannt, dass sie sich gar nicht mehr lösen wollten.

Für Chris war es die Liebe seines Lebens, die er in seinen Armen hielt. Das ihm so etwas hier in seinen kleinen Fischerdorf passieren würde, daran hätte er nie im Traum gedacht. Aber das Wissen, dass Ameli einen Freund hatte, zerrte an seinem Herzen. Er konnte diese Umarmung kaum aushalten.

Ameli spürte in sich ein ganz anderes Gefühl. Es fühlte sich irgendwie wertvoll an. Sie konnte es nicht anders beschreiben. Sie wusste, dass es sich nicht so, wie die Liebe zu Lucas anfühlte. Es war anders. Die Umarmung löste ein starkes Begehren, eine Sehnsucht nach irgendetwas, was mmer noch keinen Namen hatte, in ihr aus. Sie wusste, dass sie dieses Gefühl in diesem Moment ausleben wollte. Es war beruhigend und sicher. Sie fühlte sich wie in einer kleinen Oase des Glücks.

Ja, sie hatte plötzlich das Gefühl, dass sie gehalten werden musste. Und wieder musste sie, für sie völlig unbegreiflich, an ihre Mutter denken. Sie hätte jetzt hierher gehört, fand sie.

Sie sehnte sich wirklich nach ihrer Mutter?

Nach all den Jahren?

Unglaublich.

 

***

Donnerstag

Köln

Lucas stand am offenen Fenster und atmete tief die frische Morgenluft ein. Er schaute über die Dächer Kölns. Sonst erfreute er sich über diesen schönen Ausblick. Heute jedoch war er unausgeschlafen und hatte keinen Blick für die Schönheit dieses Tages. Er musste die ganze Nacht an Ameli denken. Sie trieb es wirklich auf die Spitze.

 

Dass sie nicht an ihr Handy ging, fand er anfangs nicht so verwunderlich. Das tat sie öfter. Das war nichts Neues mehr für ihn. Aber, dass sie sich zwei Tage später immer noch nicht gemeldet hatte, dass machte ihn unruhig und wütend.

Er rief bei Elisa an. Sie sagte ihm natürlich nichts. Sie riet ihm nur, er solle sich mal keine Sorgen machen. Also wusste sie etwas. Lucas war froh, dass Ameli wenigstens eine gute und verlässliche Freundin hatte. Er schätzte Elisa sehr.

Zu guter Letzt rief er, was er noch nie getan hatte, bei Ameli auf Arbeit an. Er war fassungslos, als er erfuhr, dass sie ihren Job gekündigt hatte.

 

Er drückte sich wütend vom Fenster ab.

Was wusste er eigentlich von Ameli?

Nicht viel, musste er sich eingestehen. Sie hielt sich immer ziemlich bedeckt, musste er feststellen. Sie kannten sich nun schon über fünf Jahre und er hatte immer noch das Gefühl, als wenn sie ganz am Anfang stünden. Er hatte auch noch nicht ihre Mutter kennen gelernt. Als wenn das von Bedeutung wäre, aber es war bezeichnend für Ameli, dachte er. Sie wollte im Gegenzug seine Eltern auch nie besuchen. Sie fand, wie ihm schien, immer eine passende Ausrede.

Selbst die Wohnungsfrage war immer noch ungeklärt. Sie kam gerne zu ihm in seine große Wohnung. Obwohl er ihr schon tausend mal den Vorschlag gemacht hatte, bei ihm einzuziehen, lehnte sie jedes mal ab. Sie wollte lieber ihre kleine Wohnung behalten, ganz in seiner Nähe. Er konnte es einfach nicht verstehen.

Letztendlich war sie ihm ein großes Geheimnis. Aber genau das liebte er an ihr, musste er sich lächelnd eingestehen. Sie war immer für eine Überraschung gut. Und, was das Wichtigste war, sie ließ ihm auch seinen Freiraum.

Liebevoll strich er über ihr Bild, dass er die ganze Zeit angestarrt hatte. Seine anfängliche Wut schlug in Liebe und Sorge um. Konnte es sein, dass ihr etwas passiert war? Diesen Gedanken verwarf er schnell. An so etwas durfte er nicht denken.

Er versuchte es mit einem weiteren Anruf. Wieder nur die Mailbox.

Er wusste, dass er so nicht richtig arbeiten konnte, aber er musste sich fertig machen. Er konnte den Termin nicht absagen und es war auch nicht seine Art, für private Probleme seine Kunden büßen zu lassen. Er war zuverlässig und korrekt. Immer. Egal was passierte.

Wenn das doch auch Ameli nur wäre, dachte er.

Seit Samstagabend hatte er nichts mehr von ihr gehört.

Was dachte sie sich nur dabei?

Er wandte sich von ihrem Bild ab und ging ins Bad. Seine Muskeln waren angespannt und selbstverliebt stellte er fest, dass sein Körper perfekt war. Er posierte vorm Spiegel. Er war gut durchtrainiert und er verbrachte viel Zeit im Fitnessstudio, damit es so bliebe. Schließlich war er nicht umsonst Personal-Trainer. Er trieb seine Kunden auch immer bis an ihre Grenzen, nur so machte es Sinn in seinen Augen. Sie sollten für ihr Geld auch das bekommen, was sie sich wünschten. Erfolg. Er hatte eine gute Menschenkenntnis und fand immer ganz schnell heraus, wem es ernst war. Bis jetzt hatte er sich noch nie getäuscht.

Nur bei Ameli war er sich manchmal wirklich nicht sicher.

Spielte sie mit ihm?

Zeitlos und uneingeschränkt?

Er musste sich eingestehen, dass dieses Spiel auch etwas für sich hatte, er es auch genoss.

Zeitlos und uneingeschränt.

Aber für ihn ist es mehr geworden.

Er liebte sie. Da war er sich sicher.

Aber liebte sie ihn auch so, wie er sie liebte?

Fühlte er sich geliebt, wie er geliebt werden wollte?

Spielte Ameli mit seiner Liebe?

Er wusste, dass Ameli es genoss, an seiner Seite zu sein. Sie fand es toll, wenn andere Frauen neidvoll zu ihr blickten und gerne an ihrer Stelle wären.

Aber war das Liebe?

Hatte sie ihm jemals gesagt, dass sie ihn liebte?

Er rief sich Kleinigkeiten ins Gedächtnis, um sich ein Bild von ihr zu machen. Letztendlich fand er wieder zu recht, dass er zu wenig von ihr wusste. Das wollte er unbedingt ändern. Er wollte Ameli besser kennen lernen. Er hatte plötzlich ein großes Bedürfnis danach.

Als er aus dem Bad kam, sah er, dass er eine Nachricht auf seinem Handy empfangen hatte. Er hielt die Luft an und traute sich kaum, die Nachricht zu öffnen.

Sie war von Ameli.

Hastig bediente er sein Handy.

Vertrau mir. Suche mich nicht. Ich komme zurück

zu dir. Ameli.

Fassungslos, aber irgendwie erleichtert, las er die Nachricht nun schon zum dritten mal.

Was sollte er nur davon halten?

Kopfschütteln zog er sich an und verließ seine Wohnung.

Es war schon spät. Seine erste Kundin für den heutigen Tag, die schöne blonde Isolde mit dem festen, prallen Po, immer recht sexy rausgeputzt, würde sicher schon auf ihn warten. Je mehr er an sie dachte, um so mehr verspürte er irgendwie Lust auf sie. Im Fahrstuhl wunderte er sich über seine Gedanken. Sollte es daran liegen, weil Ameli nicht da war ? Wollte er ihr etwas heimzahlen? Hätte er das Zeug dazu, fremdzugehen?

Er las noch einmal ihre Nachricht.

Gedankenverloren fuhr er zur Trainingsstunde. Ständig hupte es hinter ihm, weil er bei grün an der Kreuzung stehen blieb. Er hob nur abwehrend die Hand und kümmerte sich nicht weiter darum. Ihr kommt schon noch rechtzeitig ans Ziel, dachte er nur.

 

Isolde wartete wirklich schon ungeduldig auf ihn.

„Ich wollte Sie gerade anrufen. Ich dachte schon, sie würden mich heute versetzen“, säuselte sie mit ihrer hohen Stimme.

Isolde war wie Ameli 30 Jahre alt. Sie war verheiratet mit einem Manager, der nie da war. Sie hatten keine Kinder, aber einen Hund, der sie überall hin begleitete. Er saß natürlich auch heute wieder an ihrer Seite. Sie wohnten am Stadtrand in einer großen Villa, viel zu groß für zwei Leute, fand Lucas. Lucas glaubte nicht, dass Isolde, die immer nur mit ihrem Vornamen angeredet werden wollte, glücklich war. Sie tat zwar so, aber er merkte auch jedes mal, dass sie es förmlich darauf anlegte, ihn mit ins Haus zu nehmen. Bis jetzt hatte er ihr jedes mal widerstanden.

Er starrte unbewusst auf ihren Busen. Der war aber auch wieder hochgeschnürt. Isolde bemerkte es und quittierte es mit einem Lächeln.

„Dann hätte ich mich doch bei Ihnen gemeldet. Es tut mir leid, ich hatte persönlichen Ärger. Es soll nicht mehr vorkommen“, entschuldigte sich Lucas.

„Dann lassen Sie doch mal hören, was heute auf dem Programm steht.“ Isolde tänzelte auf und ab und schenkte Lucas ein aufreizendes Lächeln.

Lucas hatte natürlich einen Plan, aber irgendwie brachte Isolde ihn so richtig heftig aus der Fassung. Er fand sie heute besonders sexy.

Oder waren es seine ständigen Gedanken an Ameli?

Momentan überwog wieder die Wut.

„Ja, dann laufen wir erst mal langsam bis zum Wald, machen noch ein paar Aufwärmübungen und dann steht das beliebte Steigerungslaufen an.“

Lucas merkte immer mehr, dass die Sache mit Ameli ihn total aus dem Konzept geworfen hatte. Das konnte sie doch nicht mit ihm machen. Einfach abhauen ohne Vorankündigung und sich erst nach fünf Tagen melden.

Was hatte das zu bedeuten?

Hatte es mit ihm zu tun?

Warum sagte sie ihm dann nichts?

Hatte sie einen anderen? Nein, das konnte er sich nun wahrlich nicht vorstellen.

Wie in Trance, spulte er mit Isolde das Übungsprogramm ab. Er nahm ihre Kurven und ihr Lächeln wahr, erwiderte ihren Blick, sagte Sachen, die er gar nicht sagen wollte, und wusste nicht, was er überhaupt machte.

„Können wir mal eine Pause machen?“, hörte er sie plötzlich hinter sich schnaufen.

Erstaunt drehte er sich um und sah, dass Isolde völlig erschöpft am Wegesrand stand und ihn mit großen Augen anstarrte. Dann wurde ihm bewusst, dass er sie total vergessen hatte. Er war bei den Steigerungsläufen einfach in sein Tempo verfallen und hatte nicht mehr auf Isolde geachtet. Er war ihr davon geeilt, hatte nur Ameli im Kopf und sehnte sich aber gleichzeitig, aus Rache, nach Isoldes geilen Körper. Das war ihm noch nie passiert, dass er so kopflos mit seinen Kunden umging. Isolde konnte mit Recht sauer auf ihn sein. Und er war sauer auf sich selbst.

„Na, das ist wohl wirklich nicht ihr Tag heute, hm“, sagte Isolde und schmiegte sich schweratmend dicht an Lucas.

„Es tut mir schon wieder leid,“ nuschelte Lucas leise. Er merkte, dass er sich zusammennehmen musste. Ihr wohlgeformter Busen berührte seinen Arm.

„Dann machen wir wohl am besten Schluss für heute. Ich kann sowieso nicht mehr. Ich wollte ja mit ihnen Schritt halten, aber plötzlich sind sie explodiert, wie eine Rakete.“ Isolde himmelte ihn an, wie noch nie.

„Sie bekommen nächste Woche eine Einheit gratis. Versprochen.“

Sie standen jetzt noch dichter beieinander und Lucas spürte eine gewaltig aufkommende sexuelle Erregung, so dass er Isolde am liebsten auf der Stelle umgenietet hätte. Er war sich auch sicher, dass es Isolde genau darauf angelegt hatte. Sie hing schon an seinen Lippen. Alles war zum Greifen nahe und angerichtet. Zum Glück bellte in diesem Moment ihr Schätzchen. Und Sekunden später hätte sich Lucas für diesen momentanen gedanklichen Ausrutscher ohrfeigen können. Aus Wut auf Ameli hätte er beinahe einen unverzeihlichen Fehler begangen.

Isolde wusste, dass ihr Schätzchen ihr diesmal einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Wie dumm aber auch. So nah war ihr Lucas noch nie. Diesmal hätte er zugegriffen, dachte sie. Besonders wütend herrschte sie ihr Schätzchen an und Lucas musste sich ein Lächeln verkneifen.

„Lassen Sie uns zurücklaufen, aber diesmal langsam“, sagte er kühl zu ihr.

Er wollte jetzt nur noch schnell weg. Weg, um seine Gedanken zu ordnen. Schließlich hatte er heute noch zwei Kurse und da durfte ihn so etwas nicht noch einmal passieren. Bis dahin wollte er wieder fit in seinem Kopf sein.

Und immer wieder fragte er sich, warum Ameli einfach abgehauen ist?

Die Nachricht beruhigte ihn zwar, erklärte aber gar nichts.

 

***

Donnerstag

Haus am Meer

 

Nach einer wundervollen ruhigen Nacht, wieder ohne Alpträume und sonstigen dunklen Gedanken, wachte Ameli endlich auf. Sie wollte aber noch nicht aufstehen. Sie dachte an Lucas.

Endlich.

Und an Chris.

Wer war Chris?

Zwei Männer, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Zwei Männer, die für sie etwas unterschiedlich Erregendes an sich hatten.

Lucas war Bestandteil ihres Lebens. Sie brauchte ihn zum Leben. Sie schloss die Augen und roch ihn förmlich. Sie stöhnte leise auf. So, wie sie seinen Geruch von ihrer ersten Begegnung in Erinnerung hatte, so lag er jetzt in ihrer Nase.

Sie schnüffelte.

Sie sah ihn in seinem blauen Hemd, mit seinem Lächeln und seiner Überlegenheit. Das würde sie nie vergessen. Das wurde Liebe. Ihre Art von Liebe.

Sie wollte ihn festhalten. Sie wollte ihn nie mehr verlieren, das hatte sie sich damals geschworen. Und auch heute war sie sich sicher, dass sie Lucas über alles liebte.

Eben auf ihre Art.

Sie konnte ihm jedoch ihre Liebe nicht zeigen. Sie musste ihn von sich aus immer wieder auf Abstand halten, weil sie ihr eigenes Leben nicht aufgeben konnte. Sie wollte keine Kontrolle, von niemanden. Sie hatte ihre Mutter damals verlassen, um frei zu sein. Und diese Freiheit sollte ihr keiner mehr nehmen. Sie wollte ihr Leben mit niemanden mehr teilen, zu sehr hatte sie Angst vor den Fesseln. Aber sie wollte lieben. Und sie brauchte Liebe. Die Liebe durfte sie aber nicht einengen.

Es war ihr klar, dass ihre Gefühle schwer zu verstehen waren, und dass sie einen Freund damit zur Verzweiflung bringen konnte. Sie merkte, dass auch Lucas damit seine Schwierigkeiten hatte. Bis jetzt hatte er aber ihre Macken akzeptiert. Für Ameli bedeutete das aber schwere Arbeit. Sie war ständig hin und her gerissen. Durch ihren Drang nach Unabhängigkeit entzog sie sich ihm ständig und stieß ihn vor den Kopf. Und dann hoffte sie inständig, dass er bei ihr bleiben und sie trotzdem lieben möge. Manchmal war sie total verzweifelt und sagte sich, dass Lieben weh tut. Sie wollte ihn und wollte ihn wiederum nicht.

Wer sollte das nur verstehen und würde er das verstehen?

Konnte sie ihm das überhaupt zumuten, so mit ihr zu leben?

Bei diesen Gedanken kam sie sich abartig vor und fühlte sich wieder zu recht als Einzelgängerin unverstanden.

Sie wälzte sich schwer atmend auf die andere Seite.

Mach die Augen zu und denk nicht daran.

Verdränge es.

Nein tu es nicht.

Es ist so schwer.

In ihrem Körper machte sich ein dumpfer Schmerz breit.

Sie wollte ihn nicht.

Musste das jetzt sein?

Hol dir was anderes.

Nein Ameli, bleib bei dir.

Dann schwebte Chris in ihre Gedankenwelt.

Chris.

Er kam für sie völlig unerwartet daher. Er zog wie ein Lufthauch an ihr vorbei. Er kam und ging und alles war so ohne Verbindlichkeit. Das hatte so was Leichtes an sich. Passend für den Moment. Kommen und Gehen. Nehmen und Geben. Aus und vorbei. Und trotz alledem so unheimlich wertvoll.

Haltgebend?

Sie nannte Chris leise ihren Traum-Meer-Mann.

So einen schönen Traum kann man doch nicht zerstören. Sie wollte, dass das alles ein Traum blieb. Es wäre einfach zu schön.

Es war aber kein Traum.

Ameli sei doch kein Spielverderber.

Träum weiter.

Ihre Hände nahmen ihre Gedanken auf. Sie brachten sie vom Tal zum Gipfel. Sie erkundeten auf dem Weg dorthin Mulden, Hügel und Spalten. Es war aufregend und Ameli drohte ein ums andere mal abzustürzen. Sie sah Chris auf halber Höhe und ganz oben wartete Lucas. Sie wollte ganz oben ankommen und ganz tief fallen. Ihre Hände führten sie unablässig weiter und weiter. An Chris vorbei. Mit lustvollem Stöhnen ging sie diesen Weg und dann war sie angekommen, bei Lucas. Er nahm sie in seine Arme und sie fielen gemeinsam herunter.

Sie fielen und fielen und fielen und sie schrie ins Kissen.

Als sie sich wieder im Griff hatte, musste sie lachen. Leise und verhalten. Dann jedoch schlug ihr Lachen in Schluchzen um.

Sie wusste nicht warum.

Sie fühlte sich so wohl wie lange nicht mehr.

Warum musste sie dann weinen?

Vor Glück?

Sie gestand sich ein, dass sie ihre Fingerspiele erregend und befreiend fand. Ja, vor allem befreiend. Sie fühlte sich wohl.

Warum hatte sie es nicht schon eher gemacht?

Mit einem Lächeln stand sie nun doch endlich auf und holte sich mit einer Entschlossenheit ihr Handy. Jetzt war sie bereit, Lucas eine Nachricht zu schicken. Er sollte wissen, dass sie an ihn dachte.

Vertrau mir. Suche mich nicht. Ich komme zurück

zu dir. Ameli.

Liebevoll schrieb sie diese paar Worte. Trotzdem beschäftigte sie sich in Gedanken weiter mit dem jungen Mann, der ihre Gefühle durcheinander zu bringen drohte. Sie fühlte, dass er irgendetwas bei ihr in Bewegung brachte, konnte es aber nicht für sich benennen.

Was war das nur?

Sie hatte wegen ihm kein schlechtes Gewissen, keineswegs. Es fühlte sich nur so eigenartig anders an. In ihren Augen hatte das absolut nichts mit Lucas zu tun. Warum, wusste sie noch nicht so recht. Sie suchte aber nach einer Erklärung. Es ließ ihr keine Ruhe.

Sie war abgetaucht, hatte extra einen anderen fremden Ort gewählt, um nach ihrem Selbst zu suchen. Das war ihr eigene Suche, ihr ganz eigenes Ding. Damit sollte keiner etwas zu tun haben. Nur sie alleine. Damit war Lucas für sie draußen. Und Chris? Chris war ein Teil von diesem anderen Ort. Sie hatte ihn nicht gerufen. Er war einfach da. Wenn sie diesen fremden Ort wieder verlassen wird, dann gibt es auch keinen Chris mehr.

Sollte das so einfach sein?

Es musste so einfach sein.

In der Dusche freute sie sich auf den Abend mit Chris.

Sie sagte sich, dass sie nach einem Tag mit sich ganz allein, zum Abend eine Abwechslung verdient hätte.

Die Freude auf Chris war gerechtfertigt.

Brauchte sie eine Rechtfertigung?

Wozu?

 

Nach einem ausgiebigen Frühstück mit viel Schokolade machte Ameli dann einen langen Spaziergang am Strand. Was sollte sie sonst tun? Sie brauchte Bewegung und sie wollte in ihrem Kopf ein wenig Ordnung schaffen. Das war schließlich ihr Ziel und ihre einzige Aufgabe im Moment.

Froh gelaunt ging sie den Strand entlang. Wieder sah sie in der Ferne viele Frachter und Schiffe. Das Fischerboot war nicht zu sehen.

Wie wird das hier wohl alles enden mit mir?

Wie lange werde ich hier bleiben?

Finde ich das, was ich suche?

Was fange ich damit an?

Was mache ich nur?

Was ? Was ? Was?

Ameli stampfte durch den Sand und redete mit sich selbst.

Sie redete oft mit sich selbst und sie summte auch ständig irgendeine Melodie vor sich hin. Egal wo sie gerade war. Es machte ihr nichts aus, wenn die Leute in der Bahn oder auf der Straße sie manchmal schief anguckten, nur weil sie gerade mal vergaß, wo sie war. Sie sagte sich dann immer, lieber singen als popeln. Wie oft sah sie an der Kreuzung Männer im Auto still versunken in der Nase bohren. Das fand sie ekelig und belästigend, aber ihr leises vor sich hin Summen konnte doch wohl kaum jemanden stören. Sie brauchte das für sich selbst. Sie brauchte das, um zu wissen, dass sie noch da war. Damit konnte und musste sie manchmal ihre Lebendigkeit spüren und überprüfen. So, wie sich andere Schmerzen durch Ritzen oder Ähnlichem zufügten, um sich wahrzunehmen, so musste sich Ameli ständig hören. Das war ihr Beweis, dass sie noch am Leben teilnahm. Und zum anderen machte es ihr aber auch Spaß.

Sie zog ihre Schuhe aus und pflügte mit ihren Füßen tief durch den Strandsand. Er war ein wenig kühl und feucht. Sie ging vorwärts und rückwärts. Sie blieb zeitweilig stehen, drehte sich im Kreis und ging wieder weiter.

Sie hinterließ ihre Spuren im Sand.

Als sie die vielen Steine am Strand sah, kamen Kindheitserinnerungen zurück.

Sie sah sich mit ihrer Mutter am Strand. Ein kleines Mädchen mit Zöpfen und Badeanzug und eine große schlanke Frau mit großer Sonnenbrille und langem schwarzem Kleid. Sie sind oft ans Meer gefahren. Sie sind eigentlich nur ans Meer gefahren. Ihre Mutter sonnte sich von morgens bis abends oder las Bücher. Sie spielte dann immer alleine im Sand.

Ameli begann wütend ein Selbstgespräch mit ihrer Mutter.

Ich musste immer alleine spielen. Nicht einmal im Urlaub hast du mit mir gespielt. Andere Mütter und Väter haben mit ihren Kindern riesige Sandburgen gebaut, haben mit ihnen Ball gespielt, sind mit ihnen in den Wellen rumgesprungen und haben gelacht. Ich saß alleine im Sand und tat nur so, als wenn ich rund um glücklich wäre. Mein Herz hat geweint. Es tat so unendlich weh, dich so anteilnahmslos in der Sonne liegen zu sehen. Du hättest nicht ein mal bemerkt, wenn ich weggelaufen wäre. Oder?

Ameli schleuderte mit ihrer Fußspitze Sand in Richtung Meer. Sie tobte innerlich. Zu lange hatte sie nicht mehr daran gedacht und es wunderte sie, dass sie sich jetzt überhaupt so deutlich daran erinnern konnte.

Zu Hause habe ich sogar mit meinen Puppen geredet, so, wie mit nie da gewesenen Freundinnen. Ich durfte ja keine Kinder mit nach Hause bringen. Du wolltest es nie. Du konntest den Krach nicht ertragen und du konntest keine anderen Kinder sehen, schon gar keine Jungs. Immer wenn ich mit dir spielen wollte, hast du mich vertröstet: ein andermal Ameli. Später. Pah. Es gab kein anderes Mal und auch kein später. Dafür hast du mir alles mögliche geschenkt, alles was ich haben wollte. Ich brauchte nur den Mund aufmachen und schon war es da. Hat es dein Gewissen beruhigt?

Ameli war mittlerweile näher ans Wasser gelaufen. Sie hob mehrere Steine auf und schleuderte sie wütend ins Meer.

Ja, wie kann ich nur so undankbar sein? Nein Mama, das, was ich brauchte, das hast du mir nie geschenkt. Deine Liebe. Du dachtest es vielleicht, aber es ist bei mir nie angekommen. Du warst ja in deinem eigenen Kummer so gefangen, du hast mich gar nicht wahrgenommen. Du hast nie gelächelt. Und wenn du mal versucht hast zu lächeln, dann sah es versteinert aus. Du hattest eine Maske im Gesicht. Ich wollte diese Maske nicht sehen. Ich hatte manchmal Angst vor dir. Kannst du dir das vorstellen? Vor meiner eigenen Mutter hatte ich Angst. Nein, nie im Leben kannst du dir das vorstellen. Du hast wahrscheinlich immer gedacht, dass es mir gut geht, aber wie es mir wirklich ging, das hast du nie gewusst. Du hast mich nämlich nie danach gefragt.

Ameli wurde immer wütender. Sie konnte kaum noch an sich halten. Ihre nackten Füße bohrten sich in den Sand. Sie schaufelte tiefe Kuhlen und verteilte wütend den Sand in alle Richtungen.

Kannst du dich noch erinnern, wie oft ich zu dir gekommen bin mit einer Zeichnung, oder einer Bastelei? Stolz habe ich sie dir gezeigt und geschenkt. Ich habe sie für dich gemacht. Wollte ein Lob von dir haben oder eine kleine Anerkennung. Du hättest mir nur einmal über den Kopf streichen brauchen, oder mich nur einmal in den Arm nehmen müssen. Das hätte mir schon genügt. Eine kleine Berührung von Herzen. Nichts dergleichen habe ich jemals von dir bekommen. Am nächsten Tag fand ich alles im Papierkorb. Ich habe es trotzdem immer wieder und wieder versucht. Vergebens.

Ameli fing an zu schluchzen. Sie grub sich tief mit ihren Füßen ein, blieb hängen und fiel hin. Dann raffte sie sich wieder auf.

Irgendwann fing ich an, dich dafür zu hassen. Was meinst du, wie lange hätte ich es denn aushalten können? Ich habe nachts in meinem Bett gelegen und mit meiner Puppe gesprochen. Stundenlang. Morgens war ich müde und hatte rote Augen. Du hast es nicht einmal gesehen. Für was hattest du überhaupt einen Blick?

Ameli wurde immer lauter und anklagender. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie wischte sich ihre Rotznase am Ärmel ab. Sie verlor keine Gedanken darüber, wie es wirkte, was sie tat. Sie fühlte sich alleine am Strand und tobte sich aus. Aber so richtig.

Was musst du nur für ein beschissenes Leben geführt haben, seit ich auf der Welt bin? Hm? Deine Mutterliebe hast du deinem Sohn mit ins Grab gelegt. Für mich war jedenfalls keine Liebe mehr da. Einen Mann gab es für dich auch nicht mehr. Du hattest nur mich und ich hatte ständig das Gefühl, dass ich eine schwere Last für dich war. Warum hast du mich überhaupt behalten? Du hättest mich doch zur Adoption frei geben können?

Ameli wusste in diesem Augenblick nicht, wen sie mehr bemitleiden sollte, sich selber oder ihre Mutter. Sie schleuderte die gesammelten Steine in ihrer Hand einzeln ins Meer. Es kamen immer mehr Erinnerungen zum Vorschein.

Bei meinen Freundinnen in der Schule habe ich mir Lügen ausgedacht über dich, über meine liebe Mutter. Zum Schluss habe ich sie selber geglaubt. Und wie habe ich sie alle beneidet um ihre Väter. Aber du hast mir das Gefühl gegeben, dass es für mich nie einen Vater gab und geben wird. Dass überhaupt alle Männer Schweine sind. Übrigens, ich habe bis heute nicht mal ansatzweise daran gedacht, meinen Vater zu suchen. Und ich werde ihn auch nicht suchen, denn du hast recht, diesen Vater gibt es für mich nicht. Und es tut mir wirklich leid für dich, dass du so eine Erfahrung machen musstest. Aber in meinem Leben gibt es trotzdem Männer. Ich habe es schwer mit ihnen. Verdammt schwer. Ich kann nicht mit ihnen umgehen. Verstehst du? Wie auch? Ich bin ja ohne Männer aufgewachsen. Wer kann mir nur dabei helfen? Du nicht. Du warst nie für mich da. Nie. Ach Mama. Mama. Das war alles Mist. Großer Mist. Warum konntest du meinem Vater nicht verzeihen, dass er dich verlassen hat. Warum hast du dir nie einen anderen Mann gesucht? Einen Mann, der ein Vater für mich hätte sein können? Warum nicht? Und warum konntest du nicht stark für mich sein? Dass dein Sohn gestorben war, muss schlimm für dich gewesen sein. Aber du hattest doch keine Schuld. Warum hast du dein Leben danach beendet, obwohl es mich noch gab? Du hast es einfach weggeworfen. Ich wünschte wirklich, es wäre für dich anders gelaufen. Und auch für mich. Was ist aus uns zwei geworden? Was ? Wir zwei. Wir zwei haben uns verloren. Was heißt verloren? Wir sind uns erst gar nicht nahe gekommen.

Ameli konnte kaum noch sprechen, so sehr schluchzte sie. Sie war aber noch nicht fertig. Es sprudelte immer noch aus ihr heraus.

Ich habe dich verlassen. Mein Schmerz war unerträglich. Mein Hass war zu groß. Ich konnte dich damals nicht verstehen. Ich wollte etwas anderes. Ich wollte dein trauriges Gesicht nicht mehr sehen. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Es hat mir das Herz gebrochen. Und du? Du hast mich einfach gehen lassen. Das tat doppelt weh. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht. Sag jetzt nicht, du wolltest nur das Beste für mich... Mama. Ich war erst 16 als ich zur Ausbildung in eine andere Stadt gegangen bin. Klar, Geld war nie ein Problem. Warum hast du dir nicht ein Sack Liebe gekauft? Oder eine Anleitung, wie liebe ich meine Tochter richtig? ... Oh.... Mama. Mama du fehlst mir. Du fehlst mir so sehr, dass es richtig wehtut.

Ameli schaute zum Himmel. Mit Tränen in den Augen schrie sie:

Mama ich brauche dich. Verdammt noch mal. Du warst 30 Jahre nicht für mich da, aber du gehörst zu meinem Leben. Ich brauche dich. Gib mir die Sonne zurück, damit ich glücklich sein kann. Gib mir deine Liebe. Bitte.

Immer und immer wieder schrie sie diesen Satz in den Wind.

Gib mir deine Liebe, bitte.

Sie ging in die Knie und vergrub ihre Finger in den Sand. Schluchzend brach sie zusammen und merkte nicht, wie die Wellen sie umspülten. Wie ein Häufchen Unglück hockte sie in den Wellen und schickte mit jeder Welle ihren angestauten Hass auf ihre Mutter auf die Reise und holte ihre tief vergrabene Liebe für ihre Mutter aus ihrem Inneren hervor.

Durchnässt kroch Ameli zurück in den trockenen Sand.

Sie blieb sitzen und fing an, ihre Umgebung um sich herum wieder wahrzunehmen.

Sie sah das Meer mit seinen gleichmäßigen Wellenschlag.

Sie sah die Möven über sich fliegen.

Sie fühlte sich erleichtert.

Jetzt, dachte sie, jetzt bin ich endlich bereit, wieder Kontakt mit meiner Mutter aufzunehmen. Es wird nicht alles gut werden, und ich kann nicht alles vergessen, sagte sie sich, aber ich werde einen Anfang machen. Ich werde meine Mutter nach all den Jahren wieder besuchen.

Als sie diesen endgültigen Entschluss fasste, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Ameli wollte noch nicht zurück zum Haus. Sie musste sich wieder beruhigen. Sie fing an, Muscheln und Steine zu sammeln. Sie fand einen Hühnergott und zu ihrer Freude einen Stein in Herzform. Sie hatte zu Hause eine große Steinsammlung und dieser musste unbedingt einen besonderen Platz finden. Sie wusste nur noch nicht für wen das Herz stand.

Für Lucas oder für ihre Mutter.

Ihre ersten Gedanken galten Lucas.

Als sie sich umdrehte, um zurückzugehen, sah sie ihre Fußspuren im Sand. Es war keiner weiter da, es waren unwiderruflich ihre Fußspuren. Sie war schockiert.

Sie sah tiefe Furchen, oberflächliche Abtragungen, kleine und große Abstände von Fußabdrücken, gerade Linien und überwiegend Schlängellinien. Der Strand vor ihr sah aus wie ein Schlachtfeld. Es machte sich plötzlich eine tiefe Traurigkeit in ihr breit.

Ja, dachte sie.

So bin ich.

Das genau ist mein Leben.

Innerlich heftig aufgewühlt. Oberflächlich angekratzt. Sichtbar. Unsichtbar. Immer im Wechsel, nie im Einklang.

Am liebsten hätte sie ihre Spuren verwischt, so sehr hatte sie auf einmal ihre eigene Unbeständigkeit und innere Unruhe satt.

Sie versuchte einen gleichmäßigen unauffälligen Rückzug. Es fiel ihr schwer. Die Gedanken tobten in ihr und sie musste doch einige male auf der Stelle rum hüpfen, um sich wieder einzukriegen. Sie fühlte sich wie ein kleines Teufelchen.

Ungehalten.

Aufbrausend.

Einfach zum Kotzen.

Aber immerhin hatte sie sich endlich einmal Luft gemacht. Sie war ganz heiser vom Rumschreien. Sie fand langsam Gefallen am Rumschreien. Es befreite und brachte Einsichten.

 

Erschöpft mit einer Tasse Kaffee in der Hand saß Ameli auf der Veranda. Sie schaute wieder aufs Meer und fragte sich, wie viele Stunden sie schon damit verbracht hatte, einfach nur aufs Meer zu schauen. Es wurde ihr nicht zu viel. Daran merkte sie, dass sie noch derart viel mit sich selber beschäftigt war und noch lange nicht da war, wo sie hin wollte.

Aber wo wollte sie hin?

Sie musste wieder an ihre Ankunft denken. Sie erinnerte sich, wie ihr hier auf der Veranda, völlig übermannt von ihren Gedanken und Gefühlen, schlecht geworden war. Mittlerweile war sie sich sicher, dass es ein kleiner Nervenzusammenbruch gewesen sein musste. Die Stille und Ruhe passten einfach nicht zu ihrer inneren angestauten Gefühlswelt. Sie musste einfach explodieren.

Es trafen zwei Welten aufeinander, die sich nicht vertrugen. Ihre Erklärung war ihr schlüssig genug, um es zu glauben.

Sie deutete es aber als ein gutes Zeichen. Sie hatte sich im wahrsten Sinne des Wortes von ihrem ganzen alten Ballast befreit. Sie musste lächeln. Und wieder sagte sie zu sich, dass sie die Chance jetzt nutzen müsste, um ihr Leben umzukrempeln.

Sie seufzte tief. Genau das war der wunde Punkt.

Wie sollte das neue Leben nur aussehen?

Was wollte sie eigentlich?

Was fehlte ihr? Irgendetwas musste doch fehlen. Warum war sie sonst auf der Suche? Oder suchte jeder etwas auf dieser Welt? Und sie steigerte sich nur in etwas hinein? Vielleicht hatte sie ja gar keine Probleme? Sondern sie machte sich nur welche?

Ameli drehte sich wieder mal im Kreis. Sie kam immer wieder am gleichen Punkt an. Und dieser war, dass sie nicht wusste, was sie eigentlich wollte. Sie hatte einfach kein Gefühl für sich selbst. Sie fühlte sich unbedeutend und wertlos auf dieser Welt. Das frustrierte sie von mal zu mal mehr.

Und schon türmte sich wieder ein Berg ungelöster Probleme auf. Sie blickte finster drein und merkte gar nicht, dass allmählich die Sonne verschwand und es merklich kühler wurde. Sie hielt immer noch die kalte leere Kaffeetasse in der Hand als Chris vollbepackt mit Einkaufstüten um die Ecke bog.

 

„Hallo Ameli. Da bin ich, dein Koch und deine Abendgesellschaft“, sagte Chris mit einem überaus süßen Lächeln im Gesicht.

Ameli war hingerissen von so viel Charme. So schön konnte das Leben auf einmal sein. Im Nu verflüchtigten sich ihre dunklen Gedanken. Ein breites Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie hätte nicht gedacht, dass sie sich dermaßen über jemanden freuen konnte. Sie sah Chris mit großen Augen an.

In diesem Moment gab es keinen Lucas mehr.

In diesem Moment drehte sich die Erde.

„Na ein bisschen mehr Freude hätte ich schon erwartet“, sagte Chris, als er immer noch keine Antwort von ihr erhielt. Selbst in ihrem Schlabberlook fand er sie fantastisch. Sein Herz machte einen Sprung. Ja, er liebte sie. Er liebte diese ältere Frau und er würde alles für sie tun. Seine Hände wurden feucht und ihm drohten die Tüten aus den Händen zu rutschen.

Ameli merkte, dass sie abdriftete. Total. Chris schwebte plötzlich wie ein süßer Traum in ihr. Sollte sie träumen?

Ihre Gedanken verunsicherten sie. Was passierte nur wieder mit ihr?

„Oh, ich habe die Zeit total vergessen hier auf der Veranda. Also, sei herzlich willkommen und lass uns in die Küche gehen.“ So unpersönlich wollte sie nicht klingen. Aber sie war völlig durcheinander und unsicher in ihren Gefühlen, dass sie keine anderen Worte fand. Sie sah die Enttäuschung in Chris Augen.

„Ganz wie du willst“, sagte Chris dann auch ein wenig abgekühlt.

„Was hast du denn schönes mitgebracht?“

„Also. Wir machen uns natürlich einen leckeren Fisch, den ich heute gefangen habe.“

„Aber in den Tüten ist doch nicht nur ein Fisch?“

„Na, Ameli vom Kochen scheinst du ja wirklich nicht viel Ahnung zu haben. Man braucht schon ein bisschen mehr für ein Fischgericht. Und hier bei dir im Kühlschrank gibt es ja nicht viel, außer Schokolade und Diätkram.“

„Na ja, bei mir zu Hause gibt es eben nur Tiefkühlessen. Folie ab und rein in die Mikrowelle. Nicht immer ganz gesund, aber zeitsparend und ich habe wirklich keine Lust zum Kochen. Nicht, dass ich es nicht könnte. Ich kann nämlich alles. Also ich werde dir eine gute Küchenhilfe sein. Versprochen.“

„O.k. Du wirst schon sehen, dass Kochen auch Spaß machen kann.“

„Ohne Frage, ich glaube mit dir kann alles Spaß machen.“

In diesem Moment gab sich Ameli frei.

Der Traum hatte sie gefangen und fing an.

Sie sahen sich in die Augen. Sie wussten beide, dass das der Zeitpunkt war, um sich zu küssen. Genau so würde es auch im Drehbuch stehen, dachte Ameli noch. Sie taten es ohne Scheu, einfach so. Es musste so ein.

Wie im Drehbuch.

Und es überraschte Ameli wieder, dass sie sich vorkam wie in einer Zeit, die es schon einmal gegeben hatte. Wie konnte das nur möglich sein? Sie fand, dass sie beide miteinander umgingen, als wenn sie sich schon viele Jahre kennen würden. Es gefiel ihr, ohne Zweifel. Es hatte so etwas unverbraucht natürliches. Es fühlte sich für sie wie eine einfache, alte, schlichte, freundschaftliche Begegnung an. Aber dann auch wieder so erfrischend prickelnd. Ob er zu anderen auch so liebenswert ist, fragte sie sich ? Das gefiel ihr plötzlich gar nicht. Sie wollte ihn ganz für sich alleine haben. Es war schließlich ihr Traum. In Amelis Kopf überschlugen sich die Gedanken.

Was war das denn jetzt? Ein ihr völlig unbekanntes Gefühl machte sich in ihr breit.

Eifersucht?

Chris zupfte Ameli am Ohrläppchen und sagt leise zu ihr. „Hallo, träumen kannst du später, jetzt musst du Gemüse putzen.“

Hier hätte sie aufwachen können. Aber sie wollte nicht. Sie träumte den Film weiter.

Ameli schmolz förmlich dahin. Chris war einfach süß. In ihren Händen lag immer noch der beste Hintern, den sie je in Händen gehalten hatte. Nur ungern löste sie sich von ihm. Sie wünschte sich, dass diese Szene noch einmal gedreht werden musste.

Das Kochen mit Chris machte ihr wirklich Spaß. Sie lachten und neckten sich, steckten sich abwechselnd Essen in den Mund und lutschten sich gegenseitig die Finger ab. Chris suchte ständig Amelis körperlichen Kontakt und Ameli hatte nichts dagegen. Er zeigte ihr mit einer Freude alle möglichen Handgriffe und fand immer wieder einen Grund, um sie zu umarmen oder zu berühren. Ameli fand das alles höchst amüsant und interessant, was Chris ihr in der Küche zeigte. Dankbar lächelte sie ihn an, während sie die letzten Minuten auf das Essen warteten. Sie schmiegte sich an ihn.

„Du hast recht, kochen kann richtig Spaß machen. Hätte ich nie gedacht. Aber ich habe auch noch nie mit jemanden zusammen gekocht. Meine Mutter wollte nie Dreck in der Küche haben und hat alles immer selbst gemacht. Sie hat nicht mal Plätzchen mit mir in der Weihnachtszeit gebacken. Und mit meinem Freund gehe ich nur essen.“

Als Ameli wieder ganz nebenbei ihren Freund erwähnte, zuckte Chris ein wenig zusammen. Ameli merkte es sofort. Sie wollte die Stimmung jetzt nicht verderben, deswegen ging sie darauf nicht weiter ein. Aber sie musste unbedingt mit Chris darüber reden, das wurde ihr schon klar. Er durfte sich da nicht in etwas hineinsteigern. Ameli lief ein kalter Schauer über den Rücken.

Wieder drängte sich ihr die Frage auf, was sie hier überhaupt machte? Es mischte sich immer mal wieder die Wahrheit in ihren Traum ein.

Schnell schob sie die Gedanken von sich. Der Traum sollte nicht platzen.

Später. Das können wir alles später klären, dachte sie. Nicht jetzt.

Sie floh einfach wieder vor der Realität. Dass Chris dabei eine Rolle spielen musste, die sie ihm zuwies, war ihr in dem Moment egal.

Was kam als nächstes im Drehbuch?

Sie genossen beide ein romantisches Abendessen auf der Veranda. Sie unterhielten sich über Gott und die Welt. Alles lief bestens. Der Film war großartig.

Doch dann fing Chris an, ihr immer detailliertere Fragen über ihr Leben zu stellen. Das gefiel Ameli überhaupt nicht. Sie kam langsam ins Schwitzen. Sie wollte nichts persönliches über sich preis geben. Jedenfalls jetzt nicht.

„Chris, ich merke, dass du vieles von mir wissen willst.“

„Ja , und? Was ist daran auszusetzen?“

„Ich weiß es nicht. Wir können uns doch gut über alles unterhalten, nur nicht über uns selbst. Können wir das nicht so lassen?“

„Und das würdest du gut finden“, fragte Chris verdutzt.

„Ehrlich? Ja.“ Ameli fand, dass Chris erst einmal genug über sie wusste.

Chris war entsetzt. Sollte er sich so in Ameli getäuscht haben? Sah sie ihn nur als billigen Zeitvertreib? Das konnte doch nicht wahr sein? Er liebte sie doch und wollte alles über sie wissen.

Ameli sah in Chris´ Augen, dass er fassungslos war über ihre Antwort. Das hatte sie fast so befürchtet. Warum musste jetzt wieder alles so kompliziert werden?

Konnte der Film nicht einfach romantisch enden?

„Chris, ich will dich nicht mit meinen Problemen belasten“, versuchte sich Ameli herauszureden und zu verharmlosen.

„Ach, gibt es denn nur Probleme bei dir? Das glaube ich nicht. Und du willst natürlich auch nichts über mich wissen, oder? Du willst also nur deinen Spaß mit mir haben?“ Chris konnte seinen Ärger und seine Wut nicht mehr unterdrücken.

„Nein Chris, so ist es nicht. Aber ich glaube, ich kann dir das irgendwie nicht so richtig erklären,“ gab Ameli leise von sich.

„Doch das kannst du. Du musst es nur wollen“, sagte Chris bestimmt.

„Ja, vielleicht will ich es aber nicht?“ erwiderte Ameli zaghaft.

„Nein, Ameli, das verstehe ich nicht. Ich kann nicht hier herkommen, mit dir rumalbern, mit dir schlafen und dann wieder gehen und dann wieder irgendwann kommen, wenn du es willst. Dann fehlt nur noch, dass du mich dafür bezahlst.“

Ameli zuckte merklich zusammen. Sie runzelte die Stirn. Das kam ihr irgendwie bekannt vor.

„Chris so darfst du nicht denken“, rief sie erschrocken.

„Nein? Dann sag mir, wie ich denken soll.“ Für Chris war auf einmal der ganze Abend verdorben. Seine Stimmung war auf einen Tiefpunkt angelangt.

„Sagen wir mal so. In deiner Gegenwart fühle ich mich einfach frei und glücklich und völlig weg von meiner ganzen Gedankenlast. Als wenn alles wie weggeblasen ist aus meinem Kopf. Ich kann alles genießen, habe Spaß mit dir und mache mir mal keine Gedanken was kommt. Unbeschwert kann ich nehmen, was ich bekomme und unbeschwert kann ich geben, wozu ich bereit bin. Einfach woanders für den momentanen Augenblick sein. Kann das nicht so bleiben?“ Ameli war klar, dass das völlig absurd klingen musste. Was aber viel schlimmer für sie war, war der Fakt, dass es absurd war. Ihre schöne Umschreibung für ihre Träumerei, die anscheinend keiner verstehen würde.

„Na toll. Da hast du dir ja was Schönes ausgedacht. Ich glaube dafür musst du dir aber einen anderen Dummen aussuchen. Für dich kann das ja ganz nett sein. Und für dich mag es auch irgendwie gut klingen. Aber ich will und kann diese Figur für deinen momentanen glücklichen Augenblick nicht sein.“

Sie schauten sich beide tief in die Augen. Ameli schossen viele Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. So viele, dass sie gar nicht klar denken konnte. Sie schloss die Augen und wollte wieder einfach nur weg.

Scheiß Film, dachte sie auf einmal wütend.

Warum konnte es nicht einfach ein schöner Film werden?

Oder ein schönes Spiel sein?

Warum nicht?

Warum wollte Chris nicht mit ihr mitspielen?

Träumte er nie?

Chris holte sie wieder zurück aus ihrer unglaublich verträumten Gedankenwelt.

„Hör zu Ameli. Du bist die erste Frau mit der ich geschlafen habe. Guck nicht so, es ist wahr.“

Das Geständnis haute Ameli nun wirklich um. Sie nahm Chris` Hände in ihre und schaute ihn in die Augen. Chris fuhr traurig fort.

„Es war für mich wunderbar und ich war überrascht, dass das alles wie von selbst ging. Du bist für mich wie geschaffen. Ich denke jeden Augenblick an dich. Und einfach nur so aus Spaß von dir benutzt zu werden, das kann ich nicht ertragen. Das fühlt sich für mich falsch an und tut mir weh. Tut mir leid.“

Ohne Ameli auch nur die Chance zu einer Antwort zu geben, stand Chris auf und ging. Er schmiss die Tür krachend hinter sich zu.

Was hatte er denn erwartet? Er wusste doch, dass sie einen Freund hatte.

 

Ameli war unfähig ihm hinterherzulaufen. Bestürzt blieb sie sitzen und hörte nur noch das Meer rauschen. Sie war völlig vor den Kopf gestoßen. Sie konnte das alles nicht raffen.

Sie war nicht mehr im Film.

Endlich hatte sie aufgehört zu träumen.

Ihr klickerten die Worte, benutzt, bezahlen, Spiel, wie eine Endlosschleife im Kopf herum. Sie musste plötzlich an ihr Geheimnis denken. Ihr Geheimnis, das wirklich nur sie kannte und das auch n i e einer erfahren würde.

 

Als sie mit 16 Jahren ihre Lehre in Köln, weit weg von ihrer Mutter und ihrer Heimatstadt Berlin, anfing, war sie bestrebt, gleich viele Freunde kennen zu lernen. Sie wollte ihre Mutter und ihre Kindheit komplett vergessen und einen Neuanfang starten. Es fiel ihr anfangs schwer. Am liebsten wäre sie nach drei Wochen wieder zurück nach Berlin gefahren. Sie wollte aber nicht versagen und so boxte sie sich durch. Einzig zu ihrer Oma hielt sie noch Kontakt, aber auch nur, damit ihre Finanzen stimmten. Sie gab nicht auf. Und sie hatte es schließlich geschafft. Sie vergaß. Sie vergaß ihre Mutter und ihre Kindheit.

Sie vergaß später alles.

Dann traf sie John. John war vier Jahre älter als sie und John war bezaubernd. Sie wollte mit ihm alles machen und war fest davon überzeugt, dass das endlich ihre große Liebe war. Und auch er liebte sie tief und innig. Allerdings war Ameli so besitzergreifend, dass John bald keine Luft mehr zum Atmen bekam. Ameli hatte schlicht weg Angst, dass John sie verlassen könnte und sie wieder alleine da stehen würde. Sie machte so ziemlich alles falsch, was man falsch machen konnte. Denn im Gegenzug fühlte sie sich immer kontrolliert, gefesselt und gebunden. Dennoch waren sie immerhin drei Jahre zusammen. Dann wurde sie plötzlich unerwartet schwanger. Sie waren sich beide einig in der Kinderfrage. Keine Kinder. Ohne nachzudenken und ohne noch einmal mit John darüber gesprochen zu haben, ließ Ameli einen Abbruch vornehmen. Für sie bestand gar keine Frage, sie wollte keine Mutter sein und auch nie werden. Zu sehr war ihr ihre eigene Mutter ein abschreckendes Beispiel und sie selbst konnte sich wahrlich nicht vorstellen, sich um ein Kind zu kümmern, fühlte sie sich doch selbst noch so. John erfuhr es einen Tag später.

Er packte seine Sachen und verließ Ameli mit den Worten: Ich finde mit dir keinen Weg zum Wir. John traf es ziemlich genau. Ameli war Ameli und wollte nur Ameli sein. Sie konnte mit John keine Verbindung zum Wir eingehen. Sie hatte keine Ahnung, wie das ging und was John eigentlich von ihr wollte. Sie stellte hinterher nur fest, dass so Liebe nicht funktionierte.

Wie funktionierte sie aber?

Sie dachte das Leben sei zu Ende, es machte für sie alles keinen Sinn mehr. Sie ging nur noch stur zur Arbeit und für den Rest der Zeit wollte sie sich nur noch verkriechen. Sie hatte zu dieser Zeit fast keine Freunde mehr, bei denen sie sich geborgen fühlen konnte. Der Hass fraß sie auf. An ihre Mutter dachte sie zu dieser Zeit schon lange nicht mehr.

Irgendwann hatte sie abends die Nase voll von ihrem eigenen Mitleid. Sie wollte nicht mehr ihrer vermeintlichen Liebe nachtrauern und zu nichts mehr fähig sein.

Leben oder Sterben.

Sie entschied sich fürs Leben. Sie brauchte einen neuen Impuls für ihr Leben und sie suchte danach. Sie setzte sich in ihr Auto und fuhr in die nächste Stadt. Weg, an einen anderen Ort, in eine andere Umgebung. Sie wollte etwas Neues finden und kennen lernen. Was, wusste sie nicht.

Ziellos irrte sie den ganzen Abend durch die Straßen. Es war schon spät. Sie wollte fast schon wieder umkehren.

Kein neuer Impuls.

Enttäuschung.

Doch lieber sterben?

Plötzlich stand sie in einer kleinen Nebenstraße vor einer großen Leuchtreklame. Sie las nur: Liebe ... ganz unverbindlich.... Spaß.... Genuss... pure Leidenschaft.... unerkannt... Das klang irgendwie gut, dachte sie. Vor allem das Wörtchen „unerkannt“ hatte es ihr spontan angetan.

Besser als sterben.

Magisch angezogen von der großen Leuchtreklame betrat sie den dunklen Vorraum. Sie wollte sofort wieder umdrehen, konnte aber nicht. Das rote gedämpfte Licht, das lüsterne Gelächter, die romantische Musik kamen ihr fremd vor, aber die Neugier zog sie ins Innere. Und dann war sie mittendrin und es gab kein zurück mehr. Ihr wurde eine Maske gereicht. Sie befand sich an einem Ort, wo sie keinen kannte, und wo vor allem auch sie unerkannt blieb. Sie hatte das Gefühl, jederzeit davon laufen zu können. Die Maske gab ihr die Sicherheit dazu. Das fand sie großartig. Sie ging völlig beeindruckt zur Bar und bevor sie etwas bestellen konnte, hatte sie schon zwei Männer an ihrer Seite und ein Longdrink in der Hand. Sie wusste gar nicht wie ihr geschah, fand alles komisch aber auch irgendwie aufregend und sie kam sich plötzlich wie in einem fantastischem Spiel vor. Sie dachte gar nicht weiter darüber nach, sondern spielte das Spiel mit.

Es war einfach.

Sie fühlte sich davongetragen.

Sie wollte das Spiel zu Ende spielen.

Es fühlte sich für sie leicht und berauschend an. Sie dachte an gar nichts. Ihr ganzes Dasein schien plötzlich gelöscht zu sein. Sie hatte keinen Namen mehr. Sie war eine Unbekannte. Und das tat gut.

Wie sie schnell bemerkte, genügte nur ein kurzes Nicken und weitere Türen wurden geöffnet. Sie ließ sich einfach führen und entführen.

Masken.

Alles nur Masken.

Maskenmann und Maskenfrau.

Die Masken wurden nicht abgelegt, zu keinem Zeitpunkt. Pure Nacktheit unkenntlich gemacht durch die Masken. Sie genoss den fremden Sex. Sie konnte sich ausleben, auslassen, genießen und dann einfach wieder gehen, wann sie wollte. Sie fand dieses Gefühl, eine kurze Zeit nicht Ameli zu sein, wundervoll. Und was noch viel besser war, sie ließ auch die bedrückte, zu Tode betrübte Ameli zurück.

Das war wie eine Geburtsstunde zum neuen Erwachen.

Das war ihre Geburtsstunde zum neuen Erwachen.

Von diesen und späteren Ausflügen hatte sie niemanden je etwas erzählt. Sie hätte gedacht, dass sie es sein lassen würde, wenn sie wieder einen festen Freund hätte. Aber manchmal überkam es sie doch. Manchmal begehrte sie die Maskenmänner für einen kurzen Augenblick ihres Lebens.

Dort hatte die Wiedergeburt geklappt.

Dort klappte die Wiedergeburt.

 

Ameli vergrub ihr Gesicht in den Händen.

Was bin ich nur für ein Mensch?

Nachdenklich blickte sie auf den schön dekorierten Tisch, wo sie gerade noch mit Chris friedlich zusammen gesessen hatten.

Was war passiert?

Warum musste der Abend so enden?

Langsam rekapitulierte sie noch einmal Chris´ Gedanken. Er fühle sich ausgenutzt, wenn sie mit ihm Spaß haben will, hatte er gesagt.

Nein anders, er fühle sich ausgenutzt, wenn sie nur mit ihm Spaß haben will und ihm nichts über sich erzählen will und nichts von ihm wissen will.

Ja, da hatte er allerdings recht, musste sie sich eingestehen. Aber so wollte sie es doch nicht.

Oder doch?

Angewidert über sich selbst, fluchte sie. Sie stand auf und schaute sich fragend um. Sie war sich unschlüssig, was sie tun sollte.

Sollte sie Chris hinterherlaufen? Ihm alles erklären? Aber was denn?

Plötzlich wischte sie wütend mit ihrem Arm über den Tisch und fegte einen großen Teil des Geschirrs herunter. Es schepperte und klirrte. Ameli war völlig unbeeindruckt.

Im Fenster sah sie ihr Spiegelbild. Durch den Kerzenschein war es nur schwach zu erkennen. Sie schaute sich lange an. Dann fiel dem Spiegelbild eine Antwort auf die Frage, warum der Abend so enden musste, ein.

Ameli, es ist kein Film und auch kein Traum. Und was sich für dich, wie ein Spiel angefühlt hat, ist für Chris kein Spiel.

 

Je mehr sie darüber nachdachte, um so mehr wurde ihr bewusst, was Chris ihr sagen wollte. Ja natürlich, er hatte sich eindeutig in sie verliebt.

Wie konnte sie nur so blind gewesen sein? Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie wieder nur sich gesehen hatte.

Sie war den ganzen Abend Ameli die Träumerin.

Und sie hätte warscheinlich ihre Rolle zu Ende gespielt.

Ameli wachte nun vollends auf.

Mit Schwung fegte sie den Kerzenständer vom Tisch.

Ihr Spiegelbild verblasste.

 

Auf diesen Schreck musste Ameli erst mal ein Glas Wein trinken. Sie ging in die Küche und holte den Weißwein aus dem Kühlschrank. Obwohl sie nur alleine war, ging sie mit zwei gefüllten Gläsern zurück auf die Veranda.

Sie blickte wieder mal aufs Meer. Es war dunkel. Aber sie konnte das Rauschen hören und es gab ihr irgendwie Kraft und trotz des misslungenen Abends musste sie lächeln. Warum, wusste sie nicht so genau.

Sie ging auf und ab. Fragen stellten sich ein.

Warum musste ihr ausgerechnet jetzt Chris über den Weg laufen?

Hatte sie nicht genug mit sich selber zu tun?

Und warum musste er sich in sie verlieben?

Er tat ihr auf einmal unendlich leid. Es war nicht ihre Absicht gewesen, ihm dafür die Gelegenheit zu bieten. Aber nun war es anscheinend zu spät.

Armer Chris.

Andererseits fand sie trotzdem die ganze Sache für sich auch als angenehme Abwechslung. Das musste ja keiner wissen. Augenblicklich hasste sie sich für ihre eigenen Gedanken. Sie schlug heftig mit dem Fuß gegen die Wand.

Sie war sich sicher. Sie hatte sich nicht in Chris verliebt und sie würde sich auch nie in Chris verlieben. Sie fand ihn begehrenswert. Sehr sogar. Das war aber auch alles. Und sie würde in schlechten Zeiten immer wieder an diesen Ort kommen wollen und dann würde sie wollen, dass Chris für sie da sein würde. Aber das konnte sie nun wirklich nicht von ihm erwarten.

Ihre Gedanken fanden sich wieder im Selbstgespräch.

Ja, bin ich denn verrückt? Mich kann bestimmt keiner verstehen. Wie auch? Ich habe einen Freund und gehe ab und zu in einen Swingerclub. Ist das normal? Bestimmt nicht. Aber ich finde es nicht abartig. Ich brauche das. Es macht mich frei. Und jetzt will ich auch noch einen Nebenfreund, für den Fall der Fälle, dass es mir mal schlecht geht und ich ihn brauche.

Theatralisch wirbelte Ameli im Raum umher. Sie raufte sich die Haare, atmete laut hörbar ein und aus und sprach weiter zu sich.

Warum brauche ich überhaupt so einen Spielplatz?

Was fehlt mir in meiner Beziehung mit Lucas, dass ich zu solch schrägen Sachen fähig bin? Ich lüge und betrüge und finde es nicht sonderlich verwerflich. Warum nur? Herrgott noch mal. Mutter, kannst du mir mal erklären, warum ich so geworden bin?

Wieder kam ihre Mutter ins Spiel. Ameli merkte, dass sie zur Zeit völlig von ihrer Mutter gefangen war. Warum beherrschte sie sie nur so?

Ameli blickte nachdenklich auf das dunkle Meer hinaus. Sie nahm noch einen Schluck Wein und redete weiter. Ihre Stimme klang jetzt leise und bedächtig.

Mein Leben fing schon ohne Liebe an. Meine Mutter wollte mich nicht. Und mein Vater? Er wollte mich als Ersatz für seinen gestorbenen Sohn. Er hat mir aber leider keine Chance in seinem Leben gegeben, nur weil ich ein Mädchen geworden bin. Er hat mich nicht einmal kennen gelernt.

Traurig blickte sie nach vorne. Ihr Blick war leer. Sie fuhr anklagend fort.

Warum bin ich überhaupt geboren? Mich wollte doch keiner. Warum habt ihr zwei mich überhaupt gezeugt? Wie kann man so kurz nach dem Tod eines Kindes gleich ein weiteres in die Welt setzen? Ich hasse euch dafür. Ich fühle mich heute noch wie ein ungeliebtes Kind.

Vor Wut schmiss Ameli das leere Weinglas an die Wand und nahm sich gleich daraufhin das zweite volle Glas vom Tisch. Sie machte weiter mit ihrer Selbstanalyse.

Liebe auf Dauer kann ich nicht ertragen. Ich schreie nach Liebe, weil ich sie brauche und ich schreie, wenn die Liebe da ist, weil sie mir weh tut. Ich brauche sie und ich brauche sie nicht.

Hastig leerte sie das Glas Wein aus.

Wie soll ich da aber auch jemals mit jemanden zusammen wohnen können. Lucas, es tut mir wirklich leid. Ich kann dir deinen Wunsch nicht erfüllen. Ich weiß nicht, wie lange ich dich noch so hinhalten kann. Irgendwann wirst du von mir und meinen Ausreden die Nase voll haben und mich verlassen. Dabei liebe ich dich wirklich. Und dabei ist das Leben, welches wir führen doch total entspannt und angenehm. Oder? Jeder hat seinen Freiraum, seine Wohnung nach seinem Geschmack und wenn wir Lust aufeinander haben, können wir uns treffen. Was ist daran verkehrt? Ich, Ameli, kann einfach so viel Nähe nicht ertragen. Ich kann das nicht. Ich habe Angst davor.

Ihr dämmerte, dass sie genau das, Lucas einfach nur mal sagen müsste. Ja, das müsste sie wirklich tun. Reden.

Sie stellte fest, dass ihr Glas schon wieder leer war.

Lucas, hoffentlich verzeihst du mir überhaupt mein Verschwinden, sagte sie ganz leise in den Raum.

Dann dachte sie ganz intensiv an Lucas. Er war ihr plötzlich richtig nah. Sie wollte mit ihm schlafen. Sofort. Es tat auf einmal richtig weh, so sehr vermisste sie ihn.

Aber er war nicht da und Ameli genehmigte sich noch den letzten Schluck aus der Flasche. Sie beschloss, dass sie sich morgen unbedingt bei Lucas melden würde.

Sie blickte zurück zum Meer. Als sie das viele Wasser sah, fühlte sich auf einmal so, als wenn sie ertrinken würde. Sie wollte sich an etwas klammern, wusste aber nicht so richtig an was. Ihr kam alles so übermächtig vor, so, als wenn eine große Welle sie überrollen würde und sie mitziehen würde in ihre dunklen Tiefen. Sie blieb standhaft und flüsterte leise zu sich: Ameli, du bist noch da. Alles wird gut.

Dann sah sie die Scherben auf dem Boden liegen und kam sich selber wie ein großer Scherbenhaufen vor. Sie hielt inne, schloss die Augen und versuchte zu fühlen, was sie gerade empfand.

Da war aber nichts zum Fühlen.

Im Moment war nichts da.

Nichts.

Mit hängenden Schultern und leerem Blick wandte sich Ameli von dem Bild des Abends ab und ging langsam die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Müde ließ sie sich ins Bett fallen. Sie war fassungslos über sich und wusste nicht genau, was in ihr abging. Sie war mal wieder an einem Punkt angekommen, wo nichts in ihr stimmig war.

Was sollte die ganze Sache mit Chris überhaupt, fragte sie sich. Warum machte sie das? Sie hatte doch Lucas.

Gleichzeitig tauchte aber auch die Frage auf, wofür sie Chris brauchte? Oder besser gesagt, warum konnte sie nicht von Chris lassen? Was gab er ihr?

Die Fragezeichen erdrückten sie. Sie drückte ihren Kopf tief ins Kissen.

 

Zur gleichen Zeit, während Ameli Selbstgespräche mit sich führte, saß Chris nur wenige Meter von ihr entfernt hinter einer Düne im Sand. Er konnte Ameli auf und ab gehen sehen und er sah, dass sie sprach. Obwohl er sehr wütend auf Ameli war, musste er lächeln, als er sie so sah. Er redete auch oft selbst mit sich, wenn er unzufrieden war oder Ärger hatte. Am liebsten wäre er wieder zu ihr zurückgegangen. Aber er konnte nicht. Er begnügte sich damit, sie zu beobachten. Langsam legte sich sein Zorn wieder, obwohl er das alles nicht verstehen konnte.

Seine Gedanken überschlugen sich.

Ohne Ankündigung kam Ameli in sein Leben. Sie stand einfach vor ihm, ließ sich ohne Weiteres von ihm an allen Stellen ihres Körpers berühren und gab sich ihm ohne Worte hin.

Sie wollte ihn doch auch?

Was konnte er daran missverstehen?

Das was er von ihr wusste, war, dass sie wunderschön war, dass sie um einiges älter war als er und, dass sie einen Freund hatte. Zu guter Letzt war sie auf der Suche nach irgendetwas.

Und er? Er war unsterblich in sie verliebt.

Chris blickte wieder rüber zu Ameli. Er konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden. Er fühlte sich auf eine angenehme Art zu ihr hingezogen. Immer noch.

Aber warum? Was hatte sie an sich? Warum wirkte sie so anziehend und doch geheimnisvoll auf ihn?

Sie war ein Geheimnis, stellte Chris fest.

Sie wollte nicht über sich reden. Warum nicht? Was musste sie verstecken? Wonach suchte sie?

Und was wollte sie überhaupt von ihm?

Wollte sie überhaupt was von ihm?

Das war die entscheidende Frage für ihn.

Plötzlich ging das Licht aus. Er konnte sich nicht vom Fleck rühren. Was sollte er nur machen? Er konnte doch nicht die ganze Nacht vor dem Haus sitzen bleiben. Er wollte aber auch nicht gehen. Schließlich stand er auf. Aber er ging nicht nach Hause. Es zog ihn zum Haus, in dem sich Ameli befand. Als er auf der Veranda stand, sah er, dass sie alle Türen und Fenster offen gelassen hatte, so , als wenn sie wollte, dass er zurück käme.

Ob das stimmte?

Chris betrachtete den Scherbenhaufen. Er bückte sich und hob eine Scherbe auf. Unschlüssig hielt er sie in den Händen. Am liebsten hätte er jetzt den Rest vom Tisch gefegt. Wut kam hoch.

Was machte diese Frau bloß mit ihm?

Er war sich immer noch unsicher, was er tun sollte. Leise legte er die Scherbe wieder zurück an ihren Platz.

Er musste einfach zu ihr. Ihr Duft hing in der Luft. Er wollte sie wenigstens berühren. Bei ihr sein. Er ging vorsichtig die Treppe zum Schlafzimmer hinauf.

Auch hier war die Tür offen.

Er blieb stehen und hörte wie Ameli gleichmäßig atmete. Er wusste nicht, was er denken sollte. Er ließ sich einfach von seinem Gefühl leiten.

Der Mond schien durch das offene Fenster und er konnte am sternenklaren Himmel den Großen Wagen erkennen. Das Bild war herrlich anzuschauen. Ameli schlafend im Bett und direkt über ihr sein Lieblingssternbild. Nun gab es für ihn kein zurück mehr, er wusste, was er tun musste. Er zog sich langsam aus und legte sich zu ihr ins Bett. Er war sich sicher, dass Ameli ihn beobachtete. Sie sagte aber kein Wort und ihr Atem verriet auch keinerlei Erregung. Er blieb gleichmäßig.

„Ich kann dich nicht alleine lassen,“ sagte Chris zärtlich zu ihr, als er sich unter ihre Decke schlich und ihren warmen Körper spürte.

„Ist schon gut. Bleib hier,“ erwiderte Ameli. Sie schmiegte sich an Chris und ließ sich von ihm in die Arme nehmen. „Ich muss hier bleiben, obwohl ich nicht hier sein sollte,“ gestand Chris. Sein Körper fühlte ein tiefes Stöhnen, dem er sich nicht hingeben wollte und konnte.

„Lass uns einfach nur nebeneinander liegen,“ erwiderte Amli. Sie hatte gewusst, dass er zurück kommen würde.

Es fühlte sich gut an, mit ihm an ihrer Seite. Wie Freundschaft? Chris gab ihr ein wenig Halt und hielt sie fest. Das war genau das, was sie jetzt am meisten brauchte. Sie spürte wieder, dass sie etwas Wertvolles an ihrer Seite hatte.

Und wieder musste sie an ihre Mutter denken.

Warum nur?

 

***

Freitag

 

Als Ameli am Morgen erwachte, war das Bett neben ihr leer.

Keine Nachricht.

Nichts.

Genauso hatte sie es geahnt. Sie lächelte. Genauso schätzte sie Chris aber auch ein. Und genau das mochte sie auch an ihm. Eine ungestüme Leidenschaft, ein eigener Wille und eine Trotzigkeit. Ein kleiner Junge, gepaart mit anziehender Männlichkeit. Sie fand das gut.

Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, mehr als ihr lieb war. Ohne Frage.

Es war jedoch eine andere Art von Hingezogenheit, die sie so noch nicht kannte. Es fühlte sich anders an als bei den Maskenmännern, und ganz anders als bei Lucas. Sie überlegte, was bei Chris anders war.

Die Maskenmänner wollte sie nicht kennen. Sie waren dazu da, um ausgenutzt zu werden. Sie ging zu ihnen, wenn sie sie für sich brauchte.

Lucas war ihre zweite Hälfte, die sie nie verlieren wollte.

Bei Chris hatte sie das Gefühl, sagen zu müssen: halt mich fest und lass mich wieder los. Unwillkürlich musste sie wieder an ihre Mutter denken.

Ameli sank tiefer in ihr Kissen zurück.

Sie konnte ihn riechen. Auch er roch verdammt gut.

 

Wenig später schrieb sie Lucas eine Nachricht.

Warte auf mich. Verlass mich nicht.

Deine Ameli

 

***

Lucas hörte sein Handy, ging aber nicht ran. Neben ihm im Bett lag eine Frau, die am Abend zuvor mit ihm nach Hause gegangen war. Sie wollte, bevor sie ihn verließ, noch eine letzte kleine Nummer zum Abschied, wie sie sich ausdrückte. Obwohl Lucas wieder bei klarem Verstand war, konnte er nicht Nein sagen. Immerhin hatte es Spaß gemacht. Warum nicht noch einmal?

Ansonsten waren sie sich einig, man vergisst sich. Keine Namen und keine Telefonnummern. Ganz unkompliziert.

Nachdem die kurze Bekanntschaft weg war, wälzte sich Lucas noch ein wenig im Bett herum. Der Sex war gut, sehr gut sogar und hatte ihn in seiner Männlichkeit bestätigt. Das war die eine Seite. Auf der anderen Seite sah er natürlich seinen Seitensprung. Seinen ersten Seitensprung.

Er hatte sich irgend wann einmal geschworen, keinen Seitensprung in einer Beziehung. Aber er fühlte kein schlechtes Gewissen aufkommen. Schließlich hatte er das ja so auch nicht geplant. Es gehörte einfach zum gestrigen Abend dazu. Es war der Abschluss, auf den er nicht verzichten konnte.

Wie konnte das nur passieren?

Er war am Abend zuvor einfach noch nicht müde gewesen und wollte noch etwas erleben. Wenn Ameli da gewesen wäre, hätte er sie angerufen und sich mit ihr verabredet. Aber sie war nicht da. Er wollte nicht vorm Fernseher einfach so einschlafen. Er brauchte nach dem langen Tag noch ein wenig Gesellschaft und Abwechslung. Er entschloss sich ins Kino zu gehen, fand die Filme aber nicht ansprechend. So schlenderte er durch die Straßen und ging dann einfach in einen neu eröffneten Szeneclub. Er wollte nur ein Bier trinken und den Abend ausklingen lassen.

Kurz nach ihm kam eine lustig gackernde Frauengruppe. Lucas fand schnell herausfand, dass es sich um eine Sportgruppe handelte. Sie hatten alle einen guten Körperbau, dafür hatte er schließlich einen Blick. Und sie mussten Stammgäste sein, denn sie wurden mit einem freundlichen Hallo begrüßt. Die Mädels erkannten in Lucas gleich einen neuen Gast, und stürzten sich mit Feuereifer auf ihn. Sie taten so, als wenn Männer Mangelware wären. Schnell wurde er in ihre Gespräche eingewickelt und schnell war unter den Frauen klar, für welche er bestimmt war. Sie wich nicht mehr von seiner Seite. Er fühlte sich wohl in der Runde und auch in ihrer Nähe, so dass er keinen Anlass sah zu gehen. Er trank ein wenig mehr als er wollte und als sie dann einfach mit ihm nach Hause ging, ohne zu fragen, ließ er alles so laufen, wie es kam. Sie übernahm in allem die Führung und er hatte nichts dagegen.

Jetzt, nachdem er alles noch einmal durchdachte, war ihm klar, dass er sein Hirn in der Hose hatte. Und deswegen empfand er auch kein schlechtes Gewissen. Es war einfach nur guter Sex, außer der Reihe, mit einer anderen Frau, dem keinerlei Bedeutung beizumessen war. Ganz einfach. Aus-Punkt-Ende.

Die einzige Frage, die ihn nun quälte, war, ob er Ameli davon erzählen sollte. Würde sie es wissen wollen?

Würde er es wissen wollen, wenn Ameli fremdgehen würde?

Das konnte er schnell mit einem Nein für sich beantworten. Wiederum konnte er es sich auch nicht vorstellen, dass Ameli fremd ginge, in keinster Weise.

Er kam schnell zu dem Entschluss, dass Ameli davon nichts wissen musste. Ausschlaggebend für ihn war, dass er bei der ganzen Sache nichts empfand, außer Spaß. An seiner Liebe zu Ameli änderte das rein gar nichts.

Übers Fremdgehen hatte er schon oft mit seinen Freunden diskutiert. Da gab es die unterschiedlichsten Auffassungen in der Männerrunde. Fremdgehen ist nicht gleich Fremdgehen, war seine Meinung. Für ihn machte es schon einen Unterschied, ob es einfach nur so passierte, wie in seinem Falle, oder ob es geplant, oder gar mehrmals mit der Gleichen war. Letztendlich war für ihn jedoch nicht nachvollziehbar, dass wegen einem unbedeutenden Seitensprung eine langjährige Beziehung auseinander gehen musste. Sex aus Spaß, Sex ohne Bedeutung und Sex als Ausrutscher mit einer anderen sollte man seiner Meinung nach in einer Beziehung einfach nicht überbewerten. Was hatte diese Art von Sex mit Liebe zu tun? Nichts.

Seinen Ausrutscher von gestern Nacht und heute Morgen fand er somit nicht erwähnenswert. Also musste er auch nicht beichten. Schließlich hatte er vor Ameli auch schon mehrere Freundinnen, mit denen er auch nicht nur Händchen gehalten hatte. Was machte das dann für einen Unterschied, wenn er mal wieder einen anderen Körper als ihren berührte? Er legte den Sex einfach in die Vergangenheit zu den vielen Körpern, die ihn schon Befriedigung verschafft hatten. Und übrigens, so beruhigte sich Lucas zu guter Letzt, ist Sex nur eine lustvolle Befriedigung. Ebenso gut hätte er auch seine Hände benutzen können.

Nachdem er seine Gedankenwelt geordnet hatte, war er froh, dass seine Liebe zu Ameli so stark war, dass er nicht lange ins Zweifeln kam. Er blickte zum Regal, wo ein großes Foto von ihr stand und er sagte leise: Ich liebe dich.

Und dann erst las er die Nachricht von Ameli.

Er schrieb ihr zurück:

Ich warte auf dich. Ich verlass dich nicht. Du

gehörst zu mir. Dein Lucas

 

***

Und nur ein wenig später, als Lucas die Nachricht von Ameli bekam, klingelte bei Frau Blume das Telefon. Sie konnte es nicht hören, weil sie gerade im Bad war und ihre Haare fönte. Als sie später durch den Flur ging, sah sie das grüne Blinken ihrer Anlage und wunderte sich über den frühen Anruf. Sie erhielt in den letzten Jahren kaum Anrufe.

Sofort dachte sie an Ameli. Sie war jedes mal aufgeregt, wenn ihr Telefon klingelte oder wenn sie eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter hatte. Sie hoffte immer wieder auf ein Lebenszeichen von ihrer Tochter. Im Laufe der Jahre zog sie öfter in der Stadt um, aber ihre Telefonnummer änderte sie nie. Diese Nummer war ihre einzige Verbindung zu Ameli. Sie wusste, dass Ameli diese Nummer nie vergessen würde.

Sieben Zahlen.

Nun blickte sie auf das Telefon und mit zittrigen Händen drückte sie die Abhörtaste.

Hallo, hier ist Ameli. Ich melde mich wieder.

Sie spulte die Nachricht immer wieder zurück. Auf den Inhalt kam es ihr in dem Moment weniger an, sie wollte die Stimme ihrer Tochter immer wieder und wieder hören. Tränen liefen ihr übers Gesicht und sie sah ihre Tochter, wie sie damals mit ihren 16 Jahren Hals über Kopf nach einem Streit die Stadt und sie verlassen hatte.

Seitdem hatten sie einander nicht mehr gesehen und gehört. Lediglich ihre Mutter hatte anfangs noch Kontakt, um Ameli finanziell zu unterstützen.

Nun diese Nachricht. Am liebsten hätte sie sofort zurückgerufen, aber sie wurde zum Warten verdammt. Keine Rückrufnummer.

Sofort beschlich sie die Angst, dass sie jetzt wieder Jahre warten müsste. Sie wagte sich nicht das Telefon zu verlassen.

Tausend Bilder und Gedanken stürmten auf sie ein. Diesmal wollte sie alles richtig machen und sich mit Ameli wieder versöhnen. Aber dazu gehörte auch die ganze Wahrheit ihrer Geschichte. Sie musste Ameli dann alles erzählen, damit sie ihr vergeben konnte oder aber, sie würde sie auf immer und ewig verlieren.

Sie hatte Angst vor dieser Wahrheit. Die Wahrheit, die sie bis jetzt in ihrem Herzen verschlossen hatte. Die Wahrheit, die ihr ganzes Leben zerstört hatte.

Sie konnte nichts mehr verlieren, aber ob die Wahrheit Ameli nützen würde, darin war sie sich nicht sicher. Darüber hatte sie sich schon oft den Kopf zerbrochen und nun nahte endlich der Augenblick der Entscheidung. Ob sie den Mut und die Kraft dazu hatte, das wusste sie nicht. Mit der halben Wahrheit hatte sie sie damals verloren. Was würde die ganze Wahrheit bringen? Eigentlich konnte es nicht schlimmer werden.

Sie hätte jetzt gerne irgendetwas von Ameli in die Hände genommen, ein Kuscheltier, eine Puppe, eine Haarschleife oder ein Foto. Aber sie hatte nichts. Gar nichts.

Ameli hatte damals alles mitgenommen. Alles.

Sie hatte sich als Mutter von ihrem Kind keine Erinnerungsstücke zurückgelegt. Nichts.

Nach dem Weggang von Ameli fühlte sie sich nicht nur allein. Nein. Sie war regelrecht einsam. All die Jahre.

Traurig saß sie auf ihrem Sofa und wartete auf den versprochenen Anruf ihrer Tochter. Im Schnelldurchlauf durchlebte sie zum Tausendsten mal die schönen und furchtbaren Erinnerungen.

 

Simone und Andreas kannten sich seit der Schulzeit. Sie verstanden sich gut und konnten über alles reden. Sie waren gerne zusammen. Andreas wartete jeden Morgen an der Ecke auf Simone, so dass sie täglich ein Stück gemeinsam zur Schule gehen konnten. Man hätte meinen können, sie wären Bruder und Schwester. Für Simone entwickelte sich später mehr, aber sie merkte, dass Andreas nur ein guter Freund sein wollte. Sie quälte sich in seiner Nähe und vergoss abends stille Tränen der Liebe. Andreas sah ihre Not nicht. Im Gegenteil, er holte sich bei ihr, wie eben bei einer guten Freundin, Tipps und Ratschläge, wie man mit Mädchen umging.

Nach der Schule trennten sich ihre Wege. Sie ging von zu Hause weg, um Andreas nicht so oft sehen zu müssen. Andreas blieb in Berlin und studierte Chemie.

Aber Simone hielt es in der Fremde nicht aus, zu stark war ihr Verlangen und ihre Sehnsucht. Sie kehrte wieder zurück zu ihren Eltern und der Kontakt zu Andreas wurde von da an anders. Er sah auf einmal in ihr nicht mehr die gute alte Freundin, sondern die Frau.

Sie fanden sich.

Sie wurden ein Paar.

Simone war überglücklich. Endlich hatte ihr Warten ein Ende und ihre Beharrlichkeit hatte gesiegt. Es wurde eine ganz große Liebe und für beide gab es nichts Schöneres. Sie machten Heiratspläne und waren sich sicher, dass sie immer zusammen bleiben würden.

Dann kam der letzte Sommer vor Simones Arbeitsbeginn. Sie wollten noch einen großen gemeinsamen Urlaub in Spanien machen. Dann startete aber kurzfristig ein wichtiges Projekt an der Universität und Andreas konnte auf gar keinen Fall mit ihr fahren. Alles hin und her ergab, dass Simone alleine fuhr. Sie hatte sich so auf diesen Urlaub gefreut, so dass Andreas sie drängelte, die Reise alleine zu machen. Sie war schon traurig, konnte sich aber auch vorstellen, dass es ihr trotzdem Spaß machen könnte. Deshalb fuhr sie alleine.

Und es machte ihr Spaß. Sie lernte gleich am Flughafen nette, junge Leute kennen, denen sie sich anschloss. Gemeinsam unternahmen sie viel und abends machten sie die Tanzlokale unsicher. Sie fühlte sich frei und genoss ihren Urlaub in vollen Zügen. Nicht dass sie Andreas vergessen hätte, nein, sie schob ihn in ihren Gedanken einfach nur nach hinten. Da war er gefangen in einem kostbaren Schubfach. Der Deckel blieb zu.

Anfangs bekam sie gar nicht mit, dass sie am meisten mit Dennis, einem schüchternen braunen Lockenkopf, unterwegs war. Nach ein paar Tagen war es dann für alle in der Gruppe selbstverständlich, dass Simone und Dennis immer nebeneinander standen, immer nebeneinander saßen und immer miteinander redeten und tanzten.

Am letzten Abend, beim letzten Diskobesuch war dann alles ein Selbstläufer. Sie tanzten eng umschlungen und Simone ließ sich zärtlich von ihm über den Arm streichen. Sie wollte ihm sagen, dass sie bald heiraten würde, aber in diesem Moment schien es keine Rolle zu spielen. Sie schauten sich nur an und küssten sich. Erst schüchtern und dann immer verlangender nach mehr. Später im Hotelzimmer hätte sie keiner aufhalten können. Sie wollten es beide.

Andreas war vergessen, nicht existent. Das Schubfach war nicht da. Nur für einen kurzen Moment.

Simone ließ sich fallen und genoss eine andere Art von Leidenschaft. Es war eine lange Reise. Sie ließ sich verzaubern und war verzaubert. Sie dankte Dennis für diese Traumreise in das Land der Erotik. Beim Abschied wussten sie beide, dass sie sich nie wieder sehen würden. Aber es tat ihnen nicht weh. Im Gegenteil. Mit einem Lächeln verließ Dennis Simones Zimmer. Simone verabschiedete sich mit einem Luftkuss.

Dann war Dennis nicht mehr existent.

Erstaunlicherweise konnte Simone am nächsten Tag wirklich ohne Reue ihren Rückflug antreten und zu Hause bei Andreas war alles wieder vergessen. Aber es sollte nicht so bleiben.

Simone wurde schwanger und sie wusste sofort, dass das Kind von Dennis war. Es gab keinen Zweifel.

Aber Andreas freute sich so über die Schwangerschaft, vom ersten Augenblick an, dass es für Simone unmöglich war, den Irrtum aufzudecken. Sie hätte alles verloren. Zum Schluss redete sie sich selbst ein, dass das Kind von Andreas wäre.

Es wurde ein Junge, ein schöner Junge und alle meinten Ähnlichkeiten mit Andreas feststellen zu können. Simone fiel ein Stein vom Herzen, konnte doch so alles ein nie gelüftetes Geheimnis bleiben. Sie vergaß schnell die Wahrheit.

Aber dann starb ihr Baby mit vier Monaten am plötzlichen Kindstod. Andreas Trauer schien ins Unermessliche zu steigen. Sein Sohn, das konnte nicht sein.

Simone sah es als Strafe Gottes und war unfähig Trauer und Wahrheit in Einklang zu bringen. Sie wusste aber, dass sie Andreas die Wahrheit sagen musste, denn seine Trauer galt dem Kind eines Anderen und nicht seinem Eigenen. Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nehmen sollte. Sie liebte ihn so und sie wusste, dass sie ihn damit verlieren würde. Sie zögerte und war nicht fähig die Wahrheit zu offenbaren.

Was für ein Fehler.

Sie konnte mit keinem darüber reden. Sie war völlig auf sich allein gestellt und der Verzweiflung nahe.

Andreas dachte, dass er seine Trauer nur überwinden könnte, wenn Simone sofort wieder ein Kind von ihm bekommen würde. Natürlich einen Sohn. Simone konnte sich seinem Ansturm nicht erwehren. Und bevor sie sich aufraffen konnte, die Wahrheit endlich ans Licht zu bringen, war sie bereits wieder schwanger.

Sie wusste nicht mehr ein noch aus. Die Last der Lüge erdrückte sie. Sie wollte dieses Kind nicht. Sie war noch nicht bereit. Sie kam sich vor, wie im Kreisel. Es drehte und drehte sich und zog sie in die Tiefe. Es gab kein Entkommen. Sie dachte tagelang an Selbstmord. Keiner merkte etwas von ihrem Zustand. Sie waren alle selbst noch zu tief in der Trauer um das verstorbene Kind. Einem Kind, mit dem sie eigentlich nichts zu tun hatten. Lediglich Simones Eltern waren Oma und Opa.

Simone wollte reden, aber sie konnte nicht. Ihre Zunge war schwer wie Blei, ihr Mund blieb verschlossen. Es wollte sie auch keiner hören. Die Zeit war schneller als sie reagieren konnte. Und dann war bereits wieder alles zu spät. An Abbruch war nicht mehr zu denken, wie hätte sie es Andreas auch erklären sollen. Als dann feststand, dass das Baby ein Mädchen werden würde, brach für Andreas erneut eine Welt zusammen.

Warum ein Mädchen? Er wollte einen Sohn. Er wollte seinen verlorenen Sohn zurück haben.

Simone wusste längst, dass sie ihr Schweigen viel eher hätte brechen müssen. Aber nun konnte sie Andreas nicht mehr in die Augen schauen. Die Trauer war unerträglich für sie. Sie musste ihm die Wahrheit sagen. An sich dachte sie schon lange nicht mehr. Sie fühlte sich überhaupt nicht mehr. Sie kam sich vor wie ein Steinklumpen, mit einem Klumpen von Kind in sich. Sie wusste, dass ihr spätes Geständnis das Ende ihrer Liebe sein würde. Sie wusste, dass Andreas ihr das nie verzeihen würde. Vielleicht hätte er ihr den Seitensprung noch verziehen. Vielleicht.

Andreas war entsetzt. Er hielt sich die Ohren zu und fing an zu schreien. Dann verließ er die Wohnung und fuhr mit seinem Bike davon. Simone lief zum Fenster und rief ihm etwas hinterher, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. Dann hörte sie das kreischende Geräusch einer bremsenden Straßenbahn. Jetzt war sie diejenige, die schrie. Sie spürte und wusste sofort, dass das mit Andreas zu tun hatte.

Wenige Minuten später erfuhr sie, dass er tödlich verunglückt war.

Simone hatte alles verloren. Die Offenbarung des Geheimnisses hatte den einzig Wissenden in den Tod gerissen. Das Geheimnis blieb weiter ein Geheimnis.

Simone dachte wieder an Selbstmord. Sie sah einfach keinen Ausweg. Wie sollte sie nur alles verkraften und wie sollte sie nur dieses Kind zur Welt bringen? Sie hatte so unsagbar große Angst und sie hatte keinem, dem sie ihr Geheimnis anvertrauen konnte. Keiner würde je erfahren, warum Andreas plötzlich in seiner Straße in die Straßenbahn gefahren war. Nur Simone wusste es. Und sie würde es nie jemanden erzählen, schwor sie sich.

Es war ein Unfall.

Wie oft stand sie des Nachts auf einer Brücke und wollte sich hinab stürzen? Wie oft saß sie auf dem Badewannenrand und wollte sich die Pulsadern durchschneiden? Sie konnte es schon gar nicht mehr zählen. Das Kind in ihr, die einzige Verbindung zu Andreas, hielt sie davon ab. Sie spürte aber keine Verbindung zu dem Kind. Es war von Anfang an mit einer Lüge besetzt, die den Tod ihres Liebsten nach sich zog.

So legte sie sich einen schweren Schutzpanzer zu. Nur so konnte sie den Schmerz des doppelten Verlustes aushalten. Sie brauchte diesen Panzer, damit sie nicht zerbrach. Der Panzer wurde aus Stein. Für immer.

Das Kind in ihr hatte von Anfang an keine Chance auf Liebe.

Ihre Eltern versuchten zu helfen, aber auch sie kamen nicht mehr an Simone heran. Das Einzige, was Simone immer dankbar annahm, war Geld.

Als sie dann ihre Tochter in den Armen hielt, wusste sie nichts mit ihr anzufangen. Sie hatte keine Muttergefühle. Diese waren mit ihrem Sohn gestorben. Und sie wollten einfach nicht mehr erwachen.

Aber das Schlimmste war, dass dieses Kind die Augen ihres Vaters hatte. Simone konnte ihrer Tochter Ameli nicht ins Gesicht schauen. Sie sah dann immer Andreas qualvolle Augen, Minuten vor seinem Tod.

Dennoch wollte sie alles gut machen. Das Kind war nun einmal da. Sie gab sich all die Jahre redliche Mühe. Sie besorgte Ameli alles was sie sich wünschte, kleidete sie ordentlich und gab ihr zu essen. Aber sie konnte ihr keine Wärme geben, sie nicht an sich drücken, sich nicht mit ihr freuen, ihr kein Lächeln schenken. So sehr sie es auch versuchte, sie war zum Stein erstarrt und klein Ameli konnte ihr Herz nicht erreichen.

Es blieb immer dunkel um sie herum. Die Sonne hatte keine Chance, um in ihr Haus zu gelangen. Zu groß war die Last der Schuld. Ihr eigenes seelisches Leid, was kein Ende nahm, machte sie blind für Amelis Seelenqual.

Dann kam der große Streit mit Ameli und Simone war für immer alleine.

Es folgten einsame 14 Jahre.

 

Frau Blume saß zusammengesunken auf der Kante des Sofas. Sie merkte wieder, dass sie nur noch eine Hülle ihrer selbst war. Sie spürte wieder diese tiefe Traurigkeit in sich. Die Traurigkeit, die sie all die Jahre gefangen genommen hatte und nichts anderes zuließ.

Ein Urlaubsflirt, eine einzige verzauberte Nacht, hatte ihr ganzes Leben zerstört. Manchmal gelang es ihr, sich an diese Nacht zu erinnern. Dann kam ihr der Gedanke, sich auf die Suche nach Dennis zu machen. Aber wozu? Was hätte sie ihm sagen sollen? Wollte sie mit ihm gemeinsam um ihr totes Kind trauern?

Sie wusste es nicht.

Würde es ihr dann wirklich besser gehen?

Sie fühlte nur immer wieder, dass sie weder den Tod ihres Sohnes, noch den Tod von Andreas jemals verarbeitet hatte. Die Last erdrückte sie. Sie hatte Andreas gleich zweimal belogen und betrogen, mit dem Mann und mit dem Kind. Die Lügen würden sie bis ans Lebensende nicht in Ruhe lassen. Sie konnte sich einfach nicht davon befreien.

Jetzt mit ihren 50 Jahren war für sie nichts mehr wichtig.

Sie lebte. Das war alles. Sie wandelte wie ein Schein von morgens bis abends durch den Tag und abends verkroch sie sich zu Hause. Ihre Gedanken an Selbstmord hörten nie auf. Das Einzige, was sie sich noch wünschte, war die Versöhnung mit Ameli. Und dann, so dachte sie, könne sie wenigstens in Ruhe sterben.

Und nun war endlich der Augenblick gekommen. Ameli hatte sich gemeldet.

Frau Blume bekam Angst. Sie bekam Angst vor ihrer eigenen Tochter, vor ihren berechtigten Vorwürfen. Und sie hatte Angst, dass Ameli ihr nicht vergeben könnte.

Sie hatte Angst vor den Augen.

Plötzlich klingelte das Telefon.

Sie konnte einen kleinen Aufschrei nicht unterdrücken. Zaghaft griff sie zum Hörer. Sie wusste wer am anderen Ende war.

„Hallo“, sagte sie leise.

„Hallo, hier ist Ameli. Mutter bist du es?“

„Ja. Ameli, ich freue mich so. Wo b ist du?

„Ich bin immer noch in Köln. Jetzt aber gerade an der Ostsee. Und du? Lebst du noch in unserer großen Wohnung?“

„Nein, schon lange nicht mehr.“

Es entstand eine kleine Pause, keiner konnte etwas sagen, oder hatte so viel Fragen, dass er nicht wusste, was er zuerst fragen sollte.

Ameli fasste sich als erste.

„Hör zu Mama. Wenn ich hier fertig bin, dann werde ich dich besuchen. Ich habe gemerkt, dass du zu meinem Leben gehörst, was immer auch passiert ist. Du bist meine Mutter. Und du musst mir viel erklären.“

„Ich weiß, Ameli. Ich habe dir nur die halbe Wahrheit erzählt.“

„Schon gut Mutter. Nun habe ich so lange gewartet, erzähl es mir, wenn ich komme.“

„Wann kommst du?“

„Ich weiß es noch nicht. Ich ruf dich dann an. Abgemacht.“

„Gut.“

„Also bis bald. Ich brauche dich.“

„Ja, bis bald.“

Frau Blume war nach dem Telefonat erschöpft aber auch erleichtert. Sie war froh, dass Ameli wieder Kontakt aufgenommen hatte und sie erhoffte sich von dem Wiedersehen, dass sie wenigstens mit Ameli Frieden schließen konnte. Vielleicht ließe sich dann ihr restliches Leben leichter ertragen.

 

***

Ameli fühlte sich nach dem Anruf bei ihrer Mutter besser, aber nicht gut. Sie war froh ihre Mutter doch noch erreicht zu haben, nachdem sie ihr am Morgen eine Nachricht auf´s Band gesprochen hatte. Sie hasste es, Nachrichten auf Band sprechen zu müssen. Ameli hatte sich das Telefonat aber irgendwie anders vorgestellt. Es war überhaupt kein Funke von Gefühl bei ihr erwacht oder rübergesprungen.

Das war also meine Mutter, dachte sie enttäuscht. Sie biss sich auf die Unterlippe. Es schmerzte heftig.

Es hätte ebenso gut ein Kundengespräch sein können, dachte Ameli bedrückt. Aber die Stimme, ja die Stimme, die hätte sie noch erkannt. Dann freute sie sich aber doch auf ein Wiedersehen, egal was es bringen würde. Sie wollte ihre Mutter sehen. Sie wollte ihr verzeihen. Sie wollte zu ihr gehören. Sie wollte sich bei ihr entschuldigen, für ihr eigenes Verhalten. Das war ihr wichtig. Und sie hatte das Gefühl, dass sie sie brauchte.

Nun war sie doch gespannt auf die ganze Wahrheit.

Wusste ihre Mutter vielleicht doch, wo ihr Vater war?

Wollte sie es wirklich wissen?

 

Von Lucas hatte sie auch eine Nachricht erhalten. Eine Antwort, die sie im Stillen so erwartet hatte. Nach fünf Jahren Beziehung, kannte sie ihn eben und wusste manchmal schon im voraus, was er sagen würde.

 

Nun doch zufrieden mit dem Beginn des Tages, machte sie sich fertig für einen ausgiebigen Spaziergang. Was sollte sie auch sonst machen, außer spazieren gehen. Sie hatte im Regal ein paar Bücher gefunden, aber Elisa las anscheinend nicht viel. Die meisten Bücher waren Fachbücher der Medizin. Darauf hatte Ameli nun wirklich keine Lust. Und die drei Liebesromane waren so was von gewöhnlich und kitschig, dass wollte sie sich nicht antun. Sie hätte einen Computer im Haus vermutet, aber da lag sie falsch.

Als sie aus dem Bad kam, sah sie wieder das Chaos vom gestrigen Abend. Sie blickte schon den ganzen vormittag an den Scherben vorbei und wollte nicht so recht daran erinnert werden.

Was war eigentlich genau passiert?

Der Film hatte ihr irgendwie nicht gefallen.

Verlass den Schauplatz, Ameli.

 

Es war ein wenig kühler, als an den anderen Tagen. Die Sonne schaffte nicht den Weg zur Erde. Ameli ging noch einmal zurück ins Haus, um sich einen wärmeren Pullover anzuziehen. Sie freute sich auf den Strand, das Rauschen der Wellen und das Alleinsein. Sie wollte nicht umkehren müssen, nur weil sie nicht richtig angezogen war.

Ameli atmete tief die frische Luft ein. Sie blieb stehen und genoss die Stille. Sie war allein. Keine Menschenseele weit und breit. Kein Fischerboot. Es waren diesmal auch keine großen Frachter am Horizont zu erkennen.

Ameli war gerne alleine. Sie war oft alleine.

Einsam aber war sie nicht.

Sie machte sich Gedanken über ihr Alleinsein.

Wenn sie nach der Arbeit die Treppen im Haus hochging, überkam sie jedes mal eine Freude, dass niemand bei ihr zu Hause war, wenn sie die Tür aufmachte. Nichts wäre für sie schlimmer, wenn womöglich der Mann mit den Kindern auf sie warten würde. Das war für sie wirklich die reinste Horrorvorstellung. Kinder passten nicht in ihr Leben. Diese Einstellung würde sich auch nie ändern, darin war sie sich Hundertprozentig sicher. Wenn sie nach Hause kam, sollte keiner auf sie warten und es sollte sie keiner mit Fragen bestürmen. Sie musste ungestört eintreten können. Das sollte immer so bleiben. Sie brauchte die Stille und Ruhe nach ihrem Arbeitstag. Im Bus, auf der Arbeit und auf der Straße hatte sie ausreichend Kontakt mit Leuten und Kindern. Mehr als ihr lieb war.

Sie brauchte die Zeit, um wieder bei sich anzukommen. Sie musste in den großen Spiegel schauen, der gegenüber von der Wohnungstür hing. Morgens war das der letzte Blick und abends der Erste. Sie verabschiedete und begrüßte sich. Sie wusste, dass sie das für sich behalten musste. Andere würden sie für verrückt erklären. Aber das war ihre Sache, es war wie ein Zwang.

Es gab in ihrem Alltag so einige Abläufe, die keinen Menschen an ihrer Seite duldeten. Sie hatte Macken, die sie hegen und pflegen musste. Sie war sich sicher, dass sie ohne diese nicht überleben würde. Sie haben sich irgendwann einmal eingeschlichen und waren nicht mehr wegzudenken. Auch dazu brauchte sie ihren eigenen Raum des Rückzuges. Immer und immer wieder. Täglich.

Aber hauptsächlich wollte sie alleine sein, wann immer sie es wollte und brauchte. Sie wollte nicht bei jemanden darum bitten müssen. Sie wollte völlig unabhängig sein.

Es kam vor, dass sie sich mit Lucas verabredete und kaum war sie bei ihm, da hatte sie das Bedürfnis, doch wieder allein sein zu wollen. So war sie nun einmal. Sie konnte innerhalb von Minuten ihre Meinung ändern und dann beharrte sie darauf, es so zu machen, wie sie es wollte. Dann konnte sie nichts davon abbringen, ihren Wunsch in die Tat umzusetzen. Da sie ja ihre eigene Wohnung hatte, konnte sie sich nach kurzer Zeit wieder von ihm verabschieden. In einer gemeinsamen Wohnung würde das so nicht funktionieren, sie würde ständig vor ihrem eigenen Freund flüchten müssen. Wer wollte das schon? Für sie hätte ein anderes Zimmer nicht gereicht. Sie hätte ihn durch die Wände gespürt.

Sie verbrachte auch selten eine ganze Nacht bei Lucas. Lucas fand das gar nicht schön, das wusste sie. Er wollte sie auch morgens an seiner Seite haben, nicht nur für ein paar Stunden in der Nacht. Für sie war das aber manchmal zu viel Nähe. Es machte ihr nichts aus, sich wieder anzuziehen und alleine nach Hause zu gehen. Im Gegenteil, sie fand es immer wieder schön und wollte es so. Lucas konnte das nicht verstehen, hatte es aber schließlich irgendwann einmal akzeptiert. Er musste.

Man musste sie so akzeptieren wie sie war, oder man konnte sie vergessen. Sie wusste, dass sie anders war, aber sie wusste nicht woher es kam. Das machte es ihr nicht leichter.

Sie brauchte das Alleinsein als eine Art Erholungsphase von der grauen Masse da draußen. Sie distanzierte sich ständig von ihren Mitmenschen. Es gab so viele Dinge, die sie abstoßend und unaktzeptabel fand. Sie konnte sich manchmal regelrecht hinein steigern. Es durfte keiner besser sein als sie und wer schlechter war als sie, ging gar nicht. So war sie Selbst ständig das Maß aller Dinge. Sie empfand das Miteinander mit anderen Leuten für sich daher als äußerst anstrengend. Sie hatte auch große Schwierigkeiten die allgemeinen Normen einzuhalten, ja sie wollte sie manchmal erst gar nicht akzeptieren. Sie musste sich auf Arbeit oft in ihrem Verhalten den Kunden gegenüber verstellen, um den Anforderungen der Normen gerecht zu werden. Während sie freundlich mit ihrer Kundschaft redete, hämmerten in ihrem Hinterkopf oft ganz andere Sätze. Diese Zwiegespräche über den Tag verteilt, ob auf Arbeit, im Bus, oder in Geschäften, kosteten Kraft. Sie fühlte ständig eine Anspannung in sich. Ihre ganze körperliche Haltung strahlte daher eine Festigkeit aus. Ihre Haut um sie herum war straff und fest, um sie zu halten. Sie musste sich immer voll im Griff haben.

Um die kontrollierte Alltagsbewältigung durchzustehen, musste sie sich einigeln. Nur so konnte sie wieder Kraft schöpfen für den nächsten Tag.

Was hatten ihr die anderen nur getan? Warum kam sie mit ihnen nicht zurecht? Warum war sie nicht fähig, mit ihnen auf gleicher Wellenlänge zu sein? Sie hatte keine Erklärung dafür.

Ihr Verhalten anderen gegenüber, ließ sie als arrogante Zicke erscheinen. Daher hatte sie es nicht leicht echte Freunde für sich zu finden.

Ihre Arbeit erledigte sie jedoch immer korrekt und sie war die Beste. Sie wollte es auch immer sein.

Somit war das Leben im Ganzen für sie ein ständiger harter Kampf.

Sie suchte und wollte Gesellschaft, konnte sie aber nicht annehmen und entzog sich ihr.

Wann immer es ihr passte, wollte sie die Türen öffnen oder hinter sich schließen.

Sie war froh, dafür eine eigene Wohnung zu haben. Für sich alleine. Das war ihr Platz, den sie nie aufgeben würde, weil sie ihn so dringend für sich brauchte.

Sie wusste manchmal nicht, wie sie sich diesem harten Kampf entziehen konnte, warum sie ihn überhaupt kämpfen musste. Sie fühlte sich damit allein und wollte wohl auch deshalb alleine sein.

So kannte sie sich.

So schätzte sie sich ein.

Sie wusste, dass sie so war.

So war sie immer.

Aber warum war sie so?

Darüber hatte sie noch nie nachgedacht.

Sie breitete ihre Arme aus und rief dem Meer resigniert entgegen: So bin ich eben.

Aber so einfach durfte und wollte sie es sich nicht mehr machen. Die vergessenen und gestrichenen Jahre vor dem Streit mit ihrer Mutter gewannen immer mehr an Bedeutung für sie. Sie konnte die 16 Jahre ihrer Kindheit nicht außer Betracht lassen. Aber sie waren immer noch so verschwommen und sie wollte immer noch nicht zulassen, dass es sie gab.

Aber es gab sie.

Sie wusste es.

Sie musste sie akzeptieren.

Sie musste weiter versuchen, in ihre Kindheit zurück zu dringen. Sie hatte Angst davor. Sie hatte Angst vor ihren Gefühlen.

Ameli setzte sich in den Sand. Ihr kam plötzlich wieder alles wie ein Traum vor. Sie musste sich kneifen.

Sie war da.

Die Tage hier in der Einsamkeit hatten sie total durcheinander gebracht. Im Moment kam es ihr so vor, als wenn der Himmel über sie einstürzen würde. Die Gedanken an ihre Mutter waren ihr genauso fremd, wie ihre eigene Kindheit. Aber sie tauchten immer wieder auf. Und Chris spielte eine Rolle, wie in einem Liebesdrama.

Ameli war auf einmal alles zu viel. Sie ließ sich nach hinten fallen und schrie. Sie schrie dem bedeckten Himmel ihren ganzen Frust entgegen. Sie wurde immer lauter. Sie verschaffte sich am Strand Gehör. Das Schreien befreite sie in der Art, dass sie weinen musste. Sie lag im Sand und weinte. Ab und zu ließ sie noch einen Brüller los.

Es könnte wenigstens die Sonne scheinen.

Ihr wurde kalt im Sand.

Ameli setzte ihren Spaziergang fort. Sie suchte in ihren Taschen nach einem Taschentuch. Sie hatte keins dabei. Sie hatte schließlich auch nicht die Absicht zu weinen. Wieder musste ihr Ärmel herhalten. Sie musste darüber lachen. Sie konnte wieder lachen.

 

Am Rand eines Strandaufganges bemerkte Ameli eine ältere Frau. Sie saß zusammengesunken im Sand und blickte auf das Ameli bekannte Fischerboot. Sie schaute traurig aus und war in Gedanken.

Noch eine unglückliche Person, dachte Ameli.

Sie machte durch Hüsteln auf sich aufmerksam. Die Frau schreckte kurz auf, doch dann lächelte sie Ameli freundlich zu.

„Hallo“, sagte Ameli, „sie sind die erste Person, die ich hier am Strand sehe.“

„Ja, um diese Zeit sind kaum noch Urlauber oder Touristen hier in unserem abgelegenen Gebiet. Weiter unten“, sie deutete mit ihrer Hand in Richtung hinter Ameli, „da finden sie noch Strandgänger.“

„Ach, ich finde es ganz gut, dass ich hier der alleinige Strandwächter bin.“

Ameli ahnte irgendwie, dass diese Frau Chris Mutter sein könnte. Sie wusste aber immer noch nicht genau, ob Chris wirklich der Mann im Fischerboot war. Das war bis jetzt nur ihre Vermutung.

„Sie wohnen also hier?“

„Ja, schon viele Jahre. Das heißt, eigentlich habe ich mein ganzes Leben hier verbracht. Mein Mann und ich sind aus diesem Ort und wir sind hier einfach hängen geblieben.“

„Sie sprechen das so traurig aus. Sind sie hier nicht glücklich, wenn ich fragen darf?“ Ameli konnte es sich gar nicht vorstellen, dass man hier an diesem schönen ruhigen Ort traurig sein könnte. Für sie war es so gesehen das Paradies auf Erden.

„Doch, doch, ich bin schon glücklich. Aber ich frage mich andauernd, ob mein Sohn auch glücklich ist?“ Liebevoll schaute sie in Richtung Fischerboot und nun wusste Ameli, dass sie in dem Teil Recht hatte, dass das Mutter und Sohn waren.

„Wie kommen sie darauf? Wenn er da draußen das Boot fährt, dann dürfte er doch alt genug sein, um seine Entscheidung selbst zu treffen. Oder?“

„Alt genug schon, immerhin ist er 22 Jahre alt. Aber er traut sich nicht, eine eigene Meinung zu haben und diese zu vertreten. Wissen Sie, seine älteren Brüder sind fortgegangen, und er glaubt, er muss hier bei seinem Vater bleiben. Er hat es so noch nie gesagt, aber ich als Mutter spüre es, dass er so denkt. Und das macht mich traurig. Ich komme nicht an ihn ran. Und sein Vater ist ein alter Sturkopf. Die beiden reden kaum über Persönliches miteinander. Das können Männer irgendwie auch nicht. Und so vergeht die Zeit. Ich wünschte er würde eine Frau finden, die ihn glücklich macht und von hier fort bringt.“ Die Frau legte ihren Kopf auf die Seite und musterte Ameli nun eingehender. Sie wurde verlegen. „Tut mir leid, dass ich Ihnen meine halbe Familiengeschichte erzähle. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist.“

„Vielleicht, weil sie sonst keinen haben, der ihnen zuhört“, erwiderte Ameli.

Wie recht diese junge Frau hatte, dachte die Ältere. Aber ohne darauf einzugehen erzählte sie einfach weiter. „Wissen sie, Chris war heute Nacht nicht zu Hause.“

Und nun wusste Ameli, dass ihre Vermutung, dass Chris der Mann im Fischerboot war, richtig war. Ameli hätte beinahe mit dem Kopf genickt und der Frau gesagt, dass er bei ihr war. Statt dessen schaute sie ganz interessiert und sagte kein Wort. Aber ein wenig beklommen war ihr schon. Sie wollte die Frau nicht hinters Licht führen. Sie sah so kummervoll aus. Aber sie traute sich auch nicht mit der Wahrheit herauszurücken.

„Das hat er noch nie gemacht. Ich wüsste nicht, wo er gewesen sein sollte. Erst dachte ich, er hätte sich mit seinem Vater gestritten, aber das war es nicht. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Heute morgen kam er und ging gleich wieder, ohne ein Wort zu sagen. Und ich kenne meinen Sohn, er wird auch nachher nichts sagen.“

Ameli wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Es entstand eine kleine Pause und beide schauten zum Fischerboot.

Ameli lächelte.

Plötzlich sagte die Frau: „Übrigens ich bin Frau Vetter und unser Haus ist gleich da drüben. Mir wird langsam kalt und sie zittern auch schon. Wollen Sie nicht mitkommen, ich habe schönen Tee zu Hause. Dazu einen ordentlichen Schluck Rum und wir sind ganz schnell wieder aufgewärmt und sie können ihren Spaziergang weiter fortführen.“

„Hm, dazu kann ich nicht nein sagen“, erwiderte Ameli spontan ohne Bedenken. Und vielleicht lerne ich ja auch noch den alten Sturrkopf kennen, dachte sie.

„Kann es sein, dass sie da oben in dem Haus der Spiegels wohnen? Im Dorf erzählt man, dass eine Fremde da ist.“

„Ja, das bin ich. Ich bin Ameli. Erzählt man vielleicht noch mehr?“ Ameli musste an ihren peinlichen Auftritt im Laden denken.

Frau Vetter schmunzelte und Ameli wusste Bescheid. Sie wurde ein wenig rot und lächelte verlegen.

„So was brauchen wir hier ab und zu mal. Das ist Gesprächsstoff für den ganzen Herbst. Das haben sie gut gemacht.“ Sie klopfte Ameli auf die Schulter und irgendwie verstanden sich die beiden Frauen auf Anhieb ganz gut.

Familie Vetter hatte ein schönes Haus. Der Garten war gepflegt und man sah die liebevolle Hand einer Frau. Frau Vetter bat Ameli ins Haus. Herr Vetter saß in der Küche und las Zeitung.

„Schau, wen ich mitgebracht habe, das ist Ameli, sie wohnt in dem Haus der Spiegels.“

„Hm. Tach.“ Er reichte Ameli die Hand ohne aufzuschauen und las weiter. Frau Vetter schob Ameli einfach weiter, so dass Ameli weder Guten Tag sagen konnte noch Herrn Vetter die Hand reichen konnte. Das fand sie schon seltsam, sie war andere Begrüßungen gewohnt. Aber ihr sollte es recht sein.

Im Wohnzimmer prasselte der Kamin und es war wohlig warm. Ameli fühlte sich angenehm aufgehoben.

„Heute ist der erste Tag, an dem der Kamin mal wieder durchgeheizt wird. Das muss man ab und zu machen, bei längeren Pausen. Ich hole dann mal den Tee.“ Frau Vetter machte eine einladende Handbewegung und verließ den Raum.

Ameli lächelte zurück und nahm gleich neben dem Kamin Platz. Sie hörte, wie Frau Vetter mit ihrem Mann schimpfte und plötzlich war da noch eine andere Stimme. Eine Stimme, die ihr bekannt vorkam. Sie bekam feuchte Hände und hatte das Gefühl, das gleich etwas schreckliches passieren würde. Sie hätte nicht gedacht, dass Chris so schnell nach Hause kommen würde, sonst wäre sie doch auf keinen Fall mit Frau Vetter mitgegangen. Wie konnte sie nur so dumm sein, rügte sie sich. Bevor sie weiterdenken konnte, war Frau Vetter schon mit Chris im Schlepptau in der Tür.

Wie vom Donner gerührt starrten sie sich beide an.

Frau Vetter merkte sofort, dass ihr Sohn und diese Frau sich kannten. Vor ein paar Minuten kam ihr Ameli noch souverän und selbstbewusst vor, nun wirkte sie auf einmal erschrocken und ängstlich. Was sollte das bedeuten? Sie schaute von Ameli zu Chris und von Chris zu Ameli. Es war ganz still in der Wohnstube, nur das Holz knisterte.

„Kann mir einer mal mal erklären, was hier los ist?“

Ameli war es sichtlich peinlich vor Frau Vetter zu zu geben, dass sie Chris kannte. Dann wäre nämlich klar gewesen, dass er letzte Nacht bei ihr gewesen war. Sie hatte Frau Vetters Vertrauen missbraucht. Anders konnte man es nicht sagen.

Auch Chris fand so schnell keine Worte, um seiner Mutter zu erklären, woher er Ameli kannte. Es war alles noch ziemlich verwirrend und neu für ihn. Am liebsten wollte er schnell Reißaus nehmen. Und so tat er es auch. Er drehte sich einfach um und verschwand.

Ameli musste insgeheim lachen, kam ihr doch selbst der Gedanke, das Gleiche zu tun. Aber sie saß am Kamin fest und hatte keine Fluchtmöglichkeit. Und eigentlich war sie ja eine erwachsene Frau. Aber das machte die Sache noch schlimmer in ihren Augen, denn auf einmal merkte sie, wie jung Chris war. Viel zu jung für sie.

Das Gleiche musste wohl auch Frau Vetter gerade gedacht haben. Und schon sprach sie es aus.

„Also wenn ich das jetzt mal richtig deute, dann war Chris letzte Nacht bei Ihnen.“

Es klang nicht wie eine Frage sondern wie eine Feststellung. Ihr Gesichtsausdruck war jetzt nicht mehr weich und wohlwollend, sondern bitter ernst und streng. Ameli befürchtete gleich einen gewaltigen Regenguss über sich ergehen lassen zu müssen. Deswegen antwortete sie schnell, „ Frau Vetter es tut mit leid.“

„Was tut Ihnen leid, dass sie mit meinem Sohn geschlafen haben, oder dass sie mich hinters Licht geführt haben?“ konterte sie schnell.

„Das Letztere. Frau Vetter, es war nicht meine Absicht. Es ging alles so schnell. Ich kam gar nicht dazu, es Ihnen zu sagen. Und außerdem ...“

„Und außerdem sind Sie viel zu alt für meinen Sohn“, ergänzte Frau Vetter den Satz wütend. Sie war auf einmal den Tränen nahe. Da kam diese Ameli daher und nahm ihr ihren Sohn weg. Ihren kleinen Chris. Ihre Gedanken überschlugen sich. Nicht das sie sich schon längst eine Frau für ihn gewünscht hätte, aber eine ältere erwachsene Frau sollte es nun doch nicht sein. Sie war fassungslos und enttäuscht. Sie wusste nicht was sie machen sollte.

Ameli konnte Frau Vetter gut verstehen. Sie konnte förmlich die Angst um ihren Sohn in ihren Augen sehen. Sie ging einen Schritt auf sie zu und nahm sie ganz spontan in den Arm. Sie war über sich selbst überrascht. Das war gar nicht ihre Art, andere zu trösten. Hatte sie es jemals getan?

Aber Frau Vetter sah auf einmal so verloren und hilflos aus, dass Ameli nicht anders konnte. Frau Vetter fing an zu weinen. Ameli strich ihr über den Rücken.

„ Ich kann sie verstehen. Sie haben Angst, dass sie ihren letzten Sohn verlieren.“

„Eigentlich mag ich Sie ja. Sie haben mich gleich irgendwie verstanden und haben mir zugehört. Behandeln Sie meinen Sohn ordentlich, bitte. Und verletzen sie ihn nicht. Versprechen Sie mir das.“ Auch das war wieder keine Frage sondern eine strikte Aufforderung.

Ameli nickte sprachlos. Sie verstand, was Frau Vetter ihr verständlich machen wollte. Aber genau das konnte sie ihr nicht versprechen.

 

Chris wartete draußen am Strand auf Ameli. Sie musste unweigerlich hier vorbeikommen. Er kochte vor Wut. Sie hatte ihn kaum erreicht, da schrie er sie schon an.

„Was hast du bei meiner Mutter gesucht?“ Er stand mit breit gespreizten Beinen und angewinkelten Armen kampfeslustig vor ihr.

„Halt, Stopp mal. Ich habe deine Mutter zufällig am Strand getroffen. Ich kannte sie doch gar nicht. Und nun komm erst mal runter. Obwohl so wütend siehst du richtig sexy aus.“ Ameli ging einmal um Chris herum, stellte sich dann genau in der gleichen Pose vor ihn hin und wartete. Aber Chris konnte sich nicht beruhigen.

„Was soll das?“ schrie er weiter rum.

„Chris, ich weiß nicht, was du meinst.“

„Du bist doch eine ganz Gewiefte. Wie viele Kerle hast du schon an der Nase herumgeführt, he?“

„Das muss ich mir nicht bieten lassen“, keifte Ameli nun zurück.

„Dann rück doch mal mit der Wahrheit raus. Was willst du von mir? Was bin ich für Dich?“

Da kam nun die entscheidende Frage, die Ameli nicht auf Anhieb beantworten konnte. Aber Chris hatte ein Recht auf eine Antwort, dass wusste sie. Sie wollte ihm nicht wehtun und sie wollte ihn auch nicht verlieren. Aber mit dem, was sie ihm sagen müsste, würde sie ihn verlieren. Das war ihr klar. Sie war auf einmal verzweifelt und ihr tat Chris unsagbar leid.

Warum musste er aber auch hier auftauchen?

Musste immer alles mit ihm schief laufen?

„Nun ich warte immer noch auf eine Antwort.“

Ameli drehte sich einfach um und ging. Nun lief sie einfach davon, wie Chris es vor einigen Minuten getan hatte. Insgeheim hoffte sie, dass Chris sie in seiner Wut einfach gehen lassen würde. Aber er ließ nicht locker.

„Ameli, bleib stehen. Ich will eine Antwort. Das kannst du nicht mit mir machen.“

Ameli drehte sich um, sah Chris wehmütig in die Augen und fragte statt dessen.

„Chris, hast du dich in mich verliebt?“

Chris schaute sie überrascht an. Mit dieser Gegenfrage hätte er am allerwenigsten gerechnet. Nach einer kurzen Pause schrie er ihr ins Gesicht.

„Ja, verdammt noch mal. Was glaubst denn du? Ich kann an nichts anderes mehr denken. Mir flattert das Herz, wenn ich dich sehe und ich habe ein Kribbeln im Bauch, wenn ich an dich denke. Fühlt sich nicht so Liebe an?“

„Ja, so fühlt sich Liebe an, denke ich zumindest.“ Ameli wurde es warm und gleichzeitig schwer ums Herz als sie das hörte.

„Chris, ich mag dich sehr. Auch du berührst mich, aber nicht so, wie du es dir wünscht. Ich liebe dich nicht. Aber du bist etwas Besonderes für mich.“

„Etwas Besonderes. Das reicht mir nicht“, sagte Chris nun ganz leise. Doch dann bahnte sich seine ganze Enttäuschung einen Weg nach außen. Er schrie sie wieder an. „Geh. Geh einfach wieder nach Hause und komme nie wieder hierher. Hörst du. Ich will dich nie wieder sehen. Verdammt noch mal, hau endlich ab.“ Chris war so wütend, enttäuscht, trotzig und das Schlimmste für ihn war, dass er am liebsten laut losgeheult hätte, wie ein kleiner Junge.

Ameli konnte ihn gut verstehen, sie hatte geahnt, dass er so reagieren würde. Sie versuchte erst gar nicht ihn zu trösten, das wäre völlig daneben gegangen. Sie konnte nur hoffen, dass er sich beruhigen würde und ihr wenigstens eine Chance zur weiteren Erklärung geben würde. Ihr Traum, ihn als Traum-Meer-Mann zu besitzen, kam ihr wieder in den Sinn. Wie absurd. Hier spielte die Wirklichkeit.

„O.k. Wenn du eine Erklärung für mein Verhalten möchtest, du weißt, wo du mich findest.“

Hatte sie überhaupt eine Erklärung parat? Gab es dafür überhaupt eine Erklärung?

Chris dachte in diesem Moment nur, du kannst mich mal.

 

Ameli ging langsam zurück.

Das sollte eigentlich ein schöner Strandspaziergang werden. Wäre sie bloß in die andere Richtung gelaufen, dann hätte sie Frau Vetter nicht getroffen und das Gespräch mit Chris wäre zu einer anderen Zeit sicher anders verlaufen. Nun war es aber so gekommen. Sie kam schon mit ihrer verkorksten Gedankenwelt nicht zurecht und nun auch das noch.

Nichts passte zusammen.

Sie überlegte, ob sie nicht doch lieber ihre Tasche packen sollte und wieder verschwinden sollte. Aber damit wäre gar nichts gelöst, stellte sie fest. Sie würde weiterhin unzufrieden mit sich sein, hätte keine Lösung für sich gefunden und würde nur wieder da weitermachen, wo sie aufgehört hatte. Der ganze schwierige Anfang wäre dann umsonst gewesen. Nein. Sie konnte jetzt noch nicht wieder abreisen.

Die Sache mit Chris müsste sich doch klären lassen.

Chris. Chris. Chris. Anstatt auf sich wütend zu sein, wurde sie zunehmend auf Chris wütend.

Sie näherte sich dem Haus. Das Gespräch mit Chris, wühlte sie innerlich sehr auf. Sie musste sich unbedingt erst einmal ablenken. Aber immer wieder sah sie seinen starken Körper vor sich und ihr rein körperliches Verlangen nach ihm tat fast schon weh.

Was hatte das zu bedeuten?

Diese Gedanken musste sie vertreiben, obwohl ihr klar war, dass sie sich damit unbedingt auseinandersetzen musste.

Dachte sie an Mann allgemein? Und wollte nur ihre weibliche Begierde gestillt werden? Oder was war es?

Ameli schalt sich eine dumme Pute. Was war nur wieder los mit ihr? Sie wusste es nicht. Sie fühlte sich wieder einmal nicht wirklich anwesend. Sie war durcheinander. Völlig durcheinander. Verdammt.

Sie brauchte jetzt etwas handfestes. Sie durfte jetzt nicht weiter grübeln, denn dann würde sie sich wieder ganz tief in sich zurückziehen. Sie musste etwas tun.

Aufräumen.

Nun war sie bereit, den Scherbenhaufen von gestern zu beseitigen. Mit lauter Musik wedelte sie bereitwillig durchs Haus und vertrieb ihre düsteren Gedanken. Sie sang laut und falsch die Songs aus dem Radio mit. Wen störte das? Sie hatte ihren Spaß.

Ameli stöberte überall herum, schaute in alle Schubladen und räumte sehr intensiv auf. Keine Schranktür blieb ungeöffnet. Sie drang in die Welt ihrer Freundin ein, als wenn es ihre eigene wäre. Sie war überzeugt von ihrer Aufräumaktion, also musste es Elisa auch sein. Sie kam gar nicht auf die Idee, dass es hätte anders sein können.

Ab und zu musste sie über ihre Freundin lachen. Elisa schien jeden geschenkten Tüneff aufgehoben zu haben. Sie hatte eine Vasensammlung, so viele Blumen hätten hier kein Platz gefunden. Tischdecken in allen Farben und Größen waren vorhanden, nur die passenden Tische waren nicht da. Wozu behielt sie den ganzen Mist eigentlich auf, fragte sich Ameli. Und dann die ganzen komischen Sachen, die das schöne große Wohnzimmer verunstalteten. So viel unsinniger Kram würde sie krank machen.

Ameli war sehr minimalistisch. Nur was sie brauchte, war auch vorhanden. Alles andere konnte man kaufen, wenn man es benötigte, war ihre Meinung.

Würde es doch nur in ihrem Oberstübchen genauso übersichtlich aussehen, wie in ihren Schränken. Aber da herrschte das volle Chaos. Da konnte sie nicht einfach mal so schön aufräumen. Da schüttete sie jeden Kummer und Ärger rein und ließ es vermodern, bis es schmerzte.

Sie stapelte alles Nebensächliche auf einen Haufen. Ameli vermutete, dass Elisa bei der Einrichtung nicht viel zu sagen hatte, zu sehr dominierte hier ein spießiger Geschmack. Und den hatte ihre Freundin nun wahrlich nicht. Hier hatte eindeutig der Herr Doktor die Hand im Spiel. Ameli hatte ihre Freude daran, die Welt des Herrn Doktors zu zerstören. Sie holte sich kurz entschlossen die blaue Rolle und füllte die Mülltüten mit dem Kram. In der Garage war genug Platz dafür. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Elisa etwas dagegen hätte.

Nach Stunden hatte sie es endlich geschafft, eine gewisse Ordnung in den unteren Bereich reinzubringen. Alles war praktisch und gut handhabbar. Sie brachte viel Licht in die untere Etage und schaffte freien Raum. Alles wirkte auf einmal weitläufig und nicht mehr so einengend.

Ameli war am Ende mit ihrer Arbeit zufrieden. Glücklich lächelte sie über ihre Veränderungen am Wohnraum. Sie selbst fühlte sich auch gleich wohler. Sie war froh, dass keine großen Möbelstücke zu bewegen waren. Sie fand sowieso, dass man mit kleinen Möbelstücken, immer die größten Veränderungsaussichten erreichen konnte.

Nun war nur noch das Schlafzimmer dran. Sie ging nach oben. Müde und erschöpft ließ sie sich ins Bett plumpsen.

Wieder musste sie an Chris denken. Warum nicht an Lucas? Vielleicht, weil der Film gestern nicht beendet wurde? Sie rügte sie sich im Stillen.

Die Musik schallte von unten herauf. Ameli fühlte sich frei und allein. Es kam ihr abartig vor, aber ihr Körper verlangte nach Streicheleinheiten. Und wie. Kein Wunder, dachte sie. Wie solle es auch anders sein, wenn sie die ganze Zeit auch nur an Männer dachte.

In ihrer Vorstellung sah sie den bockigen Chris vom Strand vor sich. Er sah aber auch verdammt sexy aus. Ameli stöhnte leise auf.

Dann drängte sich Lucas dazwischen. Die Gedanken an seinen athletischen Körper ließen ihre Sinne schwach werden. Sie atmete Lucas ein.

Wieder musste sie stöhnen.

Sie wollte diese Gedanken und Gefühle nicht ziehen lassen. Wer sollte nur ihren körperlichen Hunger stillen? Wieder Ameli? Musste das jetzt sein?

Sie fing langsam an sich auszuziehen. Sehr zögerlich entledigte sie sich ihrer Sachen. Noch konnte sie aufhören, dachte sie halbherzig. Am helllichten Tag, zu dieser Stunde konnte sie doch nicht an so etwas denken. Das hatte sie doch sonst noch nie gemacht, schoss es ihr durch den Kopf. Sie wusste aber, dass sie trotz ihrer Bedenken nicht aufhören würde. Allein schon die intensiven Gedanken an den männlichen Körper, egal ob Chris oder Lucas, ließen kein Zurück mehr zu. Ihre Gedanken fanden wieder einmal den Weg in ihre Finger und sie begann sich sacht zu berühren. Sie konnte nicht mehr aufhören. Sie fand es schön, sich zu spüren. Sie spürte sich diesmal sehr intensiv. Ihr kam es so vor, als wenn sie anfing, sich selbst zu lieben und dieses neue Gefühl zu sich selbst fand sie berauschend. Sie genoss die Liebe, die sie sich und ihrem Körper gab. Sie fand ihre Lust, ihr Atem ging schneller und ihrer Kehle entrangen sich lustvolle Seufzer.

Sie war mit sich und ihrer Liebe allein.

Sie waren sich einig.

Endlich hatte sie jemanden gefunden, der sie verstand.

Sie bäumte sich auf, fühlte sich oben angekommen und ließ sich mit einem langen leisen Aufschrei wieder fallen. Das war der Himmel auf Erden, dachte sie glücklich. Sie ließ ihre Hände auf ihrem nackten Bauch liegen und verfolgte mit geschlossenen Augen, wie sich ihr Atem wieder beruhigte.

Als sie Minuten später versonnen ihre Augen langsam öffnete, sah sie Chris wie angewurzelt in der Tür stehen. Sie machte langsam die Augen wieder zu, um diese Täuschung rückgängig zu machen. Nach einer Weile öffnete sie die Augen wieder, aber Chris stand immer noch da. Amelis Mund öffnete und schloss sich, aber es kam kein Wort heraus. Ihre Augen starrten zu Chris, ihre Hände blieben reglos auf ihrem Bauch liegen.

Sie war entsetzt.

Chris schmunzelte.

Nach einer Ewigkeit, Ameli kam es jedenfalls so vor, zog sie endlich die Decke über sich.

„Sag mal, geht`s noch?“, brachte sie stockend hervor. Was hatte Chris alles gesehen? Ab wann beobachtete er sie? Meine Güte dachte sie, er konnte von der Tür aus alles sehen. Voller Einblick. Das ging irgendwie zu weit.

„Ich wollte die Erklärung hören“, sagte Chris trocken.

„Ja, klar. Und da kann man nicht unten an der Tür klingeln?“

„Habe ich. Die Musik ist wohl zu laut?“

„Und da geht man einfach ins Schlafzimmer hoch?“

„Es hat sich gelohnt“, grinste Chris.

Ameli schmiss wütend das Kopfkissen nach Chris. Es war ihr alles mehr als peinlich. Da schaute ihr dieser Jüngling bei einer Sache zu, die den Namen Selbstbefriedigung trug, ohne sich bemerkbar zu machen. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Lass das alles nicht wahr sein, hämmerte es in Amelis Kopf. Sie schloss wieder die Augen.

Warum konnte das jetzt nicht ein wirklicher Traum sein?

„Was hätte ich denn tun sollen. Hätte ich dich stören sollen? Das wäre dir bestimmt auch nicht recht gewesen, oder?“

„Nun werd nicht noch frech. Du hättest erst gar nicht hoch kommen dürfen.“ Ameli stöhnte vor Scham.

„Bin ich aber. Und dann konnte ich nicht mehr weg. Es war zu spät.“

„Man, man ,man“, konnte Ameli nur noch schreien. Sie zog sich die Decke nun ganz über den Kopf und schnaufte. Was sollte sie nur machen? Sie konnte es nicht rückgängig machen. Es was passiert. Es war kein Traum.

„Hey, ich sags keinem weiter“, brummelte Chris ein wenig reumütig.

„Na, da bin ich ja beruhigt“, raunzte Ameli unter der Decke zurück. Plötzlich musste Ameli lachen. Sie lugte unter ihrer Decke hervor und sah, dass auch Chris immer noch schmunzelte. Anscheinend schien er das für das Normalste von der Welt zu halten.

„Sag mal“, Ameli wusste nicht wie sie es ausdrücken sollte.

„Ne, hab ich in echt noch nicht gesehen, nur im Fernsehen.“

Ameli stöhnte auf. Was nahm sich das Bübchen eigentlich noch alles raus. Für einen Augenblick war sie sprachlos.

„O.k. Warte unten, ich ziehe mich rasch an und komme nach. Raus jetzt hier.“ Sie brauchte ein wenig Zeit für sich.

Das war doch unglaublich.

Unglaublich, schoss es Ameli immer wieder durch den Kopf. Aber irgendwie musste sie sich aus dieser misslichen Situation befreien. Irgendetwas musste passieren. Aber was? Ameli versuchte, die Ruhe zu bewahren. Sie ging auf und ab. Sie konnte und wollte ihre Selbstbefriedigung vor Chris nicht einfach so stehen lassen. Das ging nicht. Nicht so.

Auf einmal merkte sie, dass sie immer noch nackt war. Schnell griff sie nach ihren Sachen und zog sich an. Sie fühlte sich gleich wohler. Sie ging zum Fenster und versuchte sich zu beruhigen. Sie fragte sich wieder, was Chris eigentlich für sie war.

Er war real etwas unbestimmt Besonderes für sie.

Dann wiederum sah sie ihn in ihrer Träumerei als Traum-Meer-Mann.

Was sollte sie nur machen?

Dann kam ihr eine Idee.

Sie musste Chris in ihr Traumland entführen und sie musste ihn dazu bringen, mit ihr zu spielen. Wenn sie es beide als gemeinsames Spiel sehen würden und es zu Ende spielen würden, könnte es klappen. Sie würde sich, so dachte sie, wesentlich wohler fühlen. Sie könnte mit diesem Spiel die peinliche Situation für sich ein wenig abdämpfen. Sie würde es dann einfach im Schubfach Spiel ablegen. Und vergessen können.

Und Chris?

Ihm blieb gar keine andere Wahl. Er würde mitspielen, da war sie sich absolut sicher. Er war schließlich ein Mann. Das würde er sich nicht entgehen lassen. Sie musste ihm nur begreiflich machen, dass es ein Spiel war und ein Spiel bleiben würde.

Nur, würde er es verstehen?

Verstand sie gerade selbst, was sie da in ihrem Kopf ausheckte?

Konnte sie so berechnend und gemein sein?

Chris war doch noch so jung und unerfahren. Das konnte sie ihm nicht antun. Er machte gerade die ersten Erfahrungen mit der Liebe und sie wollte bewusst mit ihm spielen. Sie verlangte wirklich zu viel von ihm. Aber sie konnte ja immerhin noch abbrechen, wenn sie merkte, dass Chris diese Art, ihre Art von Spiel, nicht verstand.

Für sie war das schließlich alles kein Problem. Sie konnte träumend spielen. Allerdings zwang Chris sie diesmal zu dieser Träumerei.

Ameli saß auf dem Bett und wiegte sich hin und her. Sie war fassungslos über sich und ihre Gedanken zu dieser Situation.

Aber was sollte sie tun?

Konnte sie das einfach so stehen lassen?

Chris hatte doch wohl eindeutig die Grenzen überschritten.

Sie fühlte sich so nackt und ausgeliefert und musste sich einfach irgendetwas von Chris zurückholen. Sie konnte jetzt nicht einfach sagen, gut kauf mir eine Streußelschnecke und die Sache ist vergessen. Sie musste auf der Ebene der Sexualität bleiben, nur so war für sie ein Ende denkbar. Ein Vergessen. Im Spiel.

Ameli schüttelte den Kopf. Chris raubte ihr langsam den Verstand. Mit ihm passierten ihr dauernd komische Sachen. Warum nur?

Sie fing an, sich innerlich auf dieses Spiel vorzubereiten. Sie dachte nicht weiter darüber nach, welchen Schmerz sie Chris damit zufügen könnte. Es fing an, ihr egal zu sein. Das Hier und Jetzt zählte. Sie schloss die Augen und fing an in ihre Traumwelt abzudriften und Ameli die Träumerin beherrschte sie in diesem Augenblick stärker als die wahre Ameli.

Mach es einfach, hörte sie sich noch sagen.

 

Als sie herunter ins Wohnzimmer kam, saß Chris mit zwei Gläsern Wein am Kamin. Was sollte das denn nun bedeuten? Vor ein paar Stunden war er noch total wütend auf sie und wollte unbedingt, dass sie wieder verschwinden sollte und nun saß er friedlich auf dem Sofa und grinste sie an.

Klar, dachte Ameli, nach dem was er eben gesehen hatte, kein Wunder. Nun erst recht, dachte sie. Ihr noch anfängliches Mitleid verflog nun augenblicklich. Doch typisch Mann.

„Ich habe den Wein in der Küche gefunden. Ich hoffe, es ist dir recht?“

Ameli nahm sich ein Glas und schaute ihn fragend an. Ihr Plan könnte aufgehen.

„Willst du hören, was ich gerade denke?“

Chris nickte mit dem Kopf.

„Mach die Augen zu und entspann dich“, sagte Ameli zu Chris. Daraufhin sah er sie mit noch größeren Augen an.

„Nun mach schon“, drängelte Ameli. Widerwillig gehorchte er ihr. Sie wartete noch einen Augenblick bis seine Augenlider ruhig wurden.

„Nun lass das, was du eben gesehen hast, in deinen Gedanken den Drehort eines Filmes sein“, sagte Ameli langsam. Sie merkte, wie sich bei Chris die Stirn kräuselte. Seine Augenlider flatterten. Sie musste lächeln.

„Lass die Augen schön zu. Ich bin nicht Ameli, sondern ein kleines freches Luder, eine Bitch. Ich liege im Schlafzimmer meiner Freundin und warte auf ihren Mann. Da mir langweilig ist, fange ich schon mal an, mich zu stimulieren. Du bist der Gärtner und stehst zufällig am offenen Fenster. Ich entdecke dich. Ich bin wütend über den Spanner. Ich bin aber auch wütend, weil mich der Mann meiner Freundin so lange warten lässt. Da ich den Gärtner, also dich, äußerst attraktiv finde, winke ich ihn heran. Auch der Gärtner, also du, ist nicht abgeneigt. Und bevor der andere Mann kommt, haben wir unseren Spaß. Danach verschwindet der Gärtner und es ist nie etwas passiert. Hörst du? Nie. Wie gefällt dir das?“

„Das sind also deine netten Spielchen? Ich wusste es, dass du irgendwie anders bist. Aber so?“, erwiderte Chris, als er die Augen öffnete.

Ameli war tief getroffen, sagte aber ruhig.

„Spielchen hin oder her. Mir würde es damit jedenfalls besser gehen. Ich finde es nicht lustig, dass du mich heimlich beobachtet hast und ich bin stinksauer. Vergiss das nicht. Ich könnte ja einen hysterischen Anfall kriegen oder versuchen, dich zu verprügeln. Aber wir könnten auch alles zu einem Spiel machen und das Spiel zu meinen Bedingungen zu Ende spielen. Und dann wäre es ein Spiel gewesen und wir könnten hinterher vielleicht gemeinsam darüber lachen. Was denkst du? Tust du mir den Gefallen?“

Chris dachte nach. Er schloss noch ein mal die Augen.

„Du spielst mit mir und meinen Gefühlen“, sagte er betroffen.

Ameli zog hörbar die Luft ein. Wie recht er hatte. Aber es sollte doch nur ein Spiel sein. Ein Spiel, um eine peinlich Situation zu löschen. Träumerei. Spiel. Film. Ihr wurde plötzlich selbst alles zu viel. Sie verlor selbst langsam den Überblick.

„Das will ich nicht. Du kannst gehen, wenn du willst. Ich will dich zu nichts zwingen.“ Sie nahm einen tiefen Schluck und schaute Chris fest in die Augen. Sie wusste, dass er nicht gehen würde. Aber ihr war fast danach einen Rückzieher zu machen. Das war wirklich nicht ihre Art, so zu spielen. Dieses Haus und Chris machten sie noch ganz verrückt.

Chris war hin und her gerissen. Eigentlich sollte er diese Frau auf der Stelle verlassen. Er wusste genau, dass er von ihr auf Dauer nicht das bekommen würde, was er sich wünschte. Sie hatte ihm gesagt, dass sie ihn nicht liebte. Aber er liebte sie, glaubte er zumindest bis jetzt. Sie war so umwerfend. Als er sie oben im Schlafzimmer nackt mit sich selbst beschäftigt sah, stockte ihm der Atem. Diese Bilder würde er nie vergessen, dass wusste er. Sie war so in sich versunken, dass sie nichts um sich herum wahrnahm. Er wollte dieses Gefühl mit ihr teilen. Hier und jetzt. Er konnte ihr dieses unmoralische Angebot einfach nicht abschlagen. Er war es ihr auch schuldig, we sie meinte. Seine körperliche Lust siegte über seinen Verstand.

„Mit deinem Blick zwingst du mich zu bleiben“, sagte Chris und spürte innerlich, dass er später dafür leiden würde. Er vergaß völlig, dass er eigentlich eine Erklärung von Ameli hören wollte, statt dessen ließ er sich nun in ihr Spiel einwickeln.

Ameli schaute ihn mit einem breiten Lächeln an. Sie wusste, dass sie die peinliche Situation nur so vergessen konnte. Sie konnte nicht erklären warum. Es war so.

Sie brauchte das Spiel dazu.

Es würde funktionieren.

Sie zog den Vorhang auf.

Die Bühne war frei.

 

„Komm, lass uns den Kamin anmachen. Ich hole ein paar Decken und dann können wir es uns hier richtig schön gemütlich machen. Holz ist draußen bei der Garage.“

Schon sprang Ameli auf und lief die Treppe nach oben.

Chris wunderte sich über Ameli. Was war das nur für eine Frau? Sie kam ihm innerhalb von wenigen Minuten verändert vor.

Was passierte hier überhaupt?

Warum ging er nicht einfach weg?

Es baute sich in ihm eine Spannung auf und er wurde immer neugieriger auf diese Frau. Langsam kam er sich selbst vor, wie ein Schauspieler in einem Film. Er war nicht mehr er selbst. Er ließ sich dirigieren. Das kam ihn fremd vor, aber er hatte keine Kraft in sich, dagegen zu steuern.

Er nahm die Rolle des Gärtners an.

Er stand auf und holte Holz für den Kamin. Als er zurück kam, hatte Ameli schon eine gemütliche kleine Kuschelecke vorm Kamin aufgebaut. Sie hatte den Tisch weggeschoben, Matratzen auf dem Boden gelegt und viele Decken und Kissen verteilt. Sie lächelte ihn viel sagend an. Im Hintergrund war leise Musik zu hören.

Chris lächelte zurück und fing an, das Holz im Kamin aufzuschichten. Er hatte den Feueranzünder vergessen und musste noch ein mal raus. Noch konnte er einfach verschwinden. Er lehnte sich an die Garagentür und dachte noch einmal über alles nach.

In ein paar Tagen würde Ameli wieder bei ihrem Freund sein und würde ihn vergessen. Warum machte sie das? Jetzt fiel ihm wieder die Erklärung ein, die sie ihm noch schuldig war. Auf der anderen Seite war sie aber auch ehrlich und ließ ihm die Wahl. Er wurde zu nichts gezwungen. Und dennoch zwang sie ihn, dachte er verzweifelt.

Im Augenblick konnte er gar nichts verstehen. Er wusste nur, dass er sie leidenschaftlich liebte und unbedingt zu ihr musste. Und warum sie das alles tat, obwohl sie ihn nicht liebte, dass wollte er später herausfinden und verstehen.

Entschlossen ging er wieder zurück zum Kamin. Er hörte sie lauthals in der Dusche singen. Sie sang nicht gerade schön. Er machte den Kamin an und wartete.

Ameli ließ sich alle Zeit der Welt.

Schließlich ging er ins Bad. Er schaute ihr beim Duschen zu und sie ließ es geschehen. Er betrachtete ihren wunderschönen schlanken Körper und ihre wohlgeformten festen Brüste durch die Glaswand. Warum hatte sie wohl keine Kinder, dachte Chris. Er hätte ihr stundenlang zusehen können. Sie verzauberte ihn. Er wollte alles von ihr haben, alles, jeden kleinsten Winkel ihres Körpers. Er sah sie wieder, wie sie stöhnend auf dem Bett lag, wie sich ihr Körper vor Lust aufbäumte und wie sie sich ganz ihrer eigenen Liebe hingab. Er hörte wieder ihr langgezogenes Stöhnen und ihre schrillen kurzen Schreie am Ende ihrer Lust. Das war einfach umwerfend.

„Komm her, hier ist Platz für zwei“, unterbrach Ameli seine Gedanken.

Wortlos zog sich Chris aus. Er fühlte sich ein wenig beklommen. So, vor den Blicken einer Frau, hatte er sich noch nie ausgezogen. Zaghaft ging er in die Duschkabine.

Amelis Haut glänzte vom Duschbad. Sie hatte nicht gerade damit gespart. Sie schmiegte sich sofort mit ihrem cremigen Körper an Chris und drängte ihn an die Wand. Sie küsste ihn lang und leidenschaftlich, während das warme Wasser auf ihren Rücken prasselte.

Chris schwanden die Sinne. Ein wohliges warmes Gefühl durchströmte ihn. Der Dampf in der Dusche machte alles noch aufregender. Ameli merkte sofort, dass sie bei ihm das Feuer entfacht hatte. Sie glitt langsam an ihm rauf und runter. Chris konnte nur noch stöhnen. Sie blieb in der Hocke und Chris schaute ihr zu, bei dem, was sie tat. Er wurde fast ohnmächtig. Mit einer schnellen Bewegung erhob sich Ameli, drehte ihm blitzartig ihren Rücken zu und wand sich geschmeidig an ihm. Ihre Gedanken schienen sich auf Chris zu übertragen. Sein Hände taten das, was sie tun sollten. Ihre Körper bebten. Ameli beugte sich ein wenig vor und Chris vollendete den Akt der Begierde mit lautem Stöhnen.

Sie hielten sich noch in den Armen und ließen das Wasser auf ihre Körper fließen. Ein langer Kuss ließ Ameli erschauern.

Ihr war schwindlig. Was tat sie nur?

Träum einfach weiter, sagte sie sich. Du musst träumen, Ameli.

Der Kamin strahlte indessen eine wohlige Wärme aus. Sie ließen sich in die Kissenhaufen fallen. Ameli träumte weiter vor sich hin. Sie lächelte in sich hinein und nahm ab und zu einen Schluck Wein. Das war genau das, was sie jetzt brauchte. Einfach nur die Seele baumeln lassen, keine aufreibenden Gedanken an irgendwelchen Mist und das Gefühl haben, weit weg zu sein, nicht da zu sein.

Chris beobachtete Amelis zufriedenes Gesicht. Er hätte zu gerne gewusst, was sie gerade dachte. Er wollte sie aber nicht stören. Sie sah so glücklich aus und schien zu träumen. Vielleicht sollte auch er einfach nur träumen.

Er war schließlich Gärtner.

Er schloss die Augen und versuchte sich fallen zu lassen. Es wollte ihm nicht gelingen. Seine Gedanken führten ihn immer wieder zurück zu Ameli. Er wollte unbedingt herausfinden, was sie hier wollte, was sie von ihm wollte, obwohl sie ihn nicht liebte.

„Ameli?“

„Hm.“

„Bist du jetzt zufrieden und geht es dir jetzt besser? Können wir dein Spiel beenden?“

„Ach, komm schon, sei kein Spielverderber, Chris. Wir haben doch gerade erst angefangen.“ Die Traumblase sollte jetzt noch nicht zerplatzen. Es war gerade alles so friedlich.

„Ameli, ich kann das nicht. Das ist mir zu krass. Ich bin über mich erstaunt, dass ich es überhaupt mitgespielt habe und mitspielen konnte. Als ich vorhin Holz holen war, wollte ich schon davonlaufen. Aber ich konnte nicht. Ameli, was machst du mit mir? Ich bin nicht mehr ich selbst. Du hältst mich gefangen. Du kannst doch nicht so tun, als wenn das hier ein Königreich wäre.“ Chris konnte nicht mehr an sich halten.

„Das klingt aber gut.“

„Man, Ameli, jetzt wach doch mal auf. Bitte.“

„Ja , verdammt noch mal, ich sollte aufwachen. Ich meine wirklich aufwachen.“ Sie schleuderte wütend ein Kissen in Richtung Chris. Warum musste er jetzt alles kaputtmachen? Sie fühlte sich ganz kurz wie ein kleines bockiges Kind. Wütend schaute sie ihn an.

„Aber manchmal will ich nicht aufwachen. Verstehst du? So wie jetzt. Das ist für mich gerade im Augenblick ein Ort der Geborgenheit. Ja, meinetwegen ein Königreich. Lass mich noch ein Weilchen darin“, flehte sie fast. Ameli nahm sich ein weiteres Kissen und drückte es liebevoll an ihren Bauch. Sie fuhr weiter fort. „Du hast ja Recht. Es ist wirklich Zeit, dass ich aus meiner Welt ausbreche und sie hinter mich lasse. Ich halte es ja selbst in ihr nicht mehr aus. Es erdrückt mich alles innerlich. Ich bin so unglücklich. Ich muss mich als Ameli neu finden, verstehst du? Manchmal glaube ich, ich muss mich überhaupt erst einmal finden. Ich fühle mich manchmal so unwirklich. Ich will hier herausfinden, was mich zu der Ameli gemacht hat. Dann will ich wieder zurückkehren und möglichst ein neues Leben beginnen. Und jetzt wirst du mich gleich fragen, was du damit zu tun hast, richtig?“

„Ja.“ Chris war ein wenig überrascht über ihren plötzlichen Stimmungswechsel und Redeschwall. So aufbrausend und dann wiederum unglücklich hatte er Ameli noch nicht erlebt. Er war gespannt auf ihre Antwort. Er wartete.

„Du warst hier überhaupt nicht vorgesehen, wenn du es genau wissen willst. Aber plötzlich warst du da. Als du vor mir standest, wollte ich dich, weil in mir eine unglaubliche Sehnsucht hochkam. Ich kann dir nicht sagen, was für eine Sehnsucht mich getrieben hat. Aber was ich dir ganz sicher sagen kann, ist, dass ich es nicht aus Liebe getan habe. Chris, es tut mir leid. Ich fühle mich einfach nur wohl in deiner Gegenwart. Ich merke, dass es ein schönes Gefühl ist. Aber du hast in meinem realen Leben kein Platz. Da bin ich mir sehr sicher. Ich werde dich immer mit diesem fremden Ort hier in Verbindung bringen. Wann immer ich hierher zurückkommen würde, würde ich es schön finden, dich hier wieder zusehen. Ja du bist mein Prinz in diesem Königreich.“

Chris musste schlucken. Die Antwort tat weh.

Ameli merkte es, es war aber auch ihre Absicht, sie musste ehrlich zu Chris sein. Sie wollte ihn nicht verlieren. Sie wollte ihn als guten Freund verlassen. Deswegen sagte sie weiter.

„Ich weiß, dass ich Dir weh tue. Ich will das nicht, das musst du mir glauben. Aber ich kann nicht anders. Ich brauche Dich hier irgendwie und ich brauche Dich wiederum nicht. Ich versteh es selber nicht. Ich merke nur, dass es so ist. Das ist so meine verrückte Art. Weißt du, wie bei einem Kind, dass nicht weiß, mit was es spielen will. Erst haben wollen, dann nehmen und dann wieder wegwerfen.“

„Ja toll, dann warte ich jetzt nur noch darauf, weggeworfen zu werden. Soll ich gleich gehen?“ Jetzt sah Chris wie ein kleines unglückliches Kind aus.

Ameli musste lächeln.

„Das habe ich doch nur so sinnbildlich gesagt.“ Sie musste an ihre Abende im Club denken. Im Grunde genommen lief dort das Spiel genauso ab. Nehmen, benutzen, wegwerfen. Zweck erfüllt. Beim nächsten mal gibt es einen anderen. Widerlich, dachte sie auf einmal. Darüber wollte sie später noch einmal nachdenken. Nicht jetzt. Jetzt musste sie bei Chris bleiben.

„Du bist mir zu schade um weggeworfen zu werden, Chris. Aber darin liegt ja das Tragische für dich. Du müsstest immer warten, bis ich hierher zurück kommen würde. Ins Königreich. Und dann würde ich dich wirklich nur für mich benutzen wollen. Das hast du schon ganz richtig festgestellt. Das ist doch abartig. Wer macht denn so etwas?“ Sie schaute ihn traurig an und sah in seinen Augen gar nichts. Völlige Leere, kein Entsetzen, keine Wut, kein Hass, keine Freude. Nichts. Ihr kam es so vor, als wenn Chris versuchen wollte ein Bild auszulöschen. Ihr Bild.

Ameli bekam Angst.

„Chris, nun sag doch was!“

Chris konnte das alles nicht verstehen. Aber er wollte es verstehen. Er war sich fast sicher, dass Ameli sich selber nicht richtig verstand. Das hatte sie ihm gerade deutlich gemacht. Den Schwachsinn nahm er ihr so irgendwie nicht ab. Da musste mehr dahinter stecken. Er musste sie dazu bringen, über sich zu erzählen. Er wusste, dass sie das nicht wollte. Vielleicht, so dachte er, war aber genau das der Schlüssel zum Verständnis. Deswegen musste er ihr diese Frage stellen.

„Ameli, warum gehst du mit mir und vielleicht ja auch mit anderen Menschen so um? Warum? Erzähl es mir bitte. Du hast einen Freund. Wozu brauchst du mich? Wir haben die ganze Nacht Zeit. Was hast du zu verlieren? Vielleicht kann ich dich ja dann ein wenig verstehen. Und du dich selbst auch.“

Chris Worte und sein einfühlsamer Blick bewirkten in Ameli einen Anstoß. Sie hatte wirklich das Gefühl, als wenn etwas in ihr ins Rollen kam. Kleine Teilchen hatte sie ja schon selbst gelockert. Sie musste jetzt weiter machen mit dem, was sie bereits begonnen hatte.

Ja, was hatte sie schon zu verlieren?

Auf einmal wollte sie graben, in sich suchen und herausfinden, was sie so werden ließ, wie sie war. Sie wollte alles aus sich herauskratzen. Bis aufs Blut. Sie fühlte in sich ein Anschwellen ihrer vergrabenen Gefühle, dass sie an sich halten musste. Sie verkrampfte so sehr, dass es ihr körperliche Schmerzen bereitete. Sie drohte zu zerplatzen. Ameli wollte den ihr bekannten Schmerz nicht mehr aushalten. Er sollte ihren Körper verlassen können.

Sie fühlte, dass sie sich Chris anvertrauen konnte. Sie fühlte, dass Chris ihr helfen würde. Ihr kam in den Sinn, dass sie in seiner Gegenwart schon einmal an Vertrauen gedacht hatte. Ganz am Anfang.

Sie wollte und musste ihm eine Erklärung für ihr Verhalten bieten. Sie war es ihm auch schuldig.

Er war plötzlich ganz nah an ihr dran. Zu nah. Es gab jetzt kein zurück mehr. Sie fühlte sich bereit für die Reise in ihre Vergangenheit und sie war sich sicher, dass es richtig sein würde. Zaghaft begann sie.

„Das ist aber gar nicht so einfach. Und ich weiß nicht so recht, wo ich anfangen soll.“ Ameli atmete tief ein und aus. Chris schaute sie aufmuntern an und in seinem Blick lag Ruhe und eine abwartende Haltung. Das machte Ameli Mut. Sie legte sich bequem in die Kissen zurück, schloss noch einmal die Augen und fing an zu erzählen.

„Wir hatten eine große Wohnung in einem großen Haus in Berlin. Mir kam es jedenfalls immer riesig vor und ich wunderte mich oft, warum meine Mutter mit mir alleine so eine große Wohnung hatte. Alle Zimmer hatten große Fenster und an der Decke war wunderschöner Stuck. Der Stuck in meinem Zimmer hatte für mich die Form einer strahlenden Sonne und mittendrin war ein riesiger Kristallleuchter. Herrlich. Zum Träumen schön. Dort konnte ich die Zeit vergessen und war einfach weg. Woanders. Immer, wenn mir irgendetwas nicht passte, oder, wenn ich ganz am Ende war, aber vor allem, wenn ich traurig war, dann verkroch ich mich in mein Zimmer, legte mich unter die Sonne und verschwand in meiner Traumwelt. Da konnte ich mich meiner Mutter entziehen. Ich habe viel geträumt in meinem Leben. Ich träume immer noch, wie du richtig bemerkt hast. Die reale Welt kommt von ganz alleine wieder zurück. Die ist ja da.“ Ameli machte eine kurze Pause. Dann fuhr sie fort.

„Also, die Zimmer waren alle durch Schiebetüren getrennt. Ich erinnere mich wieder, die ganze Wohnung hatte so etwas märchenhaftes für mich. Ich kam mir wirklich manchmal wie eine Prinzessin vor. Nein schlimmer, ich war zum Schluss eine Prinzessin. Meine Mutter war die Königin.“

Ameli machte wieder eine Pause. Wehmütig dachte sie an ihre Mutter. Sie hatte sie als eine hübsche große Frau in Erinnerung, die sich immer gut zurecht gemacht hatte. Sie sah sie in ihren schwarzen Gewändern durch die Zimmer wandeln. Sie trug immer nur schwarze Sachen und ihr Gang war langsam und schwer. Ihre ganze Haltung hatte stets etwas bedrückendes. Ameli merkte, wie sich eine schwere Last auf ihre Brust legte. Sie musste tief durchatmen. Dann sprach sie weiter.

„Ja, meine Mutter war eine Königin, aber keine gute. Sie war wie die Schneekönigin aus dem Märchen. Kalt und herzlos. In unserer Wohnung wurde nie gelacht. Richtig, wir haben nie miteinander gelacht. Wir haben auch kaum miteinander gesprochen. Kannst du dir das vorstellen?“ Chris schüttelte mit dem Kopf. Was sollte er dazu sagen?

„Es war bei uns meistens gespenstig still. Wir hatten auch kein Radio und Fernseher. Ich freute mich jeden Tag auf die Schule. Da gab es was zu hören und zu sehen. Mein Gott, wie konnte ich das nur ertragen? Es ist kaum vorstellbar, dass es wirklich so war. Aber es war so.“ Ameli wurde blass. Sie schüttelte fassungslos den Kopf. Sie wollte die Bilder nicht sehen. Aber sie zwang sich, sich weiter zu erinnern. Der Schmerz war da. Sie wollte ihn aushalten und besiegen. Sie wollte den Weg bis zum Ende gehen.

„Die Vorhänge waren meistens zugezogen, selbst die Sonne wurde ausgesperrt. Ich flehte meine Mutter oft an, dass sie mir die Sonne geben sollte. Meine Mutter wollte aber keine Begegnung mit der Außenwelt. Alles war schlecht und böse. Sie unterstrich es mit Dunkelheit und Kälte. Und auch ich wurde aus ihrem Leben ausgeschlossen.“ Ameli musste wieder eine Pause machen. Sie hielt es kaum noch aus, sitzen zu bleiben. Sie nahm ein Schluck Wein, um ihre aufsteigende Wut herunterzuschlucken. Sie merkte, dass es falsch war. Einem plötzlichen Impuls folgend schrie sie unerwartet laut los. Chris zuckte zusammen. Auch Ameli war über den Ausbruch erschrocken. Entschuldigend blickte sie zu Chris. Er nickte ihr aufmunternd zu, weiter zu erzählen. Ameli fasste sich wieder. Sie stellte das Weinglas entgegen ihrer Verfassung ganz behutsam ab.

„Ich bewegte mich immer ganz leise und vorsichtig. Ich wagte mich machmal kaum zu atmen. Weißt du, ich hatte immer das Gefühl, dass meine Mutter aus Glas sei. Sie wirkte auf mich unantastbar, glatt und zerbrechlich. Sie war für mich kostbar, wie eine Glaskugel. Ich dachte immer, wenn ich irgendetwas dummes oder schlimmes machen würde, dann würde sie zerspringen. Ich hatte ständig Angst, dass das passieren könnte. Ich äußerte mich kaum und wagte keinen Widerspruch. Ich wollte nicht Schuld daran sein, dass sie zerbrach.“

Ameli holte wieder tief Luft. Sie wurde sich der Schwere ihrer Worte bewusst. Sie fühlte ihre Angst so intensiv und sie konnte es zum ersten mal aussprechen. Es war wie eine Befreiung. Sie hatte endlich einen Mitwisser. Sie verspürte das Bedürfnis weiter tief in ihrem Innern zu graben und zu wühlen, in der Hoffnung, noch mehr Verstecktes frei zu legen.

Chris war geschockt. Er hätte nicht gedacht, dass diese lustige Frau so eine schlimme Kindheit in sich trug. Er verhielt sich ruhig und ließ Ameli Zeit, um sich zu sammeln. Er wollte keine Fragen stellen. Er spürte, dass Ameli bereit war ein großes Geständnis über sich abzulegen.

„Ich hatte also ständig Angst. Jetzt fällt es mir auch wieder ein. Ich kann es wieder richtig spüren. Ich duckte mich ständig, zog die Schultern ein, schlich, wie eine Katze im Haus herum und wagte kaum, meine Mutter um irgendetwas zu bitten. Ich wollte diese Angst loswerden. Ich hätte alles dafür getan. Ich wusste nur nicht was. Ich wollte eine Mutter, der ich auch mal in die Arme flüchten konnte. Ich sah aber immer nur ihre Traurigkeit und ich hatte immer das Gefühl, dass es wegen mir sei. Es war ja kein anderer da. Keine Oma, kein Opa, keine Tante, kein Onkel, niemand. Nur ich und meine Mutter. Aber sie sagte mir nie, dass ich etwas falsch machen würde. Manchmal lächelte sie, aber sie lächelte nicht mich an. Sie lächelte in die Leere. Sie umarmte mich auch nie. Du glaubst gar nicht, wie sehnlich ich mir das wünschte.“ Ameli schlang ihre Arme fest um ihren Körper, um sich zu halten. Es war ihre eigene Umarmung, wie so oft. Wie gern hätte sie die Arme ihrer Mutter gespürt. Sie sprach weiter. Ihr Blick war sehnsüchtig.

„Der einzige Lichtblick des Tages kam am Abend, wenn mir meine Mutter das Gute-Nacht-Lied vorsang. Es war die einzige Chance ihre liebliche Stimme zu hören. Sie saß auf meiner Bettkante, vermied aber jede Berührung. Sie schaute mich auch nicht an. Ich hoffte immer und immer wieder auf ein Wunder, dass meine Mutter mir irgendwann mal einen Gute-Nacht-Kuss geben würde oder mir über die Stirn streichen würde oder mich gar in die Arme nehmen würde. Dann wäre alles wieder gut, dachte ich. Dann bräuchte ich keine Angst mehr zu haben. Jahrelang hoffte ich vergebens darauf. Vielleicht hätte ich es ihr sagen sollen? Meinst du, sie hätte mir den Gefallen getan?“ Sie schaute Chris an. Sie sah einen ruhigen, abwartenden Blick in seinen Augen. Mitleid hätte sie jetzt nicht ertragen können. Sie merkte, dass sich ihre Kehle langsam zuschnürte.

„Ich habe in ihrer Gegenwart immer gefroren. Mit der Zeit wurde ich genauso starr wie sie. Zum Schluss waren wir zwei erstarrte Personen.“ Ameli liefen Tränen übers Gesicht. Sie schluchzte nicht, die Tränen liefen einfach nur aus ihren Augen.

„Meine Mutter hat mich zu einer erstarrten Person gemacht. Meine Gefühle sind dicht. Ist das ein Wunder?“ Ameli flüsterte nur noch.

„In mir kämpften immer zwei Seiten. Ich lebte so lieblos mit meiner Mutter zusammen. Auf der anderen Seite sah ich aber auch bei meinen Freundinnen, dass es auch anders ging. Ich beneidete sie um ihre liebevollen Mütter. Ich durfte es nie erleben. Ich liebte aber meine Mutter. Sie war doch das Einzige, was ich hatte. Irgendwann später, fing ich dann aber an, meine Mutter für ihre Herzlosigkeit zu hassen. Ich sammelte die Wut in mir. Irgendwann musste sie ja mal zum Ausbruch kommen. Ich konnte dieses trostlose Leben nicht mehr so ohne Weiteres leben. Ich stellte mich zum offenen Kampf. Ich wollte sie wohl irgendwie damit erreichen. Ich wollte ihre Liebe. Ich forderte sie heraus. Ich fing an meine schönen langen Haare abzuschneiden, bis hin zu einer Glatze. Ich verunstaltete mein Zimmer. Ich strich die Wände knallrot. Ich kam spät nach Hause. Ich hörte nicht mehr auf sie. Ich machte Sachen, von denen ich genau wusste, dass sie meiner Mutter nicht gefallen würden. Aber sie reagierte nicht. Sie schimpfte nicht einmal. Sie ließ mich einfach nur machen. Sie nahm den Kampf nicht an. Das war genauso schlimm für mich. Nein, es war noch schlimmer. Hatte ich das ganze Leben keine Liebe von ihr erfahren, so wurde ich nun auch einfach noch ignoriert. Ich fühlte mich weggeworfen, schwach und wie ein großer Verlierer. Ich war ein Nichts.“ Ameli saß da und nickte still vor sich hin. Sie drückte wieder das Kissen an sich, wie zu ihrer eigenen Sicherheit. Sie hatte sich, während sie erzählt hatte, aus den ganzen Kissen um sich herum einen Schutzwall gebaut. Sie saß wie in einer Festung fest.

„Dann, irgendwann, konnte ich nicht mehr bei meiner Mutter bleiben. Ich musste gehen. Ich wollte Ich sein, wusste nur nicht wie das geht. Ich hatte ja kein Ich. Ich war eine leere Existenz. Und so fühlte ich mich auch. Ich wollte für mich alleine ein neues Leben mit meinem eigenen Ich finden. Ich habe es bis heute nicht gefunden.“

Ameli nahm wieder einen Schluck Wein. Sie schaute in das flackernde Feuer des Kamins. Das Knistern der Holzscheite hatte etwas Beruhigendes. Ameli ließ es auf sich wirken.

Chris saß wie ein stiller Zuhörer auf seinem Platz. Er wagte sich nicht zu bewegen. Er wollte Ameli nicht stören. Wenig später fuhr sie fort.

„Also mit 16 nahm ich dann Reißaus. Sie ließ mir letztendlich keine andere Wahl. Wenn du wüsstest, wie oft ich später in meinem Leben einfach so vor meinen Problemen davonlaufen bin. Nun ist mir klar, warum. Mein ganzes Leben bei meiner Mutter war haltlos. Und ich kann nicht sagen, dass es mir jemals gelungen ist, irgendwo Halt zu finden. Mich treibt es immer wieder weg. Ich will immer wieder alleine sein. Und das Schlimme ist, wenn mir irgend jemand Halt geben möchte, kann ich es nicht ertragen. Es tut weh. Denn ich habe immer die Angst, dass ich ihn enttäuschen würde, oder er mich. Ja, verdammter Mist. Ich habe kein Vertrauen. Weder in mich, noch in andere.“

Ameli schloss die Augen. Sie musste an Lucas denken. Würde sie es schaffen, immer bei ihm zu bleiben? Ganze fünf Jahre dauerte jetzt schon ihre Beziehung, aber auch nur, weil sie ihren Panzer nicht ablegen musste, weil Lucas so unendlich viel Verständnis mit ihr hatte. Sie verspürte plötzlich Sehnsucht nach Lucas. Ihr wurde heiß. Sie müsste mit Lucas darüber reden. Sie müsste ihm erklären, warum sie so ist. Das wurde ihr jetzt klar. Nur so hatten sie weiter eine Chance. Sie war es ihm schuldig. Mehr als das.

Ihr wurde auch klar, dass sie durch das Reden mit Chris langsam anfing, sich selbst besser kennen zu lernen und zu verstehen. Sie musste endlich aufhören zu schweigen. Sie wollte und musste sich so akzeptieren, wie sie war. Sie nahm zum ersten mal bewusst wahr, dass sie sich so, wie sie war, aus ihrer Kindheit heraus entwickelt hatte. Sie konnte es nicht mehr rückgängig machen. Auch ihre Mutter nicht. Schuldfrage hin oder her. Sie musste jetzt damit leben. Aber sie hatte die Chance, sich zu verändern.

Sie stöhnte auf. Sie spürte, dass ein hartes Stück Arbeit auf sie wartete. Nach der kurzen Pause fing Ameli wieder an zu erzählen. Chris hatte schon Angst, dass Ameli abbrechen würde. Erleichtert atmete er auf, als sie wieder anhob zu reden.

„Ich habe meine Mutter nach einem großen Streit verlassen. Es ging um meinen Vater. Ich wollte zum wiederholten mal wissen, warum er sie verlassen hatte und warum er sich nie bei mir gemeldet hatte.“ Ameli erzählte Chris die Geschichte ihrer Mutter.

„Ich war gleichzeitig wütend und traurig. Das heißt, ich konnte mit dieser geballten Enttäuschung überhaupt nicht umgehen. Ich wollte nur noch weg. Seitdem habe ich meine Mutter nie wieder gesehen. Und ich habe mich auch angestrengt sie zu vergessen.“ Traurigkeit lag jetzt in Amelis Augen.

Chris konnte überhaupt nicht begreifen, dass so etwas möglich war. Er stellte sich vor, dass er seine Eltern jahrelang nicht sehen würde, das war einfach unvorstellbar. Sicher gab es auch mal Unstimmigkeiten und Auseinandersetzungen in seiner Familie, aber diese wurden spätestens am nächsten Tag geklärt. Und dann war alles wieder in Ordnung. Er konnte sich aber sehr gut vorstellen, wie sich Ameli gefühlt haben musste. Plötzlich stand sie als ungeliebtes Kind da. Da musste ja eine Welt in ihr zusammenbrechen. Aber, dass sie bis jetzt zu ihrer Mutter keinen Kontakt aufgenommen hatte, das war für Chris unglaublich. Sie musste sehr tief gekränkt und enttäuscht gewesen sein. Chris hatte immer von seiner Mutter Liebe erfahren. Es gab für ihn nichts Schöneres als an ihren üppigen Busen gedrückt zu werden. Sie war eben seine Mutter. Dass Ameli nie gedrückt wurde von ihrer Mutter und all die körperliche Liebe missen musste in ihrer Kindheit, machte ihn mit einem mal sehr traurig. Er wollte Ameli in die Arme nehmen, aber sie starrte geradeaus und war für seine Gefühlsäußerung nicht offen, wie er bemerkte. Deswegen blieb er weiter still und wartete ab.

Ameli war erschöpft. Sie merkte immer mehr, wie sich die Schwere, die Anfangs nur auf ihrer Brust lastete, langsam durch ihren ganzen Körper zog. Sie war nicht mehr fähig aufzustehen. Sie war aber noch nicht am Ende ihrer Geschichte. Nun wollte sie Chris auch noch den Rest ihres Lebens erzählen.

„Dann hatte ich meinen ersten Freund. Ich wollte ihn festhalten, ganz fest, aber ich habe ihn verloren, weil ich unser Kind abgetrieben hatte. Ich war ja selbst noch ein Kind und hätte gar nicht gewusst, was ich mit einem Baby anfangen sollte. Und außerdem wollte ich nie Kinder haben, schon damals nicht und auch heute nicht. Da bleibe ich konsequent bei meiner Meinung. Ich bin nicht fähig dauerhafte Liebe zu geben. Ich wäre für ein Kind eine genauso schlechte Mutter, wie meine Mutter. Und das will ich nicht. Ein Kind verdient das nicht.“ Nein, dachte Ameli still für sich, so wie ich sollte kein Kind aufwachsen.

„Übrigens, habe ich von hier aus Kontakt zu meiner Mutter aufgenommen. Mir ist hier in den ersten Tagen bewusst geworden, dass meine Mutter aus ihrer Situation heraus, ihr bestes für mich getan hatte. In so kurzer Zeit ein Kind und den Mann zu verlieren, ist nicht Ohne. Sie hat mich materiell immer gut versorgt. Mehr war für sie nicht möglich, denke ich mittlerweile. Obwohl das keine Entschuldigung ist, ich weiß. Aber ich werde ihr verzeihen, obwohl sie mir eine schwere Last aufgebürdet hat. Ich kann keine normalen liebevollen Beziehungen eingehen. Ich habe als Kind keine Liebe empfangen und ich kann irgendwie keine Liebe geben. Ich weiß nicht, wie das richtig geht. Es fühlt sich manchmal alles so leer und kalt in mir an. Und manchmal schäume ich über. Das ist schwer auszuhalten. Das kann sich keiner vorstellen. Sei froh, dass du solche zerrissenen Gefühle nicht kennst. Ich bin machmal ganz oben und manchmal ganz unten. Es ist selten, dass ich die Balance halten kann. Wenn das der Fall ist, dann sind das meine glücklichsten Zeiten. Dann bin ich auch mal zufrieden. Aber wie gesagt, das ist selten. Meistens bin ich unzufrieden, immer auf der Suche nach irgendetwas, was ich selbst nicht benennen kann. Ständig tobt ein innerer Kampf in mir. Ich komme nie an, weil ich nicht weiß, wo ich hin will. Verstehst du? Ich bin unberechenbar. Ich habe mich noch nie anders erlebt. Und wenn es ganz schlimm wird, flüchte ich mich eben in meine mir vertraute Traumwelt. Träumen ist schön und träumen tut nicht weh.“

Ameli hörte auf zu reden. Es war schon weit über Mitternacht. Die Scheite im Kamin waren langsam heruntergebrannt. Chris war vom Zuhören genauso erschlagen, wie Ameli vom Erzählen.

„Ich danke dir, dass du mich nicht unterbrochen hast, Chris. Weißt du, seit ich hier bin, beschäftige ich mich mit meinem Leben. Soviel, wie ich hier geweint habe, habe ich mein ganzes Leben noch nicht geweint. Aber es musste sein. Irgendwann musste doch der Zeitpunkt mal kommen, oder? Ich will anfangen mich bewusst zu spüren. Ich will leben und nicht immer das Gefühl haben, ungeliebt zu sein. Ich ziehe mich nämlich immer rasch zurück, weil ich auch denke, dass ich den anderen auf die Nerven gehe, oder, dass ich etwas falsch machen könnte. Aus Schutz vor Enttäuschungen will ich dann lieber für mich alleine sein. Ich muss jetzt endlich anfangen, die Zusammenhänge zu verstehen, mich bewusst wahrzunehmen und mich erst mal so zu akzeptieren, wie ich bin. Ich werde lernen müssen, mit meinen Verhaltensweisen so umzugehen, dass das Leben auch für mich schön wird. Und das Allergrößte wäre, wenn ich mich verändern könnte.“ Sie schaute zu Chris hinüber.

„Ich will diese Traumwelt nicht mehr. Ich will endlich im realen Leben ankommen.“ Ameli war wirklich sehr erschöpft.

Chris nickte nur. Das war alles ein wenig zu viel für ihn. Er hielt ihr seine Hand entgegen. Er wollte bei ihr sein. Er wollte ihr Halt geben.

Ameli nahm sie dankend an und robbte zu ihm rüber. Sie schmiegte sich wie ein kleines Kind an seine Brust und genoss dieses Zutrauen. Sie spürte ehrliche Zuneigung in Chris Umarmung und erwiderte sein Begehren, indem sie sich halten ließ.

Sie wollte sich nur halten lassen. Das musste reichen. Chris verstand.

Eine warme Woge umspülte sie und sie musste weinen. Sie dachte an ihre Mutter und wähnte sich für einen Augenblick in ihren Armen. Sie weinte Tränen der Erleichterung und Chris weinte lautlos mit ihr mit. Sie schaute ihm in die Augen und seine Anteilnahme rührte sie.

Plötzlich überrollte Ameli eine unglaublich starke Gefühlswelle. Sie stieg langsam in ihr hoch und brach dann auf.

Gewaltig.

Unvorhergesehen.

Sie dachte sie müsse zerspringen.

Was ging in ihr vor?

Was wollte sie?

Wie ein wildes Tier machte sie sich plötzlich über Chris her. Sie wollte jemanden verletzen. Sie wollte jemanden Schmerzen zufügen. Der andere sollte genauso leiden, wie sie die ganze Zeit gelitten hatte. Als wenn für sie damit alles wieder in Ordnung käme.

Sie sah für einen kurzen Augenblick nicht Chris sondern ihre Mutter verschwommen vor sich. Sie krallte sich in seinem Rücken fest, hinterließ mit ihren Fingernägeln blutige Spuren. Sie hämmerte mit ihren Fäuste auf seinen Rücken ein, sie schrie und bäumte sich auf. Ihr geballter Schmerz, ihr Hass und ihre Wut auf ihre Mutter, ihre eigene angestaute Wut auf sich selber, auf ihre Unfähigkeit zu lieben und geliebt zu werden, bahnte sich einen Weg nach außen. Sie brauchte den wilden Kampf, um den Schmerz, den sie jahrelang in sich trug, zu besiegen.

Sie trieb Chris verbal und körperlich an. Chris musste diese Aufgabe annehmen, ihm blieb gar keine andere Wahl. Auch er wurde zum Tier und sie lieferten sich einen harten Kampf. Immer wenn Chris dachte, er könnte sie bezwingen, änderte Ameli ihre Stellung und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Sie gab alles.

Chris wurde langsam wütend, weil er dachte, dass wäre wieder ein verrücktes Spiel von Ameli.

Aber Ameli spielte nicht. Sie brachte ihre ganze Unstimmigkeit mit sich selbst in das Liebesspiel ein. Sie fand kein Ende und rang verzweifelt mit sich.

Sie stöhnte, aber nicht vor Lust.

Irgendwann hatte Chris genug. Er setzte seine ganze Kraft ein und brachte sie zum Schweigen. Schweißüberströmt lag er auf ihr und sie konnte sich nicht mehr rühren.

Sie hatte hart gekämpft und er hatte sie besiegt.

Er wusste mit einem mal, dass er sie damit tief getroffen hatte. Gerade hatte sie ihm stundenlang erzählt, dass ihr ihr ganzes Leben wie eine Niederlage vorkam. Sie hätte jetzt über ihn sitzen müssen und ihm triumphierend in die Augen schauen müssen, dachte er verzweifelt. Was hatte er nur getan?

Ameli war ganz still. Sie lag da wie ein Brett.

Langsam und ganz bedächtig schob sich Chris von ihr. Er schaute sie von der Seite an. Ameli erwiderte seinen Blick nicht. Sie kam sich tatsächlich besiegt vor. Das tat weh. Sehr weh.

Dann wiederum schämte sie sich für ihre Wildheit. Sie hätte sich am liebsten verkrochen. Oder auch nicht? Sie wusste wieder nicht, wie sie sich fühlen sollte. Was war nur los mit ihr? Tränen liefen aus ihren geschlossenen Augen.

Dann spürte sie auf einmal, wie Chris wieder anfing sie sanft zu berühren. Das tat gut. Unendlich gut.

Sie hielt die Augen geschlossen und ließ sich die Wunden lecken. So musste es sein, dachte sie, wenn ein Muttertier nach einem harten Kampf ihr Kind versorgt. Sie gab sich hin und genoss diese warme Zuwendung. Sie dachte nicht an Chris, sie dachte nicht an Lucas, sie dachte nur an ihre Mutter. Ihre Mutter war da. Endlich.

Sie wand sich im Rausch und als sie kam, schrie sie nach ihrer Mutter.

Chris zeigte sich überrascht.

Aber Ameli konnte schnell verstehen, was eben passiert war und sie lächelte Chris an. Ihre tiefste Sehnsucht nach Mutterliebe wurde durch die gedankliche Übertragung im tierischen Liebesakt durch Chris gestillt. Sie wusste, dass das nur geschehen konnte, weil sie sich die ganze Zeit innerlich mit ihrer Mutter auseinandergesetzt hatte.

Dankbar umarmte sie Chris, der nicht wusste wofür. Aber er sah Amelis glücklichen Augen und das reichte ihm.

Völlig erschöpft schlief er ein.

Ameli war wieder wach.

Hellwach.

 

Sie dachte über das eben Erlebte nach.

Plötzlich überkam sie eine tiefe Traurigkeit. Es hatte mit Chris zu tun.

Es lag offen vor ihr.

Sie sah die erste Begegnung mit Chris vor sich. Das war nach der Nacht, als sie das erste mal nach langer Zeit an ihre Mutter gedacht hatte. Und nun erkannte sie ganz deutlich, dass bei allen Begegnungen mit Chris immer irgendwie ihre Mutter eine Rolle in ihren Gedanken gespielt hatte. Chris verkörperte ihre Mutter. Deswegen empfand sie Chris also immer als wertvoll.

Aber das war noch nicht alles.

Irgendetwas betrübte sie noch.

Sie dachte weiter nach.

Sie dachte an ihr Geheimnis.

Auch das kam ihr in letzter Zeit andauernd in den Sinn.

Sie war froh, dass sie es für sich behalten hatte. Fast hätte sie es erwähnt. Ihr war mittlerweile klar, dass sie immer dann den Club aufsuchte, wenn ihre seelische Not sie erdrückte.

Aber warum musste sie dazu aus Lucas Armen fliehen?

Ihr kamen die Erinnerungen an ihren ersten Besuch im Club. Das war, als sie den langen Trennungsschmerz nicht mehr aushalten konnte und sie an einem Punkt angekommen war, wo etwas passieren musste. Nach dem Besuch fühlte sie sich frei. Sie hatte damals das Gefühl, dass sie sich mit dem fremden Sex am fremden Ort entladen konnte. Sie hatte die Anspannungen einfach weggeschafft. Unwiderruflich. Sie konnte sich frei machen von ihren negativen Gefühlen bei einem ihr unbekannten Mann. Die innere Reinigung für sich funktionierte dort. Nach dem ersten Clubbesuch hatte sie das Gefühl, wie neugeboren zu sein. Sie konnte wieder mit neuer Kraft von vorne anfangen. Es wurde zum Muster.

Fremder Ort , fremder Mann, neue Ameli.

Ameli stand auf und ging zum Fenster. Der neue Tag schälte sich bereits aus der Nacht. Chris lag friedlich hinter ihr und schlummerte tief und fest. Er schnarchte leise. Ameli musste darüber lächeln. Auch Lucas schnarchte.

Lucas. Sie kam wieder zu ihrer Frage zurück. Warum konnte sie nicht mit Lucas Hilfe ihre seelische Not in Griff kriegen? Warum fremde Männer?

Die Frage war schwer für sie zu beantworten. Sie fand lediglich heraus, dass sie Lucas damit nicht belasten wollte. Sie wollte nicht mit Lucas ihr Leid teilen. Sie wollte es ganz loswerden. Sie wollte frei davon sein. Sie wollte sich einfach nicht damit auseinandersetzen. Ihr Drang immer wieder ein neuer Mensch sein zu wollen, ließ leider nicht nach.

Sie begriff schwach, dass mit Vertrauen vielleicht keine seelische Not entstehen würde?

Sie schaute sich wieder zu Chris um.

Was hatte sie nur mit ihm gemacht? Tiefe Traurigkeit legte sich auf Ameli. Sie ging in die Knie.

Auch Chris war ein fremder Mann für sie. Sie konnte es drehen und wenden, wie sie es wollte. Letztendlich hatte sie natürlich auch ihn für ihre Zwecke missbraucht.

Was wäre, wenn er nicht hier gewesen wäre?

Ameli schaute fragend zu Chris, der zusammengerollt, wie ein kleines Kind zwischen den Decken lag. Sie war sich sicher, dass sie ohne ihn nicht so weit gekommen wäre. Ihr wurde bewusst, dass sie ihm ihr Leben anvertraut hatte. Er wusste mehr von ihr, als Lucas in fünf Jahren von ihr erfahren hatte. Er hatte es geschafft sie zu öffnen. Wie war das nur möglich?

Ihr wurde klar, dass sie es hauptsächlich durch seine Anwesenheit geschafft hatte, in sich hinein zu spüren, Gefühle wahrzunehmen und Gedanken über ihre Vergangenheit und über ihre Mutter zuzulassen. Mit seiner Hilfe fing sie auch endlich an, ihre Fragezeichen aufzulösen.

Anders, Chris hatte sie regelrecht dazu gedrängt.

Er schuf die Verbindung zu ihrer Mutter und regte sie an, über sich zu erzählen. Bisher hatte sie Angst vor sich und ihren Gefühlen. Sie hielt sich und sie versteckt. Aber mit Chris an ihrer Seite fühlte sie sich gehalten. Sie konnte aufwachen und ihre Gefühle wecken.

Dankbar und traurig schaute sie zu Chris. So klar hatte sie schon lange nicht mehr gedacht. Chris hatte seine Aufgabe erfüllt. In wenigen Tagen würde sie wieder in ihr Leben zurückkehren, zu ihrer Liebe, zu Lucas.

Ameli wollte sich auch endlich schlafen legen. Sie nahm noch ein Schluck Wein und legte sich leise neben Chris. Sie konnte jedoch nicht schlafen. In ihrem Inneren schrie es auf einmal: Liebe, Sex, Geborgenheit, Treue, Freundschaft, Fremdgehen, Ehrlichkeit.

Ameli sträubte sich, jetzt auch noch darüber nachdenken zu müssen. Sie wollte wirklich schlafen. Aber es machte sich wieder ihre unglaubliche Zerrissenheit in ihr breit. Was ihr eben noch klar erschien, war jetzt schon wieder undurchsichtig und fragwürdig. Es ließ ihr keine Ruhe. Das war und blieb noch ihr großes Dilemma. Sie schwankte ständig in ihren Ansichten. Sie konnte sich auf nichts verlassen, am allerwenigsten manchmal auf sich selbst.

Sie schloss die Augen und fühlte sich plötzlich wieder so unendlich alleine mit ihren eigenartigen Gefühlen. Ihr wurde schlecht. Sie stand wieder auf und ging ans Fenster.

Sie quälte sich mit der Frage des Fremdgehens. Ging sie wirklich fremd? Oder konnte sie es als ihre Eigenart entschuldigen? Schließlich konnte sie ihr inneres Gleichgewicht immer wieder nur herstellen, wenn sie mit fremden Männern schlief. Aber wollte sie und musste sie es weiter tun, jetzt nachdem sie wusste, warum sie es tat?

Sollte sie nicht endlich versuchen, mit Lucas gemeinsam eine Lösung zu finden? Oder sollte sie weiter Dauer fremdgehen, nur weil sie ihr eigenes Leid nicht mit Lucas teilen wollte und konnte. Sollte sie sich weiter bei anderen Männern die Kraft holen, um ihre Beziehung, ihre Liebe zu Lucas, sorgenfrei leben zu können? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es auf der ganzen Welt noch jemanden gab, der das Gleiche Leid mit ihr teilte. Es war ja nicht so, dass sie monatlich das Bedürfnis verspürte sich zu erneuern. Nein. Aber ein oder zwei mal im Jahr kam es schon vor.

Ameli wurde schwindlig. Wer würde das je verstehen können? Warum musste ausgerechnet sie nur so anders sein, als all die Anderen?

Sie ging leise auf und ab. Sie fröstelte leicht und holte sich eine Decke. Sie stellte sich wieder zurück ans Fenster. Sie musste dauernd den Kopf schütteln und war fassungslos, was mit ihr abging. Sie wollte schreien, sie wollte mit der Hand die Fensterscheibe einschlagen, sie wollte sich selber wehtun, aber sie sank nur zusammen und weinte. Sie weinte wieder genauso bittere Tränen, wie am Anfang, als sie hier ankam. Trotzdem fühlte sie sich schon ein Stückchen weiter. Und sie wusste, dass es weiter gehen würde. Es war wieder so ein kleiner innerer Zusammenbruch. Es war einfach alles zu viel für sie.

Ameli schloss die Augen. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Ihr Geist ließ sie aber noch nicht zur Ruhe kommen. Wie verhielt es sich denn nun mit der Liebe zu Lucas?

Sie fing an, ihre Beziehung zu Lucas in Augenschein zu nehmen.

Was war das für eine Beziehung zu ihm?

War das wirklich Liebe?

Oder machte sie sich nur was vor?

Brauchte sie die Beziehung nur zum Leben?

Was ist Liebe?

Sie war auf einmal wieder hellwach. Ihre Gedanken brachten ihr Blut in Wallung. Sie fing an zu schwitzen. Ihr Hirn sagte ihr immer wieder: Ich liebe Lucas. Daran gibt es keinen Zweifel. Sie sagte sich schlicht, wenn sie Lucas nicht lieben würde, dann würde sie sagen, ich liebe ihn nicht. Sie kannte sich doch? Oder nicht? Sollte das so einfach sein? Hatte sie Lucas jemals gesagt, dass sie ihn liebte? Nein. Und ihr Gefühl? Wo war ihr Gefühl?

Ameli erörterte für sich zum ersten mal den Begriff der Liebe. Es gab für sie Tausende Formen der Liebe. Wer konnte schon sagen, was Liebe wirklich ist? Sie war sich sicher, dass jeder eine andere Antwort parat hätte.

Aber dann fing sie an zu fühlen, was passieren würde, wenn Lucas nicht mehr da sein würde, wenn sie ihn nicht mehr hören könnte, wenn sie ihn nicht mehr berühren könnte und wenn er nicht mehr für sie da sein würde. Sie konnte sich das alles nicht vorstellen. Ihr würde sein Lachen fehlen, seine Wärme, einfach alles. Er tat ihr so unglaublich gut. Ein Leben ohne Lucas käme ihr dem Tod gleich. Lucas war ihr Leben. Ohne ihn ging gar nichts.

Auf einmal fühlte sie in ihrem Herzen tiefe Liebe zu Lucas. Es durchflutete sie mit einer Intensität, dass sie dachte, ihr Herz würde zerspringen. Sie legte beide Hände auf ihr Herz und fühlte das kräftige Pochen. Dieses Gefühl überwältigte sie dermaßen, dass sie vor Glück anfing zu weinen. Wärme machte sich in ihrem Körper breit. Sie spürte, dass sie in Lucas längst das gefunden hatte, was sie jahrelang vermisst hatte. Sie wusste auf einmal, dass sie etwas ganz Besonderes in den Händen hielt, es nur noch nicht so wahrgenommen hatte. Lucas hatte ihr jahrelang vertraut und hatte jahrelang zu ihr gehalten und Ameli wusste, dass sie ihm dieses Vertrauen jetzt zurückgeben würde. Sie fühlte seine Liebe aus der Ferne und ihre eigene Liebe zu ihm. Sie fühlte sich in Lucas aufgenommen und spürte, dass sie ihn auch aufnehmen wollte.

Jetzt werden wir eins werden, murmelte sie.

Das war das Wir, was Paul damals von ihr wollte. Jetzt war es bei ihr endlich angekommen, was er meinte.

Mit diesem berauschenden Gefühl legte sie sich leise neben Chris. Jetzt war sie sich sicher, dass sie mit Chris nicht mehr schlafen musste. Auch nicht mehr als Traum-Meer-Mann.

Der Traum war vorbei.

Endlich konnte beruhigt einschlafen.

 

***

Samstag

Chris hatte die Nacht schlecht geschlafen und schlecht geträumt. Er wurde immer wieder wach und sah, dass Ameli tief in sich versunken auf und ab ging, verzweifelt weinte oder aus dem Fenster schaute. Er ließ sie mit ihren Gedanken alleine. Er war selbst völlig durcheinander und überfordert. Es war schwierig für ihn, alles auf eine Reihe zu bringen und alles so zu verstehen, dass es einen Sinn für ihn machte.

Er verstand, dass Ameli eine lieblose Kindheit hinter sich hatte und ziemlich früh auf sich alleine gestellt war. Er wusste, warum sie keine Kinder wollte und er wusste, dass sie mit sich unglücklich war. Was er noch nicht verstanden hatte, war, warum sie mit ihm schlief, obwohl sie ihn nicht liebte und obwohl sie einen Freund hatte. Die ganze Sache mit dem Freund konnte er allerdings überhaupt nicht einordnen.

Ihm wurde aber immer schmerzlicher bewusst, dass er sich wirklich Hals über Kopf in Ameli verliebt hatte. Und nach allem was sie ihm erzählt hatte, sah er für sich keine Chance.

Sie liebte ihn nicht, das glaubte er ihr aufs Wort.

Verzweifelt schloss er wieder die Augen. Es tat weh. Es tat ihm richtig weh, dass er Schwierigkeiten hatte, ruhig zu atmen. Er konnte nicht mehr still neben ihr liegen bleiben. Er musste ganz schnell weg von ihr. Panikartig griff er nach seinen Sachen und verließ fluchtartig das Haus.

Erst am Strand konnte er wieder tief durchatmen.

Warum musste ausgerechnet ihm das passieren?

Er ließ sich auf die Knie fallen und es umfing ihn eine seltsame Leere. Aber er konnte den Kummer nicht aussperren. Kraftlos stand er auf und ging in die falsche Richtung nach Hause.

 

Ameli dagegen wachte mit neuer Kraft im Herzen auf. Ihre ersten Gedanken gingen sofort zu Lucas. Sie lächelte. Sie freute sich auf das Wiedersehen mit ihm.

Sie schaute sich um und sah das herbei geträumte Liebesnest, welches sie mit Chris letzte Nacht geteilt hatte. Sie hob die Augenbrauen und atmete tief durch. Ihr wurde klar, dass in der Nacht etwas ganz Entscheidendes passiert war. In Gedanken durchlebte sie noch einmal den Liebeskampf, den sie sich mit Chris geliefert hatte. Sie musste noch eine Erklärung dafür finden. Eine plausible Erklärung.

Ameli versuchte sich ihrer Gefühle bewusst zu werden. Sie wollte sie noch einmal nachspüren und sie fasste die Nacht für sich zusammen. Sie musste ihre eigenen Worte hören:

Nach der Offenbarung meiner inneren Gefühle aus meiner Kindheit fühlte ich mich wie ein nacktes Baby. Hilflos, verletzlich und schwach. Ich wollte es nicht sein. In mir bäumte sich eine unglaubliche Wut auf. Ich musste kämpfen. Ich wollte endlich gewinnen. Ich wollte alles an mich reißen. Ich wollte die Stärkere sein. Armer Chris. Du musstest dafür herhalten. Ich wollte das erlangen, was ich in meinem bisherigen Leben noch nicht erlangen konnte. Ich wollte Macht. Aber was nutzt mir diese Macht? Es ist eine unbedeutende Macht. Das was ich brauche ist eine innere Stärke zu mir selbst. Du hast mich besiegt. Das war eine bittere Niederlage für mich. Für den Augenblick habe ich dich dafür gehasst. Ich fühlte mich niedergeschmettert, alleine gelassen. Und ich fühlte eine unheimliche Angst. Doch dann kamst du wieder und holtest mich liebevoll in deine Arme zurück. Ich fühlte mich gehalten und ich wollte gehalten werden. Das war das erste mal, dass ich mich nach einer Verletzung nicht zurückgezogen habe. Du hast mich beachtet und hast mich ernst genommen mit meiner Qual. Ich habe mich trösten lassen. Chris du hast in der ganzen Zeit mein Wunschbild von meiner Mutter verkörpert. Ich wollte immer eine Mutter, die mir liebevoll bei Leid und Freud zur Seite steht. Und weißt du, in der ganzen Zeit habe ich immer an meine Mutter gedacht. Deswegen rief ich beim Höhepunkt nach meiner Mutter. Ich fühlte mich ihr so unheimlich nah.

Ameli hätte diese Worte gerne an Chris direkt gerichtet. Aber er war nicht mehr da. Als sie sich nun dessen bewusst wurde, was Chris ihr vor Augen gehalten hatte, wurde sie abermals von ihren Gefühlen überwältigt. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie war beeindruckt, dass so etwas möglich war. Übertragung. Dadurch konnte sie über ihren Schatten springen. Endlich. Sie hatte endlich die Tore zu sich geöffnet.

Wohlige Wärme umspielte ihren Körper. Sie fühlte sich glücklich. Wirklich glücklich. Sie rollte sich auf die Seite, wo Chris gelegen hatte. Seine Decke war kalt. Er musste schon lange weg sein. Ameli kuschelte sich hinein. Sie empfand für Chris eine tiefe freundschaftliche Zuneigung. Sie erinnerte sich an ihre erste Begegnung und an die Sehnsucht, von der sie getrieben war. Jetzt wusste sie ganz sicher, dass es die Sehnsucht nach der Liebe ihrer Mutter war und dass diese unerfüllte Sehnsucht ihr ganzes bisherige Beziehungs- und Liebesleben überschattet hatte. Diese Erkenntnis war so simpel, dachte sie plötzlich. Aber sie konnte es vorher nicht begreifen und sehen, weil sie sich jeglichen Gefühlen, nicht nur denen für ihre Mutter sondern auch allen anderen, verschlossen hatte.

Damit erübrigte sich auch die Frage, warum Lucas nicht das geschafft hatte, was Chris in so kurzer Zeit geschafft hatte. Sie war der springende Punkt. Sie allein gab den Startschuss für die Flucht aus ihren eigenen vier Wänden. Sie musste bereit sein.

Ameli konnte es selbst kaum fassen. In den wenigen Tagen war so viel mit ihr passiert. Der Kampf mit ihrem Innenleben war ein schwerer Kampf. Sie hätte es alleine nicht geschafft. Sie brauchte Chris für ihren Kampf.

Genau das müsste sie ihm klarmachen. Nachdenklich schaute sie zur Decke. Ihr war nicht klar, wie sie ihm das verständlich machen konnte. Wieder türmte sich eine schwierige Aufgabe vor ihr auf. Aber diesmal war sie sich sicher, dass sie das Richtige tun würde. Sie spürte eine innere Kraft in sich.

Sie wollte auf einmal die ganze Welt umarmen.

Wie lange würde sie wohl dieses Gefühl bei sich halten können? Sie hoffte für immer. Symbolisch drückte sie ein extra großes Kissen ganz fest an sich und schlief noch einmal kurz ein.

 

Frohen Mutes stand sie endlich auf. Sie entschied sich für einen starken Kaffee. Sie ging in die Küche. Auf dem Weg dorthin fand sie einen Socken von Chris. Sie stellte sich vor, wie es sich wohl mit einem Socken laufen würde. In ihr kam das Bild eines schlappenden Schuhes hoch, der am Ende vom Fuß fällt und verlassen liegen bleibt. Das Bild machte sie traurig. Dann kickte sie den Socken aber einfach beiseite und brühte sich eine große Tasse Kaffee auf. Einfach das Wasser auf den Kaffee, ohne Zucker und ohne Umrühren, höchstens noch ein kleiner Schluck Milch. Milch war aber nicht da. Versonnen hielt sie die heiße Tasse in den Händen. Sanft pustete sie die noch oberflächlichen Kaffeeteilchen an den Rand der Tasse. Sie schaute gespannt, was für ein Muster sich in ihrer Tasse bildete. Das machte sie zu Hause jeden Morgen, bei ihrer ersten Tasse Kaffee. Nur einmal pusten und dann deuten, was das Gebilde sein konnte. Heute hatte sie alles vollständig an den Rand gepustet und sie entschied sich für einen glatten Tagesverlauf ohne Hindernisse. Das fühlte sich gut an.

Sie genoss ihren Kaffe. Heiß und nach Erde schmeckend. Sie nahm sich alle Zeit der Welt und langsam stellten sich bei ihr Glücksgefühle ein. Sie war einfach nur glücklich. Sie wusste nicht, ob sie sich jemals schon so zufrieden gefühlt hatte. Sie erlebte ein ganz neues Hochgefühl.

Sie freute sich auf das Wiedersehen mit ihrer Mutter und sie freute sich auf Lucas. Den einen Menschen wollte sie wieder in ihr Herz lassen und den anderen Menschen wollte sie nun endlich ihr ganzes Herz öffnen. Sie hatte das Gefühl, dass es nun endlich vorwärts gehen würde. Sie fühlte sich irgendwie ein Stückchen in sich angekommen. So ganz genau konnte sie das noch nicht einordnen, aber sie spürte eine Freude in sich, die ihr Auftrieb gab.

Sie drehte sich im Kreis bis ihr schwindelig wurde. Sie war richtig high und musste kichern. Sie genoss diesen Augenblick und lebte ihn ganz bewusst aus.

 

Mit diesem Hochgefühl wollte sie die gestern begonnene Aufräumarbeit, die so peinlich im Schlafzimmer zum Stillstand kam, beenden. Sie drehte das Radio auf volle Lautstärke und tanzte durch den Raum.

Sie war ausgelassen.

Als erstes machte sie den Kamin sauber. Um diese Arbeit riss sie sich zwar nicht, aber sie wollte auch nicht Chris darum bitten müssen, falls er wieder kommen würde. Würde er wieder kommen?

Ihre gute Laune und die laute Musik ließen die Arbeit erträglich werden. Sie schleppte die ganzen Decken und Kissen wieder an ihren Platz. Unbewusst schnupperte und roch sie an jedem Teil, der ihr vor die Nase kam. Sie nahm den Geruch von Chris wahr und fand, dass er einen unvergesslich angenehmen Geruch hatte. Plötzlich kamen ihr wieder die Worte seiner Mutter in Erinnerung. Nicht nur das, sie sah auch den bestimmenden Gesichtsausdruck dieser Frau und die Aufforderung, nicht mit ihrem Sohn zu spielen. Zu diesem Augenblick war sie aber bereits mittendrin im Spiel der Gefühle.

Ameli verharrte in ihrer Bewegung. Sie musste so schnell wie möglich mit Chris reden. Sie durfte ihn nicht mehr benutzen. Das hatte er wirklich nicht verdient. Allerdings sah sie eher Chris als Problem. Sie konnte nun loslassen. Aber wie sah es bei ihm aus? Nach seinem Liebesbekenntnis schien ihr das als der schwierigere Teil. Was konnte sie dagegen ausrichten? Sie musste einfach auf seine Vernunft vertrauen. Aber konnte man vernünftig sein, wenn man verliebt war bis über beide Ohren? Das wagte Ameli zu bezweifeln.

Endlich hatte sie es geschafft. Die Spielwiese vor dem Kamin war weggeräumt. Zu guter Letzt ging sie ins Schlafzimmer. Da war zum Glück nicht viel zum Aufräumen. Die Schränke waren fast leer. Trotzdem schnüffelte Ameli überall herum. Sogar unterm Bett sah sie nach. Zufällig, als sie gerade ihren Kopf wieder hervorzog, nahm sie im Augenwinkel wahr, dass sich zwischen Matratze und Lattenrost auf der rechten Seite etwas dunkles befand. Erst wollte sie nicht noch einmal nachschauen, aber irgendetwas trieb sie dazu. Ungereimtheiten konnte sie einfach nicht ertragen und der dunkle Fleck passte nicht zur weißen Matratze. Sie schaute noch einmal genauer nach.

Sie entdeckte einen blauen Briefcouvert.

Sie hob die Matratze an und hielt einen dicken schweren Briefumschlag DIN A 4 in der Hand. Sie war sich unschlüssig, ob sie ihn öffnen sollte. Sie wog ihn hin und her und sah dann, dass er nicht zugeklebt war. Das machte es ihr ein wenig leichter in ihrer Entscheidung. Sie schürzte ihre Lippen und ging zum Fenster. Obwohl sie genau wusste, dass keiner da sein konnte, vergewisserte sie sich quasi, dass es auch so war. Sie musste über sich lächeln. Ihr fiel ein, wie sie früher, immer wenn ihre Mutter sie in den Keller schickte, ganz laut fragend von oben rief, ob jemand da sei? Wer sollte schon da sein, wenn das Licht aus war?

Angst. Immer schon hatte sie Angst gehabt.

Kopfschütteln ging sie wieder zurück zum Bett, setzte sich langsam hin und wusste, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sie den Umschlag öffnen würde. Sie kannte ihre Neugierde nur zu gut. Sie fragte sich nur noch, was sie wohl vorfinden würde. Dann hielt sie es nicht länger aus und machte vorsichtig den Umschlag auf. Sie holte einen Stapel Bilder heraus.

Es waren Bilder von Elisa.

Erst fand Ameli die Bilder langweilig. Elisa begrüßte einen Mann. Mit diesem Mann war sie im Restaurant. Nichts ungewöhnliches, dachte Ameli. Immerhin arbeitete Elisa in der Marketingabteilung eines großen Unternehmens. Dann wurde sie allerdings stutzig. Von Geschäftsessen hatte Elisa ihr noch nie etwas erzählt. Elisa hatte eher den Job im Hintergrund. Die Bilder wurden immer personenbezogener. Es waren immer nur Elisa und dieser eine Mann zu sehen und dann auch noch in unterschiedlichen Restaurants. Elisa sah umwerfend aus und auch der Mann war nicht zu verachten, fand Ameli. Sie lächelten, er hielt ihre Hand und oft steckten ihre Köpfe dicht zusammen. Sie küssten sich, nicht nur auf die Wange sondern auch auf den Mund.

Plötzlich wurde sich Ameli bewusst, was sie in den Händen hielt. Elisa hatte wohl kaum diese Bilder selbst fotografieren lassen. Sie wurde eindeutig bespitzelt. Ihrem Mann mussten die Bilder gehören. Wem denn sonst?

Oder hatte Elisa die Bilder hier versteckt? Kaum vorstellbar. Wurde sie vielleicht erpresst und steckte in Schwierigkeiten?

Ameli wusste nicht so recht, welche Version die Richtige war. Jedenfalls wurde ihr schlagartig klar, dass hier etwas nicht stimmte. Und sie hatte das Gefühl, dass ihrer Freundin irgendwie Unrecht passiert war.

Jedenfalls wollte sie Klarheit, so schnell wie möglich. Da kam ihr eine Idee. Schnell griff sie zu ihrem Handy und rief Elisa an. Nach langem Klingeln ging Elisa endlich ran.

„Hey, Ameli, Schatz, was gibt es? Geht es dir gut? Kommst du wieder zurück? Soll ich dich abholen?“ Elisa redete wie ein Wasserfall und war kaum zu stoppen. Aber das war für Ameli nichts Neues.

„Elisa, stopp mal. Alles in Ordnung. Ich würde mich freuen, wenn du dich ins Auto setzen würdest und mich besuchen würdest.“

„Heißt das, dass du noch da bleiben willst?“

„Ja, einen Augenblick würde ich noch bleiben wollen. Aber es ist Wochenende, das Wetter ist noch mal schön und Dir würde doch ein bisschen Erholung bestimmt auch mal gut tun, oder?“ Sie musste ganz ruhig bleiben, damit Elisa nicht argwöhnisch werden würde.

„Hm, ja schon. Aber ich soll in das Haus? Du weißt doch.“

Richtig. Das hatte Ameli in ihrem Eifer ja ganz vergessen.

„Ach, komm Elisa. Ich bin doch da. Das Meer ist wirklich sehr schön. Du wirst es nicht bereuen.“

„Oh, oh. Ob das gut geht? Warte. Ich habe noch eine Telefonkonferenz und dann mache ich mich auf dem Weg. Zufrieden?“

„Ja, sehr. Ich freue mich auf dich. Es gibt viel zu erzählen, Elisa. Fahre vorsichtig, pass auf.“

„Ja, Mama“, sagte Elisa belustigt, „ich freue mich auch auf Dich. Bis bald.“

Ameli freute sich wirklich, dass Elisa kommen konnte. Sie wusste, dass der Weg weit war und dass sie vor heute Abend nicht da sein würde.

Sie legte die Bilder wieder vorsichtig in den Umschlag und legte ihn genau an die Stelle zurück, wo er gelegen hatte. Dann versuchte sie nicht mehr an die Bilder zu denken. Sie räumte den letzten Rest auf und brühte sich noch einen Kaffee auf.

Sie ging ans Fenster und überlegte, was sie machen könnte. Sie wollte mal nicht über sich nachdenken, die Nacht war anstrengend genug gewesen. Sie brauchte einfach mal eine Ruhepause und Abwechslung. Jetzt ärgerte sie sich doch, dass sie ihren Laptop zu Hause gelassen hatte. Sie merkte, dass sie schlagartig unruhig wurde, ein Zeichen dafür, dass ihr schnell etwas sinnvolles einfallen musste. Sonst würde sich eine schlechte Laune in ihr breit machen, die so schnell nicht wieder vergehen würde.

Es war kurz nach 11.00 Uhr. Dann musste sie eben wieder joggen. So konnte sie wenigsten ihre Unruhe besänftigen. Sie schlüpfte schnell in ihre Joggingsachen und machte sich auf den Weg.

 

Die Luft war wieder herrlich klar und als sie das Meer so spiegelglatt vor sich liegen sah, überkam sie ein erneutes Glücksgefühl. Sie musste tief durchatmen, so viel Glück konnte sie kaum ertragen. Sie stand einige Augenblicke reglos da und genoss diesen herrlichen Augenblick.

Sie fand schon damals als kleines Kind das Meer als etwas ganz Besonderes. Es war ihr einerseits unheimlich mit seinen ungestümen Wellen und andererseits war es für sie ein beruhigender Ort mit seiner glatten Oberfläche. Sie kam schon als Kind jedes mal ins Träumen, wenn sie aufs Meer blickte. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie nie im Wasser romgetobt hatte wie die anderen Kinder.

Sie lauschte dem leisen plätschern der Wellen, die sich gleichmäßig entrollten und sich seicht wieder zurückzogen. Es hatte etwas einschläferndes und absolut beruhigendes. Sie musste sich einfach einen Augenblick ans Meer setzen und diese Ruhe genießen.

 

Keine zwei Kilometer von ihr entfernt saß Chris immer noch am Strand. So reglos, wie er aufs Meer schaute, könnte man meinen, auch er genieße diesen Anblick und sei ganz entspannt.

Der Eindruck täuschte jedoch gewaltig. Seine Gedanken schlugen immer noch Purzelbaum und er konnte sich einfach nicht beruhigen. So viele Stunden hatte er noch nie auf einem Fleck gesessen. Er sah immer wieder Ameli vor sich. Er sah sie nackt in der Dusche, er sah sie bei ihrer Selbstbefriedigung, er sah ihre schönen Augen. Er fühlte ihre Wärme, er fühlte ihre zarte Haut und er fühlte ihr weiches Haar. Alles in seinem Kopf drehte sich um Ameli.

Er wollte schreien.

Er wollte weinen.

Er brach förmlich in sich zusammen.

Er hätte nie für möglich gehalten, dass Liebe so weh tun könnte. Er glaubte ihren Körper in seinen Händen zu halten, aber es war keine Ameli da. Und immer wieder musste er sich sagen, dass sie ihn nicht liebte.

Er wusste langsam nicht mehr, was er denken sollte.

Liebe, Verständnis, Wut, Hass, alles vermischte sich in ihm. In seinem Inneren brodelte der Vulkan. Sein Blick war völlig in sich gerichtet.

Einem unbewussten Impuls folgend, machte er sich endlich auf den Weg nach Hause.

Diesmal wählte er die richtige Richtung.

 

 

Im selben Augenblick erhob sich auch Ameli und rief sich ins Gedächtnis, dass sie joggen wollte. Wieder mal unschlüssig, welche Richtung die Bessere wäre, warf sie die Münze. Sie hatte in fast jeder Hosentasche eine Münze. Zu oft brauchte sie eine Entscheidungshilfe.

Kopf oder Zahl.

Sie lockerte sich noch ein wenig und lief dann los. Sie wählte ein straffes Tempo und hielt ihren Blick konzentriert nach vorn. Sie konnte schon bald sehen, dass ihr Jemand entgegen kam und sie wusste auch genau, wer dieser Jemand war. Sie begann zu schwitzen, nicht nur weil sie schnell lief. Gerade noch, vor wenigen Stunden, wünschte sie sich eine Begegnung mit Chris zur Klärung ihrer Beziehung, die keine Beziehung war. Aber jetzt war sie auf eine Begegnung nicht wirklich vorbereitet. Sie wusste plötzlich nicht mehr, was sie sagen sollte. Am liebsten wäre sie schnell umgedreht. Aber sie hatte sich geschworen, vor Chris nicht wegzulaufen und mit ihm alles zu klären, was es noch zu klären gab.

Es waren keine hundert Meter mehr, die sie trennten. Ameli blieb schnaufend stehen und wartete auf Chris.

Chris hielt seinen Blick gesenkt und hatte Ameli noch gar nicht bemerkt. Er nahm um sich herum einfach nichts wahr. Ameli sah, dass Chris völlig abwesend und verstört war. Sie atmete tief aus. Es tat ihr weh, Chris so zu sehen.

Er litt.

Er litt wegen ihr.

Was hatte sie nur angestellt?

Wie konnte sie das nur wieder gut machen?

Das konnte man irgendwie nicht wieder gut machen. Sie hasste sich zum ersten mal für ihr eigennütziges gefühlloses Fremdgehen. Diesmal traf sie jemanden, der es wirklich nicht verdient hatte.

Chris war jetzt fast auf Amelis Höhe. Er sah sie immer noch nicht. Er ging einfach an ihr vorbei. Ameli rührte sich nicht vom Fleck. Sie rief leise seinen Namen. Chris blickte sich langsam um, schüttelte den Kopf und ging weiter.

Ameli ließ ihn ziehen. Sie konnte sich vage vorstellen, was in Chris vorging. Sie sagte sich, dass sie ihm Zeit lassen müsse. Traurig und bewegt schaute sie ihm hinterher.

Diesmal war sie zu weit gegangen.

Sie hatte jemanden das Herz gebrochen.

Sie fühlte wie sich der Schmerz langsam in ihr ausbreitete. Sie schüttelte sich und sagte sich klar und deutlich: Nein. Sie durfte den Schmerz nicht wieder in sich reinfressen. Sie wollte nie wieder so viel Schmerz und Kummer in sich vergraben, dass sie selbst daran zu Grunde ging.

Sie musste das klären.

Bald.

Wild entschlossen nahm sie ihren Strandlauf wieder auf und holte alles aus sich raus, wozu sie fähig war. Völlig erschöpft erreichte sie das Haus. Sie pellte sich aus den verschwitzten Sachen und ließ eins nach dem anderen auf dem Weg zur Dusche hinter sich fallen. Das letzte Stück lief sie nackt. Sie fühlte sich trotz der Erschöpfung gut. So liebte sie das Joggen. Es hatte etwas bewirkt. Und sie liebte das Duschen nach dem Laufen. Mit geschlossenen Augen genoss sie den harten Wasserstrahl auf ihrem Rücken. Als sie fertig war und die Duschkabine öffnete, kam Chris plötzlich ins Bad.

Konnte der Kerl nie klingeln, schoss es Ameli durch den Kopf. Sie stöhnte leise auf und bedeckte ihre Brüste mit den Händen.

Chris hielt ihre Sachen im Arm. Er hatte eins nach dem anderen aufgelesen und hielt als letztes ihren Slip noch in der rechten Hand.

Ihm stockte der Atem. Er sah Ameli nackt vor sich, so wunderschön und so begehrenswert.

Wassertropfen perlten von ihrer Haut.

Ihre Blicke trafen sich.

Erschrocken.

Begierig.

Er war unfähig zu denken. Er wollte nur eins. Er wollte, dass diese Frau ihm ganz allein gehören würde. Aber er wusste, dass dieser Wunsch nur ein Wunsch war und ein Wunsch bleiben würde. Plötzlich musste er an den Weihnachtsmann denken. Er sah sich als kleines Kind mit einem Wunschzettel in der Hand. Bei dieser Vorstellung musste er innerlich lachen. Alle Wünsche können eben nicht erfüllt werden, dachte er bitter.

„Das muss alles in die Wäsche,“ sagte er ohne Klang in der Stimme. Er hielt Ameli den feuchten Klumpen entgegen.

Ameli presste ihn an ihren nackten Körper, dankbar darüber, dass sie den Rest ihrer Nacktheit damit verstecken konnte. Sie schaute Chris immer noch mit großen Augen an. Oh Gott, oh Gott, hörte sie sich im Stillen immer wieder sagen.

Sie standen sich gegenüber und keiner sagte ein Wort. So hatte alles angefangen.

Dann ging alles rasend schnell.

Chris entriss Ameli den Wäscheklumpen, warf ihn achtlos auf den Boden, nahm ihre Hände und presste sie ungestüm an die Wand. Der Vulkan in ihm brach aus. Ameli fühlte die kalten feuchten Fliesen an ihrem Rücken. Sie konnte sich nicht bewegen.

Chris war ihr haushoch überlegen. Sie konnte ihm nur kurz in die Augen schauen. Sie sah blanke Begierde. Sie konnte nichts sagen, weil Chris seinen Mund auf ihren drückte.

Er küsste sie heftig, leidenschaftlich, wütend, herausfordernd und hart. Alles wechselte in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Er drückte sie immer fester an die Wand.

Ameli hauchte zwischendurch immer wieder: „Chris, nein, höre auf. Wir dürfen das nicht wieder tun. Ich will nicht mehr.“ Aber es klang nicht fordernd genug, es klang eher resignierend und für Chris klang es wie Nichts. Die Worte flogen wie ein leiser Hauch an seinen Ohren vorbei. Er wollte sie gar nicht hören. Er wollte überhaupt nichts hören. Ob sie ja oder nein sagte, war ihm völlig gleich. Er wollte sie und er tobte sein wildes Begehren im Bad aus. Von zärtlich bis hart stieß Chris seine ganze verzweifelte Liebe in Ameli rein. Immer und immer wieder vereitelte er Amelis Versuche sich zu befreien.

Ameli konnte nachvollziehen, wie Chris sich fühlte. Sie spürte seine Wut und sie spürte seine Liebe am eigenen Körper.

Sie fühlte sich geschlagen und gestreichelt.

Sie nahm es dann irgendwann wortlos als ihre Strafe an. Sie hielt einfach still und ließ Chris nehmen, was er für sich brauchte.

Das war sie ihm irgendwie schuldig, dachte sie.

Als Wiedergutmachung.

Dachte sie.

So wie ich dich benutzt habe, so darfst du mich jetzt auch benutzen.

Dachte sie.

Wirklich? Konnte sie das wirklich miteinander vergleichen?

Dachte sie noch? Nein sie dachte nicht mehr. Sie ließ die Augen geschlossen und ließ sich vögeln. Sie versuchte nur noch, sich wenigsten Vogelgezwitscher vorzustellen.

Chris spürte, dass das seine letzte intime Berührung mit Ameli sein sollte. Er wollte und wollte nicht aufhören. Immer wieder berührte er ihren zarten weichen Körper, der für ihn einfach unglaublich war. Immer wieder vergrub er schluchzend seinen Kopf in ihren Haaren und stieß in ihren Schoß und wollte seine Hände nicht von ihren Körper lösen.

Irgendwann spürte er, dass Amelis Körper sich leblos anfühlte.

Als er ihr fragend in die Augen schaute, schüttelte Ameli nur mit dem Kopf.

Sie musste nichts weiter sagen, er wusste Bescheid.

Er ließ sie schlagartig los und zog sich wortlos die Hose hoch. Ihm war zum Heulen. Ihm wurde klar, dass sie ihn aus Mitleid gewähren ließ.

Sie war grausam.

Sie sprachen kein Wort.

Mit gesenkten Kopf verließ er das Bad und das Haus.

Es war unglaublich Still.

Ameli fühlte sich leer. Ihre Augen blickten zu Tür. Sie war sich nicht sicher, ob sie Chris nach dieser Aktion jemals wieder sehen würde. Sie wollte ihn doch als Freund hier zurücklassen.

Sie konnte nicht klar denken.

Sie schloss die Augen und sah sich mit ihrem ersten festen Freund im Winterurlaub. Es war ihr erster gemeinsamer Urlaub. Sie erinnerte sich an die Kälte auf der Piste. Sie sah ihren Freund, der lächelnd vor ihr die Piste runterfuhr, sie zaghaft hinterher. Sie waren frisch verliebt. Alles war eitel Sonnenschein. Nach drei Jahren war alles vorbei. Es gab keine Freundschaft hinterher.

Sie riss ihre Augen wieder auf.

Keine Freundschaft. Warum nicht? Sie waren ein Paar. Ein verliebtes Paar. Sie konnten hinterher keine Freunde mehr sein, weil sie sein Vertrauen missbraucht hatte. Sie hatte über ein Leben entschieden, was auch ihm gehörte. Da gab es nichts zu verzeihen.

Chris und sie waren aber kein Paar. Sie könnten Freunde bleiben. Es war doch nur eine Affäre. Affäre?

Aber wie musste es sich für denjenigen anfühlen, für den es mehr als eine Affäre geworden war? Wie fühlte sich derjenige, der angefangen hatte zu lieben, ihm aber nur Freundschaft von der anderen Seite angeboten wurde?

Ameli stöhnte innerlich auf.

Die Affäre war ausgeufert, war einfach aus dem Ruder gelaufen. Nein. Es war keine Affäre. Nein. Nein. Nein. Es fühlte sich auch anders an, als eine Affäre. Es war aber auch alles so sonderbar. Was war es nun? Eine Affäre oder ein Spiel, oder ein Traum. War es ein gespielter Traum, oder ein ausgelebter Traum?

Ameli fluchte innerlich.

Sie war wieder drauf und dran, sich nur selber die Schuld zu geben. Aber Chris hatte doch auch gewusst, dass sie einen Freund hatte. Er musste doch damit rechnen, dass es nur eine Affäre sein konnte. Warum musste er sich denn gleich in sie verlieben? Oh, Gott, warum nur?

Ameli schloss wieder die Augen. Sie sah Chris vor sich, wie er sie fragend angeschaut hatte mit seinem Flehen in den Augen. Und sie spürte den Schmerz in ihrem Herzen, als sie seinen niedergeschlagenen Blick sah, als sie ihm unwiderruflich Nein sagte. Sie musste es tun. Sie tat es diesmal aus tiefsten Herzen. Sie konnte es nicht weiter mit ihm treiben.

Ihr war in diesem Augenblick auch wieder bewusst, dass Chris ihr mit seiner Anwesenheit, mit seiner Beharrlichkeit, um seiner eigenen Liebe kämpfend, die Augen für ihre Liebe zu Lucas geöffnet hatte. Dafür war sie ihm so unendlich dankbar. Wie konnte sie ihm das nur begreiflich machen.

Erst jetzt merkte sie, dass sie immer noch nackt im Bad an der Wand stand.

Der wilde Akte rauschte noch einmal durch ihren Kopf.

Für einen kurzen Augenblick dachte sie an Missbrauch. Sie fing an zu zittern. Sie hob langsam die Hände, legte sie sich aufs Gesicht und stöhnte. Sie raufte sich die Haare und sagte immer wieder: Oh, Gott, verzeih mir bitte. Was habe ich nur gemacht? Wie konnte ich Chris nur dazu treiben?

Ihr Körper bebte und sie spürte wie sich ihr Unterleib zusammenzog. Sie musste schneller atmen und fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Sie presste ihre Hände zwischen die Beine und versuchte sich zu beruhigen. Als sie dann im Zuge der völligen Entspannung tief ausatmete, lief ihr eine heiße Flüssigkeit über die Innenschenkel hinab in die Hände. Ameli sank auf den Boden und wusste nicht wie ihr geschah. Sie blieb einfach hocken und hielt die Hände geschlossen in ihrem Schoß, als wenn etwas Kostbares darin verborgen wäre.

Die Kälte holte sie zurück.

Sie duschte noch einmal.

Heiß und lange.

Sie wollte sauber und rein sein.

Ihre Freundin würde bald da sein.

 

***

So schnell würde sie also wieder ihr Haus sehen und diesmal würde sie es betreten müssen. Schade, dass immer noch die Gedanken an Paul in Verbindung mit dem Haus im Vordergrund standen, dachte Elisa. Das Haus könnte sonst so schön sein. Sie wollte es sich zurückholen.

Sie machte sich gleich nach ihrer Telefonkonferenz auf den Weg zu Ameli. Sie fuhr gar nicht erst nach Hause. Sie wusste, dass sie noch ein paar Sachen im Haus hatte, und wenn es nicht reichen würde, könnte ihr Ameli aushelfen. Allerdings hatte sie ausgerechnet heute ihr enges rotes Kostüm an, was nicht so vorteilhaft für eine lange Autofahrt war. Dauernd rutsche ihr der Rock nach oben. Es war lästig.

Dafür war die Autobahn erstaunlicherweise ziemlich leer und Elisa war, was das Rasen anbetraf, nicht zimperlich. Sie hielt auch nicht viel von Pausen und essen musste sie auch nicht unbedingt. Sie wollte so schnell wie möglich bei Ameli ankommen.

Obwohl Ameli ganz harmlos geklungen hatte, wusste Elisa ganz genau, dass dem nicht so war. Sie kannte ihre Freundin gut. Sie wusste, wenn sich Ameli bei ihr melden würde während ihrer selbstgewählten Auszeit, dann hatte es auch einen tieferen Sinn. Ameli fragte nie einfach so nach Rat und Ameli bat schon gar nicht einfach so um Hilfe. Ameli war für Elisa eine Herausforderung. Das hatte sie ihr jedoch noch nie gesagt, würde sie auch nie tun.

Sie erinnerte sich daran, wie sie Ameli kennen gelernt hatte.

 

Ameli war damals 20 Jahre alt und Elisa war vier Jahre älter. Elisa war mit ihren Freundinnen auf dem Weihnachtsmarkt. Sie tranken schon den dritten Glühwein und waren allesamt gut drauf. Sie schauten den Männern hinterher und machten sich über sie lustig.

Dann sah sie Ameli. Sie saß nicht weit von ihnen entfernt, ebenfalls bei einem Glas Glühwein. Sie war allein und blickte oft angenervt zu ihnen herüber. Elisa betitelte Ameli in ihren Gedanken als blöde Zicke. Sie wunderte sich, dass sie so lange sitzen blieb. Sie schien sich an ihrem Glühwein festzuhalten, so als wenn sie nicht wüsste, wo sie hin sollte. Elisa war jedoch fasziniert von dieser Sturköpfigkeit. Es war offensichtlich, dass sie sich gestört fühlte, sie blieb aber und ertrug es. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. Der Weihnachtsmarkt war groß genug, sie konnte überall hingehen.

Elisa sah aber mehr in diesem Gesicht. Sie sah in ihren großen schönen Augen eine tiefe Traurigkeit. Diese Traurigkeit zog sie an. Sie hatte auf einmal das große Bedürfnis, dieser fremden Person zu helfen. Unter einem Vorwand brachte sie ihre Freundinnen dazu, den Glühweinstand zu verlassen und verabschiedete sich von ihnen. Dann ging sie zu Ameli, setzte sich ihr gegenüber und blickte ihr herausfordern in die Augen. Ihre erste Unterhaltung war grauenhaft.

Ameli blitzte Elisa an und raunzte: „Was ist?“

Elisa hatte eigentlich nichts anderes erwartet. Sie war nicht überrascht. Sie schaute Ameli an. Was sie sah, war eine von Kopf bis Fuß perfekt gestylte zarte Person. Ihre Haltung war kerzengerade und angespannt, dennoch lag eine gewisse Ruhe in ihr. Elisa erkannte aber sehr schnell, dass alles nur gespielt war, denn Ameli konnte ihr nicht in die Augen schauen und ihr Tonfall war alles andere als gemäßigt.

Was sollte sie antworten? Gleiches mit Gleichen vergelten oder eine ganz andere Linie fahren? Sie entschied sich für die zweite Variante und hoffte darauf, mit Ameli ins Gespräch zu kommen. Sie wollte diese Person unbedingt kennen lernen.

„Du hast eine schöne Tasche und ich wollte dich fragen, wo du sie her hast?“ fiel ihr nichts Besseres ein.

Ameli blickte sie argwöhnisch an, erwiderte aber schon eine Spur freundlicher, dass das ein Geschenk einer Freundin sei, die sie selbst hergestellt hatte, also ein Einzelstück. So entwickelte sich ein ödes Gespräch als Frage-Antwort-Spiel. Zum Schluss wusste Elisa aber wo Ameli arbeitete und mehr wollte sie erst mal nicht.

Elisa musste danach oft an Ameli denken. Sie spürte sofort diese Andersartigkeit von Ameli und sie hatte das Gefühl, dass Ameli damit bei anderen Menschen Probleme haben musste. Eine Woche später ging sie zum Reisebüro, in dem Ameli arbeitete. Sie beobachtet Ameli durch die große Scheibe. Sie strahlte auch hier eine geballte Perfektion aus. Elisa bekam großes Mitleid mit Ameli. Sie ahnte, dass Ameli dafür immens viel Kraft brauchte, um das alles zur Schau zu stellen. Sie wünschte sich nichts weiter, als dieser jungen Frau irgendwie zur Seite stehen zu können und ihr vielleicht wieder ein Stück Natürlichkeit zu eigen zu machen. Genau das fehlte ihr nämlich. Elisa wünschte sich sehr, mit Ameli in Kontakt zu kommen.

Elisas Eltern waren Psychologen in einer Gemeinschaftspraxis. Die meisten häuslichen Gespräche rangten sich um die Probleme ihrer Klienten. Daher interessierte sich auch Elisa seit ihrer Kindheit für Persönlichkeiten mit besonderen Auffälligkeiten. Sie hatte viele Bücher darüber gelesen und war relativ gut darin, Menschen nach ihrer Haltung und ihrem Gesichtsausdruck einzuschätzen und zu beurteilen. Trotzdem machte sie ihr Interesse nicht zu ihrem Beruf. Elisa wurde kaufmännische Angestellte und arbeitete sich dann hoch in die Marketingabteilung eines großen Konzerns.

Elisa lud Ameli damals auf eine Tasse Kaffe ein. So entwickelte sich in kleinen Schritten eine große Freundschaft, die nun schon 10 Jahre währte. Elisa war sich sicher, dass sie noch längst nicht alles von Ameli wusste. Sie war ihr nach wie vor ein Rätsel. Sie hatte manchmal auch Angst um Ameli, dass sie sich was antun könnte. Sie spürte ständig diese Anspannung um Ameli herum.

Dann gab es aber auch mal wieder Zeiten, wo Ameli gelöst und zufrieden wirkte, was aber sehr selten vorkam. Wie das so plötzlich kam und was da mit ihr passierte, hätte Elisa zu gerne gewusst.

Sie sahen sich nicht oft, ein oder zwei mal im Monat. Das reichte aber aus. Sie wussten, dass sie füreinander da waren. Elisa hatte das Gefühl, dass Ameli sie brauchte und schätzte. Das machte sie glücklich. Sie hatte es geschafft, einen Zugang zu Ameli zu finden. Sie fühlte sich manchmal wie eine Mutter. Ameli war ihr wirklich ans Herz gewachsen. Wenn sie nur nicht so verschlossen wäre.

 

Endlich erreichte sie die Insel, nun würde es keine Stunde mehr dauern, bis sie da sein würde. Sie angelte ihr Handy aus der Tasche und kündigte sich bei Ameli an.

Ameli erwartete Elisa schon sehnsüchtig am Garagentor. Seit dem Anruf lief sie dauernd um das Haus. Das Abendessen war gerichtet und die Weingläser standen bereit. Es war bereits 20.30 Uhr.

Dann kam sie endlich die Auffahrt hochgefahren. Freudig umarmten sie sich. Elisa war ein wenig erschöpft von der langen Fahrt.

„Ameli, gut siehst du aus. Oder nicht? Wie geht es dir?“

„Ja, geht so. Komm erst mal. Es gibt viel zu erzählen, aber alles der Reihe nach“, wiegelte Ameli das Thema von sich ab. „Jetzt gibt es erst mal was zu essen, denn wie ich dich kenne, bist du durchgefahren ohne Pause, stimmts?“

„Ja, stimmt. Ich habe auch einen Riesenhunger. Was gibt es?“

„Salat und Gemüsepfanne mit Reis.“

„Hört sich gut an. Dann lass uns mal reingehen.“

Elisa zögerte jedoch als sie sich der Haustür näherten. Ameli bemerkte die Zurückhaltung ihrer Freundin und konnte es verstehen. Sie gab ihr von hinten einen kleinen Schubs und beide mussten lachen.

„Man kann aber manchmal auch albern sein. Das alles ist jetzt schon über ein Jahr her und ich stelle mich immer noch an, als wenn es erst gestern gewesen wäre. Bloß nicht weiter darüber nachdenken. Er ist es nicht wert“, gab Elisa von sich. Sie sagte es mehr zu sich selbst und es sollte ihr Mut machen.

Das Haus war wirklich schön und eigentlich wollte sie irgendwann einmal ganz hier wohnen. Das hatte sie alles bei der Planung mit berücksichtigt. Sie konnte auch von hier aus arbeiten. Bei der Planung spielte aber die Trennung von ihrem Mann noch keine Rolle. Zu tief saß noch die Enttäuschung, als dass sie jetzt an so was denken konnte. Mit einem tiefen Seufzer nahm sie am Tisch Platz. Erst jetzt bemerkte sie, dass alles ein wenig anders aussah.

„Hey, was hast du gemacht?“ Sie drehte sich im Kreis, um alles auf sich wirken zu lassen. Ameli beobachtete sie mit angehaltenen Atem. Sie hatte nicht viel verändert. Die Sitzgruppe hatte einen anderen Platz bekommen, so dass man besser aufs Meer schauen konnte, aber auch gleichzeitig am Kamin saß. Der große Esstisch war jetzt mehr zentral im Raum und besser vorm zweiten Fenster platziert. Der ganze kitschige Firlefanz und Schnickschnack war verschwunden, dadurch gewann der Raum an Größe.

Elisa war begeistert. Sie wirbelte herum und nahm Ameli in die Arme.

„Das ist ja großartig. Da fühle ich mich doch gleich wohler. Der Herr Doktor musste immer jedes dusslige Geschenk irgendwo sichtbar hinstellen. Das hat mich echt genervt. Ameli, du bist ein Schatz. Und wo ist der ganze Müll?“

Bevor Ameli antworten konnte, plautzte Elisa schon wieder los. „Lass mich raten. Doch nicht etwa in der perfekt aufgeräumten Garage des Herrn Doktor? Einfach so hingeschmissen?“ Sie mussten jetzt beide herzhaft lachen. Genauso war es nämlich. Elisa fiel es immer noch ein wenig schwer, Paul beim Namen zu nennen. Sie schloss sich Ameli an und nannte ihren Mann ebenfalls geringschätzig, Herr Doktor.

Ameli fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatte schon Angst, dass Elisa alles blöd finden würde. Aber als sie sah, dass sie sich freute, war sie sehr zufrieden mit ihrem Einfall.

„So, komm, nun lass uns endlich essen. Es ist alles zubereitet und wartet auf uns“, sagte sie beschwingt. „Ich freue mich wirklich riesig, dass du so schnell kommen konntest. Lass uns erst einmal anstoßen. Auf dich.“ Ameli hielt Elisa ein Glas Wein hin, nachdem sie eingeschenkt hatte.

Elisa bemerkte sofort, dass Ameli angespannt war. Da das Essen schon fertig war und sie doch sehr hungrig war, ließ sie es sich aber erst einmal schmecken. Die beiden redeten über belanglose Dinge, bis Elisa es nicht mehr aushielt.

„So, Ameli. Nun aber genug mit den Spielchen. Was ist los? Sag schon. Irgend etwas bedrückt dich doch. Warum musste ich heute so schnell her kommen? Komm schon, ich kenne dich doch.“ Elisa schaute Ameli tief in die Augen.

„Man, dir kann man aber auch nichts vormachen.“

„Na, so wie du auf dem Stuhl hin und her zappelst, da merke ich doch sofort, dass was mit dir ist. Nun spann mich nicht länger auf die Folter. Was ist los mit dir ?“

„Mit mir ist gar nichts los. Doch schon. Aber darum geht es jetzt nicht. Elisa, komm mit, ich muss dir etwas zeigen.“

„Na, du machst es aber auch spannend.“

Ameli stand auf und nahm Elisa an die Hand. Elisa schaute sie ganz überrascht an.

„Wir müssen in euer Schlafzimmer gehen, Elisa.“

„Aha“, erwiderte Elisa. Ameli wirkte auf einmal sehr geheimnisvoll. Sie ließ ihre Hand nicht los und ging mit ihr die Treppe hoch ins Schlafzimmer. Was sollte da denn sein? Warum ließ sie ihre Hand nicht los?

Ameli knipste das Licht an und blieb stehen. Sie schaute Elisa erwartungsvoll an.

„Und nun? Ameli, was soll das? Was soll hier sein?“ Elisa schaute fragend zu Ameli.

Ameli zeigte aufs Bett, aber rührte sich nicht von der Stelle.

Elisa wurde nun langsam wütend, weil sie alles irgendwie merkwürdig fand.

„Ja, liegt da ein neuer Mann für mich unter der Decke, oder was?“ Sie ging zum Bett und riss die Decke runter. Ameli blieb ganz ruhig und schüttelte den Kopf.

„Schau unter die Matratze“, sagte sie ernst.

An dem ruhigen Tonfall erkannte Elisa, dass die Lage wirklich ernst wurde. Sie hob die Matratze hoch und sah den blauen Briefumschlag. Sie nahm ihn zu sich und schaute wieder fragend zu Ameli.

Nun wusste Ameli, dass Elisa den Briefumschlag nicht kannte und von dem Inhalt nichts ahnte. Sie umfasste Elisa zärtlich und drückte sie aufs Bett. Bei Elisa schrillten die Alarmglocken.

„Was ist das?“ hauchte sie leise.

„Schau rein“, erwiderte Ameli ebenso leise.

Elisa öffnete vorsichtig den Briefumschlag und nahm die Bilder raus. Bild für Bild schaute sie sie sich an, ohne ein Wort zu sagen. Ihre Augen weiteten sich vor Fassungslosigkeit. Sie ging davon aus, dass Ameli die Bilder kannte. Klar, sonst wäre sie wohl kaum hier, rief sie sich ins Gedächtnis. Die Bilder kreisten nun schon zum dritten mal in ihren Händen. Sie biss die Zähne aufeinander.

Ameli wartete geduldig. Endlich erhob sich Elisa. Sie ließ die Bilder einfach auf den Boden fallen und atmete tief ein und aus. Dann blickte sie zu Ameli.

„Glaubst du auch, was ich glaube?“

„Ich denke schon“, erwiderte Ameli.

„Ich brauche jetzt erst mal einen Schnaps, sonst drehe ich durch. Lass uns runter gehen.“ Ameli folgte ihrer Freundin, sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

Aber sie musste auch nichts sagen. Elisa bedeutete ihr, dass sie nichts hören wollte. Sie saßen schweigend auf dem Sofa. Ameli dachte gerade, dass sie hier auch schon mit Chris schweigend gesessen hatte. Endlich fing Elisa an zu reden.

„Das waren Geschäftsessen mit einem großen Kunden aus England. Ich war wie immer für die organisatorische Abwicklung im Hintergrund verantwortlich. Herr Hunter telefonierte einige male mit mir, weil unser Chef auf Dienstreise war. Wahrscheinlich fand er meine Stimme sympatisch. Jedenfalls bestand er darauf, dass ich die Vertragsunterzeichnung mit ihm vorbereiten und vollziehen sollte und das alles nicht im Büro, sondern bei gemütlichen Abendessen. Er wollte die Stadt kennen lernen und ein paar Restaurants dazu. Er war Fan der deutschen Küche. Ich wollte nicht, aber mein Chef bestand darauf. Es war ein Riesengeschäft. Herr Hunter war sehr nett und zuvorkommend und sehr herzlich. Küsschen da und Küsschen dort, aber alles ganz manierlich, bis auf den letzten Abend, da küsste er mich auf den Mund, wie man sieht. Für die Engländer scheint das so üblich zu sein, dachte ich mir. Mehr war nicht. Der Vertrag war unterzeichnet und wir waren alle sehr zu zufrieden. Das alles kostete einiges mehr an Arbeitszeit für mich, vor allem in den Abendstunden. Natürlich habe ich Paul davon erzählt. Aber irgendwie wollte er mir nicht glauben. Ich sagte ihm, er solle doch meinen Chef anrufen, wenn er mir nicht glauben würde.“ Elisa machte eine Pause und goss sich ein neues Glas ein. Sie ging zum Fenster und blickte hinaus. Fassungslos schüttelte sie den Kopf.

„Und was macht er? Er lässt mich beschatten. Das ist doch die Höhe. Obwohl, auf einigen Fotos sehe ich recht gut aus oder? Hätte ich nicht vermutet.“ Sie trommelte mit den Fingern auf dem Fensterbrett. Plötzlich erhob sie ihre Stimme. „ Man, das ist doch totaler Mist. Was hat er sich dabei nur gedacht? Dachte er, ich betrüge ihn? Das ist doch lächerlich. Ameli nun sag doch mal was.“

„Ich verstehe das auch nicht. Ich war genauso fassungslos wie du. Dann dachte ich, du kennst die Fotos und du hast sie dort versteckt.“

„Spinnst du? Was soll das denn?“ empörte sich Elisa.

„Es hätte ja sein können, dass du damit erpresst wirst“, gab Ameli kleinlaut bei.

„Vergiss es. Nein.“ Elisa wanderte auf und ab.

„Also, halten wir noch mal fest. Paul hat mich beschatten lassen. Er hat die Fotos kaum selber gemacht, dazu hatte er keine Zeit“, stellte Elisa fest. „Dann hat er die Fotos erhalten. Sag mal ganz ehrlich Ameli, wie wirken die Fotos auf dich?“

„Ganz ehrlich? Nicht wie ein Geschäftsessen. Ihr wirkt vertraut und könntet ein Paar sein.“

„Ja, Paul muss an Hand der Fotos gedacht haben, dass ich ihn betrüge.“ Elisa blickte nachdenklich zu Ameli. Mit einem Schlag wurde ihr alles klar. Es traf sie hart. Sie wankte zum Sofa und musste sich setzen.

„Ameli, ich glaub es ja nicht. Mir dämmert was. Das ganze hier passierte vor ungefähr einem Jahr. Und ,was war auch vor einem Jahr?“

Ameli dachte kurz nach und sagte mit aufgerissenen Augen. „Vor einem Jahr hat dich Paul ohne Grund verlassen.“

„Richtig. Und jetzt haben wir den Grund. Er war eifersüchtig auf etwas, was gar nicht existierte. Er sagte immer, er könnte es nicht ertragen, mich mit jemanden zu teilen.“

„Aber du, du solltest es können, ja?“ empörte sich Ameli.

„Ja, ja, der werte Herr Doktor durfte rum turteln und durfte seine Krankenschwestern vögeln, so oft er wollte. Das war in Ordnung. Aber wehe, wenn ich mal einen anderen Mann attraktiv fand oder mal mit jemanden näher Kontakt aufnahm. Seine Eifersucht war ja geradezu krankhaft“, schnaufte Elisa.

„Und dann verlässt er dich für nichts.“ stellte Ameli nüchtern fest.

„Ja, das ist schon hart.“

„Und nun?“ fragte Ameli.

„Was und nun? Denkst du etwa ich werde jetzt die Sache richtig stellen wollen?“

„Könnte ja sein.“

„Nein. Paul ist vergessen. Du konntest ihn doch sowieso nicht leiden, stimmts?“

„Da hast du recht. Ich habe ihn wirklich als absoluten Fehlgriff eingeschätzt.“

„So schlimm? Also Ameli ich bin entsetzt. Da lässt du mich jahrelang mit diesem Schwein zusammen sein? Ohne was zu sagen? Was bist du nur für eine Freundin?“ Sie mussten beide lachen.

„Aber jetzt mal ganz im Ernst. Es trifft mich schon. Ich konnte damals nicht verstehen, warum Paul mich einfach verließ und ins Ausland ging. Jetzt weiß ich wenigstens warum.“

„Ihr seid immer noch verheiratet.“

„Ja und? Daran wird sich auch jetzt nichts ändern. Soll mir gleich sein. Ich habe keine Vorteile und keine Nachteile. Falls er sich irgendwann mal bei mir meldet oder zurückkommt, werde ich ihm sagen, dass ich die Fotos gefunden habe und ihn zur Hölle schicke. So und damit ist das Thema erledigt.“ Elisa wirkte auf einmal völlig aufgeräumt und erleichtert.

Ameli schaute sie skeptisch an und konnte alles nicht so recht glauben.

„Hey, ich hätte erwartet, dass du völlig austickst.“

„Was bringt das? Vor ein paar Monaten vielleicht. Aber nach einem Jahr sieht man dann doch alles ein wenig anders.“

„Sag mal Elisa, bist du überhaupt schon mal fremdgegangen?“

„Nein, noch nie. Und bei Paul hätte ich es mir auch nicht erlauben dürfen. Warum fragst du?“

„Nur so. Und was ist deine Meinung dazu?“

„Sag mal, was soll das? Eiere doch nicht schon wieder so rum. Davon habe ich für heute genug. Kannst du mal deutlicher werden?“

„Man, Elisa sei doch nicht immer so streng. Ich frag doch nur.“

„Ameli, du fragst nie nur so. Das weiß ich. Aber wenn du meine Meinung wissen willst, ich finde Fremdgehen nicht in Ordnung. Aber wie du weißt, bin ich so bescheuert und toleriere es.“

„Ja. Warum machst du das?“

„Sag mal, wird das hier ein Verhör?“

„Antworte doch einfach nur, Elisa, bitte.“

„Aber nur, weil du es bist. Ja, warum lass ich meinen Mann fremdgehen und störe mich nicht daran? Diese Frage habe ich mir am Anfang unserer Beziehung wirklich oft gestellt. Dann bin ich zu dem Schluss gekommen, dass das Verhalten von Paul mir gegenüber sich dadurch in keinster Weise geändert hatte. Er war weiterhin sehr liebevoll zu mir, hat mich geachtet, war immer nett und ich stand immer für ihn an erster Stelle. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass er mich abgöttisch liebt. Und er erfüllte mir jeden Wunsch. Warum sollte ich das alles aufs Spiel setzen, nur weil er ab und zu mal ein kleines Betthäschen brauchte? Die hatte er auch vor mir.“

„Und es hat dich wirklich nicht gestört?“

„Anfangs schon, muss ich zugeben. Aber mit der Zeit habe ich es einfach ignoriert.“

„Wie hast du es denn mitbekommen, dass er fremdging? Er hat es dir wohl kaum erzählt, oder?“ fragte Ameli unglaublich.

„Auf Empfängen wurde getuschelt, das kriegt man schon mit. Und ab und zu mal ein abgerissener Knopf am Hemd oder ein fremder Lippenstift am Hemdkragen. Na solche Sachen eben. Ich habe nie hysterisch darauf reagiert, sondern gar nicht. Das war vielleicht auch gut so.“

„Du meinst, Paul hat nicht gewusst, dass du es wusstest.“

„Ameli nun ist aber gut. Was weiß ich. Ist mir auch egal, ehrlich. Jetzt ist Schluss, damit.“

Während Elisa kurz an ihr Handy ging, versank Ameli in ihren Gedanken. Es gab also Menschen, denen es egal war, ob oder dass ihr Partner fremd ging. Ob Lucas auch so denken würde? Was würde sie überhaupt meinen, wenn Lucas fremdgehen würde? Darüber hatte sie noch nie nachgedacht. Immer nur darüber, was er wohl machen würde, wenn er es von ihr wüsste. Elisas Meinung bestätigte sie eher dahingehend, dass sie ihr Geheimnis lieber für sich behalten sollte. Sie hatte fast schon erwogen, ihrer Freundin alles zu erzählen. Nun nahm sie aber lieber Abstand davon.

Ameli nahm sich ein weiteres Glas Wein und ging zum Fenster. Sie hörte gar nicht, dass Elisa wieder rein kam und als sie plötzlich hinter ihr stand, zuckte sie schreckhaft zusammen.

„Na, warum so schreckhaft? Was hast du zu verbergen?“ neckte Elisa sie. Die Fragerei übers Fremdgehen hatte einen Sinn, da war sich Elisa sicher. Sie würde es schon noch herausbekommen.

„Nichts.“ gab Ameli ganz gelassen zurück.

„Na gut, Ameli. Fangen wir so an. Du siehst frisch aus, würde ich mal sagen. Das macht die gute Luft hier. Du warst bestimmt jeden Tag draußen am Strand oder auf der Veranda. Und du bist frisch durch den Wind, stimmt´s?“

Ameli wandte sich Elisa zu. Ihr traten plötzlich Tränen in die Augen. Sie konnte sie nicht mehr zurückhalten. Elisa hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Schluchzend fiel sie ihrer besten Freundin um den Hals. Alles stürzte auf einmal über ihr ein.

Elisa strich ihr sanft über den Rücken. Sie merkte schon, dass Ameli die ganze Zeit an sich halten musste, aber das es so heftig war, hätte sie nicht gedacht.

„Na komm, beruhige dich. Ich bin ja da. Du musst jetzt auch nichts sagen, wein dich nur aus“, tröstete sie ihre Freundin. Elisa schaute auf die Uhr. Es war bereits weit nach Mitternacht und es machten sich bei ihr nun ganz deutlich die ersten Ermüdungserscheinungen bemerkbar. Eine lange Diskussion würde sie jetzt nicht mehr durchhalten. Aber Ameli machte auch keine Anstalten von sich aus zu erzählen. Lass sie nur weinen, dachte Elisa.

Nachdem sie Ameli halbwegs beruhigt hatte, brachte sie sie hoch ins Schlafzimmer. Sie wollte unten auf der Couch schlafen. Aber Ameli bat sie, bei ihr zu bleiben. Obwohl Elisa nie wieder in diesem Ehebett schlafen wollte, tat sie Ameli schweren Herzens diesen Gefallen. Sie wollte nicht, dass Ameli wieder anfing zu weinen. Sie wollte einfach nur schlafen.

 

***

Sonntag

 

Elisa hatte einen tiefen festen Schlaf. So kam es, dass sie bereits in aller Frühe, wie gewohnt, wieder wach war. Sie wollte Ameli nicht wecken. Sie lag so friedlich an ihrer Seite. Vorsichtig schlich sie sich aus dem Schlafzimmer ins Bad. Es kam ihr komisch vor, nach so langer Zeit, wieder hier zu sein. Sie merkte aber, dass die Erinnerungen nicht schmerzten, und das war gut so. Sie hatte nämlich wieder Pläne mit diesem Haus. Sie war sich zwar noch nicht sicher, aber es arbeitete in ihr.

Da es wirklich noch recht früh war, zum Sonntagsfrühstück viel zu früh, machte sie einen kleinen Strandspaziergang. Schon allein der Blick vom Haus aufs Meer war himmlisch. Ihr Herz öffnete sich und sie war froh, dass Ameli sie gerufen hatte. Zugegeben der Anlass war ein Schocker, aber sie hatte alles gut im Griff. Paul war für sie Vergangenheit.

Eindeutig. Jetzt erst recht.

Sie konnte ihm nicht einmal richtig böse sein. Wie immer war sie sehr verständnisvoll und hatte sogar für seine Bespitzelungsaktion eine Rechtfertigung für ihn parat. Für sie hatte jede vollzogene Handlung einen Hintergrund. Sie urteilte nie vorschnell, sondern durchdachte die Situation erst aus dem Blickwinkel des Anderen. Für sie war klar, dass die Eifersucht Paul dazu getrieben hatte. Sicher gab es auch andere Wege damit klar zu kommen, aber Paul wählte für sich diesen Weg. Sie konnte das verstehen. Das lag jetzt gut ein Jahr zurück und Elisa wollte sich jetzt wirklich keine Gedanken mehr darüber machen. Sie hatte gelernt, ihren Blick nach vorn zu richten.

Sie schüttelte sich kurz und ging ans Wasser. Ob man noch baden gehen konnte? Sicher. Sie war gut abgehärtet, machte viel Sport und ging oft in die Sauna. Das sollte doch wohl kein Problem für sie werden. Ohne weiter nachzudenken zog sie sich schnell aus und rannte mit angehaltenen Atem ins Meer. Es stach ein wenig in ihren Waden und sie musste sich stark überwinden ganz unterzutauchen. Aber als es dann geschafft war und sie eine kleine Runde geschwommen war, wollte sie vor Glück nur noch schreien, was sie dann auch tat. Weit und breit war keiner zu sehen, also konnte sie auch keiner hören. Sie jauchzte wie ein kleines Kind und schlug freudig um sich.

Sie sah nur ein kleines Fischerboot in der Ferne.

Während Elisa sich im Meer austobte, stand Ameli am Schlafzimmerfenster und beobachtete sie. Das war typisch Elisa, dachte sie. Wie sie ihre Freundin kannte, war sie nackt und ein Handtuch hatte sie bestimmt auch nicht dabei. Schnell holte Ameli den Bademantel und ging runter zum Strand.

Da stand sie nun und wartete auf Elisa.

In der Ferne sah sie das Fischerboot.

Als Elisa aus dem Wasser kam, schaute sie immer noch in die Richtung und nahm Elisa gar nicht richtig wahr. Elisa verfolgte ihren Blick. Sie runzelte die Stirn. Sie machte sich schon den ganzen Morgen Gedanken, warum Ameli gestern plötzlich einen kleinen Zusammenbruch hatte. Denn dass das einer war, darin war sie sich ziemlich sicher.

„Huh, gib schnell den Bademantel her. Du bist ein Schatz. Zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort.“ Übertrieben schüttelte sich Elisa und bibberte extra stark, um Amelis Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, was ihr dann auch gelang. Ameli rubbelte Elisas Rücken und Oberarme, wie eine Mutter, die ihrem Kind nach stundenlangem Baden wieder Wärme geben wollte. Es tat beiden gut. Sie spürten ihre tiefe Freundschaft.

„Komm, lass uns jetzt ein schönes Frühstück auf der Veranda einnehmen. Du glaubst gar nicht, wie ich mich darauf freue.“ Kaum gesagt rannte Elisa los. Sie wusste genau, dass Ameli ihre Sachen mitbringen würde.

Ameli sammelte kopfschüttelnd die Sachen zusammen und stiefelte ihr hinterher.

 

Ameli hatte irgendwie Angst vor Elisas Fragen. Sie konnte immer so direkt und genau fragen. Es war schwierig sie hinters Licht zu führen. Ameli wollte es ja auch gar nicht, aber ein paar Geheimnisse wollte sie eben auch ihrer besten Freundin nicht preis geben.

Sie machte sich nie ganz nackt.

Wortlos deckten sie gemeinsam den Tisch, aber es knisterte in der Luft. Ameli war die erste, die es nicht mehr aushielt.

„Also gut, nun frag schon.“

„Mir wäre es lieber, wenn du mir einfach erzählen würdest, was hier in dieser Woche mit dir passiert ist. Fang irgendwo an. Ich sehe doch, dass da so einiges in dir abgegangen ist.“

„Ja, das war mir wieder klar. Du siehst immer alles. Warum bist du nicht meine Mutter?“ Langsam kaute Ameli ihr Brötchen zu Ende und Elisa wartete geduldig bis Ameli weiter sprechen würde.

„Apropos Mutter. Du wirst es kaum glauben, ich habe meine Mutter angerufen. Nach so langer Zeit ihre Stimme wieder zu hören, war schon komisch. Ich habe ihr versprochen, sie zu besuchen. Wenn ich hier abreise, werde ich in Berlin Zwischenstopp machen.“

„Ameli, das ist ja großartig. Alle Achtung. Wie kommt es?“ fragte Elisa ungehalten.

„Seit ich hier bin und seit ich angefangen habe, intensiv über mich nachzudenken, komme ich einfach nicht an meiner Mutter vorbei.“

„Hm, deine Mutter ist die einzige Person, soweit ich von dir weiß, die dich in deiner Kindheit begleitet hat. Auch wenn du sie viele Jahre nicht gesehen hast, beziehungsweise nicht sehen wolltest, aus den mir nicht bekannten Gründen, hat sie doch einen entscheidenden Einfluss auf deine Entwicklung genommen. Das sie irgendwann mal wieder auftaucht in deinen Gedanken ist ganz selbstverständlich.“

„Ja. Du hast recht. Und nun ist es passiert. Ich werde mich mit ihr aussprechen und ich werde ihr verzeihen.“

„Ameli, du hast mir nie erzählt, warum du deine Mutter aus deinem Leben ausgeschlossen hast. Deswegen kann ich jetzt auch nicht viel dazu sagen. Aber ich denke, dass du das Richtige machst. Eine Mutter ist eine Mutter. Wir haben beide keine Kinder und wissen deswegen auch nicht, wie man als Mutter sein Kind liebt. Aber ich bin mir sicher, dass auch deine Mutter dich ganz tief in ihrem Herzen liebt und dich nie vergessen hat.“

Ameli atmete tief durch. In kurzen Zügen erzählte sie Elisa was ihrer Mutter widerfahren war und wie ihre Kindheit mit ihrer Mutter ausgesehen hatte. Elisa war jetzt der zweite Mensch in ihrem Leben, dem sie davon berichtete. Ihr fiel es diesmal wesentlicher leichter, als beim ersten mal. Sie konnte beim Berichten noch besser die Zusammenhänge erkennen.

Elisa war genauso berührt, wie Chris. Sie nahm Ameli in den Arm und versicherte ihr, dass sie auf dem richtigen Weg war. Schweigend saßen sie eine Weile mit ihren Kaffeetassen in den Händen einfach nur so da.

„Da kennen wir uns nun schon so lange, Ameli, und ich habe nie bemerkt, dass du so ein schweres Päckchen zu tragen hast.“ Elisa wurde sofort klar, dass sich Amelis Eigenarten aus diesem Umstand heraus entwickelt haben mussten. Sie bewunderte ihre Freundin und war beeindruckt, was für Leiden ein Mensch doch aushalten konnte.

„Ja. Mein Päckchen wurde zu schwer. Ich musste weg, Elisa. Ich habe es aber schon ein wenig erleichtert und ich fühle mich auch schon freier.“ Ameli lächelte.

Elisa starrte Ameli fassungslos an. Wie ist es nur möglich, dass sie sich so komplett zurückziehen und verstellen konnte. Gelesen hatte sie schon viel darüber, aber vorstellen konnte sie es sich nie.

„Und hast du mit Lucas schon telefoniert?“ fiel Elisa plötzlich ein.

„Ich habe ihm zwei Nachrichten geschrieben und er hat mir auch geantwortet. Zwischen uns ist alles klar. Mir ist hier völlig bewusst geworden, dass ich Lucas liebe und ich werde ihm so einiges erklären müssen.“

„Was?“ rutschte Elisa einfach so raus.

„Na das. Er kennt mich zwar, aber eben nicht richtig. Ich muss ihm alles über mich erzählen, damit er begreifen kann, warum ich so eigenartig bin, meinen Freiraum und meine eigene Wohnung brauche. Ich bin mir sicher, dass er es verstehen wird. Ich muss es ihm nur mal sagen, oder?“

„Ja, ja auf alle Fälle. Man, Ameli ich bin total verblüfft. In so kurzer Zeit, hast du so viel über dich herausgefunden. Das ist ja unglaublich. Und das alles alleine? Man könnte meinen, du hättest einen Therapeuten an deiner Seite gehabt. Na, wo hast du ihn versteckt?“ Elisa war fassungslos, sie konnte das alles nicht glauben.

Ameli schreckte merklich zusammen bei Elisas Vermutung über einen Therapeuten. Ja, sie hatte einen Therapeuten an ihrer Seite. Und was für einen. Ameli stellte erleichtert fest, dass Elisa ihr erschrecktes Gesicht nicht bemerkt hatte. Anscheinend war sie zu sehr mit den Enthüllungen in Gedanken.

„Wann musst du denn überhaupt wieder los?“, wechselte Ameli schnell das Thema.

„Hm, ich werde morgen nachmittag wieder fahren. Wir haben also noch ein wenig Zeit zusammen. Lass uns nachher einen schönen langen Spaziergang machen. Ich will noch ein paar Steine sammeln. Manchmal findet man was Schönes hier. Ich will mal wieder einen richtig schönen großen Hühnergott finden. Was meinst du?“

„Ja, machen wir. Ich kenne hier zwar schon fast jeden Sandkorn, aber es ist doch immer wieder schön, muss ich zugeben. Schöne Steine habe ich auch schon gefunden. “

„Also gut, gib mir eine halbe Stunde im Bad und dann geht es los“, sagte Elisa.

Ameli räumte in der Zwischenzeit den Frühstückstisch ab. Sie ließ sich alle Zeit der Welt. Wenn Elisa sagte eine halbe Stunde, dann meinte sie mindestens eine Stunde. Für Ameli war das immer ein Rätsel. Elisa hatte eine völlig unkomplizierte Kurzhaarfrisur. Fönen war nicht nötig. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was Elisa so lange im Bad machte.

 

Sie wartete draußen vorm Haus auf Elisa. Sie brauchte wirklich eine knappe Stunde.

„Wir gehen durchs Dorf und dann von dort aus an den Strand. Ich war so lange nicht im Dorf. Bitte.“ Sie sah Amelis entsetzten Blick und fragte sich, was es damit wohl auf sich hatte.

Ameli zierte sich wirklich.

„Nein, Dorf ist doch langweilig“, sagte sie, obwohl sie genau wusste, wie schön das kleine Dorf mit den vielen blumenbeladenen Vorgärten war. Aber sie hatte Angst, dass Chris oder Frau Vetter ihr über den Weg laufen könnten.

Elisa ließ sich jedoch nicht umstimmen.

„Mag ja für dich langweilig sein. Ich möchte aber herausfinden, wie das Dorf auf mich wirkt. Ich bin am Überlegen, ob ich meine Arbeit in unsere Zweigniederlassung hier an der Küste verlagere. Und damit würde ich wieder öfter hier sein können.“ Eigentlich wollte Elisa Ameli davon noch nichts erzählen, weil es noch nicht feststand.

„Wie kommst du denn darauf? Und seit wann?“ Ameli wirkte erschrocken.

„Das ist nur so eine Überlegung, wirklich. Aber ganz ehrlich, als du deinen Job gekündigt hast, habe ich auf einmal Angst bekommen, dass du nicht mehr zurück kommen könntest. Und da fing ich einfach an zu überlegen, was ich machen würde, wenn es so kommen würde.“ Elisa schaute Ameli direkt in die Augen.

„Ach Elisa. Ich habe doch nur meinen Job gekündigt. Ich habe doch noch Lucas in Köln.“

„Na und? Deswegen kannst du doch trotzdem einen neuen Weg einschlagen. Lucas ist doch kein Hinderungsgrund. Lieben kannst du ihn überall. Schau, so eine Selbstanalyse bringt immer Neuheiten mit sich. Ich weiß wovon ich da rede.“

Ja, wer weiß, dachte Ameli. Vielleicht hat ja Elisa recht und ich müsste wirklich woanders einen Neubeginn starten.

„Da bringst du mich ja jetzt auf ganz neue Gedanken. So weit habe ich noch gar nicht gedacht. Das heißt, soweit bin ich auch noch gar nicht.“

„Na jedenfalls“, redete Elisa weiter „habe ich auch mal über mich nachgedacht. Und ich fand die Idee mit dem Wechsel an die Küste, ehrlich gesagt, für mich gar nicht so schlecht. Ich hätte eine neue Aufgabe und von einer Veränderung in meinem Leben war ich auf einmal total begeistert.“ Elisas Augen glänzten. Heiter hakte sie Ameli unter. „Und du hast das Haus wundervoll von Pauls Kram entrümmpelt, so dass ich mich wirklich wieder wohl darin fühle. Das hast du prima gemacht.“

Ameli wurde immer ruhiger und nachdenklicher.

„Das klingt ja schon so, als wenn dein Entschluss feststehen würde“, stellte Ameli nüchtern fest. Ihre Stimme klang traurig.

„Je mehr ich darüber nachdenke, um so mehr Gefallen finde ich daran. Stimmt.“

Sie schauten sich beide an und mussten gar nicht viel sagen. In beiden Gesichtern lag Traurigkeit. Aber sie wollten jetzt beide nicht über diese Traurigkeit reden. Sie drückten sich kurz einvernehmlich und versuchten nicht mehr daran zu denken.

Ohne es zu merken, hatten sie das Dorf bereits hinter sich gelassen und waren nun auf dem schmalen Pfad zum Stand. Völlig aus dem Nichts kam Chris ihnen plötzlich entgegen. Ameli hatte es befürchtet. Sie hielt die Luft an und stöhnte leise. Auch Chris zuckte zusammen. Die Einzige, die völlig normal blieb, war Elisa. Da der Pfad ziemlich schmal war und man sich arrangieren musste beim Vorbeilassen, entging Elisa nicht der Blickkontakt zwischen Ameli und Chris und das peinliche Gehabe der beiden. Sie wusste sofort, dass sie sich kannten und sie ahnte, dass da was lief.

Am Strand ließ sie sich in den Sand plumpsen und musterte Ameli. Ameli war völlig neben sich und abwesend.

„Na, was war das denn?“ fragte Elissa gerade heraus.

„Was war was?“

„Der hübsche Jüngling?“

„Der hübsche Jüngling kennt dich, liebe Elisa, besser, als dir vielleicht recht ist. Er ist heimlicher Beobachter deiner Schwimmkünste und kennt dich demzufolge nackt“, konterte Ameli ein wenig angriffslustig. Sie war wütend auf sich und Elisa musste dafür herhalten. Es tat ihr sofort leid.

„Ja, ja. Wennschon. Ich muss mich doch nicht verstecken, oder? Lenk nicht ab, du weißt, was ich meine.“

Ameli schaute Elisa gequält an.

Was und wie viel sollte sie ihr nur erzählen?

Konnte sie ihr alles anvertrauen?

Wollte sie das?

Sie war noch nicht so weit.

Aber vielleicht konnte ihr Elisa helfen? War das alles mal wieder schwer. Sie stöhnte.

Elisa merkte, dass Ameli mit sich kämpfte. Innerhalb weniger Minuten hatte sich ihr Zustand geändert. Elisa sah nicht mehr die offene Ameli, sondern die verschlossene, mit Geheimnissen behaftete Ameli. Eisa wusste, dass man Ameli mit dem verschlossenen Gesicht zu nichts drängen durfte. Dann hatte man nämlich verloren. Ob sich Ameli allerdings dieser Sache bewusst war, wusste Elisa nicht. Sie hatte Ameli daraufhin auch noch nie angesprochen. Sie fand es auch nicht weiter dramatisch und wollte ihr, ihre eigene Intimsphäre lassen.

Elisa war eher eine zurückhaltende Freundin, die sich nie einmischte, sondern immer den anderen kommen ließ. Dann war sie aber voll da mit ihrer uneigennützigen Hilfsbereitschaft.

Ganz vorsichtig nahm sie Ameli leicht am Arm und führte sie runter zum Wasser. Und siehe da, Ameli fing ganz von alleine an zu erzählen.

„Das war Chris. Wir haben miteinander geschlafen. Aber ich war es nicht wirklich.“

„Hm.“ Elisa war ein wenig verdutzt, aber sie glaubte zu ahnen, was Ameli meinte. Sie unterbrach Ameli nicht.

„Gut, Elisa, du kennst mich. Aber wiederum auch nicht. Ich habe dir heute morgen von meiner Kindheit erzählt und von meiner Traumwelt. Obwohl ich gerade hier nicht träumen wollte, war ich hier irgendwie dauernd in einer Traumwelt.“

Sie machte eine Pause. Plötzlich kam ihr ihr ganzes wirres Gefühlsleben in den letzten Tagen wie eine ständige Vermischung von zwei Welten vor.

Realität.

Traumwelt.

Sie hatte aber den Eindruck, dass mehr Traum als Realität ihre letzten Tage bestimmte. Sie hatte sich nicht dagegen gewehrt. Sie fiel dabei immer wieder in die Vergangenheit zurück und kam wie in Trance ihren Gefühlen näher. Sie durfte fühlen. Sie fühlte.

Ameli fühlte auf einmal, dass sie schwach wurde. Sie setzte sich in den Sand und schloss die Augen. Sie wollte sie gar nicht mehr öffnen. Sie wollte nur noch schlafen. Sie hatte plötzlich keine Kraft mehr.

Sie verstand auf einmal, dass das Hin- und Herpendeln zwischen Traum und Wirklichkeit seit ihrer Kindheit ihr ganz normales Schema war. Es war für sie nichts Besonderes, sondern ein immer gleichbleibendes Ritual. Bist du traurig, fühlst du dich nicht geliebt und ungerecht behandelt, hast du Ärger oder Stress, dann ziehe dich zurück in eine Welt, wo alles so ist, wie du es magst. Nimm dir das, was du brauchst und sei glücklich. Und genau diesem Schema ist sie dann auch gefolgt bei ihrem ersten Clubbesuch. Und auch da hatte es funktioniert. Mehr noch, sie fühlte sich sogar wie neugeboren. Sie hatte als Kind diese Möglichkeit gefunden, ihr Leben auszuhalten und sie suchte nie eine andere Möglichkeit.

Es gab nur die eine Möglichkeit. Dieses Wechselspiel hatte sich über Jahre in ihr verfestigt. Bis jetzt.

Das kann doch alles nicht wahr sein, flüsterte sie leise. Sie fühlte sich wieder so unendlich allein mit ihrer Eigenart. Hörte das denn nie auf?

Sie blickte zu Elisa, die während ihres Schweigens angefangen hatte Steine zu sammeln.

Sie fing einfach wieder an zu reden.

„Träumerin Ameli hat mit Chris geschlafen. Sie musste das tun. Nicht nur einmal. Ich war das nicht. Ist das möglich, Elisa?“

„Hat Chris für dich eine Bedeutung?“

„Nein. Ich habe ihn immer nur als wertvoll für mich empfunden. Kann man das verstehen?“

„Dann lass es einfach so. Lass ihn einfach dein Traumprinz sein. Und auf deine Frage, ob das möglich ist, kann ich nur sagen: ja es ist möglich. Man kann sich in andere Welten begeben und Dinge tun, die man sonst nicht tut. Ich bin zwar keine Psychologin, aber so etwas gibt es. Passiert dir denn so was öfter, oder nur ab und an?“

„Was? Das ich mit anderen schlafe? Nein, das ist mir zum ersten mal passiert“, log Ameli. Sie wollte ihr ganzes Geheimnis nicht preis geben.

„Gehst du selber in die Traumwelt, oder bist du plötzlich da und weißt nichts davon?“ Elisa bekam nun doch ein wenig Angst um Ameli. Es gab schließlich Zeiten, wo Ameli ziemlich schräg drauf war.

„Nein. Ich träume nur, wenn ich will.“ Dass sie allerdings auch manchmal träumen musste und ihre Träumerei in fremden Männerarmen ausleben musste, das verschwieg sie weiterhin. Es reichte, dass sie es wusste.

Langsam fing sie an, sich dafür zu hassen und zu schämen.

Sie wollte es nicht mehr brauchen müssen.

„Aber weißt du, die ganze Sache ist aus dem Ruder gelaufen. Chris hat sich in mich verliebt.“

„Ach du Scheiße. Entschuldigung. Aber das hätte ja nicht sein müssen.“

„ Du sagst es. Er tut mir wahnsinnig leid. Ich hätte es nicht soweit kommen lassen dürfen. Ich mache mir Vorwürfe. Er ist noch so jung und ich habe mit ihm nur gespielt, oder wie soll man das nennen?“

„Nun mach dir mal keine Vorwürfe. So wie ich das ganze jetzt verstehe, hat dich dein zweites Ich dazu getrieben. Verstehst du?“

„Ja, du findest natürlich auch dafür wieder eine Entschuldigung. Mein zweites Ich hat also mit Chris geschlafen. Hört sich nicht schlecht an“, stellte Ameli kühl fest.

„Ameli, man muss schon sagen, dass du eine sehr schwierige Kindheit hinter dir hast. Und alle Achtung, dass du trotzdem alles so gut alleine bewältigt hast. Dein Abdriften in die Traumwelt scheint mir nur normal. Das war als Kind dein Schutz vor deiner lieblosen Mutter“, erwiderte Elisa mitfühlend.

„Ja, du hast recht. Darauf bin ich auch schon gekommen.“

Ameli erhob sich endlich und sie gingen schweigend am Strand entlang. Sie hingen beide ihren Gedanken nach. Nach einer Weile unterbrach Ameli die Stille.

„Je mehr ich an meine Mutter dachte, um so verwirrter wurde ich. Und dann war Chris da. Ich habe in dem ganzen gedanklichen Chaos, Chris mit meiner Mutter gleichgesetzt. Ich sehnte mich nach ihr. Ich brauchte ihren körperlichen Halt und Chris hat ihn mir gegeben. Es kam eins zum anderen. Oh Gott, Elisa, glaubst du ich habe Lucas betrogen?“ Mit dieser Frage meinte Ameli nicht unbedingt nur Chris, sondern auch alle anderen Männer.

„Nein“, antwortete Elisa ganz schnell und sicher. „Wie gesagt, das warst nicht wirklich du. Und genauso hast du dich doch auch gefühlt. Also, ich würde das Lucas nicht unbedingt sagen. Wozu?“

„Ach, Elisa, das ist schon alles verquer. Du glaubst gar nicht, was ich hier in meinem Oberstübchen für ein Chaos habe. Aber so langsam wird es ein wenig klarer. Ich muss alles noch ordnen und dann muss ich anfangen, damit richtig umzugehen. Ich glaube ganz fest daran, dass es mir dann besser gehen wird.“ Ameli nickte zuversichtlich.

„Na, das hört sich doch viel versprechend an“, lobte Elisa ihre Freundin.

Und im gleichen Atemzug riefen sie zusammen: „Und wann immer du Hilfe brauchst, denk an mich.“ Dieses Angebot hatte Elisa Ameli bestimmt schon Tausendmal gemacht. Angenommen hatte es Ameli jedoch in all den Jahren kaum. Lachend fielen sie sich in die Arme. Ameli war wirklich froh, dass Elisa sie verstand. Dann würde Lucas sie auch verstehen.

Schweigend gingen sie weiter. Ab und zu bückte sich Elisa und hob einen schönen Stein auf. Einen Hühnergott hatte sie aber noch nicht gefunden. Elisa hätte Ameli am liebsten eine Therapeutin empfohlen. Das, was sie hörte, erdrückte sie fast. Wie musste es Ameli nur die ganze Zeit gegangen sein? Das konnte sie unmöglich alles alleine bewältigen. Sie würde sie gut im Auge behalten. Bei der ganzen Schwere der Situation, kam Elisa aber nicht umhin, Ameli noch eine Frage zu stellen.

„Sag mal, und du hast wirklich mit diesem schönen Jüngling geschlafen?“

„Nun ja.“

„Nicht schlecht.“

„Nein. Nein. Nein. Verlange von mir jetzt bitte keine Details. Ich seh´s doch in deinen Augen, wie die Neugier dich plagt. Vergiss es.“

„Ja, ist ja schon gut. Hast ja recht, darüber spricht man nicht. Schade eigentlich.“

„Vielleicht läuft dir Chris ja auch mal über den Weg?“ scherzte Ameli. Aber gleich tat ihr diese Äußerung leid, würde sie doch alles darum geben, Chris als guten Freund zu behalten. Noch hatte sie die Hoffnung dazu nicht aufgegeben. Allerdings musste sie mit Chris unbedingt noch einmal reden.

Ob er wohl dazu bereit wäre?

 

 

Für Chris war die Begegnung mit Ameli schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Es gab ihm einen tiefen Stich ins Herz. Er dachte, er würde ohnmächtig werden. Da stand sie wieder vor ihm, so schön, so zart, so begehrlich. Er hätte sie am liebsten berührt, als sie so dicht aneinander vorbeigingen. Ihm ist auch nicht entgangen, dass Ameli ihren Blick gesenkt hatte, um ihn nicht in die Augen sehen zu müssen.

Also fühlte sie auch noch etwas?

Leise Hoffnung kam auf.

Er konnte sie einfach nicht vergessen. Immer war sie ihm allgegenwärtig. Es machte ihn wahnsinnig. Er wollte ihr Lachen hören. Er wollte seine Hände in ihrem dichten Haar vergraben. Er wollte ihre festen Brüste streicheln. Er wollte ihren straffen Po in den Händen halten. Er wollte einfach alles von ihr besitzen.

Sofort.

Er konnte es nicht ertragen, zu wissen, dass Ameli keine 1000 Meter von ihm entfernt war. Chris wusste im Moment nicht, wie er je über diesen Verlust hinwegkommen sollte.

Ob er mit seiner Mutter darüber reden sollte? Aber was konnte sie ihm schon zum Thema Liebeskummer sagen? Sie kannte doch außer seinem Vater keinen anderen Mann. Darin war sich Chris ziemlich sicher. Sie waren beide aus dem Ort und hatten sehr jung hier geheiratet.

Trotzdem wollte er sich bei seiner Mutter einen Rat holen. Ihr würde sowieso auffallen, dass er von der Rolle war. Er fand seine Mutter in der Küche bei der Zubereitung des Abendessens. Sein Vater war zum Glück nicht im Haus.

Chris brühte sich einen Kaffee auf und setzte sich an den Küchentisch.

Frau Vetter ahnte sofort, dass er etwas auf dem Herzen hatte, um diese Zeit saß Chris nämlich noch nie in der Küche. Deswegen fragte sie gleich unverblümt, ob es um Ameli gehen würde.

„Ich habe mich in sie verliebt, Mutter. Ohne Zweifel. Aber sie hat einen Freund, den sie natürlich liebt. Ich bin für sie etwas Besonderes, sagt sie. Sie möchte mich als Freund behalten, oder so ähnlich. Ich kann das nicht verstehen.“ Chris schaute fragend seine Mutter an.

„So ist das mit der Liebe. Sie ist manchmal nicht zu verstehen. Sie kann Wunden ins Herz reißen. Man kann sie bis ans Lebensende mit sich rumtragen.“

Chris schaute seine Mutter verdutzt an und fragte sie ungläubig, ob sie da aus Erfahrung sprechen würde. Sie seufzte schwer.

„Hast du eine Ahnung.“ Sie war erschrocken, über ihre freimütige Offenbarung. Völlig hektisch begann sie die Kartoffeln zu schälen.

„Na komm schon Mutter. Nun musst du mir aber auch alles erzählen. Du kannst mich doch jetzt hier nicht so sitzen lassen“, forderte Chris seine Mutter auf.

Frau Vetter drehte sich zu ihrem Sohn um. Sie schaute ihm lange in die Augen und sah den Liebesschmerz in ihnen. Jahrelang trug sie den selben Schmerz in sich. Zum Glück hatte ihr damals keiner so tief in die Augen geschaut, um es zu sehen. Sie rang mit sich, ob sie Chris davon erzählen sollte. Aber vielleicht konnte sie ihm helfen. Sie setzte sich zu ihm, nahm seine Hände in ihre und begann leise und zaghaft.

„Was ich dir jetzt erzähle, versprich es mir, muss unter uns bleiben. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, es dir zu sagen. Es weiß keiner.“ Chris nickte mit dem Kopf und war ganz gespannt.

„Dein Vater und ich waren damals drei Jahre verheiratet. Glücklich verheiratet. Und es blieb auch immer so, wie du weißt. Wir lieben uns.“ Sie machte eine kleine Pause bevor sie weitererzählte.

„Ich freute mich jedes Jahr auf die Sommerurlauber. Da kam Leben ins Dorf und es gab viel Arbeit. Dann traf ich ihn. Er war mit seiner Frau hier. Unsere Blicke trafen sich und es hat uns beide, wie man so schön sagt, erwischt. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas möglich wäre, wenn ich es nicht selbst erlebt hätte. Ich war völlig verwirrt. Ich konnte die Nacht nicht schlafen und ich wusste, dass ich ihn alleine treffen musste, ohne seine Frau. Sehr früh machte ich einen Strandspaziergang, entgegen allen Gewohnheiten. Ich schlich mich aus dem Haus. Ich traf ihn am Strand. Wir waren nicht verabredet. Es begann eine heimliche Affäre. Sie dauerte fünf Sommer. Im sechsten Sommer kam das Paar nicht mehr. Wir haben uns nie wieder gesehen. Ich weiß bis heute nicht, was damals passiert war. Ich weiß nur, dass ich mich jedes Jahr auf den Sommer gefreut hatte. Und plötzlich gab es keinen Sommer mehr. Es war für mich eine stille Affäre, die ich lange in meinem Herzen trug. Irgendwann wusste ich, dass es keinen Sinn mehr machte, auf ihn zu warten. Die Sommer wurden wieder schön. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, habe ich nur glückliche Erinnerungen. Es war eine Affäre auf bestimmte Zeit. Für den Alltag wären wir nicht füreinander geschaffen gewesen. Das wussten wir beide, von Anfang an. Was völlig unerwartet begonnen hatte, endete auch völlig unerwartet.“ Frau Vetter schob das Küchentuch von einer Seite auf die andere. Sie merkte, dass Chris sie völlig entgeistert anschaute.

„Ich habe nie aufgehört deinen Vater zu lieben, das musst du mir glauben. Gerade deshalb habe ich ihm auch nie davon erzählt. Es würde einer Katastrophe gleichkommen, wenn er je davon erfahren würde. Ich hoffe, du kannst das verstehen, Chris“, flehte sie ihn an.

Chris nickte nur mit dem Kopf. Das hätte er seiner Mutter ja nun wirklich nicht zugetraut. Er war wirklich geschockt. Er konnte gar nichts sagen.

„Was ich damit sagen wollte, vielleicht geht es Ameli ja so ähnlich. Vielleicht brauchte sie nur mal eine kleine Affäre, wollte abtauchen.“

Genau das konnte und wollte Chris nicht verstehen. Dieses Gefasel von anderer Welt oder Abtauchen, war für ihn großer Quatsch. Auch Ameli deutete so etwas in dieser Richtung an. Im Moment beschäftigte ihn aber mehr das unglaubliche Geständnis seiner Mutter.

„Also, Mutter, dass du fremdgegangen bist, das ist ja unfassbar“, stammelte Chris. Andere konnten seinetwegen Affären haben, aber doch nicht seine Mutter.

„Es war nur eine Affäre. Ohne Bedeutung.“

„Nenne es, wie du willst. Es macht es nicht besser. Und Vater hat nichts davon mitbekommen? Ich kann es kaum glauben. Aber keine Angst, ich sage es ihm nicht. Jetzt muss er es wirklich nicht mehr wissen. Aber wie kann man nur so etwas machen? Was hast du dir dabei gedacht? Hast du gar kein schlechtes Gewissen gehabt?“ Chris steigerte sich regelrecht in eine Flut von Fragen und Vorwürfen.

Frau Vetter konnte es verstehen.

„Glaub mir, die gleichen Fragen habe ich mir anfangs auch gestellt. Aber es fühlte sich anders an als die Liebe, die ich zu deinem Vater empfand. Die Liebe zu deinem Vater war und ist geprägt von Vertrauen und Verständnis und von einer unglaublichen Tiefe. Das andere war, wie soll ich sagen, ein augenblicklicher Knalleffekt, der auf beiden Seiten ein Begehren ausgelöst hatte, mehr aber auch nicht. Uns war immer klar, dass es nur eine Affäre war. Sommer für Sommer.“

„Ich kann es trotzdem nicht verstehen. Warum hast du das gemacht? Fünf Jahre lang?“ Chris wiederholte seine Frage.

„Ich war mir sicher, dass ich immer mit deinem Vater in diesem Dorf bleiben würde. Es war unser zu Hause. Es war mein Leben. Aber ich wollte auch immer woanders sein. Durch die Affäre hatte ich plötzlich das Gefühl, dass von mir etwas in die weite Welt getragen wird. Ich weiß das klingt unverständlich, aber es war mein Wunsch und Glaube.“ Nach so langer Zeit kam in Frau Vetter wieder das damalige Gefühl hoch. Sie gab ihm jedes Jahr eine Kleinigkeit von sich mit, um draußen in der Welt präsent zu sein.

„Aber, habe ich dich richtig verstanden, du hast ihn nie vergessen können? Also war es für dich wohl doch mehr als nur eine Affäre?“ Chris wollte es genau wissen.

„Nein. Anfangs konnte ich die Welt nicht verstehen, das stimmt schon. Ich konnte nicht verstehen, warum er sich nicht mal gemeldet hatte. Ich hatte Angst, dass ihm etwas passiert sein könnte. Die Ungewissheit hat mich leiden lassen. Aber mit der Zeit verlor sich das Leiden und ich dachte nur noch mit einem Lächeln an ihn. Die schönen Augenblicke habe ich in eine Ecke meines Herzens verbannt. Bereut habe ich es nie.“

Frau Vetter sah, dass für Chris die Welt Kopf stand. Ihr war klar, dass man, wenn man sich frisch verliebt hatte, solche Gedankengänge nicht nachvollziehen konnte. Sie bedauerte, dass Chris´ erste Erfahrung mit der Liebe so daneben ging. Und sie spürte wie Wut in ihr hoch kam. Sie war sehr böse auf Ameli, dass sie als erfahrene Frau ihren Sohn so verletzt hatte. Sie hatte Ameli extra noch gebeten, nicht mit Chris zu spielen. Als wenn sie es geahnt hätte. Aber nun war es nicht mehr zu ändern. Sie musste ihrem Sohn irgendwie verständlich machen, dass die Welt davon nicht unterging. Aber wie?

Schon fragte Chris weiter.

„Nach dem was passiert ist, kann ich doch jetzt nicht einfach so tun, als wenn ich ihr guter Freund werden könnte? Wir haben miteinander geschlafen. Wie stellt sie sich das eigentlich vor? Ich liebe sie. Was soll ich denn jetzt machen?“

„Ich weiß, mein Sohn. Für Ameli wird das einfacher sein. Ihr wird es höchstens ein wenig peinlich sein. Habt ihr euch ausgesprochen, oder hat sie dich einfach nur weggeschickt?“

„Ausgesprochen? Nein. Ich weiß auch nicht, ob ich das kann. Am liebsten wäre mir, sie würde einfach wieder verschwinden, damit ich sie nie wieder sehen muss.“ Wie sich letztendlich alles zugetragen hatte, konnte Chris seiner Mutter unmöglich erzählen. Es reichte schon, dass sie wusste, dass er sich verliebt hatte.

„Gerade das funktioniert nicht, mein Sohn. Sie wird dir immer wieder im Kopf rumgeistern. Du musst unter der Sache einen sauberen Schlussstrich ziehen, damit du dich von deiner Liebe verabschieden kannst. Ob ihr hinterher gute Freunde sein könnt, weiß ich nicht. Das kommt darauf an, ob ihr klare Verhältnisse schaffen könnt und einander verzeihen könnt. Vor allem du. Also ihr müsst euch aussprechen. Unbedingt. Du würdest es bereuen, wenn du es nicht tätest. Das kann nur ein guter Rat von deiner alten Mutter sein.“

Chris nickte ihr dankend zu. Er wollte sich alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen.

Frau Vetter war klar, dass sie jetzt von Chris keine Antwort mehr bekommen würde. Sie kannte ihren Sohn nur zu gut. Sie strich ihm sanft über den Kopf. Das war im Moment alles, was sie für ihn tun konnte.

In Chris rumorte es. Er war also eine billige kleine Affäre für Frau Ameli. Eigentlich hatte er es von Anfang an gewusst. Und wenn er es sich recht überlegte, hatte sie von Anfang an kein Hehl daraus gemacht, dass sie einen Freund hatte.

Nicht ganz. Sie hatte es ihm erst erzählt, nachdem sie das erste mal miteinander geschlafen hatten. Aber das war jetzt auch egal. Er schwor sich, dass ihm so etwas nie wieder passieren würde. Er kam sich dumm und lächerlich vor.

Was hatte er sich eigentlich eingebildet?

Dass sich Ameli von ihrem Freund trennen würde und zu ihm ins kleine Fischerdorf kommen würde?

Hatte er sich das wirklich so vorgestellt?

Kann Liebe einen wirklich so zum Holzkopf werden lassen?

Und trotzdem tat es verdammt weh.

Aber vielleicht hatte seine Mutter ja recht.

Aussprache.

 

 

Ameli und Elisa saßen bei einer Tasse Tee auf der Veranda. Es zogen dunkle Wolken vom Horizont auf. Das Meer passte sich der aufkommenden Wolkenfront an. Es wechselte innerhalb weniger Minuten die Farbe und begann zu pulsieren. Ameli war entzückt von diesen Weckselspiel.

Nun fand sie sich total eins mit dem Meer. Auch in ihrem Inneren brodelte es. Es begann schon, als sie Chris über den Weg gelaufen war. Sie fühlte die ungeklärte Situation als dunkle, feste Masse in sich. Sie legte sich schwer auf ihren Magen. Diesmal war sie aber nicht bereit, diesen Zustand so zu unterdrücken, wie sie es sonst immer getan hatte. Sie wollte das nie wieder so tun.

Sie würde es diesmal auskämpfen und erledigen.

Sie wollte sich nicht mehr schlecht fühlen, nur weil sie alles in sich reinfraß.

Sie musste mit Chris reden.

Sie wünschte sich ihn herbei.

Die ersten Regentropfen fielen. Ameli hätte am liebsten mitgeweint. Sie wusste nicht so recht, wie sie sich fühlen sollte. Sollte sie traurig sein, weil sie nicht bei Lucas war? Oder sollte sie entsetzt über ihre Affäre mit Chris sein? Oder sollte sie erleichtert über ihre gewonnenen Erkenntnisse sein? Oder sollte sie sich auf den bevorstehenden Besuch bei ihrer Mutter freuen? Oder sollte sie sich lieber nicht zu viel davon erwarten?

Fragen über Fragen stürmten auf sie ein. So, wie sich das Meer jetzt mit seinen Schaumkronen zeigte, so bewegt war auch Amelis Gedankenwelt.

Es war immer noch nichts in Ordnung.

Oder doch?

Ganz anders sah es in Elisa aus. Sie träumte mit geschlossenen Augen. Sie hörte zwar das Tosen des Meeres, aber es hatte nichts mit ihr zu tun. Sie dachte über ihre Zukunft nach. Sie sah sich als Leiterin der Zweigniederlassung hier an der Küste. Sie würde sich eine kleine Wohnung mieten und wann immer sie Zeit hätte, würde sie hier sein. Je mehr sie darüber nachdachte, um so mehr fand sie Gefallen daran. Sicher, sie würde Ameli nicht mehr so oft sehen, dass schmerzte schon. Aber sie wäre nicht aus der Welt. Elisa war sich sicher, dass Ameli sie hier besuchen würde. Sie liebte doch so sehr das Meer.

Auf einmal stand ihr Entschluss fest. Sie würde am Dienstag ihre Versetzung beantragen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Sie fühlte sich glücklich.

 

Ganz anders erging es Chris.

Nach dem Gespräch mit seiner Mutter, haderte er immer noch mit sich. Er wusste, dass sie recht hatte. Er musste sich Klarheit verschaffen, sonst würde er ewig in Gedanken an Ameli verzweifeln. Sein Realitätssinn holte ihn zurück. Das Leben würde weiter gehen, sagte er sich, auch ohne Ameli.

Was er noch wissen musste, war, warum sie es getan hatte. Das konnte er immer noch nicht verstehen. Oder wollte er es nur nicht verstehen?

So wie der Himmel jetzt weinte, so weinte auch sein Herz. Er wollte sein Herz beruhigen. Sofort. Obwohl es stark regnete, ging er zu Ameli. Sie konnte nur im Haus sein, da war er sich sicher. Auf dem Weg dorthin, fiel ihm ein, dass auch Elisa da war.

Er hatte sie zwar registriert, als er Ameli auf dem schmalen Pfad begegnet war, hatte aber keine Augen für sie. Zu frisch war noch die letzte Begegnung im Bad.

Er hatte sich die ganze Nacht gequält mit diesen Bildern. Sie gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er kam sich mehr und mehr wie ein Barbar vor. Ihm war klar, dass er sie überfallen hatte mit seiner männlichen Kraft und dass er sich wild besessen nahm, was er wollte.

Er dachte nur an sich.

Ja, er ignorierte in dem Moment, dass sie ihn nicht wollte.

Er hörte nicht auf ihr Nein.

Jetzt kam er sich schlecht vor. Er hatte sie zu etwas gedrängt, was sie nicht wollte. Ihm fielen dazu immer wieder die Worte Nötigung, Missbrauch und gar Vergewaltigung ein.

Aber war es wirklich so?

Wollte sie es nicht auch noch einmal?

Hatte sie sich wirklich gewehrt?

Chris konnte es nicht mehr genau sagen. Er wusste nur noch, dass er sie blind vor Wut, Verlangen, Enttäuschung und Liebe an sich gerissen hatte und alles was er fühlte in sie rein gestoßen hatte.

Sie machte jedoch nicht mit.

Was hatte er nur getan?

Mit diesen Gedanken erreichte er völlig durchnässt das Haus. Diesmal klingelte er und wartete, bis man ihm die Tür aufmachte. Sie öffneten ihm beide die Tür.

Elisa lächelte ihn an.

Ameli schaute ihn hoffnungsvoll fragend an.

Chris konnte beiden Blicken nicht standhalten. Diese beiden Frauen waren auf einmal zu viel für ihn. Ohne etwas zu sagen, drehte er sich um und ging. Ruckartig griff Elisa nach seinem Arm und zog ihn zurück.

„Nun hast du es bis hierher geschafft, dann wirst du den Rest auch noch schaffen. Komm rein.“ Elisa musste plötzlich an einen kleinen Welpen denken. Unbeholfen, linkisch und süß, stand der Jüngling in der Tür. Am liebsten hätte sie ihm sein durchnässtes Haar trocken gerubbelt.

Chris war unsicher.

Was wusste Elisa?

Alles? Na klar, beste Freundinnen erzählten sich immer alles. Aber sie hatte recht. Er musste den Rest jetzt schaffen, warum war er sonst hier.

„Ameli, wir müssen reden“, überwand er seine Scheu.

„Ja, Chris. Ich bin froh, dass du gekommen bist. Aber mach dich erst mal trocken. Du weißt ja, wo das Bad ist. Und vielleicht kann dir Elisa was von Paul zum anziehen geben? Es müsste dir passen.“ Mit Blick auf Elisa regelte sich die Sache schnell.

Während Chris im Bad war, wurde Ameli immer nervöser. Sie bat Elisa, sie allein zu lassen.

Chris ließ sich Zeit. Er konnte immer noch aus dem Badfenster flüchten. Ihm fiel ein, dass er hier im Haus schon mal Fluchtgedanken hatte und auch schon im elterlichen Haus vor Ameli geflohen war. Heute musste er bleiben.

Flucht brachte keine Lösung.

Er war froh, dass Elisa nicht mehr im Raum war.

„Sie ist oben.“ Ameli erriet seine Gedanken.

Sie saßen sich stumm gegenüber. Wieder einmal. Keiner wusste so recht, wie und wo er beginnen sollte. Beide zögerten den ersten Schritt zu machen. Sie waren gehemmt. Ameli fasste sich als erste.

„Chris, lass uns alles ruhig besprechen. Lass uns alle offenen Fragen klären. Heute bin ich bereit, dir alles zu beantworten, soweit ich kann.“

„Gut. Ich weiß nur nicht, wo ich anfangen soll, Ameli. Ich bin so durcheinander. Aber du hast recht, lass uns ehrlich miteinander alles klären. Nur so wird hoffentlich alles wieder normal für mich werden. Ich hätte niemals gedacht, dass verliebt sein so anstrengend sein kann und so schmerzlich.“ Chris schenkte Ameli trotz innerer Anspannung ein Lächeln.

„Ich weiß auch nicht, wo wir anfangen könnten“, gestand Ameli. „Mir tut alles so furchtbar leid. Ich habe dich, wie soll ich sagen? Jetzt im Nachhinein würde ich sagen, ich habe dich für meine eigenen Zwecke missbraucht. Ich musste es tun.“

„Warte. Du hast mir viel von Dir erzählt, Ameli. Ich habe das alles auch nicht vergessen. Lass uns vom Beginn unserer Begegnung anfangen. Vielleicht kommen wir dann zum Ziel. Ich will das alles verstehen, Ameli“, flehte Chris. „ Du bist meine erste Liebe und ich fühle mich jetzt wirklich benutzt und weggeworfen. Aber irgendwie sehe ich auch dein Leid bei der ganzen Sache. Und wenn ich nun schon dein Spielball war, dann will ich wenigstens begreifen, warum?“

Ameli atmete tief aus. So viel Verständnis und Stärke hätte sie Chris gar nicht zugetraut. Sie fühlte sich ihm mit ihren 30 Jahren unterlegen. Sie nickte. Sie fand seine Idee, alles von Anfang an aufzudröseln, gar nicht mal so schlecht. Sie hatte hier ständig das Bedürfnis, alles was sie tat und dachte, später noch einmal zu durchdenken oder in Frage zu stellen. Das konnte sie hiermit gut tun.

„Gut. Fangen wir mit unserer ersten Begegnung an. Kannst du dich noch an unseren ersten Blickkontakt erinnern?“ frage sie.

„Ja.“

„Was hast du gesehen?“

„Ich sah dich als Engel meiner Träume. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Ich wusste nur, dass sich endlich meine nächtlichen Träume erfüllen würden. Ich wusste sofort, dass du mir das geben würdest, was ich mir schon immer gewünscht hatte.“

„Ja, Chris. Genau diesen sehnsuchtsvollen Blick habe ich von Dir aufgefangen. Ich wusste, was du dir in diesem Augenblick gewünscht hattest. Dein sehnsuchtsvoller Blick erfasste mich mit so einer Intensität, dass ich dir diesen Wunsch einfach erfüllen musste. Ich hatte irgendwie das Bedürfnis dazu. Auch in mir schlummerte seit meiner Kindheit eine Sehnsucht, die sich noch nicht erfüllt hatte. Vielleicht dachte ich, dass sich auch meine Sehnsucht erfüllen würde, wenn ich dir deine Sehnsucht erfüllen würde. Ich fühlte mich wie im Märchen. Küss den Frosch und der Prinz ist da. Oder so ähnlich. Und dann nahm alles seinen Lauf.“

„Deine Sehnsucht galt deiner Mutter, stimmts?“

„Richtig. Ich sehnte mich nach der unerfüllten Mutterliebe. Jetzt weiß ich es. Und ich bin dir so unendlich dankbar, Chris. Durch dich habe ich wieder einen Zugang zu meiner Mutter gefunden.“

„Durch mich? Wie das denn?“ fragte Chris ein wenig ungläubig.

„Anfangs dachte ich auch, das kann nicht wahr sein. Aber du hast die tiefe Sehnsucht in mir geöffnet. Du hast mich dazu getrieben, über mich zu erzählen, über mich nachzudenken. Was ich dir erzählt habe, war bis dahin nur in meinem Körper gefangen. Durch das Zurückgehen in meine Kindheit, fühlte ich mich meiner Mutter plötzlich nahe. Aber es war alles so schmerzlich. Mit dir konnte ich diesen Schmerz aushalten. Du hast mich gehalten, geführt und geliebt.“

„Ah ha, deswegen hast du in der Nacht nach deiner Mutter geschrien.“ Sie erinnerten sich beide an die Nacht, als Ameli am Ende des Aktes nach ihrer Mutter schrie.

„Ja, deine liebevolle Art und meine Gedanken an meine Mutter waren eins. Du warst für mich das Sinnbild meiner Mutter. Ich fühlte mich zum Schluss in deinen Armen wie ein glückliches Kind.“

„Das ist ja unglaublich“, stellte Chris fest. Konnte man das glauben?

„Du sagst es. Nach dieser Nacht ist mir klar geworden, dass ich auf keinen Fall mehr mit dir schlafen dürfte. Du brachtest in mir, von Anfang an, immer wieder das Bild meiner Mutter hervor. Kann man mit seiner Mutter schlafen?„

„Ach du meine Güte“, entfuhr es Chris.

„Aber irgendwie passierten auch nur komische Sachen mit uns. Ich denke da nur an deinen unverhofften Besuch.“ Sie mussten beide lächeln.

„Immerhin hat dein Spiel ja dann alles bei Dir in Bewegung gebracht.“

„Ja, aber nur mit deiner Hilfe, Chris. Vergiss das nicht. Du warst wie ein Therapeut in dieser Nacht. Ich danke dir wirklich.“

„Ja, aber warum ich denn, Ameli. Du hast doch einen Freund. Und bestimmt viele Freundinnen, mit denen du reden kannst.“

„Du sagst es, mit denen du reden kannst. Die Betonung liegt auf kannst. Nur, ich habe noch nie mit jemanden darüber geredet. Ich war dazu noch nie bereit. Ich habe bisher noch keinen so tief an mich heran gelassen, wie dich. Ich habe immer alles mit mir selbst ausgemacht. Mein Freund kennt mich halb so gut, wie du mich jetzt kennst. Ja, ich muss unbedingt mit ihm reden, das ist mir jetzt auch klar geworden. Ich liebe ihn nämlich aus tiefsten Herzen und ich will ihn nicht verlieren.“

„Und das ist dir auch erst hier klargeworden?“

„Was?“

„Dass du deinen Freund liebst?“

„Im Grunde genommen schon. Nein, versteh das jetzt nicht falsch. Natürlich wusste ich, dass ich ihn liebe. Wäre ich sonst mit ihm fünf Jahre zusammen?“

„Bei dir muss man mit jeder Überraschung rechnen“, konnte Chris jetzt schon wieder scherzen. Sie merkten beide, dass ihre Unterhaltung langsam einen angenehmen freundschaftlichen Touch bekam. Sie konnten sich offener in die Augen schauen und fingen an, gelöster mit einander zu reden.

„Nein, im Ernst. Lucas ist für mich das Wichtigste, was ich je hatte. Nun ist es an mir, ihm endlich zu zeigen, dass er auch mir vertrauen kann.“

„Und, kann er dir denn vertrauen? Das was hier passiert ist, beweist ja geradezu das Gegenteil, Ameli.“

„Einerseits ja, andererseits nein.“

„Was soll das heißen? Du willst es ihm nicht sagen?“ Chris musste an seine Mutter mit ihrer Affäre denken. Sie blieb für seinen Vater ein Geheimnis.

„Ich habe lange darüber nachgedacht. Nein, ich werde es ihm nicht sagen. Wozu? Es hat nicht das Geringste mit meiner Liebe zu ihm zu tun.“

Chris stöhnte auf. Das hatte er vor ein paar Stunden schon einmal gehört. Konnte man denn überhaupt noch einer Frau trauen? Waren alle Frauen so verlogen?

„Das verstehe ich nicht. Du liebst ihn und betrügst ihn. Und im gleichen Atemzug sagst du, er soll dir vertrauen können. Das passt doch nicht zusammen, Ameli. Für mich jedenfalls nicht.“

„Ja, ja. Du hast ja recht. Aber wir hatten nur eine Affäre. Verstehst du? Affäre. Und sie war noch nicht einmal geplant. Sie ist entstanden, aus einem Umstand, der schwer zu erklären ist. Ein Umstand, der nur mit meiner hoffnungslosen Situation was zu tun hatte. Oder? Ich bringe das alles nicht in Verbindung mit Lucas. Deshalb denke ich, dass ich ihm davon nichts erzählen muss.“

„Klingt irgendwie verständlich. Aber trotzdem. Ich würde nicht Lucas sein wollen.“

„Musst du ja auch nicht.“

„Nein. Aber Chris zu sein, ist genauso blöd.“

„Und Ameli zu sein ist im Moment auch nicht besser.“

„Wieso, für dich scheint doch alles klar zu sein.“

„Das hört sich vielleicht so einfach an. Ist es aber bei Weitem nicht. Ich bin noch lange nicht da, wo ich hin will.“

„Ich weiß. Zumindest bin ich ein kleiner Teil deines Lebens gewesen. Wirst du mich vergessen, Ameli?“ Chris schaute Ameli erwartungsvoll an.

„Nein, Chris. Ich werde dich nie vergessen. Du bist und bleibst etwas Besonderes in meinem Leben. Du hast mich auf meinem Weg, ich sage mal, auf meinem Weg zur Selbstfindung ein Stück begleitet und gehalten. Du hast mir die Türen zu meiner Mutter geöffnet und du hast mich erkennen lassen, dass ich meinen Freund wirklich liebe. Das alles hast du unbewusst getan. Aber du hast es sehr gut getan. Ich muss dir gestehen, dass ich mit dir ständig in meiner mir so lieb gewordenen Traumwelt war. Somit habe ich mit dir gespielt. Es tut mir leid. Ich wollte dir wirklich nicht weh tun. Dass du dich in mich verlieben könntest, daran habe ich einfach nicht gedacht. An dem Abend, als du nach dem Essen wütend weggelaufen bist, da habe ich es geahnt.“

„Der Abend war also für dich ein Rückzug in deine Traumwelt?“

„Hm. hm. Ja, da hatte ich Lucas und mein Leben in Köln einfach ausgeschaltet. Da wollte ich komplett nur für mich sein. Da war ich wieder an einem Punkt völliger Verzweiflung. Ich wollte einfach alles vergessen, weit weg sein, nicht nachdenken. Wer sich nie so gefühlt hat, der kann das nicht verstehen. Und ich wünsche auch keinem diese Zerrissenheit im Körper. Da hätte ich wirklich mit dir ein zweites mal geschlafen. Träumend geschlafen.“

„Aber, dann kam alles anders. Ich holte dich in die Realität zurück mit meinen persönlichen Fragen, stimmts? Erst wurdest du wütend und dann ich.“

„Genau. Und dann wolltest du auch noch wissen, was ich von Dir will? Konnte ich dir sagen, dass ich in der Realität gar nichts von dir wollte, sondern dass ich nur mit dir spielen wollte in meiner Traumwelt? Das war so herzlos. Und vor allem, du hättest es überhaupt nicht verstanden. Ich wollte es dir auch nicht erklären müssen. Ich merkte selbst, dass es sich irgendwie falsch anfühlte. Aber ich brauchte dich. Ich brauchte einen Halt für meine Probleme. Und du warst der Einzige Mensch, den ich hier hatte. Chris, du musst mir verzeihen, bitte. Ich wollte das alles nicht so.“ Ameli sah ihn flehend an.

Für Chris entstand immer mehr das Bild einer unglücklichen Frau, in die er sich unglücklich verliebt hatte. Er wollte sie trösten, aber er rührte sich nicht vom Platz. Er wusste, dass Ameli gleich weiter reden würde.

„Und dann standest du einen Tag später in der Schlafzimmertür. Das peinlichste Erlebnis in meinem ganzen Leben, ehrlich. Ich werde jetzt noch rot, siehst du?“

„Aber macht das nicht jeder?“ Chris schmunzelte wieder, wie vor ein paar Tagen in der Tür.

„Na, ich weiß ja nicht. Ich habe das erst hier für mich entdeckt. Vielleicht hast du recht. Aber bestimmt macht das nicht jeder mit Publikum.“

„Das war unglaublich schön anzusehen. Du warst wirklich weit weg und ich wäre dir gerne gefolgt. Als ich zu dir kam war ich wütend, weil ich wusste, dass du mich nicht liebst. Als ich dich dann im Schlafzimmer sah, verflog meine Wut. Dann kamst du mit der Spielidee. Mir war da klar, dass das Spiel für dich wirklich nur ein Spiel sein würde. Mehr nicht. Du hast es überzeugend rübergebracht. Es war meine einzige Chance. Ich wollte dich und nur so konnte ich dich bekommen. In dem Moment habe ich dich mehr gehasst als geliebt. Und ich habe mich selbst gehasst, weil ich für ein Spiel meine Liebe verkaufte.“

„Für mich war das der einzige Weg, um die Peinlichkeit aus der Welt zu schaffen. Ich musste dieses reale Erlebnis in meine Traumwelt verbannen. Oh, Chris ich hoffe, du kannst mich verstehen. Mein Leben war ein ständiger Wechsel von Traum und Realität. Das ist mir hier so richtig klar geworden. Ich werde vieles ändern müssen. Jetzt bin ich bereit dazu. Ich will das alles nicht mehr.“

„Und in dieser Nacht holte ich dich wieder zurück aus deinem Traum. Und ich konfrontierte dich mit allem, was du einfach vergessen wolltest und ja auch hattest. Ich kann es kaum glauben, Ameli. Wie hast du nur so leben können? Wie hast du überhaupt so überlebt?“

„Na ja, wie das so ist. Man gewöhnt sich an alles. Schließlich lebe ich seit meiner Kindheit so verschlossen. Ich denke mal, das Leben wird jetzt auch nicht einfacher. Ich muss in kleinen Schritten versuchen mich dem Leben und meinen Mitmenschen zu öffnen. Vielleicht kann ich das Leben ja irgendwann mal in vollen Zügen genießen, ohne mich ständig zu verkrampfen und mich zurückziehen zu müssen.“

Jetzt musste Chris aber seinem Impuls folgen. Er stand auf und nahm Ameli liebevoll in den Arm. „Ameli, ich wünsche dir wirklich alles Glück auf dieser Welt.“

„Heißt das, dass du mir verzeihst, Chris?“

„Ja, ich verzeihe Dir. Aber du musst mir auch verzeihen.“

„Ich Dir, wofür?“

„Ameli, ich hätte dich im Bad nicht so überfallen dürfen. Ich hätte auf dich hören müssen.“

„Pst. Kein Wort darüber. Ich hatte dir schon verziehen, indem ich es geschehen ließ.“

Chris verstand.

Ameli konnte sich frei fühlen. Sie hatte mit ihm alles geklärt.

Er sollte sich auch frei fühlen.

Er konnte es nicht. Obwohl alles gesagt war.

Sie standen in einer tiefen freundschaftlichen Umarmung vor dem Kamin.

Ameli ließ ihren Traum-Meer-Mann aus dem Fenster ziehen und sah Chris als Freund vor sich.

Auch Chris sah Ameli in diesem Augenblick mit anderen Augen. Sie war jetzt mehr wie eine Vertraute für ihn. Er hatte auf einmal nicht mehr vorrangig das Bedürfnis sie zu lieben, sondern ihr zu helfen. Man könnte liebend helfen, dachte er jedoch halbherzig. Leise flüsterte er ihr ins Ohr.„Ameli, du bist wie ein schillernder, farbenfroher Regenbogen. Plötzlich da und einfach wieder weg.“

Zärtlich strich er ihr noch einmal über die Wange und ließ sie aus seiner Umarmung.

Ameli erwiderte darauf nichts.

Als wenn Elisa gelauscht hätte, kam sie genau in diesem Moment die Treppe herunter.

„Oh, wie ich sehe, gibt es hier etwas zu feiern“, kommentierte sie die Situation.

„Ja, du hast recht, Elisa. Hol eine Flasche Wein und die Gläser. Wir wollen auf eine lange und gute Freundschaft miteinander anstoßen. Ich vermute mal, dass ihr zwei euch vielleicht in der nächsten Zeit öfter über den Weg laufen könntet?“

„Ja, das denke ich auch. Ich habe mich nämlich in der Zwischenzeit dazu entschieden, die Zweigniederlassung zu übernehmen. Ob ich dann allerdings weiterhin nackt baden gehe, das weiß ich noch nicht so recht.“

Chris errötete leicht, stimmte aber mit ein in das allgemeine Gelächter der Frauen. Typisch, dachte er. Frauen können wirklich nichts für sich behalten. Elisa wusste also über alles Bescheid. Na wenn schon, dachte Chris und betrachtete Elisa genauer.

Sehr genau.

 

***

Montag

 

Auch Ameli hatte über Nacht einen Entschluss gefasst. Gleich nach dem Erwachen wollte sie Lucas anrufen. Aber es ging nicht so, wie sie wollte. Sie hielt seit zehn Minuten ihr Handy in der Hand und konnte sich nicht dazu überwinden, seine Nummer zu wählen. Sie sprach sich ermutigend zu.

Was war nur so schwer daran, Lucas anzurufen?

Sie wusste doch, was sie ihm sagen wollte. Trotzdem war sie mutlos. Würde sie die richtigen Worte finden?

Ameli schimpfte mit sich, weil sie wieder unsicher war. Was für sie in der Nacht noch klar auf der Hand lag, wurde am frühen morgen schon wieder in Frage gestellt. Sie hasste sich wirklich für ihre ständig schwankende Haltung.

Was ist richtig und was ist falsch? Was ist gut und was ist schlecht? Will ich dies oder das? Diese ständige Fragerei an sich selbst konnte sie verrückt machen.

Dass sie ihn liebte, dass war richtig und das würde sie ihm auch mit Freude mitteilen können. Aber ihre Entscheidung, ob sie Lucas zu ihrem Besuch nach Berlin mitnehmen wollte, die wackelte jetzt ganz gewaltig.

So kommst du nicht weiter, schalt sie sich.

Ruf einfach an!

Sie wählte zaghaft.

„Hallo?“ Lucas klang noch total verschlafen.

Ameli hatte ihn geweckt.

„Guten Morgen, Lucas. Hier ist Ameli.“

„Ameli?“

„Ja.“

„Du bist es wirklich.“

„Ja doch.“

„Ich freu mich so dich zu hören.“

„Mir geht es genauso, Lucas.“

„Ameli, komm zurück, du fehlst mir.“

„Lucas, ich liebe dich.“

„Sag das noch mal, Ameli.“

„Ich liebe dich.“

„Weißt du, dass du diese drei Worte noch nie zu mir gesagt hast?“

„Ich weiß, Lucas. Ich kann sie dir erst jetzt sagen.“

„Ameli, was ist los? Wo bist du? Warum bist du einfach weggefahren, ohne mit mir zu reden? Was habe ich falsch gemacht? Ist dir was passiert?“

„Lucas, nicht so viele Fragen auf einmal. Mir geht es gut. Ich bin an der Ostsee in Elisas Ferienhaus.“

„Natürlich, da hätte ich doch selber drauf kommen können. Das hätte Elisa mir doch sagen können.“

„Sei ihr nicht böse. Sie sollte es dir nicht sagen. Sie musste es mir versprechen.“

„Aber jetzt kommst du wieder zurück.“

„Noch nicht ganz. Lucas, ich brauche noch ein wenig Zeit für mich. Frag nicht warum, ich werde es dir erklären. Später.“

„Ja, ist ja gut Ameli. Reg dich nicht auf. Ich lass dir die Zeit. Ich bin ja so froh, dich zu hören. Das kannst du dir gar nicht vorstellen.“

„Doch, ich denke schon. Lucas, kannst du es dir einrichten und mich am Wochenende hier abholen?“

„Ja, das ist kein Problem. Ich schiebe meine Termine um. Was ist bei dir Wochenende? Freitag oder Samstag? Und wie viel Zeit soll ich einplanen?“

„Es wäre gut, wenn du Freitag kommen könntest. Ich möchte mit dir am Samstag nach Berlin zu meiner Mutter fahren.“

„Wie soll ich das verstehen? Jetzt bin ja von den Socken. Ist was mit deiner Mutter passiert?“

„Nein, nein. Lucas. Vertrau mir. Es wird alles gut. Ich liebe dich.“

„Das hört sich gut an und ich könnte es immer wieder hören. Ameli ich liebe dich auch.“

„Ja, das weiß ich. Also, wir sehen uns am Freitag. Ich freue mich riesig.“

„Und ich erst. Heute ist erst Montag.“

„Ja, lass mir noch Zeit bis Freitag.“

„Wir haben uns dann fast zwei Wochen nicht gesehen. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Wenn du in Urlaub gefahren wärest, wäre es etwas anderes. Aber ich wusste nicht, wo du bist. Ameli, es hat mich wahnsinnig gemacht.“

„Es tut mit leid, Lucas. Ich werde es dir erklären. Aber ich muss dir dabei in die Augen schauen. Jetzt am Handy geht das nicht. Hab noch bis Freitag Geduld. Bitte.“

„Gut. Auch wenn es mir schwer fällt. Also dann bis Freitag. Küsschen.“

„Küsschen.“

 

Verträumt und überaus glücklich fand Elisa Ameli in der Küche mit ihrem Handy vor.

„Na, himmelst du dein Handy an?“

„Ich habe gerade mit Lucas gesprochen. Wir fahren am Wochenende nach Berlin zu meiner Mutter. Es war so schön, seine Stimme wieder zu hören. Elisa, du glaubst gar nicht, wie sehr ich ihn liebe.“

„Das sehe ich. Also dann kommst du heute doch nicht mit mir mit?“

„Nein. Sei nicht traurig, dass du schon wieder alleine fahren musst. Ich bleibe die Woche noch hier. Ich muss mich noch sortieren. Ich glaube das kann ich hier besser als in Köln.“

„Da magst du recht haben. Aber meinst du nicht, Chris könnte dich hier stören?“

„Nein. Und wenn, wir haben uns doch ausgesprochen. Ich kann mir vorstellen, dass wir gut miteinander reden können.“

Elisa hatte da so ihre Zweifel, sagte es Ameli aber nicht. Das war ihre Sache, fand sie. Wie immer war sie der Ansicht, sich nicht in die Privatsphäre anderer einzumischen. Ameli konnte ihr jede Frage stellen. Die würde sie beantworten. Sie würde ihr aber nie von sich aus ungefragte Ratschläge erteilen.

„Kann ich dich denn schon alleine lassen? Oder muss ich mir Sorgen machen?“

„Elisa, du kannst in aller Ruhe nach Hause fahren und deine Versetzung beantragen. Soll ich noch irgendetwas in diesem Haus richten? Nutze die Gelegenheit. Es würde mir Spaß machen und Abwechslung bringen.“

„Da lasse ich dir wirklich freie Hand. Wenn du noch eine gute Idee hast, dann mal los. Ich lass mich überraschen. Aber jetzt mal ehrlich Ameli, wie geht es dir?“

„Ich wusste, dass du ohne diese Frage heute nicht losfährst. Mach ich so einen schlechten Eindruck auf dich?“

„Nein. Ich will nur nicht, dass du irgendetwas unüberlegtes tust. Ich bin ehrlich zu dir. Manchmal hatte ich Angst, du könntest dir was antun. Seit ich dich kenne, habe ich unterschwellig das Gefühl, dass du in Not bist. Damit hatte ich ja recht, wie es sich jetzt herausgestellt hat. Ich konnte dich aber nie damit greifen. Du hattest dich immer im Griff.“

„Das hast du also gemerkt?“

„Einwenig schon.“

„Stimmt, mein ganzes Leben war krass daneben und ich letztlich ebenso. Und die Woche, die hat es wirklich in sich gehabt. Aber schlimmer kann es für mich nicht mehr kommen. Also, jetzt kann es nur noch bergauf gehen. Nein, Elisa, ich tue mir nichts an, ehrlich. Und auf den Gedanken bin ich auch noch nie gekommen. Ich habe mich nie aufgegeben. Wer sich völlig aufgegeben hat, war meine Mutter. Sonst wäre sie mir eine bessere Mutter gewesen.“

„Was wirst du tun?“

„Das kann ich dir jetzt auch noch nicht sagen. Genau genommen, bin ich wirklich noch völlig durch den Wind, wie immer. Also nichts Neues. Ich habe in dieser Woche soviel über mich selbst erfahren, dass ich erst mal gucken muss, wer ich überhaupt bin. Hört sich bescheuert an, stimmts?“

„Es ist schon schwer zu verstehen. Aber wenn man weiß, wie lieblos und kalt deine Kindheit war und wenn man weiß, dass du nichts anderes gelernt hast, als immer deine enttäuschten Gefühle auszublenden und reiß aus zu nehmen in eine andere Welt, die dir Geborgenheit gibt, dann kann man alles verstehen. Glaub mir. Ameli, es tut mir so leid, dass du das alles durchmachen musstet.“ Elisa fing plötzlich an zu weinen.

„Ja, da können einem schon die Tränen kommen. Elisa, nun weine doch nicht. Das hilft mir auch nicht weiter. Und außerdem kriegst du eine hässliche rote Nase, wenn du weinst. Also hör auf.“

„Ja, ist ja schon gut.“

„Weißt du, ich bin jetzt 30 Jahre und komme mir so vor, als wenn ich erst jetzt so richtig mit meinem Leben anfangen kann. Ich hatte immer das Gefühl, als wenn ich nicht echt wäre. Ich musste mich manchmal kneifen oder anfassen, um zu wissen und zu spüren, dass ich überhaupt da bin. Das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen. Ich lief durch die Straßen und war gar nicht da. Wie oft fragte ich mich dann: Was machst du? Wo bist du? Was willst du? Wer bist du? Wer braucht dich?“

„Aber wir waren doch da, Ameli. Warum haben wir nichts davon gemerkt?“

„Weil ihr nichts merken konntet. Versteh doch. Ich musste immer alleine zurechtkommen, mich immer um alles alleine kümmern. Schon als kleines Kind. Ich habe nie jemanden um Hilfe gebeten. Ich weiß gar nicht, wie das geht. Für das Leben da draußen habe ich mich einfach nur angestrengt. Ich habe ja gesehen, wie es funktionieren sollte. Ich habe mich einfach bemüht, es den anderen gleich zu tun. Und mit der Zeit lernte ich dazu. Ich konnte euch nicht um Hilfe bitten, verstehst du? Ich wäre nicht einmal auf die Idee gekommen.“

„Man, man,man“, entfuhr es Elisa.

„Aber jetzt kann ich es. Das heißt, ich werde es versuchen. Weißt du, ich muss jetzt erst einmal alles verarbeiten und verstehen.“

„Warum gerade jetzt? Gab es irgend einen Anlass?“

„Wenn ich das wüsste. Ich hatte einfach nur die Nase voll. Du hast doch in der letzten Zeit auch oft gesagt, dass ich nicht so genervt sein soll über jede Kleinigkeit. Wahrscheinlich war das Fass einfach nur am Überlaufen.“

„Na, sei froh, dass du erst 30 bist. Da liegt noch viel Leben vor dir.“

Ameli wurde auf einmal tief traurig über die verlorene Zeit, obwohl sie nicht wusste, was sie jetzt erwartete. Aber eines wusste sie, sie wollte ab sofort alles intensiver und bewusster in sich aufnehmen. Sie wollte anfangen ihr Leben mit ihren Mitmenschen und vor allem mit ihren Freunden zu teilen. Sie wollte da sein auf dieser Welt.

„Elisa, hilf mir bitte.“

„Komm her Ameli. Ich bin da für dich.“

Während der Umarmung dachte Elisa, dass jetzt die Herausforderung, die sie in Ameli seit Jahren sah, erst beginnen würde. Sie war bereit und sie war froh, dass die Herausforderung jetzt endlich einen Namen hatte.

„So, Ameli, da hast du mir ja ein bewegtes Wochenende beschehrt. Jetzt habe ich Hunger. Eigentlich bin ich ja zum Frühstücken in die Küche gekommen. Ich geh ins Bad und du machst Frühstück.“

Das war Elisa, dachte Ameli. Sie konnte innerhalb einer Minute eine völlig andere Situation schaffen.

Lächelnd schaute sie ihr hinterher. Sie war glücklich, Elisa als Freundin zu haben. Sie war ihre Einzige. Was würde sie nur ohne sie machen? Sie wusste, dass sie sich auf Elisa verlassen konnte. So wie sie ganz tief in ihrem Herzen auch spürte, dass sie sich auf Lucas verlassen konnte.

Warum hatte sie das nur noch nicht früher erkannt und angenommen?

Ihr kamen jetzt wirklich all ihre Jahre auf dieser Welt nicht nur sinnlos, sondern auch verschwendet vor.

Sie wollte jetzt aber keine quälenden Fragen heraufbeschwören. Nicht jetzt, wo ihre Freundin nur noch wenige Stunden hier sein würde. Sie bereitete statt dessen ein üppiges Frühstück vor. Sie holte alles hervor, was der Kühlschrank zu bieten hatte.

Und natürlich musste sie wieder warten.

Elisa konnte so herrlich langsam sein im Bad.

 

 

Völlig überwältigt, mit Tränen in den Augen verabschiedete sich Ameli von Elisa. Sie hatte noch nie so heftig bei einem Abschied geweint.

Sie spürte ein neues Gefühl in sich. War sie sonst oft erhaben über alle Dinge, gab sich kühl und kalt und ließ alles an sich abperlen, fühlte sie jetzt so etwas wie tiefe Erregung in sich, die sich ihren Weg nach außen bahnte. Auch Elisa war überrascht über diesen heftigen Gefühlsausbruch.

„Schau, schau, auch Ameli kann beim Abschied weinen“, sagte Ameli entschuldigend. „Ich zeige so etwas, wie Gefühl? Wird ja auch Zeit.“ Ameli freute sich darüber.

„Ja, ich bin total geschockt. Sonst bin ich doch immer die Heulsuse. O.k dann muss ich diesmal nicht weinen. Machs gut meine Kleine. Du schaffst das schon. Aber lass dir Zeit. Die 30 Jahre schiebst du nicht so ohne Weiteres beiseite. Vielleicht brauchst du ja doch noch einen Therapeuten? Oder auch nicht. Wenn was ist, melde dich.“

„Na klar doch. Jetzt hau schon ab.“

 

Den Nachmittag brachte Ameli gerade noch so um die Runden, aber am Abend wurde ihr langweilig. Sie musste erst einmal das passende Wort für ihren Zustand finden. Eigentlich kannte sie keine Langeweile.

Sie überlegte, was zu Hause anders war. Dann wurde ihr klar, dass sie sonst, aus Angst sich selbst wahrnehmen zu müssen, immer in Aktion war. Sie suchte sich ständig neue Herausforderungen und Aufgaben, nur, um sich nicht mit sich beschäftigen zu müssen. Am liebsten war ihr abends todmüde ins Bett zufallen und gleich schlafen zu können.

Nur nicht über sich nachdenken.

Wenn sie es sich recht überlegte, hatte sie nie über sich nachgedacht, sie verschwand immer gleich hinter der Wand und war woanders.

Und jetzt, hier auf dem Sofa in diesem schönen Ferienhaus am Meer, hatte sie keine Angst mehr vor sich und ihren Gefühlen. Sie war geradezu bestrebt sie zu erforschen und aufzuspüren.

Sie saß ruhig und gelassen da und konnte sich treiben lassen. Sie spürte keinen Druck und keine Anspannung, keine Hast und keine Getriebenheit. Es war so ruhig um sie herum, dass sie es geradezu als langweilig empfand. Ameli beschloss die Langeweile zu genießen. Sie goss sich noch ein Glas Wein ein. Zu Hause trank sie nie allein Wein, nur wenn sie mit Lucas zusammen war.

Lucas.

Sie freute sich auf Lucas. Sie sah seinen zarten und doch muskulösen Körper vor sich. Sie schloss die Augen und konnte ihn wie immer riechen. Von aller Gefühllosigkeit, die sie sich selbst immer einredete, war ihr Geruchssinn anscheinend nicht betroffen.

Das Wichtigste am Mann war für sie der Geruch und der Körperbau, dass musste sie ehrlich zugeben. Natürlich musste auch das Miteinander stimmen. Aber wenn das Erste nicht stimmte, musste das andere nicht mehr getestet werden. Da war sie knallhart.

Lucas übertraf alles.

Ameli versuchte ihre Intimität zu Lucas auszuleuchten.

Sie fragte sich, was sie spürte, wenn sie mit Lucas zusammen war. Keine Frage, die Nächte mit Lucas waren schön. Oder kamen sie ihr nur schön vor?

Konnte sie ihm in ihrer bisherigen Anspannung alles geben und konnte er sie wirklich erreichen?

Sie erinnerte sie sich an ihre Selbstbefriedigung hier im Haus.

Es war anders.

Vollkommener.

Sie hatte mehr Gefühl zugelassen und konnte ihre eigene Liebe erstmalig spüren. Ihre erogenen Zonen waren sensibler und sie konnte einen anderen Liebesrausch für sich erfahren. Sie war sich sicher, dass sie nun mit Lucas die Stufe der Sexualität verlassen würde und die Liebe erleben würde.

Wie würde er darauf reagieren?

Würde er etwas merken?

Oder nur sie?

Sie bekam plötzlich Angst vor sich und ihren Gefühlen. Durfte sie ihm ihre Gefühle so offen zeigen?

Ja, doch, sagte sie unvermittelt laut in den Raum hinein.

Ja, Ameli, du darfst es nicht nur, du musst es sogar.

Sie wollte auf sich hören.

Sie ging weiter in Gedanken ihr bisheriges Sexualleben durch und stellte fest, dass sie doch sehr unterschiedlichen Sex erlebt hatte. Der Sex mit den Maskenmännern war immer hart und herzlos. Sie peitsche sich selbst jedes mal mit einer Wildheit zum Orgasmus, um alles aus sich rauszutreiben. Nur das war das Ziel. Schließlich tat sie es nur deswegen. Purer Sex ohne Liebe.

Oh, oh, stöhnte sie. Was für ein dunkles Kapitel in ihrem Leben. Sie war froh, dass sie weder Chris noch Elisa dieses Geheimnis anvertraut hatte. Sie war sich sicher, dass sie es mit sich ins Grab nehmen würde. Davon sollte nie jemand erfahren. Auch Lucas nicht.

Sie nahm sich fest vor, die Clubbesuche nun endgültig einzustellen. Sie sagte sich, dass sie sie jetzt auch nicht mehr nötig haben würde. Sie wollte keine innere Last mehr aufbauen und zulassen, die sie dann so abtragen müsste. Sie merkte, dass das ihre vorrangige Aufgabe werden würde. Sie musste sich unbedingt ihrem Leben und ihrer Umwelt öffnen.

Wieder schaute sie aus dem Fenster. Es war bereits dunkel, aber noch nicht spät genug, um ins Bett zu gehen. Was sollte sie nur machen? Sie konnte doch nicht einfach nur rumsitzen, nachdenken und Wein trinken.

Doch langweilig.

 

 

Auch Chris spürte Langeweile. Er wäre gern bei Ameli gewesen, wusste aber nicht genau, ob diese Idee gut war. Er irrte wahllos im Internet herum und ertappte sich immer wieder, dass er in Gedanken bei Ameli war.

Sie hatten sich ausgesprochen.

Es war alles klar.

Aber in seinem Kopf war gar nichts klar. Er konnte nicht vergessen. Wie sollte das gehen?

Er konnte viel versprechen, aber konnte er es auch halten? Er konnte nicht einfach den Schalter umlegen und sagen es ist vorbei.

In seinem Herzen glühte es.

Er hatte nichts von Ameli. Er wollte irgendetwas von ihr in den Händen halten können. Er redete sich ein, so könne er besser vergessen.

Blödsinn.

Er wusste nicht, wann sie wieder fahren würde. Elisa war nicht mehr da. Er war froh, dass Ameli noch geblieben war.

Er musste sie sehen.

Sofort.

Er schob sein Laptop ruckartig beiseite und verließ sein Zimmer. Wenn er jetzt nicht gehen würde, sagte er sich, würde er nicht schlafen können. Allzu spät war es noch nicht, Ameli war bestimmt auch noch wach.

 

Gerade als Ameli am Fenster stand, kam Chris um die Ecke und stand vor ihr auf der Veranda.

Das Fenster trennte ihre Gesichter.

Sie sahen sich kurz erschrocken an. Ameli ließ Chris herein.

„Na, plagt dich auch die Langeweile, so wie mich?“ fragte Ameli im lockeren Plauderton.

Chris merkte sofort, dass für sie der Freund Chris gekommen war. Er wollte nicht leiden, deswegen blieb er bei der nackten Wahrheit. Was hatte er schon zu verlieren?

„Nein, ich hatte, um ehrlich zu sein, große Sehnsucht nach Dir.“

„Chris, sag doch nicht so was.“

„Was soll ich denn sonst sagen? Das ist die Wahrheit, Ameli.“

„Aber du weißt schon noch, dass ich für dich nicht zu haben bin. Das war doch geklärt.“ Ameli wollte sich noch einmal vergewissern, ob das bei Chris auch wirklich so angekommen war.

„Ja. Und das kannst du mir auch noch Hundert mal sagen. Ich warte trotzdem auf dich.“

„Chris. Du brauchst nicht auf mich zu warten. Ehrlich. Ich werde Lucas nicht wegen dir verlassen.“

„Ich weiß das, Ameli. Aber lass mir doch einfach nur meinen Traum.“

„Der Traum ist unreal.“

„Du musst es ja wissen, du Träumerin.“

„Chris, so kommen wir nicht weiter.“

„Doch, Ameli. Es ist schön bei dir zu sein. Ich lass dich in Ruhe. Versprochen. Wir können ganz normal miteinander reden. Wir sind doch Freunde. Aber vielleicht kommt ja irgendwann einmal die Chance für mich. Und die Hoffnung kannst du mir nicht nehmen. Also, bleib ruhig und entspann dich.“

„Aber es ist nicht einfach für mich, zu wissen, dass du Gefühle für mich hast und dass du auf mich wartest. Versteh doch.“

„Dann denk einfach nicht daran.“

„Na, du bist ja lustig. Dann hättest du es mir nicht sagen dürfen. Chris, ich möchte nicht, dass du wegen mir leidest.“

„Ameli, das ist doch meine Sache. Ich leide nicht. Komm lass uns einfach über etwas anderes reden. Oder soll ich wieder gehen?“ Chris war erstaunt, wie gut er sich verstellen konnte.

„Puh.“ Ameli atmete tief aus. „ Nein, bleib hier. Nimm dir auch ein Glas Wein. Sonst trink ich die Flasche noch alleine aus. Ich glaube ich werde hier noch zum Trinker. Elisas Mann hat aber auch echt guten Wein angeschafft. Das muss man ihm lassen.“

Chris nahm sich ein Glas Wein, obwohl er sonst nur Bier trank. Er betrachtete Ameli genauer. Sie war aber auch schön auf ihre Art. Schon wie sie da saß, lässig und ganz unschuldig mit entblößten Schultern. Die langen braunen Locken hatte sie schlicht aufgesteckt, so dass ihr Gesicht voll zur Geltung kam. Einzelne Haarsträhnen kringelten sich jedoch am Hals entlang. Chris durchfuhr es heiß und kalt. Es war ihm kaum möglich, sich zu beherrschen. Aber er musste, er hatte es Ameli so zu sagen versprochen.

Wie sollte er nur ein ganz normales Gespräch mit ihr anfangen?

Ameli machte jetzt auch nicht mehr den Eindruck, dass sie unbeschwert drauf los reden könnte. Sie fühlte sich nach Chris neuerlichen Offenbarung ein wenig unsicher. Sie müsste ihn eigentlich nach Hause schicken, sagte ihr ihr vernünftiger Menschenverstand. Sie sah ihm doch an, dass er selber nicht an seine Worte glaubte.

Und von wegen warten.

Er wollte sie hier und jetzt. Sie fühlte regelrecht seine Sehnsucht.

Sollte sie einfach so tun, als wenn sie das nicht spüren würde?

Sie war sich dagegen erstaunlicherweise klar in ihren Gefühlen. Ihr Herz, ihr Gefühl und ihr Verstand sagten ihr eindeutig Nein. Sie hatte weder das Gefühl spielen zu müssen, noch war sie in körperlicher oder seelischer Not, dass sie so ein Spielchen brauchte. Das wollte sie sich ganz fest einprägen und verinnerlichen. Diese völlige Klarheit von Kopf und Körper war ein neues, gutes Gefühl.

Ihre Gesichtszüge entspannten sich und plötzlich konnte sie Chris mit einem Lächeln voll in die Augen schauen. Sie wollte einfach seine Anspielungen ignorieren und ihm ihrerseits keine Hoffnungen machen. Mehr als das, war nicht möglich. Sie gab sich einen Ruck und beendete die Stille, obwohl es kein peinliches Schweigen war, sondern eine angenehme Stille, die beiden die Möglichkeit gab, über den vorherrschenden Zustand nachzudenken.

„Gut. Chris. Ich akzeptiere dich so. Du weiß Bescheid, wie ich denke.“

„Ja. Gut.“

„Was meinst du? Heute ist Montag. Am Freitag kommt Lucas und holt mich ab. Wollen wir bis dahin noch einmal gemeinsam kochen?“

„Wenn ich wieder deine Finger ablecken darf?“

Ameli stöhnte. Sie wusste es. Sie wusste, dass Chris jede Gelegenheit nutzen würde, um anzügliche Bemerkungen zu machen. Konnte sie ihm das verdenken? Sie musste einfach stark bleiben. Sie musste einfach darüber hinwegsehen.

„Diesmal würde ich gerne etwas mit Fleisch essen. Geht das in Ordnung? Und für den Nachtisch kannst du dir was ausdenken.“

Chris nickte nur. In seinem Kopf war wieder Chaos angesagt. Er musste schnell zum Glas greifen.

Es fing an zu regnen. Sie hörten beide ein gleichmäßiges Plätschern auf der Veranda. Das Meer rauschte ungewöhnlich laut. Es entstand eine gemütliche Atmosphäre, die für beide spürbar wurde. Ameli fühlte sich wohl und drückte sich tiefer in die Couch. Ihre Gesichtszüge entspannten sich immer mehr und sie hätte vor Freude weinen können. Obwohl sie sich jetzt gerne Lucas an ihre Seite gewünscht hätte, war sie froh, dass Chris bei ihr war. Wichtig war nur, dass sie nicht alleine war. Das Bedürfnis nach so viel Zweisamkeit, wie an diesen letzten Tagen, hatte sie die ganzen letzten Jahre nicht. Darüber war sie verblüfft und angenehm überrascht.

„Du scheinst sehr zufrieden“ stellte Chris mit Blick auf Ameli fest. „Und du hast heute auch nicht diesen verträumten Blick. Das heißt, du bist diesmal wirklich da?“

Ameli musste lachen.

„Ich hoffe das wird jetzt auch immer so sein. Das gefällt mir viel besser.“

„Du bist wunderschön, Ameli.“

Nicht antworten, hämmerte es in ihrem Kopf. Sie schlug ein anderes Thema an.

„Sag mal, da draußen ist ja auf einmal die Hölle los. Wie ist es bei solchem Wetter auf dem Meer? Hattest du schon mal Angst? Ich meine so richtig?“

„Das ist gar nichts heute. Ich war als Kind oft mit meinem Vater draußen auf dem Meer. Ich kann mich erinnern, ich war damals 10 Jahre. Das Wetter schlug plötzlich wie aus dem Nichts um. Obwohl mein Vater ja ein erfahrener Fischer ist, hatte er die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt. Als er anfing mich anzuschreien, merkte ich, dass es wirklich ernst wurde. Ich konnte mich kaum noch auf dem Deck halten. Mein Vater hat mich zu guter Letzt, gegen meinen Willen, angebunden. Soll ich ehrlich sein? Ich habe mir vor Angst in die Hosen gepinkelt. Aber das hatte keiner gemerkt. Wir waren ja bis auf die Knochen nass.“

„Und das hat dich nicht davon abgehalten auch Fischer zu werden?“

„Nein. Ich hatte ja keine andere Wahl.“

„Ich weiß, deine Mutter hat mir erzählt, dass deine Brüder fort sind und du als Letzter sozusagen für sie in die Bresche gesprungen bist. Und sie denkt, dass du damit nicht glücklich bist, dich aber nicht traust es zuzugeben. Stimmt das?“

„Ich weiß nicht, ob das so stimmt. Ich weiß nur, dass ich auf meinen Vater wütend bin. Ich mache ihm nichts recht. Dabei könnte er stolz auf mich sein. Ehrlich.“

„Ich verstehe dich. Aber ihr solltet reden. Ich glaube du und dein Vater ihr wäret ein gutes Team, wenn die Sache nicht zwischen euch stehen würde. Dein Vater ist nicht wütend auf dich, sondern auf deine Brüder. Und du musst es leider ausbaden. Er müsste es nur mal aus sich raus lassen und darüber reden, glaube ich.“ Ameli musste schmunzeln. Kaum war sie für sich zu dieser Erkenntnis gekommen, gab sie schon dahingehend Ratschläge an andere weiter.

„Ich wäre froh, wenn wir mal miteinander reden könnten. Ehrlich, da lebt man täglich unter einem Dach zusammen und kennt sich kaum. Das muss man sich mal überlegen. Man geht einfach immer darüber hinweg und denkt das nächste mal ist auch noch Zeit. Aber es gibt kein nächstes mal. Und plötzlich sind Jahre vergangen und alles wird eine eintönige Soße, ein alter Trott, der einfach nicht mehr zu überwinden ist. Warum macht man sich das Leben aber auch immer so schwer?“

„Na, da fragst du ja die Richtige. Das Schlimme daran ist aber, dass man es selbst meistens gar nicht merkt. Wie du sagst, die Zeit vergeht und alles setzt sich fest. Die Gewohnheit ist der Schlimmste Feind für eingefahrene Sachen, finde ich. Und gut gemeinte Ratschläge, nimmst du sie immer an? Meistens will man sie doch gar nicht hören. So unter dem Motto, ich weiß schon was ich mache. Und dann ist es irgend wann zu spät. Dann nimmt man von außen kommende Impulse nicht mehr wahr. Und irgendwann sagen sich dann die anderen, der ist nicht mehr zu helfen. Und du hast deine Freunde verloren und stehst alleine da. Ich kann dir sagen, dass passiert mir nicht noch einmal.“

„Ist dir das oft passiert?“

„Mehr als genug. Es tut weh, wenn ich jetzt daran denke, wie ich mit meiner Hochmütigkeit und mit meiner Arroganz Menschen von mir gewiesen habe. Als Kind hatte ich keine Freunde. Es gab nur meine Mutter für mich. Nach der Schule musste ich ja immer gleich nach Hause und ich durfte auch keinen mitbringen. Nur für die Schule, wollte mich keine als Freundin haben. Dadurch führte ich ein völliges Ichbezogenes Leben. Und du kannst dir vorstellen, dass ich bei mir immer an erster Stelle stand. Ich wollte mich nie unterordnen, ich hatte immer recht und ich wollte immer alles haben. Ich war ich und was anderes gab es nicht. Wer wollte denn so eine Freundin haben? Jetzt weiß ich natürlich, dass das so nicht funktionieren konnte. Aber damals konnte ich das alles nicht verstehen. Ich war ja immer so. Und meine Mutter sagte mir nie, dass das falsch wäre. Sie hatte sich ja schlicht weg nicht für mich interessiert, sage ich mal so. Und mein Frust wurde immer größer. Dann fing ich an zu glauben, dass wirklich alles schlecht und böse sei und nur ich alleine mache alles richtig. Als meine erste Liebe dann scheiterte, fühlte ich mich in allem noch mehr bestätigt und fiel wirklich in ein tiefes Loch. Ich fing an die Menschen zu hassen. Ich konnte es kaum ertragen täglich mit ihnen zusammen zu sein. Aber ich musste ja meinen Lebensunterhalt verdienen. Und überall lief ich ihnen über den Weg. Das war schlimm. Besonders in den vollen öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn sie mich unabsichtlich berührten. Für mich war das natürlich alles absichtlich. Ich wollte immer nur weg, alleine sein, oder was weiß ich. Meine Anspannung war riesig und dann fing ich an, mich immer mehr einzuigeln und an andere Orte zu beamen. Dann konnte ich wieder einige Zeit alles ertragen und aushalten bis zum nächsten mal. Und so entwickelte sich aus meiner kindlichen Träumerei allmählich ein festgefahrenes Leben in Traumwelten, wie ich jetzt weiß. Das soll jetzt aber alles aufhören.“ Während Ameli erzählte, kniff sie sich ständig in den rechten Unterarm, der ihr jetzt weh tat und gerötet war. Sie zog schnell ihren Pulli darüber. Chris hatte es aber nicht bemerkt, er schaute ihr nur fasziniert ins Gesicht. Wieder musste er sich sagen, dass Ameli eine geheimnisvolle schöne Frau war.

„Als ich dich kennen gelernt habe, habe ich davon aber nichts gemerkt.“

„Das ist ja das Schlimme. Über die Zeit habe ich mich natürlich angestrengt, dass es keiner merkt. Das scheint ja mein unerträglicher innerer Kampf gewesen zu sein, der mich an den Abgrund getrieben hat. Natürlich wollte ich dazu gehören. Und dazu musste ich mich aber anscheinend innerlich sehr verbiegen, was gegen meine Überzeugung sprach.“

„Ja aber dein Freund, mit dem du täglich zusammen bist, der muss doch blind sein! Der muss doch was merken?“

„Erstens sind wir nicht täglich zusammen. Das ist meine Art des Zusammenlebens, die er schließlich akzeptieren musste. Nachdem, was du von mir weißt, wirst du verstehen, dass ein zu enges Bündnis mit mir nicht in Frage kommt. Zweitens treffen wir uns nur, wenn mir danach ist und wenn es mir gut geht. Dann kann quasi nichts schief gehen.“

„Boah, du bist ja eine Braut.“

„Du sagst es. Die will man eigentlich nicht geschenkt haben. Aber Lucas muss irgendetwas in sich haben, dass ich so in sein inneres Konzept passe.“

„Ja, er muss dich wahnsinnig lieben.“

Ameli dachte lange über den Satz nach. Er füllte sie mit einer angenehmen Wärme. Und den Satz aus dem Mund eines Mannes zu hören, überzeugte sie dazu.

„Ich liebe ihn auch.“ flüsterte sie.

Und ich dich auch, dachte Chris wehmütig. Er atmete tief ein und aus.

„Ich muss jetzt gehen, Ameli. Es hat auch aufgehört zu regnen“ , sagte Chris schnell.

„Schade. Warum so plötzlich? Wir sehen uns also morgen?“

Chris nickte. Ameli brachte ihn noch zur Tür und hauchte ihm aus ihrer Sicht einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange.

Für Chris war der Kuss tödlich.

Warum machte sie nur so etwas herzloses?

Würde er nach diesem Besuch besser schlafen können?

Er hatte es so gehofft.

 

Im Bett dachte Ameli an Lucas. Sie könnte ihn anrufen, tat es aber nicht. Es war nicht nötig. Sie hätte ihm nur sagen wollen, dass sie ihn liebt. Sie wusste bereits die Antwort. Dafür musste sie ihn nicht anrufen. Sie war sich sicher, dass er auch an sie dachte. Sie schickte ihm ein Luftkuss und schlief in Gedanken an ihn ein.

 

***

Dienstag

 

Als Ameli erwachte, war es bereits 10.00 Uhr. Sie wunderte sich. So spät war es gestern Abend mit Chris doch gar nicht geworden?

War es überhaupt vertretbar, dass sie sich weiter trafen bis Freitag?

Ameli war sich dabei nicht mehr ganz so sicher. Es ging dabei auch gar nicht um sie. Sie merkte, dass sie damit kein Problem hatte. Chris hatte es, auch wenn er es leugnete. Sie war ratlos, was das Beste wäre. Elisa hatte da schließlich auch ihre Bedenken geäußert, fiel ihr wieder ein. Dann entschied sie sich aber, dass sie die Entscheidung dafür, bei Chris lassen wollte.

Sie rollte sich langsam aus dem Bett und ging zum Fenster. Das Wetter war ziemlich durchwachsen, um nicht zu sagen äußerst bettfreundlich. Ein viertel Stündchen gönnte sich Ameli noch. Dann raffte sie sich aber auf und schlüpfte schnell in ihre Jogginsachen. Obwohl es nieselte machte sie sich auf den Weg. Sie wusste, dass sie, gerade dann, wenn sie keine Lust hatte, zu Höchstleistungen bereit war. Sie schlug ein ruhiges Tempo an, um am Ende noch mal alles geben zu können. Sie dachte an die vielen Joggingläufe mit Lucas. Er gab ihr dabei jedes mal wichtige Tips, die sie immer noch beherzigte. Das gemeinsame joggen wurde aber immer seltener, weil ihre Zeitpläne nicht mehr so gut zusammen passten.

Ihr fiel nun auf, dass kaum eine Stunde verging, in der sie nicht an Lucas denken musste.

Wie anders war es doch noch vor ein paar Tagen?

Da drang kaum ein Gedanke an Lucas zu ihr vor. Da war sie verzweifelt in sich verstrickt. Da gab es nur die Ameli, die sich entwirren wollte und es sich zur Aufgabe gemacht hatte, sich voll und ganz auf sich zu konzentrieren. Und es gab Chris. So ein günstiger Zufall aber auch. Sie war sich immer noch sicher, dass sie es ohne ihn so nicht geschafft hätte. So verrückt, wie ihr das auch alles vorkam. Die Affäre hatte einen sinnvollen Zweck. Das war kaum zu glauben, war aber so. Oder so ähnlich. Jedenfalls freute sie sich nun, dass sie für Lucas solche liebevollen Gefühle, wie noch nie verspürte.

Ganz in sich versunken merkte Ameli gar nicht, dass es immer dunkler wurde. Ein tiefer dunkler Donnerschlag riss sie aus ihren Gedanken. Sie verlangsamte ihr Tempo und blieb fasziniert stehen. Es war geradezu windstill. Das Meer lag wie ein Brett vor ihr. Der Himmel war teilweise schwarz und Blitze zerteilten ihn. Der Donner blieb diesmal jedoch aus.

Es war gespenstisch schön.

Es war wie die Ruhe vor dem Sturm.

Ameli verspürte keine Angst. Sie erinnerte sich, dass sie schon als Kind Gewitter liebte. Bei Gewitter spielte sie ihr Einpersonendonnerblitzzauberspiel. Der Blitz war der Zauberstab. Zwischen Blitz und Donner musste sie sich etwas wünschen. Kam der Donner, bevor der Wunsch ausgesprochen war, ging der Wunsch nicht in Erfüllung. Allerdings gingen auch alle anderen Wünsche nicht in Erfüllung, die die Bedingung erfüllten. Aber Angst hatte sie zumindest nie bei Gewitter.

Sie schaute gebannt nach oben. Gleich müsste es losgehen. Die schwarze Masse über ihr musste jeden Moment Krachen gehen. Sie machte sich gar keine Gedanken darüber, dass sie bis zum Haus mindestens eine halbe Stunde brauchen würde. Sie blieb stehen und wartete ab.

So ein Schauspiel durfte sie sich nicht entgehen lassen.

Es war passend. Sie wollte die Entladung des Himmels hier auf sich nieder gehen lassen. Sie wollte die gewaltige Macht der Natur auf sich übertragen und es miterleben. Sie wünschte sich den heftigsten Regen und das heftigste Gewitter.

Sie fing an zu schreien.

Sie schrie, so laut sie konnte.

Sie wollte damit auch den letzten Rest der dunklen Geschichte aus sich rausschreien.

Die letzten bedrückten Gefühle sollten ihren Körper verlassen. Sie wollte sich reinigen, so wie sich der Himmel gleich reinigen würde.

Sie rief den Regen herbei, der nicht lange auf sich warten ließ. Sie hob ihr Gesicht dem harten Regen entgegen und fühlte noch einmal kurz den krampfenden Schmerz in sich. Sie wollte ihn wirklich nicht mehr in sich haben. Zu lange hatte er von ihr Besitz ergriffen. Der Regen sollte ihn nun mit voller Kraft endlich von ihr spülen. Mit einer kraftvollen Handbewegung wischte sie die Regentropfen aus ihrem Gesicht, so, als ob sie damit allen Schmerz einfach wegwischen könnte. Sie fühlte eine Stärke in sich aufkommen und streckte sich mit neuer Kraft dem Regen entgegen. Sie genoss das Prickeln im Gesicht und fing an zu tanzen. Sie drehte sich im Kreis und lachte dem weinenden Himmel entgegen.

Auch wenn sie so aussah, fühlte sie sich nicht wie eine irre Verzweifelte im Regen, sondern endlich wie eine lebensbejahende starke Frau.

Ameli fühlte sich ihrem Ziel wieder ein Stückchen näher.

Gib mir die Sonne zurück.

 

Nach diesem berauschenden Erlebnis am Strand rief sie ihre Mutter an. Diesmal hatte sie keine feuchten Hände als sie die Telefonnummer wählte. Ihr wurde bewusst, dass es immer noch die selbe Nummer war, wie eh und je. Beim letzten Anruf war sie so nervös, dass es ihr nicht aufgefallen war. Sie schmunzelte. Ihr fiel ein, dass sich ihre Mutter die Nummer nie merken konnte. Bevor sie das Telefonbuch zur Hand hatte, rief sie ihr die Nummer immer zu. Ameli war sich fast sicher, dass ihre Mutter nie die Nummer geändert hatte, weil sie hoffte, dass sie sie irgendwann einmal wählen würde. Und nun tat sie es bereits zum zweiten mal.

Diesmal ging ihre Mutter gleich ans Telefon. Sie meldete sich förmlich. Ihre Stimme klang traurig, fand Ameli.

„Hallo, Mutter, hier ist Ameli.“

„Ameli. Wie geht es Dir?“

Ameli spürte, dass die Stimme ihrer Mutter sie diesmal erreichte. Sie fühlte sich erleichtert.

„Gut. Sehr gut. Mutter, ich möchte am Samstag zu Dir kommen. Sagen wir so gegen zwei. Passt Dir das?“

„Was für eine Frage? Natürlich. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich freue. Seit deinem letzten Anruf kann ich an nichts anderes mehr denken. Mein Gott, ich bin so aufgeregt.“

„Das werden wir wohl beide sein, Mutter. Du musst mir aber noch sagen, wo ich dich finde.“

„Ich wohne in der Neumannstraße 56. Wirst du das finden?“

„Na klar doch. Unser Auto hat Navi. Ach ja, ich möchte dir auch meinen Freund vorstellen. Wenn einer Platz hat, haben doch auch zwei Platz, oder?“

„Oh. Ja, klar. Ich dachte nur...“

„ Keine Angst, Lucas wird uns schon alleine lassen. Wir werden genug Zeit haben. Das meintest du doch, oder?“

„Ja. Also ich erwarte euch beide am Samstag.“

„Gut. Bis dahin. Tschüss.“

Ameli war immer kurz und bündig am Telefon. Wenn sie ihre Fragen und Informationen los geworden war, dann war für sie das Telefonat auch beendet. Das brachte das Telefonieren auf Arbeit so mit sich. Da musste sie schnell, sicher aber auch freundlich sein und für Geplänkel war keine Zeit übrig. So hielt sie es auch privat. Anfangs hatte sich Lucas des Öfteren über ihre präzisen knappen Auskünfte beschwert. Mit der Zeit akzeptierte er es aber und praktizierte es selber nicht mehr anders.

Nun dachte Ameli allerdings, dass sie sich schon ein wenig mehr Zeit für ihre Mutter hätte nehmen können. Es tat ihr fast schon leid. Aber sie hatten jahrelang nicht mit einander gesprochen, da wollte sie auch nicht gleich übertreiben. Sie war sich allemal unsicher, wie alles werden würde. Sie wollte aber jetzt nicht weiter darüber nachdenken, sondern alles auf sich zukommen lassen. Sie fand das als beste Lösung. Und daran wollte sie nun auch festhalten.

Sie ging ins Bad und machte sich schön für Chris.

 

Seit einer halben Stunde wartete sie auf Chris. Obwohl sie keine Zeit ausgemacht hatten, wollte sie, dass er am späten nachmittag kommen würde. Sie wollte es so und so sollte es dann auch sein. Meistens trat ihre innere Bestimmung auch so ein. Aber wehe, wenn nicht. Dann tobte ein innerer Kampf in ihr. Dann war alles schlecht und gegen sie. Das waren dann Augenblicke, wo man froh wäre, Ameli nicht zur Freundin zu haben. Lucas und Elisa kannten solche Momente. Sie hatten beide gelernt, dass es dann das Beste war, Ameli in Ruhe zu lassen. Sonst waren peinliche Überraschungen meistens das Ergebnis. Das Gewitter konnte nämlich schnell wieder vorbei sein und die Sonne schien wieder, als wenn nichts gewesen wäre.

Aber heute musste sie nicht innerlich toben, heute behielt sie recht. Sie sah ihn den Dünenweg entlang kommen. Er lächelte ihr entgegen und hatte einen kleinen Blumenstrauß in der rechten Hand. Diesen schwenkte er, als er sie sah.

„Schau, heute habe ich dir Blumen mitgebracht. Kannst du dich noch an meinen zweiten Besuch erinnern?“ rief er ihr entgegen.

„Wie könnte ich diesen Auftritt vergessen? Der Strauß ist wunderschön. Komm, lass dich drücken.“

Die Umarmung fiel ein wenig ungelenk aus, weil Chris beide Hände voll hatte und noch einen Rucksack dazu auf dem Rücken.

„Willst du hier einziehen“, fragte Ameli vergnügt.

„Ich habe meinen Laptop dabei. Ich will dir meine Fotos zeigen, ein großes Hobby von mir. Und außerdem wollten wir doch kochen? Bei dir gibt es doch nur den Herd und das Wasser.“

„Ach Chris, du bist großartig.“

„Ja, das bin ich. Du kannst es dir immer noch überlegen.“

Ameli antwortete nichts darauf. Sie zog Chris ins Haus und umging alles mit einer großen Geschäftigkeit. Sie nahm ihm den Strauß und die Tüten ab und plapperte wild drauf los. Chris betrachtete Ameli amüsiert, weil er genau wusste, was sie gleich fragen würde. Und prompt kam schon die Frage von Ameli, was denn nun zu tun sei. Sie hatten beide wieder genauso viel Spaß beim Kochen wie beim ersten mal. Chris vergaß sogar für einige Zeit seinen Liebeskummer. Und Ameli nahm sich vor, kochen zu lernen. Es ging ihr leicht von der Hand und alles sah so lecker aus.

Chris hatte sogar einen Schokoladenkuchen für sie gebacken und mitgebracht. Allerdings gab er zu, dass seine Mutter ihm dabei geholfen hatte.

„Was sagt denn deine Mutter so dazu?“

„Wozu? Du meinst, dass du ihrem einzigen Sohn das Herz gebrochen hast? Tja. Du solltest dich lieber nicht in ihre Nähe begeben.“

„Ehrlich?“

„Ach, nein. Ich glaube sie kann dich verstehen und weiß, was dich dazu getrieben haben könnte. Ihr Frauen versteht euch doch immer.“

„Na, ja nicht alle. Da gibt es schon riesige Unterschiede. Also du meinst, ich könnte mich bei ihr verabschieden, ohne dass sie mir die Haare ausreißt?“

„Warum nicht?“

„Ja, warum eigentlich nicht. Danke für deine detaillierte Auskunft.“

Chris und Ameli hatten einen schönen Abend. Sie blödelten rum und verstanden sich prima. Als Chris kurz in der Küche verschwand, um neuen Wein zu holen, ging Ameli ein wenig in sich. Sie hatte wieder das Gefühl, Chris schon Ewigkeiten zu kennen. Sie wusste nicht, warum dieses Gefühl immer wieder bei ihr auf kam. Sie erinnerte sich an den ersten Kuss.

Ihr wurde heiß.

Sie sah wieder vor ihren inneren Augen, wie ein Teil von ihr von Chris eingefangen und mitgenommen wurde. Sie erinnerte sich, dass sie den Eindruck hatte, als wenn sie über sich schweben würde und alles in Zeitlupe von oben betrachten konnte. Konnte das alles möglich sein?

Konnte ihr Geist ihr so einen Streich spielen?

Vielleicht gab es ja doch so etwas wie Seelenverwandtschaft?

Alles Quatsch, sagte sie sich schließlich und schüttelte ihre Gedanken ab.

Ich war neben der Spur.

Ich finde Chris einfach nur nett.

Ich liebe Lucas.

Diese drei Sätze sprach sie leise und schaute aufs Meer.

Sie fand es hilfreich für sich, ihre Empfindungen und Gefühle in Worte gefasst auszusprechen. Es gab ihr Sicherheit. Sie schloss die Augen und dachte an Lucas. Als sie sie wieder öffnete stand Chris vor ihr. Sie lächelte ihn an.

Er war für sie ein Freund.

Ameli war fasziniert von den Fotos, die sie dann zu sehen bekam. Es waren hunderte Fotos vom Sonnenaufgang und Untergang, Fotos vom Meer und vom Himmel in allen Farben, Fotos von Sandstürmen und von kleinen Tierchen.

Sie war sprachlos. Die Fotos verursachten in ihr ein Gefühl, mitten drin zu sein.

„Wow, das ist mehr als nur ein Foto“, sagte sie schließlich anerkennend. „Wie machst du das? Die Stimmung überträgt sich.“

„Wie meinst du das?“ fragte Chris ungläubig.

„Na schau, hier, dieser kleine Käfer, wie der im Sand kämpft. Ich möchte ihm am liebsten einen kleinen Schubs geben, damit er es bis oben schafft. Oder hier, der Sonnenuntergang. Da möchte man doch gleich mit einer Flasche Wein und Freunden dabei sein und zuschauen. Oder das hier. Der dunkle Himmel, das wogende Meer, die Möwen, die sich gegen den Wind stemmen. Da steh ich doch glatt mit hochgezogenen Kragen am Strand und mache mich ganz klein vor Kälte. Und so ruft jedes Foto bei mir eine kleine Geschichte hervor. Großartig, Chris.“

Ameli redete sich total in Rage und Chris konnte gar nicht glauben, was seine Fotos bei ihr bewirkten.

„Man, Chris, die musst du irgendwie unter die Leute bringen. Die Fotos sind eine Goldgrube. Damit kann man einen wunderschönen Fotoband machen, oder was anderes. Versprich mir, dass du dich darum kümmerst. Bitte.“

„Na, ich weiß nicht.“

„Hast du die Fotos etwa noch nie jemanden gezeigt?“

„Wem sollte ich sie denn zeigen?“

„Dann wird es jetzt aber höchste Zeit. Ich kann mich gar nicht satt daran sehen, so schön sind sie.“

„Übertreibst du nicht ein bisschen?“

„Nein. Irgendwie steht man in deinen Fotos im Hier und Jetzt und und hat doch einen Blick in die Ferne. Sie halten einen gefangen und sind doch offen und weitreichend.“

„Hm.“

„Weißt du was, sie scheinen deine Sehnsucht widerzuspiegeln. Du willst hier bleiben, bei dieser ganzen Schönheit und sehnst dich doch nach der ganz weiten Ferne. Stimmts?“

„Das habe ich so noch nicht gesehen. Aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann hast du recht. Und wie recht du hast. Bei jedem Foto spüre ich Freude und Verbundenheit auf der einen Seite und die Sehnsucht etwas anderes zu erleben, auf der anderen Seite. Aber, dass du das in den Fotos erkennen kannst?“

„Chris, deine Fotos leben. Sie sind super lebendig. Du kannst echt stolz auf dich sein.“

Ameli schaute noch einmal die Fotos durch.

„Sag mal Chris, du willst mir doch nicht erzählen, dass du ewig hier bleiben willst bei deinen Eltern. Was hast du eigentlich nach der Schule gelernt?“

„Ich war 3 Jahre in Stralsund und habe Schiffsbauer gelernt. Und nach dem Abschluss bin ich wieder zurück gekommen. Irgend einer musste ja meinem Vater helfen.“

„Aber ihr müsst Euch doch den Lebensunterhalt nicht mehr mit dem Fischen verdienen, oder? Deine Eltern könnten sich doch zur Ruhe setzten und von der Rente leben, richtig?“

„Richtig. Das ist nur die Macht der Gewohnheit. Mein Vater hat sein ganzes Leben nichts anderes gemacht. Er ist Fischer. Und einer seiner Söhne soll auch Fischer sein und sein Vermächtnis weiter führen.“

„Aber das ist doch absurd. Das kann er doch nicht von Dir verlangen. Es sind doch längst ganz andere Zeiten angebrochen. Du könntest doch von diesem Job nicht überleben.“

„Sag das mal meinem Vater. Für ihn ist die Zeit stehen geblieben. Und ich weiß auch nicht, auf was ich warte. Natürlich hast du recht. Aber ich finde keine Kraft, mich gegen meinen Vater zu stellen.“

„Können dir deine Brüder nicht dabei helfen? Oder deine Mutter?“

„Nein.“ Chris schaute nachdenklich vor sich hin. Dann fuhr er fort. „Weißt du, damals bei dem Sturm. Da habe ich die Angst bei meinem Vater in den Augen gesehen. Er hat mir und sich das Leben gerettet, mit aller Kraft. Und ich habe mir damals geschworen, dass ich ihm dafür immer und ewig dankbar sein werde. Ich kann ihn nicht verlassen. Verstehst du?“

„Schon. Aber trotzdem. Du musst ihn ja auch nicht ganz verlassen. Du kannst doch immer wieder zurück zu ihm kommen.“

„Nein. Es geht darum, dass er sieht, dass jemand seine Arbeit macht, so, wie er sie auch immer gemacht hat.“

Ameli verzog ihren Mund und atmete tief aus.

„Ameli, ich weiß jetzt genau, was du denkst. Ja, ich werde es so lange tun müssen, bis er stirbt. Das hast du doch gerade gedacht, oder?“

„Ja, verdammt noch mal. Tut mir leid.“

„Muss es nicht. Auch ich habe schon so gedacht.“

„O.k. Dann erfülle deine Zeit mit der einen Aufgabe, die du dir auferlegt hast. Vertrödle aber nicht die ganze Zeit damit. Es kann doch auch noch was anderes geben. Mach was mit deinen Fotos.“

„Ich denke darüber nach, versprochen.“

Ameli schmunzelte zufrieden.

„Warte mal, da fällt mir was ein. Elisa ist ja so eine kleine Hobbypsychologin. Ich erinnere mich da an etwas, was sie mir mal vorgeschlagen hatte, als ich vor einer großen Entscheidungsfrage stand. Es hatte mich total zerrissen und Elisa merkt ja immer ganz gut, wenn was nicht stimmt. Jedenfalls ging das so.“ Ameli stand auf und stellte sich vor Chris in den Raum. Dann fing sie an zu erklären.

„Du bist ja jetzt irgendwie in einem Dilemma. Du willst einerseits die Pflicht, die dir dein Vater und die du dir auch selbst auferlegt hast, erfüllen. Andererseits willst du mit deinem Leben aber auch etwas anderes anfangen. In diese zwei Seiten musst du dich hinein fühlen und versuchen zu spüren, wie sie auf dich wirken. Dabei ist die eine Seite das Eine und die andere Seite das Andere. Hört sich ein bisschen blöd an, ich weiß, aber es geht auch noch weiter. Höre zu. Dabei soll man auch noch an unterschiedlichen Orten im Raum stehen. Also, du stehst zum Beispiel hier und spürst das Eine. Dann stellst du dich hierhin und spürst das Andere. Wenn du damit fertig bist, nimmst du einen anderen Platz im Raum ein. Dieser Platz steht für Weder Noch. Das soll heißen, dort sollst du spüren wie es sich anfühlt, wenn du weder das Eine noch das Andere machst. Dann gibt es einen vierten Platz, der für Sowohl als Auch steht. Dort sollst du spüren, wie es sich anfühlt, wenn du das Eine als auch das Andere machst. Und als fünften Platz gibt es den Joker. Dieser Platz steht dafür, wenn du von allem gar nichts willst. Auch an diesem Ort sollst du dann die Gefühle und Erinnerungen auf dich wirken lassen. An jedem Ort solltest du dann etwas anderes gespürt haben. Und dein Inneres führt dich dann an den Platz, auf dem du dich am Wohlsten gefühlt hast. Und das könnte dir dann in deiner Entscheidung hilfreich sein.“ Damit beendete Ameli ihren Vortrag und setzte sich wieder hin, wie eine Schülerin.

„Und das soll funktionieren?“ argwöhnte Chris. „Hört sich ja abgefahren an. Ich wollte dich nicht unterbrechen. Hast du das damals gemacht?“

„Nein, damals war ich für so etwas überhaupt nicht offen. Gefühle spüren. Das ging gar nicht. Soll ich ehrlich sein? Ich habe Elisa einen Vogel gezeigt. Aber eben, als ich dir das erklärt habe, fand ich das als Idee gar nicht so schlecht. Man muss ja nicht im Raum rumlaufen, man kann sich das ja wohl auch nur so im Kopf vorstellen, denke ich mal. Vielleicht kommt man ja zu einem Ergebnis. Wer weiß? Probieren kann man es ja mal. Ich habe jedenfalls eben beim Erklären festgestellt, dass ich ja eindeutig den Joker für mich gewählt habe. Ich bin ja irgendwie total ausgestiegen. Mein Leben war so nicht mehr erträglich für mich. Toll. Und jetzt kann ich anfangen mein Leben wieder neu zu gestalten. Da fällt mir ein, als erstes müsste ich mich ja wohl dann mal um einen neuen Job bemühen. Von irgendwas muss ich ja schließlich leben.“

Ameli hatte aber ein gutes Bauchgefühl bei diesem Gedanken. Es wird alles gut, hallte es in ihr nach.

„Ja, vielleicht habe ich ja auch eine Chance, einen Platz in deinem neuen Leben zu finden?“

„Chris, du hast einen Platz. Du kannst mein bester Freund werden, wenn du willst. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du das Andere vergessen kannst.“

„Das Andere fühlt sich aber besser an.“

„Nein, das Andere ist nicht dein Platz.“

„Gut, ich denke darüber nach. Ich meine über meine Fotos und was ich damit anfangen kann. Vielleicht hast du ja recht. Wenn ich dich damit so begeistert habe, dann muss ja was dran sein. Vielleicht komme ich ja mit Elisas Methode ein Stückchen weiter. Und wenn du mal wieder hier her kommst, werde ich es dir dann sagen.“

Chris musste sich sehr bemühen, sich entspannt und locker zu geben. Am liebsten hätte er Ameli an sich gerissen. Er wollte sie berühren, traute sich aber nicht. Es kam immer irgendwie in Schüben. Mal dachte er, er müsse ersticken und ein anderes mal dachte er, es sei alles normal.

Nur noch drei Tage, dachte Chris.

Ameli dachte, noch drei Tage.

 

Im Gegensatz zu Ameli konnte Chris nicht schlafen. Die Zeit verging rasant. Er wollte sie mit aller Macht festhalten, so wie er Ameli festhalten wollte. Verzweifelt schaute er fast minütlich auf seine Uhr. Er konnte die kostbare Zeit doch jetzt nicht einfach verschlafen.

Immer wieder sagte er sich, sie kommt bestimmt wieder. Aber das war ihm nicht genug. Er wollte alles. Er konnte sich nicht nur mit einem kleinem Stückchen zufrieden geben, welches Freundschaft hieß. Und er könnte vor allem nicht ertragen, dass das andere große Stückchen jemand anderem gehören würde. Niemals. Und doch teilte er sich Ameli bereits mit einem anderen Mann. Er konnte seine Gefühle nicht in Worte fassen. Er spürte einen tiefen dumpfen Schmerz.

Nein, er teilte nicht. Er wollte sie jemanden anderem wegnehmen, ging es ihm plötzlich durch den Kopf. Er wusste schließlich, dass es einen anderen gab, aber der Andere, wusste nichts von ihm.

Aber war das seine Schuld?

Ameli war doch diejenige, die trotz Freund etwas mit ihm angefangen hatte.

Aber es hatte ihn nicht gestört, weiter zu machen, obwohl er es wusste.

Wie fing alles überhaupt an?

Hatten sie sich nicht einfach ohne Worte gefunden?

Wurden sie nicht beide durch eine Sehnsucht dazu getrieben?

Ihre Verbindung kam irgendwie eigenartig zu Stande.

War alles nur ein Irrtum?

Chris wurde schwindlig. Seine Gedanken fuhren Achterbahn.

Was hatte er nur gemacht?

Was hatte sie mit ihm gemacht?

Sie hatte ihn in ihrer Not gebraucht und missbraucht. Dafür hatte sie sich entschuldigt. Sie würde alles vergessen und zu ihrem Freund zurückgehen.

Er müsste auch vergessen.

Aber ich kann nicht vergessen, schrie er in sich hinein.

Er musste an seine Mutter mit ihrer Affäre denken. Fünf Sommer lang. Er verstand es nicht. Wozu? Warum? Zwei verheiratete Menschen warteten ein ganzes Jahr, um dann für zwei Wochen hinter dem Rücken ihrer Partner ein Liebesabenteuer zu erleben. Was soll das denn?

Aber wünschte er sich jetzt nicht auch, dass Ameli zurück kommen würde?

Warum nur? Er würde schmachtend auf sie warten wollen? Wie abartig war das denn? Wollte er das wirklich?

Je länger er darüber nachdachte, um so klarer wurden schließlich seine Gedanken.

Er wollte Ameli nicht mit jemand Anderem teilen. Auf keinen Fall. Genau deswegen brauchte er auch nicht auf sie zu warten. So einfach konnte plötzlich alles sein.

Chris sagte sich zum Trost, dass er zumindest die Liebe kennen gelernt hatte. Und er musste schmerzlich erkennen, dass sie sich letztendlich aber nur großartig anfühlt, wenn sich beide lieben. Er kam sich nur beim ersten mal, wie im siebten Himmel vor. Da hatte er den Eindruck, dass sie beide zusammen auf den Wolken schwebten. Danach jedoch, als Ameli ihm mitteilte, dass sie ihn nicht lieben würde, fing er an zu leiden. Sie war zumindest ehrlich zu ihm, dass musste er ihr lassen. Aber er konnte nicht mit der Ehrlichkeit umgehen und wollte sie nicht an sich ran lassen, weil er anders fühlte. Jetzt war ihm klar, dass er nichts erzwingen konnte und er wollte dieser einseitigen Liebe nicht mehr nachlaufen.

Die Erkenntnis tat sehr weh. Aber Chris sagte sich, dass er es schaffen würde. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig. Er fühlte tief in sich, dass es keinen Sinn machen würde, um Ameli zu kämpfen.

Dann wenigstens Freund sein.

Er wollte die restliche Zeit mit Ameli verbringen.

Er musste Freund sein wollen.

 

***

Mittwoch

 

Mit einer Tüte frisch gebackener Brötchen holte Chris Ameli aus dem Schlaf.

Erstaunlicher weise war Ameli nicht überrascht, dass Chris schon wieder bei ihr auftauchte. Sie hatte es fast geahnt und sie musste sich auch eingestehen, dass sie es sich sogar gewünscht hatte. Sie wollte die Zeit mit Chris verbringen, bis Lucas kam. Sie wollte nicht alleine sein.

Wer hätte das gedacht?

Fröhlich und ausgelassen genossen sie das gemeinsame Frühstück. Chris fühlte sich wohl. Er hätte stundenlang mit Ameli am Tisch sitzen können. Ihr Lachen war ansteckend und ihre Stimme klang wie ein Lied.

„Was hältst du davon, wenn wir eine kleine Tour in die weite Welt machen?“

„Wie?“ Ameli guckte auf einmal wie ein verschreckter kleiner Vogel. Weite Welt konnte bei Chris nur mit Wasser zu tun haben.

„Nur keine Angst. Ich will dich nicht entführen. Aber wir könnten den kleinen Kutter nehmen und ein wenig auf dem Meer rumschippern. Das Wetter ist hervorragend und es gibt kaum Wellen.“

„Ach du meine Güte. Ich glaube ich kann das nicht.“

„Wie? Ich kann das nicht. Ich mach das doch. Du musst doch gar nichts machen.“

„Nein. Du verstehst nicht. Ich meine, ich kann nicht aufs Meer. Ich trau mich nicht.“

„Du warst noch nie auf einem Schiff, Boot oder ähnlichen?“ fragte Chris erstaunt.

„Nein. Ich habe Angst. Ich habe Angst vor Wasser. Vor viel Wasser und vor tiefem Wasser. Ich schwimme auch nicht im Meer. Ich brauche den Boden unter meinen Füßen. Den festen Boden wohlgemerkt.“

Plötzlich kamen ihr wieder die Erinnerungen, wie ihre Mutter ihr früher die Haare gewaschen hatte. Völlig gefühllos ließ sie das Wasser über ihren Kopf aus der Dusche fließen, obwohl Ameli jedes mal aus Leibeskräften schrie. Aber ihre Mutter hielt sie einfach fest und achtete nicht auf ihre Angst. Sie erinnerte sich, wie das Wasser ihr die Luft nahm, wie ihr die Augen brannten und wie die rutschige Wanne ihr keinen festen Halt gab.

Ameli schüttelte mit dem Kopf. Daher kam also ihre panische Angst vor dem Wasser. Was man alles so vergessen konnte? Heute konnte sie sich sehr wohl die Haare unter der Dusche waschen. Es durfte ihr aber kein Wasser übers Gesicht laufen. Dann bekam sie sofort Luftnot. Aber mit dem Schwimmen, da konnte sie sich einfach nicht überwinden. Sie musste im Wasser stehen können, tiefer raus ging es nicht.

Das alles erklärte sie Chris. Er verstand sie, wollte aber nicht aufgeben.

„Aber du hast doch festen Boden unter den Füßen. Du stehst doch im Boot. Und du hast mich.“

„Ja, schon. Aber um mich herum ist doch nur Wasser. Tiefes Wasser. Und ich könnte nicht schwimmen, wenn wir kentern würden. Oh, Chris, es tut mir leid, aber es geht nicht.“

Und dann erinnerte sie sich, wie sie vor ein paar Tagen auf der Veranda sitzend bodenlos untergegangen war, vom Wasser verschluckt wurde und sich selbst rettend übergeben hatte. Wollte sie sich jetzt wirklich ihrer Angst geschlagen geben? Sie raffte ihren ganzen Mut zusammen. Sie musste es wagen.

„Also gut. Ich vertraue Dir. Oh, Gott, sage ich das jetzt wirklich?“

„Du kannst mir vertrauen“, lächelte Chris sie an.

Die Fahrt mit dem Kutter wurde für Ameli ein Riesenerlebnis. Sie stellte sich zwar an wie ein kleines Kind, aber sie überwand tatsächlich ihre Angst. Chris musste sehr einfühlsam mit ihr umgehen. Schon allein der Einstieg dauerte statt fünf Minuten, Ewigkeiten. Innerlich wunderte sich Chris, dass es so etwas überhaupt gab. Für ihn war es so selbstverständlich, wie Zähne putzen. Und für Ameli war das die Überwindung einer schier unendlichen Angst. Sie saß total verkrampft in der Mitte des Bootes und traute sich nicht vom Boden hochzuschauen. Bei der kleinsten Bewegung zuckte sie zusammen. Ihre Hände waren eiskalt.

Chris hatte wirklich großes Mitleid und wollte schon alles abblasen. Aber Ameli bettelte, dass er sie zwingen sollte, sich so zu benehmen, wie ein normaler Mensch.

Chris schaffte es tatsächlich, dass sie ein Stückchen raus fahren konnten. Ameli traute sich nach einer weiteren Stunde, geradeaus zu schauen und ihre Haltung entkrampfte sich zusehends. Chris redete ununterbrochen und brachte sie sogar zum Lachen. Auf einmal war das Eis gebrochen. Ameli stand auf und ging zum Bug. Eine innere Stimme sagte ihr, tu es einfach. Lächelnd stand sie da und schaute auf das weite Meer. Sie spürte neben ihrer Unsicherheit, eine aufkommende Sicherheit. Sie hatte einen festen Stand.

Sie musste schreien.

Sie musste ihren Erfolg und ihre innere Freude lauthals verkünden. Sie war überglücklich.

Chris freute sich mit ihr.

Ameli machte sich Gedanken, was anders war.

Warum konnte sie auf einmal ihre Angst überwinden?

Sie spürte, dass es hauptsächlich mit ihr selber zu tun hatte. Sie spürte, dass ihr Wesen offener reagierte. Früher wäre sie bei ihrem Nein geblieben. Sie hätte sich verschlossen, ohne weiter nachzudenken und ohne Versuch, sich auf den anderen einzulassen. Sonst war sie immer kompromisslos, musste sie sich eingestehen. Kompromisslos mit sich und mit den anderen. Mit ihrer Mutter musste sie schließlich nie Kompromisse schließen. Sie bekam, was sie wollte.

Aber wie kam es, fragte sie sich, dass sie nicht bei ihrem Nein geblieben war, wie früher?

Sie durchlebte noch einmal die Situation am Frühstückstisch. Sie fühlte in sich ein Aufbegehren, eine innere Kraft, die ihr sagte, du schaffst es. Versuch es. Du kannst Chris vertrauen. Vertrau ihm. Und genau das tat sie.

Ich kann anderen vertrauen, flüsterte sie leise.

Als sie wieder am Steg ankamen, nahm sie ohne zu zögern Chris´ Hand und stieg ohne wenn und aber vom Boot.

„Ameli, ich bin stolz auf dich.“

„Ja, ich bin auch stolz auf mich.“

Sie lächelten sich an.

Obwohl Ameli nichts gemacht hatte, fühlte sie sich plötzlich total erschöpft. Sie wollte jetzt nichts weiter, als schnell nach Hause und schlafen. Chris schaute ihr traurig hinterher. Er hatte sich etwas anderes vorgestellt. Für Chris verging die Zeit einfach zu schnell.

Nur noch zwei Tage, dachte Chris.

Ameli dachte, noch zwei Tage.

 

 

Sie ging alleine vom Strand nach Hause. Sie war fröhlich. Sie sang vor sich hin und ihr Gesicht strahlte.

Nachdem sie einen Kaffee getrunken hatte, legte sie sich zufrieden aufs Sofa.

Bald würde Lucas kommen.

Eine breite lange Straße lag vor ihr. Ein Blick zurück, vermittelte das gleiche Bild.

Kein Mensch war zu sehen.

Kein Geräusch war zu hören.

Sie war allein.

Mutterseelen allein.

Sie wagte sich nicht zu bewegen. Weder vor noch zurück. Angst lähmte ihre Glieder. Sie fing an zu weinen.

Die Sonne wurde immer heißer. Sie verspürte Durst und Hunger. Sie musste sich entscheiden.

Wohin sollte sie gehen?

Vorwärts oder rückwärts?

Was war vorne?

Was war hinten?

Sie drehte sich im Kreis. Sie wollte weg. Aber sie konnte sich nicht entscheiden, wohin. Sie blieb einfach stehen. Sie schaute in beide Richtungen. Sie versuchte etwas zu erkennen, oder zu hören. Sie spornte sich an. Sie musste etwas machen.

Lauf Ameli, lauf.

Zaghaft fing sie an zu laufen. Vorsichtig Schritt für Schritt. Ihr wurde heiß. Der Boden unter ihr bewegte sich plötzlich. Sie kam ins Schwanken. Sie wollte wieder zurück. Sie drehte sich um.

Alles schwarz.

Es gab kein anderes Ende mehr. Es gab kein zurück mehr. Sie hatte sich anscheinend für die richtige Richtung entschieden. Welch ein Glück. Sie fing wieder an zu weinen. Und sie rief um Hilfe.

Warum war keiner da?

Sie musste weiter, denn hinter ihr brach die Straße. Stück für Stück brach die Straße ab und polterte in ein tiefes Nichts. Sie schaute mit Entsetzen zu, wie die Straße hinter ihr verschwand. Sie war wieder wie gelähmt. Sie fühlte sich schwer, wie ein Klumpen Blei. Heißer Nebel umhüllte sie. Sie konnte nichts mehr sehen. Sie konnte kaum noch atmen. Plötzlich hörte sie leise Stimmen.

Ameli komm.

Ich bin hier.

Trau dich, weiter zu gehen.

Bleib nicht stehen.

Schau nach vorn.

Sie schaute nach vorn und kämpfte gegen ihre bleierne Schwere an.

War da wirklich jemand, der ihr helfen wollte?

Sollte das wirklich möglich sein?

Konnte sie der Stimme vertrauen?

Sie musste. Und sie wollte. Sie streckte hilfesuchend ihre Arme aus. Sie konnte immer noch nichts sehen. Ihr tränten die Augen vom Nebel. Sie setzte einen Fuß vor den anderen.

Wo war die Hilfe?

Hatte sie sich doch getäuscht?

Der Mut verließ sie. Sie wollte schon wieder zusammensacken. Sie weinte immer noch. Doch dann spürte sie einen leichten Hauch. Hoffnung kam in ihr auf. Sie atmete schneller. Sie riss sich zusammen und griff um sich.

Dann hatte sie plötzlich eine Hand in ihrer. Sie konnte aber noch nichts erkennen. Die Hand zog sie und sie konnte sich besser bewegen. Ihre Beine gehorchten ihr langsam wieder. Der Boden schwankte nicht mehr und der Nebel lichtete sich langsam. Ihr kam es vor, als wenn sie aus einem tiefen Loch herauskrabbeln würde.

Sie hielt die Hand fest in ihrer. Sie wollte sie nicht mehr loslassen. Sie hatte Vertrauen in diese Hand gefasst. Plötzlich wurde das Licht ganz hell. Sie konnte wieder nichts erkennen.

Aber sie fühlte sich sicher.

Sie hörte Stimmen.

Sie hörte ihren Namen.

Ameli.

Immer deutlicher und immer lauter. Sie wollte rufen, hier bin ich.

Ameli?

Sie konnte ihre Augen öffnen. Der Nebel war weg.

Benommen richtete sie sich auf.

Sie sah Chris am Fenster stehen. Er musste andauernd ihren Namen gerufen haben.

Sie hatte ihren Traum noch ganz klar vor Augen. Sie fühlte sich gut.

Es geht vorwärts, sagte sie sich.

Genauso.

Schnell stand sie auf und ließ ihn rein.

Er brachte Essen und liebe Grüße von seiner Mutter mit. Ameli war beeindruckt von so viel Herzlichkeit. Es trieb ihr die Tränen in die Augen.

„Warum weinst du?“ frage Chris fassungslos.

„Ich kann das gar nicht erklären“, schluchzte Ameli. „Ihr seid so gut zu mir. Deine Mutter kennt mich doch gar nicht.“

„Na und, aber mich kennt sie. Ich bin ihr Sohn, schon vergessen? Und den eigenen Sohn lässt man nicht verhungern.“

„Schon gut. Aber um dich geht es hier nicht. Ich ... ich bin einfach überwältigt von meinem eigenen Gefühl, Freude zu empfinden. Ich habe das bisher noch nie so deutlich gespürt. Für mich war bis jetzt immer alles so selbstverständlich. Ich habe einfach ohne Dankbarkeit alles genommen und für das, was ich gegeben habe, habe ich keinen Dank erwartet. Dabei ist das alles gar nicht immer so selbstverständlich. Oder? Das Wort Danke, kenne ich fast gar nicht.“ Ameli hielt inne. Traurig senkte sie den Kopf nach unten und schüttelt ihn mehrmals hin und her. „Meine Güte, habe ich ein freudloses, gefühlloses Leben hinter mir. Ich bin erschüttert.“ Sie schaute Chris direkt in die Augen. „Und die Tränen sind Tränen der Freude. Das Gefühl war eben unglaublich schön.“

„Das muss ich jetzt aber nicht verstehen, oder?“ Diesmal konnte Chris wirklich nicht verstehen, was Ameli gerade empfand. Er hielt einen Suppentopf in den Händen und sie weinte.

Ameli sah ihm das an, dass er nicht nachvollziehen konnte, was sie ihm verdeutlichen wollte. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände.

„Du musst auch denken ich bin bescheuert. Ich weiß, dieses Gefühl sollte eigentlich jeder kennen. Aber meine Mutter hat mir das Gefühl gar nicht erst vermittelt. Freude. Worüber hätte ich mich als Kind freuen können? Mich umgab grob gesagt nur Kälte. Und später wurde es auch nicht besser. Ich musste schließlich immer um alles selber kämpfen. Das Einzige, über das ich mich dann hätte freuen können, wäre, dass ich es selber geschafft hatte. Freut man sich ständig über sich selber? Nein, man vergisst es.“

„Komm her Ameli. Vergiss deine Vergangenheit.“ Chris war wieder gerührt von Amelis schwerer Kindheit. Er nahm sie in den Arm und Ameli ließ sich tatsächlich wie ein kleines Kind hin und her wiegen.

„Durch meine Erziehung bin ich kalt, hart und herzlos geworden. Ich war immer so unendlich unglücklich. Ich fange wirklich erst hier an glückliche Gefühle bewusst zu zu lassen und zu genießen. Das glaubt mir kein Mensch. Und ich muss dir immer wieder sagen, dass ich dir unsagbar dankbar dafür bin, dass du mich hier gefunden hast und dass du mich gehalten hast. Tausend Dank. Ich weiß nicht, ob ich ohne dich so weit gekommen wäre.“ Ameli sprach diese Worte leise, während sie sich sicher in Chris´ Umarmung fühlte. Sie hielten sich ein Weilchen im Arm und spürten beide eine Welle des Glücks.

„Ameli, du wirst bald von hier wegfahren. Ich mag keinen Abschied. Ich will auch nicht wissen, wann du mit Lucas losfährst. Deswegen versprich mir schon heute, dass du mich ab und zu mal anrufst. Ich werde immer an dich denken, aber ich weiß, dass du zu Lucas gehörst. Und ich will mich da auch nicht einmischen. Also sei du diejenige, die sich meldet, wann immer du willst.“

Ameli nickte nur. Sie wusste, dass Chris diese Worte schwer fielen.

 

Ameli wollte noch einmal am flackernden Kamin sitzen.

Sie mussten sich beide unwillkürlich an die Nacht vorm Kamin erinnern. Unterschiedlicher konnten die Gefühle nicht sein. Sie saßen sich schweigend gegenüber und jeder verarbeitete die Erinnerung für sich. Sie wollten beide nicht darüber sprechen.

Nicht mehr.

Es war alles gesagt.

Was immer jeder darunter verstand.

Nach ein paar Schweigeminuten erhob sich Ameli und holte eine Flasche Wein. Sie befürchtete, dass Chris den Abend über schwermütig bleiben würde. Aber sie irrte sich. Sie konnten gelassen und fröhlich miteinander rumflaxen. Chris erzählte von seinen Jungenstreichen. Ameli kam aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Dabei leerten sie die angefangenen Weinflaschen. Eine um die andere. Weit über Mitternacht hatten sie es endlich geschafft und sie waren beide ziemlich angeheitert.

„So, nun ist aber Schluss.“ Ameli erhob sich und schwankte ein wenig. „Ich gehe jetzt ins Bett. Was du machst, ist mir egal. Entweder gehst du nach Hause, oder du schläfst hier unten auf dem Sofa. Decken sind genug da. Also, ahoi, Seemann.“

Sie torkelte die Treppen nach oben, winkte ihm noch einmal über die Schulter, stolperte über die letzte Stufe und schloss dann geräuschvoll die Tür zum Schlafzimmer.

Chris erhob sich und wusste nicht so genau, was er machen sollte. Die Glut war noch nicht ganz runter gebrannt, aber es bestand absolut keine Gefahr.

Er hätte gehen können.

Trotzdem hielt ihn irgendetwas fest. Und er wusste auch ganz genau was. Er musste diesen Abend immer und immer wieder seine Gefühle leugnen. Es tat so weh. Ihr Lächeln war so reizend. Ihre Haut war so glatt. Ihr Körper war so anziehend. Er war seinem Ziel so nah und durfte es nicht greifen. Jetzt lag sie eine Etage über ihm, im Bett. Er fühlte starkes körperliches Verlangen. Er konnte nicht gehen. Er durfte aber auch nicht zu ihr gehen. Dann wollte er wenigstens in ihrer Nähe sein. So schmerzhaft es auch war. Er nahm sich die Decke, die Ameli den Abend um ihre Schultern hatte und drückte sein Gesicht hinein. Er roch sie. Er spürte sie. Seine Erregung war sichtbar. Versunken in Gedanken an Ameli spielte er verträumt eine Szene, in der er die Hauptfigur war.

Erschöpft und befriedigt schlief er in ihrer Decke, umhüllt von ihrem Duft, ein.

 

Ameli dagegen lag noch lange wach im Bett. Obwohl sie müde war, konnte sie nicht einschlafen. Sie war ziemlich betrunken.

Es war aber etwas anderes, was sie nicht schlafen ließ. Sie hatte am Tag mehrmals an Lucas gedacht. Und jetzt hatte sie, sie wagte es kaum zu glauben, eine schier unglaubliche Lust auf ihn. Sie sah nur Lucas vor sich. Es war nicht die körperliche Lust auf Mann sondern die spezielle Lust auf Lucas. Nur auf Lucas. Sie hatte ein Kribbeln im Bauch und fühlte sich wie frisch verliebt. Sonst, wenn sie zu ihm ins Bett ging, war das eher wie die Erledigung einer Pflicht. Sie konnte nicht sagen, dass es nicht schön war. Er brachte sie auch manchmal zum Höhepunkt. Das war es nicht. Aber das, was sie jetzt verspürte, war ein echtes Verlangen nach ihm. Ohne wenn und aber. Sie spürte die Liebe in sich und sie spürte die Liebe für Lucas. Zum zweiten mal an diesem Abend war sie überwältigt von ihren neuen aufkeimenden Gefühlen. Sie weinte lautlos in ihr Kissen und da ihr Körper sich so sehr nach Lucas sehnte und sich nicht mehr zu beruhigen schien, gab sie ihm, was er brauchte. Zärtlich, gefühlvoll und sanft brachte sie sich zum Schwingen und genoss eine Welle der vollkommenden Liebe.

Für Lucas.

Erschöpft und befriedigt schlief sie ein.

 

***

Donnerstag

 

Verschlafen kam Ameli aus dem Schlafzimmer und ging die Treppe herunter. Sie fand den Wohnraum unaufgeräumt verlassen vor. Sie nahm an, dass Chris gestern Abend noch gegangen war. Sie war müde und schlurfte antriebslos zur Sitzecke. Die Decke lag ausgebreitet, wie zum Schlafen zurechtgelegt, auf einem der Sofas. Ameli schlüpfte hinein. Sie lächelte. Die Decke war noch warm. Er hatte doch hier übernachtet. Ameli schlief noch einmal ein.

 

Am späten Nachmittag kam sie endlich in die Gänge. Nach einer ausgiebigen Dusche fühlte sie sich endlich fit für den Rest des Tages.

Die Sonne war bereits verschwunden, als sie sich für einen Spaziergang entschied. Sie wollte sich bei Frau Vetter verabschieden. Ameli wählte den Weg durchs Dorf. Sie wusste, dass es kein Abschied für immer war. Sie war sich sicher, dass sie irgendwann Elisa in ihrem Haus besuchen würde. Sie war fröhlich und ausgelassen. Von traurigen Gefühlen hatte sie nun wirklich die Nase voll. Sie wollte im Abschied die Chance einer Wiederbegegnung sehen.

Frau Vetter sah Ameli schon vom Küchenfenster aus. Sie fand es gut, dass sie den Weg noch einmal hier her fand. Sie war ihr auch nicht wirklich böse.

Warum auch?

Ihr Sohn war schließlich erwachsen. Er musste seine eigenen Erfahrungen machen. Sie ging an die Haustür und empfing Ameli freundlich. Ameli ließ sich nicht lange bitten und willigte ein, zum Abendessen zu bleiben.

In der Küche war es gemütlich und bei einer Tasse Kaffee kamen sie schnell ins Gespräch. Wie bei ihrer ersten Begegnung verstanden sich die beiden Frauen auf Anhieb. Herr Vetter steckte einmal kurz den Kopf durch die Küchentür und brummelte, dass sie das Essen bei aller Quatscherei nicht vergessen sollten. Ameli musste lachen. Frau Vetter war der Auftritt ihres Mannes allerdings peinlich.

„Ach was, dass muss ihnen doch nicht peinlich sein. Dann machen wir jetzt mal das Abendessen. Ich helfe ihnen gerne. Ich habe auch schon zwei mal mit Chris gekocht. Das hat Riesenspaß gemacht. Ich werde jetzt auch öfter kochen. Ihre Nudelsuppe war übrigens ein Gedicht. Also, hier steht ihre Küchenhilfe.“

Bei den Vetters wurde abends immer etwas Warmes gegessen, so dass es genug zu tun gab. Ameli befolgte genauestens die Anweisungen von Frau Vetter und versuchte, ihr einige wertvolle Küchentips zu entlocken.

Pünktlich um halb sieben erschienen Vater und Sohn in der Küche zum Essen. Chris war freudig überrascht, Ameli hier in trauter Zweisamkeit mit seiner Mutter vorzufinden. Auch Ameli lächelte herzlich, so dass Frau Vetter sofort erkannte, dass die beiden ihren Frieden geschlossen hatten. Obwohl ihr auch auffiel, dass für Chris noch nicht alles vorbei war. Aber sie dachte, die Zeit wird die Wunden heilen. Für sie persönlich traf schließlich dieses dumme Sprichwort auch schon mal zu.

So ein gesprächiges und lustiges Abendessen hatte die Küche der Vetters seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt. Frau Vetter war glücklich und zögerte die Zeit so gut es ging nach hinten hinaus. Es gab nicht nur ein Nachtisch, sondern gleich drei. Nur Herr Vetter betrachtete alles mit mürrischer Miene, wie immer. Er würde sich nie ändern, dachte Frau Vetter traurig. Das war das Einzige Manko, was sie an ihrem Mann auszusetzen hatte. Seine Geselligkeit lief gegen Null. Jetzt störte sie es nicht mehr so, sie hatte sich irgendwie daran gewöhnt. Aber früher war sie oft deswegen der Verzweiflung nahe.

Sie musste unwillkürlich an ihre Affäre denken. Es waren die spitzbübischen, lustigen Augen, die sie verführt hatten. Da lag Feuer und Bewegung drin, wonach sie sich gesehnt hatte. Für kurze Zeit konnte sie ihre eigene Abenteuerlust stillen. Für fünf Jahre. Und das war gut so. Für sie stand eindeutig fest, wenn sie das nicht erlebt hätte, wäre sie entweder todunglücklich mit ihrem Mann geworden oder sie hätte ihn sogar verlassen. Durch den kleinen Abstecher, bekam sie, was sie brauchte und es reichte ihr aus. Die Liebe zu ihrem Mann bekam dadurch keinen Abbruch. Im Gegenteil, sie würdigte dadurch die vielen anderen guten Seiten, die ihr Mann hatte und die ihre Liebe zu ihm ausmachten. Sie konnte sich ihrer Liebe zu ihm sicher sein. Das war das, was zählte. Die Affäre war schön, aber nicht bedeutend genug, um alles aufzugeben. Die Affäre blieb eine Affäre, weil beide mit beiden Beinen fest im Leben standen.

Sie vermutete, dass es bei Ameli ähnlich war. Aber so genau wollte sie es dann doch nicht wissen. Wichtig war ihr, dass sich Ameli hier in ihrer Küche wohl fühlte. Und an der entspannten Haltung sah sie, dass es so war.

Dass sie mit ihrer Vermutung allerdings völlig daneben lag, erfuhr Frau Vetter nie.

Auch Ameli verfiel für eine kurze Zeit in Gedanken. Sie stellte für sich fest, dass sie noch nie mit einer kompletten Familie aus Vater, Mutter und Kind, gemeinsam an einem Tisch gesessen hatte.

Das war unglaublich.

So sah also Familie aus und so fühlte sich also Familie an. Ob sie wohl jemals selbst eine Familie haben wird?

Darüber hatte sie seit Ewigkeiten nicht mehr nachgedacht. Genauer gesagt, seit ihrem Abbruch nicht mehr. Auch für Lucas schien diese Frage nicht zu stehen. Oder doch? Vielleicht traute er sich nur nicht sie zu stellen?

Vertieft in ihren Gedanken, nahm sie gar nicht wahr, dass der Tisch abgeräumt wurde. Erst als Chris ein Glas umstieß, kam sie wieder zu sich.

Herr Vetter verabschiedete sich dann doch noch angemessen höflich von Ameli, was Frau Vetter lächelnd quittierte. Sie dachte, alter Brummesel, du kannst es doch.

Wenig später ging auch Ameli. Sie wollte nicht, dass Chris sie begleitete. Sie wollte diese Familie so zurücklassen, wie sie sie vorgefunden hatte. Sie wollte sie irgendwie nicht zerreißen. Sie wollte diese Familie als geschlossene Familie in Erinnerung behalten. Sie versuchte erst gar nicht, Chris zu erklären, warum er sie nicht begleiten sollte. Er würde es nicht verstehen. Sie wollte diesen glücklichen Augenblick nicht zerreden. Sie sagte ihm unwiderruflich und bestimmend Nein.

Er musste sich fügen.

Er gehorchte ihr.

Chris fühlte das als schmerzlichen Abschied. Ameli war sich dessen nicht bewusst. Erst hinterher, als sie langsam und bedächtig die Straße entlangging und sich noch einmal nach dem Haus umsah und Chris immer noch an der Eingangstür stand, spürte auch sie Abschiedsstimmung in sich aufkommen. Sie zögerte einen kleinen Augenblick und verharrte in ihrer Bewegung. In Chris stieg für einen winzigen Augenblick die geheime Hoffnung auf, dass sie noch einmal zurückkommen würde oder ihr zuwinken würde.

Er hielt den Atem an.

Aber Ameli drehte sich um und ging weiter.

Leb wohl, wir sehen uns irgendwann wieder, dachte die eine.

Das war´s dann wohl, dachte der andere.

 

 

Zur selben Zeit gab Lucas seine letzte Stunde. Er war am Überlegen, ob er über Nacht fahren sollte. Genaueres über die Zeit hatte er mit Ameli nicht abgesprochen. Sie wussten beide, dass seine Pläne innerhalb kürzester Zeit nicht mehr aktuell sein konnten. Deswegen gab es zwischen ihnen immer nur kurzfristige Terminabsprachen und Verabredungen. Beim letzten Telefonat einigten sie sich auf Freitag. Der Freitag begann 00.01Uhr und endete 23.59 Uhr. Das wussten beide.

Für die lange Fahrt fühlte sich Lucas noch frisch genug. Dafür wäre er dann aber den folgenden Tag über müde, und das wollte er auch wieder nicht. Wenn er schon mit Ameli zusammen war, dann wollte er es auch genießen können. Er freute sich auf das ganze Wochenende mit ihr. Sie konnte ihm nicht weglaufen. Es war quasi wie Urlaub. Keine getrennten Wohnungen.

Auf Berlin und ihre Mutter war er gespannt.

Er entschied sich für einen kurzen Schlaf und eine Fahrt kurz nach Mitternacht. Er wollte sie dann zum Frühstück wecken. Lucas stellte sich Ameli schlaftrunken mit überraschtem Gesicht vor.

Er freute sich riesig auf Ameli.

 

 

Auch Ameli wollte Freitag frisch ausgeruht sein. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass Lucas sie überraschen würde. Sie hatten sich immerhin zwei Wochen nicht gesehen. Ich komme am Freitag, konnte bei Lucas schließlich viel bedeuten, dass wusste sie.

Sie tat gut daran, ihre für Freitagmorgen geplante Schönheitspflege, bereits am Abend zu vor, zu erledigen.

 

 

Für Chris verlief die Nacht grauenhaft. Er wünschte sich eine Schlaftablette, die ihn erst wieder erwachen ließe, wenn Ameli weg wäre.

Konnte er es ertragen, Ameli und Lucas gemeinsam in seiner Nähe zu wissen?

Er setzte seine Kopfhörer auf und beschallte sich mit ohrenbetäubender Musik.

 

***

Freitag

 

07:43 Uhr fuhr der schwarze Audi A4 langsam die Auffahrt zum Ferienhaus des getrennt lebenden Ehepaares Spiegel hinauf. Lucas schloss leise die Autotür.

Das Haus lag verschlafen vor ihm. Genauso hatte er sich das vorgestellt. Er richtete noch einen kurzen Blick nach links auf das Meer.

Er sah in der Ferne ein Fischerboot.

Dann stand er vor der Haustür. Er war zu seinem Erstaunen sehr aufgeregt. Seine Hände wurden feucht, ihm glitt fast die Tasche aus der Hand.

Was ließ ihn plötzlich zögern, zu klingeln?

Verspürte er auf einmal Angst?

Er atmete kurz aus, gab sich einen Ruck und klingelte.

Er wartete. Vor seinem inneren Auge der Ablauf, was sich im Haus abspielte. Ameli schoss ruckartig aus dem Bett... ein schneller Blick in den Spiegel... sofern einer da war... kurze Frage, kann ich so an die Tür? ...ja... schneller Sprint zur Tür....

und.... die Tür ging auf...

Sie blickten sich beide an. Ameli stürzte sich auf ihn. Lucas ließ die Tasche fallen und sie fielen sich stürmisch um den Hals. Lucas wirbelte Ameli im Kreis herum, so überschwänglich war seine Freude.

Alle Angst war verflogen.

Er schalt sich dafür. Wie konnte er nur auf die Idee kommen, dass die Begrüßung hätte anders sein können?

„Ameli, meine süße. Mein Gott, wie habe ich dich vermisst. Lass dich anschauen. Du siehst hinreißend aus.“

„Ja, ja. So schön zerknittert im Gesicht. Huh, komm schnell rein, mir ist kalt.“ Sie zog Lucas küssend ins Haus. Sie konnte sich gar nicht von ihm lösen.

Es war anders.

Sie hatte Schmetterlinge im Bauch.

Das, was sie die Nacht zuvor gespürt hatte, hielt weiter an. Was für ein Freude. Sie musste ihn immer wieder küssen.

„Gut, gut, jetzt. Zieh dich schnell an, ich mache Frühstück.“ Lucas schob Ameli vorsichtig von sich in Richtung Treppe. Obwohl er nur einmal im Haus war, konnte er sich erinnern, dass oben das Schlafzimmer war und die Küche rechts unten.

Oben im Schlafzimmer angekommen, holte Ameli erst ein mal richtig Luft. Sie fühlte sich wirklich wie frisch verliebt. Ihre Knie zitterten und ihr Herz pochte wie verrückt. Sie zwickte sich und mahnte sich zur Ruhe.

Lucas war gerade fertig mit dem Kaffee, als Ameli runter kam. Er hatte den Tisch im Wohnbereich am Fenster gedeckt.

„Ich wollte die schöne Aussicht genießen. Als ich ankam, war da hinten noch ein Fischerboot. Jetzt ist es weg.“

„Hm, das habe ich auch oft gesehen“, erwiderte Ameli ohne rot zu werden.

Lucas wollte immer ohne Umschweife das Wichtigste wissen. Ameli merkte es sofort. Sein Gesicht war angespannt und es zuckte um seine Augenwinkel. Er hielt sich nie lange mit Vorgeplänkel auf. Zeitverschwendung, wie er so schön sagte.

„Frag mich einfach, Lucas“, kam Ameli ihm zuvor.

„Ich weiß nicht was? Du haust einfach ab und lässt mich im Kalten stehen. Ich war wütend, besorgt, alles in einem. Jetzt komm ich hier an, sehe dich und alles ist wieder gut. Ich liebe dich, Ameli. Alles ist wie weggeblasen und vergessen.“ Ameli sah ihm an, dass er die absolute Wahrheit sprach.

„Ja. Ich liebe dich auch, Lucas. Jetzt weiß ich es.“

„Vorher hast du es nicht gewusst?“

„Nicht so richtig.“

Lucas schaute Ameli mit großen Augen an.

„Bist du deswegen weggegangen?“

„Nein. Ja auch.“

Nach kurzem Zögern fing sie an ihm ihre Geschichte zu erzählen, warum sie hier her gefahren war und wie sie hier mit ihren Gefühlen gekämpft hatte. Ihr war klar, dass sie Chris erwähnen musste. Sie tat es auch. Sie sagte aber nicht, dass sie mit ihm geschlafen hatte.

Lucas traute seinen Ohren kaum.

„Und mit wem war ich die ganze Zeit zusammen? Ameli, das warst doch dann nicht du?“

Ameli blickte betrübt nach unten. Genau davor hatte sie Angst. Würde Lucas das alles in so kurzer Zeit verstehen?

Er musste sich ja irgendwie verschaukelt vorkommen. Wieder kam ihr selbst ihr ganzes Leben wie Lug und Trug vor. Sie wollte nicht wieder schwach werden. Sie wollte stark sein. Sie musste das jetzt aushalten. Sie musste jetzt für ihre Liebe kämpfen.

Aber sie schwieg erst einmal.

Lucas stand auf und ging auf und ab. Er war genauso entsetzt über diese Offenbarung, wie Chris und Elisa. Er war nicht entsetzt über Ameli, sondern mehr über sich. Plötzlich, in dem Wissen um Amelis innere Kämpfe, machten ihre Eigenarten einen Sinn für ihn.

„Ich fand dich mit deinen Eigenarten und, wie soll ich sagen, mit deinen Extrawürsten, immer geheimnisvoll, Ameli. Ich habe mich damit abgefunden und fand alles irgendwie auch annehmbar für mich. Statt dessen hätte ich mich wirklich darüber wundern sollen und das alles mal hinterfragen sollen. Man, das ist doch alles unfassbar. Du verstellst dich mit aller Kraft und ich merke nicht, wie schlecht es dir geht. Ich glaube es nicht. Wie konnte ich nur so blind sein?“

„Kannst du mir verzeihen?“, fragte Ameli leise.

„Verzeihen? Spinnst du? Wovon redest du? Ich muss dich fragen, ob du mir verzeihen kannst, weil ich das alles nicht gemerkt habe.“

„Hey, nun mach du dir mal keine Vorwürfe. Ich war doch diejenige, die dich, ja euch alle, in Unwissenheit gelassen hat. Es tut mir leid, aber ich konnte nie zu irgend einem volles Vertrauen fassen. Auch nicht zu dir. Ich hatte immer Angst, dass irgendwann alles wie eine Seifenblase zerplatzen würde und als Täuschung auffliegen würde. Ich brauchte meinen Schutz, meinen Rückzug. Verstehst du? Es tut mir so leid.“

Lucas ging nickend auf und ab. Ihm schwirrten auf einmal so viele Fragen durch den Kopf. Aber Ameli redete schon weiter.

„Hier ist mir so einiges klar geworden, Lucas. Ich habe mich quasi entrümpelt von meinen Altlasten. Ich habe mich zum ersten mal meinen Gefühlen gestellt. Das war nicht leicht. Das kannst du mir glauben. Ich habe viel geweint, um mich, um meine beschissene Kindheit und mein verlogenes und verlorenes Leben und sogar um meine Mutter. Lucas, ich will jetzt einen neuen Weg gehen. Und ich will diesen Weg gemeinsam mit dir gehen. Ich will dir vertrauen. Ich liebe dich.“

Lucas war gerührt. Spontan fiel er vor ihr auf die Knie und sagte:

„Ameli Blume, ich liebe dich auch. Ich will mit dir den Weg gemeinsam gehen. Heirate mich.“

„Du Spinner. Später.“ Sanft strich sie ihm über den Kopf und küsste ihn hingebungsvoll.

„Ameli, alles wird gut.“

„Alles wird gut“, wiederholte Ameli leise. „Lass uns nach oben gehen.“

„Wie? Jetzt? Am frühen Morgen? Das Angebot von dir? So kenne ich dich ja gar nicht.“

„Pst. Komm einfach.“ Ameli nahm Lucas an die Hand und ging mit ihm die Treppe nach oben. Auf dem Weg fing sie schon an, sich langsam auszuziehen. Lucas staunte nicht schlecht.

Was dann kam, übertraf alles, was sie bisher miteinander erlebt hatten.

Ameli und Lucas.

Lucas und Ameli.

Das war leidenschaftliche Liebe. Sie hätten es nicht in Worte fassen können, aber sie fühlten es beide zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Das Glück strahlte aus ihren Augen.

Diesmal gab sie sich vertrauensvoll hin. Ohne wenn und aber. Was das für ein Unterschied in ihren Gefühlen ausmachte. Sie war hin und weg.

Auch Lucas nahm diese neue Offenheit an Ameli wahr. Er schaute ihr verwundert in die Augen.

„Sag nichts. Ich fass es selber nicht“, flüsterte Ameli noch ganz atemlos. „Genieß es einfach. Es soll jetzt immer so sein.“

„Ich habe nichts dagegen.“ Lucas nahm Ameli noch fester in den Arm. Er wollte sie nie wieder loslassen und Ameli wollte nie wieder von ihm losgelassen werden.

 

 

Chris saß in seinem Zimmer und wollte den gestrigen Abschied nicht als Abschied gelten lassen. Er wollte Ameli irgendetwas mitgeben. Ihm kam auch schon eine Idee. Er kramte in seiner Bilderkiste und es fiel ihm nicht schwer etwas Passendes für Ameli zu finden. Er wünschte, er hätte ein Foto von Ameli in seiner Bilderkiste.

Mit der Kamera im Gepäck machte er sich auf den Weg. Er wollte es wenigstens versuchen.

Er sah das Auto in der Einfahrt stehen. Natürlich flatterte ihm sein Herz, aber er überwand sich. Er wollte es zu Ende bringen.

Ameli und Lucas waren gerade beim Nachmittagskaffee, als er klingelte.

„Kennst du hier jemanden“, fragte Lucas überrascht.

„Chris. Ich habe dir doch von ihm erzählt“, sagte Ameli schnell im Hinausgehen. Nur nicht rot werden, dachte sie. Und ganz natürlich bleiben. Nicht verraten. Warum musste er jetzt nur kommen?

„Hallo Ameli, ich wollte mich nur kurz bei dir verabschieden.“

„Komm rein, dann kann ich dir ja auch gleich Lucas vorstellen.“

Alles blieb förmlich und kühl zwischen Chris und Ameli. Dachten sie zumindest beide. Lucas erkannte sofort, dass zwischen den beiden etwas vorgefallen war.

Hatten sie etwa das Bett geteilt?

Für Lucas sah es ganz danach aus. Aber seltsamerweise störte es ihn überhaupt nicht. Im Gegenteil, er amüsierte sich, wie die zwei versuchten, sich zu verstellen. Wenn er mit seiner Vermutung richtig läge, so dachte er, dann würde er es Retourkutsche für sein Fremdgehen betrachten. Er schaute sich die beiden noch einmal genauer an. Kein Zweifel. Sein Gewissen für ihn nun vollständig rein gewaschen.

Wer hätte das gedacht?

Chris gab Ameli die Fotos, die er für sie mitgebracht hatte.

Sie freute sich riesig. Auf dem ersten, was sie in der Hand hielt, sah sie einen Schmetterling, gefangen in einem Regenbogen. Ameli erinnerte sich daran, dass er sie einmal als einen schillernden Regenbogen bezeichnet hatte. Sie hob die Augenbrauen.

Dann betrachtete sie die anderen zwei Fotos. Sie war sprachlos.

Ein Käfer gefangen in einer Sandkuhle. Dieses Bild kannte sie.

Dann der Käfer erschöpft am Rand der Sandkuhle, das Hinterteil noch leicht hängend in der Kuhle, aber der größte Teil war in Sicherheit.

Warum schenkte er ihr diese Fotos? Er musste sich etwas dabei gedacht haben.

Natürlich.

Sie war der Käfer.

Angekommen am Ziel.

Fast.

Die letzten zwei Wochen hier im Haus, in diesen zwei Bildern eingefangen zu sehen, trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie fasste sich aber wieder schnell.

„Die Fotos sind großartig. Ich werde einen schönen Platz für sie finden. Danke.“

Chris lächelte. Er sah, dass Ameli verstand.

Lucas hielt sich zurück im Hintergrund. Für ihn gab es nichts zu sagen, das fühlte er instinktiv. Er verzog sich stillschweigend in die Küche, um den beiden die Möglichkeit zu geben, sich so zu verabschieden, wie sie es brauchten.

Ungestört.

Chris fasste dann doch seinen ganzen Mut zusammen und fragte Ameli, ob er ein paar Fotos von ihr machen dürfte. Ameli zierte sich. Sie ließ sich nicht gerne fotografieren. Es gab kaum Kinderbilder von ihr und auch später verschwand sie immer schnell, wenn jemand anfing zu fotografieren. Chris bettelte mit seinen Augen.

„Na gut“, willigte Ameli schließlich ein. „Aber nur, wenn Lucas auch eins von uns zusammen macht und das schickst du mir dann.“

Chris war überglücklich. Er wollte Ameli am Strand fotografieren. Sie sollte sich einfach nur am Strand bewegen, am Meer entlanglaufen und sich ganz natürlich geben.

„Na, wenn es weiter nichts ist. Und was bekomme ich als Gage?“ witzelte Ameli. Dabei dachte sie natürlich als erstes daran, wie sie aussah und wie ihre Haare lagen. Sie rief Lucas zu, dass sie schnell mal ein paar Fotos am Strand machen würden und dass er mitkommen solle.

Ohne zu warten waren sie aus der Tür.

Lucas folgte den beiden nicht sofort, sondern beobachtete sie von der Veranda aus. Irgendetwas war anders an Ameli, dachte er.

Was war es nur?

Dann fiel ihm auf, dass Ameli unentwegt lächelte. Nicht nur jetzt, weil sie sich fotografieren ließ. Nein. Sie hatte seit er hier war, dieses Lächeln im Gesicht. Es machte sie unbeschreiblich schön, stellte Lucas fest. Ihre Züge waren viel weicher und es machte sie äußerst begehrenswert.

Er liebte sie.

Er sah aber auch, dass Chris förmlich nach ihr schmachtete. Unter Männern kannte man den Blick. Aber Amelis Lächeln galt nicht Chris in diesem Moment, das sah Lucas, es galt der ganzen Welt.

Lucas war fasziniert von Amelis plötzlichen Unbeschwertheit. Ihre ganze Haltung drückte eine Offenheit aus, die Lucas so an Ameli noch nie gesehen hatte. Natürlich war ihm diese Ameli viel lieber. Es machte ihn traurig, dass sie mit ihrer schweren Last so lange alleine geblieben war.

Das wäre wirklich nicht nötig gewesen, sagte er.

Ich hätte dir doch geholfen, flüsterte er leise in den Wind.

 

Ameli poste nun doch ungeniert vor der Kamera, was so gar nicht ihre Art war. Aber sie fühlte sich frei und sie hatte das Gefühl, dass sie vor Chris und Lucas nichts verbergen musste. Sie sah, dass Lucas oben auf der Veranda seine Freude daran hatte, sie so zu sehen. Sie gab ihm zu verstehen, dass er runter kommen solle.

„So nun ist aber genug, Chris. Eins davon wird schon ordentlich geworden sein. Jetzt lass Lucas noch eins von uns zusammen machen“, sagte sie, als Lucas neben Chris stand.

„Das hat riesigen Spaß gemacht.“ Ameli strahlte und strahlte. Sie ging auf Lucas zu.

„Das werden bestimmt schöne Bilder“, meinte Lucas zu ihr. Er nahm sie in den Arm und küsste sie überschwänglich. Dann hielt er plötzlich inne und sagte mit Blick zu Chris „oh, tut mir leid.“

Ameli hatte sich die ganze Zeit gefragt, ob Lucas etwas merken würde. Nun war sie sich sicher, dass Lucas wusste, dass da mehr war, als nur angebliche Bekanntschaft.

Ameli hielt ihn fest und beteuerte ihm leise, dass das keine Bedeutung hätte.

„Ich weiß.“ versicherte ihr Lucas

Chris bekam diese Szene mit und obwohl es ihm das Herz zerriss, wurde ihm augenscheinlich deutlich, dass er die beiden als ein Paar akzeptieren musste.

Sie waren eins.

Der Abschied fiel herzlich aus. Ameli versprach, dass sie ab und zu anrufen würde.

Dann fiel die Tür ins Schloss.

Ameli und Lucas standen sich gegenüber.

„Ein netter Kerl, der Chris.“ sagte Lucas.

„Danke.“ sagte Ameli liebevoll.

Lucas verstand, was Ameli ihm damit sagen wollte. Sie dankte ihm, dass er ihr keine Szene gemacht hatte und keine weiteren Fragen stellte. Und da er auch keine Bedrohung von Chris Seite her empfand, konnte er ihr zustimmend zunicken.

Ameli war glücklich.

Das Kapitel Chris war erledigt.

Was immer passieren würde, es war vorbei.

Es zählte nur noch Lucas.

 

***

Samstag

 

Ameli saß mit gemischten Gefühlen auf der Bettkante. Heute war der Tag, an dem sie nach langer Zeit wieder nach Berlin zurückkehren wollte. In wenigen Stunden würde sie ihrer Mutter gegenüber stehen. Sie schloss die Augen und ließ sich wieder in die Kissen zurück fallen.

„Na, kriegt meine kleine Ameli Angst?“ Lucas hatte sie beobachtet.

„Du sagst es. Das ist alles nicht so einfach. Gibst du mir Rückendeckung?“

„Ich steh voll hinter dir. Du brauchst keine Angst zu haben.“

Ameli und Lucas hatten am Abend zuvor noch lange miteinander über den bevorstehenden Besuch geredet. Lucas konnte sich nach Amelis Erzählungen nun ein genaues Bild über die Umstände machen. Er hatte viele Fragen, die Ameli ihm offen und ehrlich beantwortete. Er musste des Öfteren mit dem Kopf schütteln, so tief traf ihn alles. Er wollte es einfach nicht begreifen, dass er sich so von Ameli hatte täuschen lassen können. Er fühlte sich zeitweilig selbst zerrissen. Mitleid mit Ameli und sich selbst, Ärger über sich, Wut über die Täuschung auf der einen Seite und unglaubliche Liebe auf der anderen Seite.

Sie waren sich beide sicher, dass da so einige Überraschungen auf sie zukommen würden. Aber sie waren sich einig, sie wollten sich beide darauf einstellen. Ameli erklärte Lucas, dass sie schon jetzt Gefühle in sich wahrnahm, mit denen sie selber erst zurechtkommen musste. Sicher würde sie ab nun bei vielen Gelegenheiten anders reagieren. Darauf, so sagte sie, müsse sich Lucas gefasst machen. Sie meinte scherzhaft, sie würde eben weiterhin ein komischer Vogel bleiben.

Nun kuschelte sie sich noch einmal fest an Lucas und holte sich Kraft für den Tag.

„O.k, dann lass uns packen und losfahren“, gab sie das Startsignal.

„Aber nicht ohne Frühstück, du kennst mich doch“, nuschelte Lucas in Amelis Haar. „Und überhaupt, warum riechst du so gut? So kann ich dich nicht gehen lassen.“

Ameli hatte nichts dagegen, denn eilig hatte sie es nun wirklich nicht.

 

Beim Frühstück schaute Ameli versonnen aus dem Fenster.

Kein Fischerboot.

Keine Wellen.

Nur das weite Meer.

Der Abschied nahte.

Sie ließ sich durch das friedliche Bild ganz ruhig stimmen. Sie spürte keinen verkrampften Magen, es stieg kein Gefühl von Übelkeit auf. Sie konnte diesen Ort mit der Gewissheit verlassen, dass sie alles aus sich herausgeholt hatte. Es lag jetzt wirklich an ihr, sagte sie sich, ihrem abgestumpften zurückgezogenen Dasein keine Chance mehr zu geben, sondern sich der neuen Zukunft offen und frei zu stellen. Sie wusste, dass es Lucas an ihrer Seite möglich machen würde.

Als sie das Haus verließ, schaute sie sich nicht mehr um.

Das war der Augenblick des neue Anfangs.

Da wollte sie nur nach vorne schauen.

Lucas spürte, dass Ameli eine feierliche Stimmung in sich trug. Sie saß irgendwie würdevoll neben ihn und machte den Eindruck, nicht gestört werden zu wollen. Er ließ sie mit ihren Gedanken allein. Nach dem vielen Gerede in der Nacht, tat ihm die Pause allerdings auch gut. So viel hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr geredet. Schon gar nicht mit Ameli. Da sollte mal einer sagen, Männer können nicht reden.

 

Chris sah das Auto wegfahren.

Er blieb versteckt.

Er hatte ihre Fotos.

Das musste reichen.

Würde es reichen?

 

Nach einer Stunde Autofahrt fing Ameli an, sich unruhig auf ihrem Sitz hin und her zu bewegen.

„Lucas, halt mal bitte am nächsten Rastplatz an. Ich brauche frische Luft und Bewegung. Nur für ein paar Minuten. Ich platze vor Anspannung.“ Ameli schaute genervt vor sich hin. Sie dachte, sie hätte sich besser im Griff. Sie wollte doch den Besuch bei ihrer Mutter. Aber jetzt im Augenblick, wäre sie am liebsten woanders hingefahren. Sie war aber nicht alleine und Lucas war der Fahrer. Gut so, dachte sie. Sonst hätte sie sich augenblicklich für ein anderes Ziel entschieden. Fluchtartig.

Als sie ausstieg, schlug sie kraftvoll mit ihrem Fuß ans Rad.

Es tat weh.

Aber es tat gut.

Das war viel wichtiger.

Lucas schüttelte mit den Kopf. Er sagte nichts dazu. Sollte sie sich ruhig abreagieren.

Ameli ging ein Stückchen in Richtung Wald. Sie ignorierte Lucas. Sie wollte mal wieder alleine mit allem zurechtkommen, so wie immer. Auf dem Rückweg sah sie Lucas entgegen. Sie sah, dass er unglücklich drein schaute.

Er fragte, ob er ihr helfen könne.

„Gute Frage. Ich wüsste nicht wie. Ich habe einfach nur Angst, glaube ich. Und Berlin rückt immer näher. Gib mir einen Kuss und halte mich fest.“ Sie gingen aufeinander zu und hielten sich fest umschlungen.

„Deine Mutter hat bestimmt genauso viel Angst. Und sie ist alleine. Du hast immerhin noch mich an deiner Seite. Also komm, entspann dich, Ameli. Lass uns nun weiter fahren.“

Lucas versuchte Ameli während der Fahrt aufzuheitern. Er erzählte ihr die letzten komischen Begebenheiten mit seinen Klienten. Ameli konnte lachen und für einige Augenblicke ihre Angst abstreifen. Trotzdem spukte das bevorstehende Wiedersehen in ihrem Hirn rum.

Lucas machte etwas ganz anderes zu schaffen.

Seit dem Morgen wog er die Vorteile und die Nachteile ihrer großzügig getrennten Lebensweise als Paar ab. Wollte er weiter so mit Ameli leben? Hatten sie jemals über ihre Beziehung geredet? Zukunftspläne gemacht? Nicht wirklich.

Darüber sollten sie reden.

Unvermittelt wechselte er das Thema.

„Sag, mal. Wie gut kennst du mich?“

Ameli dachte lange nach, bevor sie eine Antwort gab. Lucas schaute sie ab und zu von der Seite an.

„Das, was ich weiß, gefällt mir. Sollte ich noch mehr wissen?“

„Also wenn du mich genauso gut kennst, wie ich dich, dann ist das nicht viel für uns zwei. Wenn wir ehrlich sind, sind wir nicht weiter, als über eine Urlaubsromanze hinausgekommen. Oder? Und das in 5 Jahren.“

„Ja. Du hast recht. Ich jedenfalls, habe dir immer nur das preisgegeben, was mich in einem guten Licht erschienen ließ. Alles andere habe ich versteckt und mit mir selber ausgemacht.“

„Ameli, wir haben uns beide unsere Eigenständigkeit bewahrt, nicht nur du. Somit haben wir uns beide nie voll und ganz auf den anderen eingelassen.“

„Hm. Stimmt. Wir sind trotz Zweisamkeit immer unsere eigenen Wege gegangen. Ich denke, du wolltest genauso wie ich, deine starke Persönlichkeit nicht aufgeben. Wobei meine Persönlichkeit nur nach außen hin stark schien, innerlich war ich immer schwach.“

„Ach komm Ameli, nun sei mal nicht so hart mit dir.“

„Nein, nein, das ist schon so. Da brauchst du mir nichts anderes einreden.“

„Und nun?“ fragte Lucas.

„Ich will dir vertrauen, Lucas. Ich glaube, das schafft von ganz alleine mehr Nähe, hoffe ich zumindest. Lass uns damit anfangen.“

„Ich glaube, das könnte so sein. Dann kann ich mich also darauf einstellen, dass du mich nicht mehr ganz so oft abweist? Und mich öfter sehen willst? Und auch mal über Nacht bleiben willst? Und vielleicht auch mal länger mit mir telefonierst?“

„Ach du meine Güte. War ich so schlimm?“ Ameli konnte es kaum glauben, dass Lucas aus dem Stehgreif aus dem Wort Vertrauen soviel Veränderungen herausholen konnte.

„Viel schlimmer“, gab Lucas im Scherz zur Antwort.

Für Ameli war das alles kein Scherz.

Es war die Wahrheit.

Damit musste sie in Zukunft umgehen, das wurde ihr einmal mehr klar.

„Ich werde in mich gehen“, gab Ameli zurück. Dann sagte sie bis Berlin kein Wort mehr.

 

 

Sie standen vor der Haustür ihrer Mutter. Eigentlich hatte sie ihrer Mutter versprochen, vorher noch einmal kurz anzurufen, um ihr mitzuteilen, wann sie eintreffen würden. Sie hatte es total vergessen. Nun musste sie es auch nicht mehr tun.

Sie kam mit leeren Händen. Was sollte sie nach so langer Zeit ihrer Mutter mitbringen?

Sie wusste nichts mehr von ihrer Mutter.

Für dieses Nichts gab es ein Nichts.

Unsicher stand sie vor der Haustür.

Lucas nahm ihr den schweren Gang ab, indem er klingelte.

Blume.

A. Blume stand am Klingelschild.

Nach wenigen Augenblicken surrte der Türöffner. Lucas übernahm alles. Er öffnete die Tür und schob Ameli vor sich her. Mit kleinen Schritten und ganz langsam machte sich Ameli auf den Weg. Ihr Kopf war leer und wenn Lucas ihr nicht ständig von hinten einen Schubs gegeben hätte, wäre sie stehen geblieben. Einmal drehte sie sich mit angstvollem Blick um. Lucas schüttelte bestimmend den Kopf.

Drei Treppen. Der Weg schien ihr unendlich.

Die Wohnungstür war noch verschlossen.

Ameli vermutete, dass ihre Mutter mit dem gleichen Gefühl, wie sie hinter der Tür stand.

Sie schloss die Augen und sah sich als kleines Kind mit Zöpfen und in ihrem Lieblingskleid mit den großen Blumen. Ihre Mutter groß und schön, ohne Lächeln, mit streng nach hinten gebundenen Haaren.

Lucas klingelte ein zweites mal.

Frau Blume zitterten die Hände, als sie die Tür aufmachte. Sie wusste nicht, was sie erwarten sollte. Sie konnte sich überhaupt kein Bild von ihrer Tochter machen.

Ameli.

Mutter.

Dann standen sie sich gegenüber.

Beide suchten nur die Augen. Sie fanden sich sofort und sie füllten sich auf beiden Seiten mit Tränen.

Mutter und Tochter fielen sich in die Arme und der erste Schritt zur Versöhnung ging rasant vor sich.

Lucas betrachtete mit Freude dieses Wiedersehen. Er hatte es sich auch gar nicht anders vorstellen können. Er konnte die ganze Zeit nicht ganz verstehen, warum Ameli solche Angst hatte. Er hätte eher vermutet, dass die Angst bei ihrer Mutter größer wäre. Ameli war zwar davongelaufen, aber die Fehler, die hatte ihre Mutter gemacht, wie er verstand. Ameli sprach aber auch noch von einem ungelösten Geheimnis oder einer geheimnisvollen Wahrheit.

Abwarten.

Diese Frau jedenfalls, die er jetzt vor sich sah und die er nun genauer betrachtete, war gebeugt von einer schweren Last. Alles was sie ausstrahlte, war erdrückende Traurigkeit. Und plötzlich konnte er Amelis Angst verstehen. Wer als kleines Kind nichts anderes erlebt und gesehen hatte als diese dunkle, freudlose und nichts an Lebendigkeit ausstrahlende Erscheinung, der musste Angst haben.

Sein anfängliches Wohlwollen schlug in Wut um. Ihm lag nichts näher, als alles verstehen zu können. Er wollte auf keinen Fall ausgeschlossen werden. Er hatte auf einmal das Gefühl, dass er Ameli beschützen und helfen müsse.

Ameli und Frau Blume standen sich nach der spontanen Begrüßung dann jedoch fremd gegenüber. Lucas rettete die Situation. Er merkte sofort, dass er hier irgendwie alles lenken müsse. Er sah, dass sich Ameli versteifte, und Frau Blume war ohnehin blockiert in seinen Augen.

„Also ich bin Lucas, Amelis Freund. Unsere Fahrt war zwar nicht anstrengend, aber ein Kaffee wäre jetzt nicht schlecht.“ Er wollte Frau Blume erst einmal eine Aufgabe geben, die ihr sicher nicht schwer fallen würde.

Sie kamen oberflächlich ins Gespräch, welches Lucas aber immer wieder in Gang bringen musste. Er musste die Situation unbedingt entschärfen, dachte er sich.

Aber wie?

„O.k. Ich merke, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Vielleicht sollte ich Euch alleine lassen?“ Sofort griff Ameli nach seiner Hand und ihre Augen sagten, Nein. Frau Blume reagierte gar nicht.

„Gut. Dann schlage ich vor, das Ameli und ich erst einmal einen kleinen Stadtbummel machen. Ich kenne Berlin nämlich noch gar nicht. In der Zeit kann jeder von euch erst einmal zu sich kommen. Vielleicht geht es ja dann besser. Einverstanden?“

Ameli nickte dankend und konnte gar nicht schnell genug das Haus verlassen.

 

Die frische Luft tat gut. Ameli konnte wieder atmen. Das Feeling in der U-Bahn, die Menschenmassen, unerkannt zu sein in dieser großen Stadt, das alles tat Ameli auf einmal unheimlich gut.

Lucas merkte es. Auch er fühlte sich wieder wohler.

„Ameli, was ist es? Warum kannst du nicht auf deine Mutter zugehen? Du wolltest es doch. Du wolltest ihr doch verzeihen. Es war deine Idee. Nun sieht es aber nicht danach aus. Was hindert dich?“

Lucas musste sie so direkt und hart fragen. Er wollte ihr helfen, indem er sie konfrontierte mit ihrer eigenen Entscheidung. Er kannte Ameli als äußerst zurückhaltend. Er kannte sie aber auch als zielstrebig, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.

„Ich weiß es nicht“ flüsterte Ameli leise und nachdenklich. Aber im gleichen Atemzug verkündete sie lauthals.

„Schau nur, ist Berlin nicht herrlich. Ich könnte auf einmal die ganze Stadt umarmen.“ Sie drehte sich im Kreis und jubelte. Die Leuten schauten sie kopfschüttelnd an. Es kümmerte sie nicht. Auch Lucas war überrascht über so einen unerwarteten Stimmungswechsel und über Ameli, die sich so in der Öffentlichkeit noch nie benommen hatte. Aber es steckte erstaunlicher weise an. Er musste sie einfach in den Arm nehmen und er wirbelte sie um sich herum. Beide lachten ausgelassen und hielten sich fest umschlungen.

„Lucas, du darfst mich nie verlassen. Ich meine, du musst nicht täglich bei mir sein. Ich will aber das Gefühl haben, dass du immer bei mir bist.“

„Und hast du das Gefühl?“

„Ja. Ja, verdammt noch mal. Lucas ich liebe dich.“ schrie sie ungeniert in sein Gesicht. Schnell küsste er sie. Wer weiß, was sie sonst noch alles lauthals verkünden würde, dachte er. Peinlich war es ihm aber nicht.

„Ich bin bei dir und ich liebe dich auch. Aber du bist meiner Frage ausgewichen.“

„Nicht ganz. Es überkam mich nur einfach und das musste raus.“ Nach einer kleinen Pause antwortete Ameli.

„Ich war erschrocken über meine Mutter. Ich hatte sie genauso in Erinnerung und sie hat sich überhaupt nicht verändert. Nach all den Jahren ist sie so geblieben, wie sie war. Als wenn die Zeit stehen geblieben wäre. Wie ist das nur möglich? Sie tut mir so unendlich leid und ich mir gleich mit dazu. Ich muss sie da raus holen. Verstehst du das Lucas?“

„Verstehst du es?“

„So richtig noch nicht. Aber ich fühle es ganz stark in mir. Ich weiß nur nicht, ob ich die Kraft dazu habe. Und ob sie es überhaupt will.“

„Ich fühle Wut deiner Mutter gegenüber. Am liebsten würde ich sie schütteln und ihr rechts und links eine klatschen. Tut mir leid. Sie muss doch wissen, was sie dir angetan hat?“

„Ja. Das sagen wir so. Aber ich glaube, sie weiß es nicht. Vergiss nicht, wir haben nie darüber gesprochen. Was ich als kleines Kind empfunden habe, hat doch meine Mutter so nicht wahrgenommen. Und dass sich das alles so negativ auf mich ausgewirkt hat, darüber weiß sie doch auch nicht Bescheid.“

„Na ich weiß nicht. Bist du dir da so sicher?“

„Denke schon. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich ihr verzeihen kann. Die Entscheidung war plötzlich da. Sie kam von innen. Ich muss es tun. Wir müssen über alles reden. Und ich will, dass du dabei bist. Ich brauche dich.“

„Aber deine Mutter ist auch allein.“

„Dann fragen wir sie eben, ob sie was dagegen hat.“

Arm in Arm schlenderten sie noch durch die Straßen Berlins und kehrten dann zurück.

 

Frau Blume hatte außer den Abwasch nichts weiter getan. Sie saß auf dem Platz, wo Ameli gesessen hatte und weichte innerlich auf. Sie war ohne Frage glücklich. Und sie war stolz auf ihre Tochter. Sie war wunderschön.

Aber die Augen. Sie hatte die Augen ihres Vaters. Als sie ihr ins Gesicht blickte, sah sie nicht nur Ameli nach so langer Zeit wieder, nein, sie sah auch Andreas wieder vor sich. Das war absolut niederschlagend für sie. Sie war so aufgewühlt, dass sie Ameli wieder nicht ins Gesicht blicken konnte und dem Gespräch nicht folgen konnte. Sie erlebte Höllenqualen.

Wäre alles anders gekommen, wenn Ameli nicht die Augen ihres Vaters gehabt hätte?

Hätte sie ihr dann liebevoller begegnen können?

Sie durfte den Blick nicht wieder abwenden. Sie musste sich ihrer Schuld stellen. Der Augenblick der Wahrheit war gekommen.

Sie schloss stöhnend die Augen.

Das Klingeln schreckte sie aus ihren Gedanken hoch.

 

Ameli und Lucas hatten Sushi aus der Stadt mitgebracht. Sie dachten, dass die Stimmung dadurch lockerer werden würde. Amelis Mutter hatte noch nie Sushi gegessen. Es schmeckte ihr widerlich.

Ameli überlegte die ganze Zeit, wann und wie sie am Besten anfangen sollte. Sie wollte noch unbedingt vorm schlafen gehen mit ihrer Mutter über den Zweck des Besuches sprechen.

Es lag in der Luft.

Lucas schaute auch schon mehr als auffallend zu ihr. Ameli fühlte sich in die Enge getrieben.

Dann begann sie ihrer Mutter zu erzählen, warum sie zwei Wochen an der Ostsee war und was sie dort innerlich durchgemacht hatte. Sie sprach vor allem darüber, wie sie ihre Kindheit erlebt hatte und wie sie sie in Erinnerung hatte.

„Du hast mich vernachlässigt. Du hast mich mit meinen Wünschen, Träumen und Hoffnungen alleine gelassen. Du warst einfach nicht greifbar für mich.“

Amelis Mutter hörte sich diese Anklage schweigend an. Sie wusste dass Ameli recht hatte. Sie fühlte, dass Ameli noch nicht fertig war.

„Zum Schluss habe ich dich gehasst. Du hast mir nichts gegeben und du hast mir jahrelang meinen Vater verschwiegen. Deswegen bin ich damals als 16jährige gegangen.“

Amelis Mutter wollte antworten, aber Ameli hob die Hand, die ihr deutlich machte, dass sie immer noch nicht am Ende angekommen war.

„Ich will jetzt nicht jammern, aber ich habe es wirklich schwer gehabt. In einem bin ich mir bis jetzt aber immer treu geblieben, ich wollte dich nie wieder um Hilfe bitten. Schlimmer. Ich wollte nie jemanden um Hilfe bitten. Denn das hast du mir beigebracht, verlasse dich auf dich selber.“ Ameli musste schlucken. Sie sah auch, dass ihre Mutter nachdenklich schaute.

Lucas saß abwartend im Sessel.

„Als ich dann im Ferienhaus über meinen derzeitigen unglücklichen Zustand nachdachte, führten alle Wege zurück zu dir. Ich führte mir mit aller Deutlichkeit vor Augen, was der Tod meines Bruders für dich bedeuten musste. Und dann verließ dich auch noch mein Vater, nur weil ich ein Mädchen wurde. Mir wurde klar, dass du sehr gelitten haben musstest und nicht anders konntest. Das soll jetzt nicht für dich als Entschuldigung dienen. Aber du bist nie über deine Trauer hinausgekommen, Mutter. Du hast mich gar nicht gesehen. Ich hatte immer das Gefühl nicht lebenswert zu sein. Nicht nur für dich, sondern später auch für all die Anderen. Das werfe ich dir vor. Und das kannst du auch nicht wieder gut machen. Es ist nicht mehr zu ändern.“ Ameli sah, dass ihre Mutter weinte. Die Tränen liefen ihr einfach so über das Gesicht. Es war kein Laut zu hören. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass ihre Mutter seit ihrer Kindheit diese lautlosen Tränen weinte. Ihr krampfte sich das Herz zusammen. Aber sie musste es ihrer Mutter um ihretwillen so sagen. Sie hatte immer darunter gelitten, und sie fand zu recht, dass sie es ihrer Mutter sagen musste, auch wenn es sie tief traf. Mit brüchiger aber liebevoller Stimme fuhr Ameli fort.

„Ich habe in den letzten Tagen auch viel geweint, Mama. Nicht nur um mich, sondern auch um dich. Es tut mir leid, dass dir so viel Schreckliches widerfahren ist. Alles was ich jetzt will, ist dir zu verzeihen. Ich bin kommen, um dich in die Arme zu schließen und dir zu sagen, dass ich dir verzeihe und dich jetzt als Mutter brauche.“

Lucas hätte nie im Leben daran gedacht, dass ihm vor Rührung einmal die Tränen kommen würden. Als er aber das plötzliche glückliche Aufflackern in Frau Blumes Augen sah und dem Gesicht für einen Augenblick diese tiefe Traurigkeit genommen wurde, rührte es ihn von ganzen Herzen. Auch Amelis Mutter war eine Schönheit. Eine verwelkte Schönheit.

Schluchzend brachte Amelis Mutter hervor. „Ich danke dir Ameli. Ich habe mir schon längst nichts mehr gewünscht. Aber diesen einen Wunsch hatte ich immer. Ich wollte nicht ins Grab, bevor wir zwei uns nicht versöhnt hätten.“

„Mutter sag doch nicht so etwas“, entfuhr es Ameli.

Jetzt musste Frau Blume ihrer Tochter die volle Wahrheit sagen. Wann, wenn nicht jetzt. Sie straffte sich und nahm eine aufrechte Haltung ein.

„Ameli, du weißt aber noch nicht die ganze Wahrheit. Ich hoffe, du kannst mir auch dann noch verzeihen. Ich weiß, dass ich keine gute Mutter für dich war. Es tut mir so leid. Vielleicht hätte ich dich lieber zur Adoption frei geben sollen.“ Sie schaute Ameli in die Augen und sah Andreas in die Augen.

Ameli war entsetzt. Aber sofort kam ihr in den Sinn, dass sie im Ferienhaus auch daran gedacht hatte. Sie wollte ihre Mutter nicht unterbrechen und machte die Geste, dass sie weiter erzählen solle. Was sie dann zu hören bekam, übertraf die ihr bekannte Leidensgeschichte ihrer Mutter um vieles mehr.

„Dein Vater ist nicht der Vater deines Brudes. Ich hatte eine Affäre, hatte deinen Vater aber im Glauben gelassen, dass er der Vater sei.“ Dann erzählte sie Ameli von ihren eigenen Ängsten und dem gemeinsamen Leid, um das verstorbene Kind. Sie erzählte ihr von ihren Selbstmordgedanken, weil die Lüge sie erdrückte und die Kraft nicht da war, zu gestehen.

„Und dann wurde ich gezeugt, in der Hoffnung meines Vaters ein zweiter Sohn zu werden. Richtig?“, schlussfolgerte Ameli.

„Es passierte alles schneller, als ich gucken konnte. Dein Vater sah es für sich als Weg der Trauerbewältigung.“

„Nur hatte er eigentlich gar keinen Grund zum Trauern. Puh. Das ist schon ziemlich heftig, was du da gemacht hast.“ Für den Betrug, tat ihr ihr Vater leid.

„Ja. Ich wollte ihn nicht verlieren. Ich habe ihn geliebt. Es war ein Fehler. Der größte Fehler meines Lebens.“

„Aber dann hat er dich verlassen, nur weil ich ein Mädchen wurde. Wenn ich ein Junge geworden wäre, dann wäret ihr noch zusammen geblieben?“

„Nein. Viel schlimmer, Ameli.“

„Mutter, schlimmer kann es doch gar nicht mehr kommen. Er hat dich für deine Lüge bestraft, allerdings zu recht, finde ich. Diese Lüge kann man auch nicht verzeihen. Aber für mich ist er ein Arschloch, weil er mich, nur weil ich ein Mädchen geworden bin, nicht haben wollte.“

„Ameli sei still. Lass mich dir die Wahrheit sagen. Dein Vater ist tot. Er hat deine Geburt gar nicht erlebt.“

Das schlug bei Ameli ein wie eine Bombe. Fassungslos starrte sie ihre Mutter an.

Was sagte sie da?

Unter Tränen hörte sie jetzt die wahre Geschichte zu Ende. Die Wut, betrogen worden zu sein, ließ ihren Vater in den Tod rasen.

Sie verstand alles und nichts. Sie hörte sich nur leise sagen: „Es war ein Unfall, Mutter.“

„Es war ein Unfall durch meine Schuld. Das kann ich mir nie verzeihen“, schrie ihre Mutter immer wieder und wieder. Sie wurde hysterisch.

Lucas hatte seine liebe Not, Amelis Mutter wieder zu beruhigen.

Ameli saß einfach still auf der Couch. Sie machte keine Anstalten irgendetwas zu tun oder zu sagen.

Was hätte sie auch tun sollen?

Das ganze lag 30 Jahre zurück. Sie betrachtete es mit einer ihr erschreckenden Nüchternheit. Was sollte sie daran jetzt ändern können? Als ihre Mutter langsam wieder zur Ruhe kam und nur noch mit leerem Blick schluchzend neben ihr saß, sagte Ameli mit festem Ton.

„Morgen bringst du mich zum Grab meines Vaters und zum Grab deines Mannes. Wir werden uns beide von ihm verabschieden. Für immer.“

Damit stand sie auf, nahm Lucas an die Hand und verließ das Zimmer.

 

Alleine mit Lucas, ging sie im Zimmer auf und ab. Lucas sagte kein Wort.

„Was denkst du?“ fragte sie ihn nach einiger Zeit.

„Im Moment gar nichts. Das ist mir alles zu viel. Erst deine Geschichte und nun die Geschichte deiner Mutter. Wenn man mal überlegt, dass ein Seitensprung solche Folgen haben kann. Ich glaub es nicht.“

Plötzlich lag die Frage eines Seitensprungs in der Luft. Ameli wollte sie stellen, ebenso Lucas. Als Täter kam das aber nicht in Frage.

Das wussten beide.

Das Schweigen sagte alles.

Sie fühlten sich aber beide nicht betrogen.

„Meine Mutter tut mir leid.“ Ameli beendete das Schweigen mit dieser Feststellung.

„Du tust mir leid“ sagte Lucas.

„Lucas, so viel Leid kann keiner ertragen. Damit muss jetzt Schluss sein. Ich will das nicht mehr. Und ich will das auch nicht mehr hören Ich will das wirklich alles nicht mehr hören. Sei froh, dass deine Eltern dir so etwas erspart haben.“

„Mein Vater, ist auch nicht mein leiblicher Vater.“

„Oh man, kann denn mal irgendetwas normal sein? Bist du ein Trennungskind?“

„Ja und Nein. Als sich meine Mutter von meinem leiblichen Vater trennte, wegen meines jetzigen Vaters, war sie bereits schwanger. Mein leiblicher Vater wollte einen Vaterschaftstest, der sich für ihn dann auch bestätigte. Für meine Mutter und ihren Partner spielte das aber keine Rolle. Sie verlangte auch keinen Unterhalt und mein leiblicher Vater zog sich dann, ohne groß Anstalten zu machen, zurück. Wir haben uns nie gesehen. Ich wusste aber Bescheid und meine Mutter hätte nichts dagegen gehabt, wenn ich Kontakt zu ihm aufgenommen hätte. Manchmal wollte ich es sogar tun. Aber dann sagte ich mir, wozu? Ich hatte einen Vater, der sich von Anfang an um mich gekümmert hatte. Ich brauchte den leiblichen Anderen nicht. Ich habe es nie bereut.“

„Na, die Geschichte hört sich ja mal zur Abwechslung ganz ordentlich an. Du hattest immerhin eine Familie.“ Ameli stand mit dem Rücken zu Lucas und schaute aus dem Fenster. Die Straße lag erleuchtet vor ihr und trotz der fortgeschrittenen Stunde war sie noch mit Leben gefüllt. In Ameli regte sich auf einmal ein unglaublicher Wille. Sie wollte auf die Straße springen und dabei sein. Immer mehr erfasste sie diese Stimmung und auf einmal wusste sie, was zu tun war. Sie drehte sich um und verkündete Lucas:

„Auch ich habe eine Familie.“

 

Frau Blume wälzte sich im Bett von einer Seite auf die andere. Sie konnte keinen Schlaf finden. Das war alles zu viel für sie. Sie sah immer wieder diese Augen vor sich. Es waren Amelis Augen. Im nächsten Augenblick waren es wieder Andreas´ Augen. Sie hatte sie längst vergessen, aber nun waren sie wieder da. Ganz nah. Und sie brachten alles zurück. Sie stöhnte innerlich auf und konnte den Schmerz kaum ertragen. Und dann wollte Ameli mit ihr zum Friedhof.

Wie kam sie nur auf diese Idee?

Sie sah Ameli vor sich. Sie sagte es sehr bestimmend. Es ließ keine Widerrede zu.

Sie würde es tun müssen.

 

***

Sonntag

 

Als Ameli am Morgen in die Küche kam, saß ihre Mutter schon in schwarz gekleidet beim Kaffee.

Ihre Mutter nahm sie also ernst.

Auch Ameli war in schwarz.

Sie nickte zustimmend und fasste ihrer Mutter zutrauend auf die Schulter. Sie mussten nichts sagen, sie verstanden sich.

Lucas brachte die beiden Frauen zum Friedhof.

Es war nicht weit. Er ließ sie allein.

„Gehst du oft hierher?“

„Ich war seit der Beerdigung nicht mehr hier.“

„Oh.“Ameli war überrascht. Sie konnte es nicht verstehen.

„Ich veranlasse nur die Grabpflege.“

Das Grab war schlicht. Es lag auf einem kleinen Hügel. Ameli war noch nie auf einem Friedhof. Die Ruhe behagte ihr. Sie fand, dass sie hier am Grab ihres Vaters Frieden schließen konnte. Sie hoffte es auch für ihre Mutter.

„Wie war er so, mein Vater?“

„Ich habe ihn schon als kleines Kind gemocht. Wir waren Sandkastenkinder. Er stand mir immer zur Seite. Er hat mich immer beschützt. Als wir älter wurden, hat er sich für andere Mädchen interessiert. Ich blieb immer nur seine Freundin. Ich gab jedoch nie auf. Und irgendwann entdeckte auch er seine Liebe für mich.“

„Das meinte ich nicht. Ich wollte wissen, wie er als Mensch war.“

„Ach so, entschuldige. Er war groß und schlank. Sport war schon seit seiner Kindheit sein Hobby. Er liebte Fußball und war viel mit dem Rad unterwegs. Er war sehr ehrgeizig. Er wollte immer der Beste sein. Und irgendwie hat er es auch immer geschafft. Sein Wunsch war Chemiker zu werden. Das Studium machte ihm Spaß und er ließ keine Gelegenheit aus, sich bei seinem Professor anzubieten für Projekte. Deswegen bin ich dann auch alleine in den verhängnisvollen Urlaub gefahren.“

Frau Blume schaute ihre Tochter an. Leise fuhr sie fort.

„Er hatte die gleiche Haarfarbe wie du. Und du hast seine Augen.“

Ameli merkte, dass es ihrer Mutter sehr schwer fiel, über ihren Vater zu erzählen. Sie nahm sie bei der Hand und drückte sie fest.

Das war für Frau Blume ein wertvoller Halt. Sie fühlte sich seit Jahren allein. Nun hatte sie aber das Gefühl, dass jemand an ihrer Seite stand. Und es war nicht nur einfach ein jemand, sondern es war ihre Tochter, die, wie sie fühlte, für sie da sein wollte.

Ameli fühlte, dass ihre Mutter ihr Angebot annahm.

„Mutter, du hast lange genug gebüßt. Nimm Abschied. Und dann lass uns einen neuen Anfang starten. Wir zwei. Willst du?“

Ameli musste lange auf eine Antwort warten. Ihre Mutter schloss die Augen und Ameli sah, dass Tränen über ihr Gesicht liefen. Ameli vermutete, dass ihre Mutter noch einmal die schönsten Augenblicke mit ihrem Vater erlebte. Dann hob ihre Mutter ihr Gesicht gen Himmel und Ameli wusste, dass das die Freigabe war.

Sie blickte ebenfalls aufwärts. Sie blinzelte in einen blauen Himmel, als ihre Mutter leise zu ihr sagte.

„Ich will, Ameli. Du gibst mir einen Teil meines Lebens zurück. Danke.“

Lucas bog gerade auf den Weg zum Hügel ein, als sich Mutter und Tochter umarmten. Er war erleichtert. Und trotzdem hatte er ein ungutes Gefühl.

War das etwa Eifersucht?

Er sah ein neues Lächeln in Amelis Gesicht, als sie auf ihn zukam. Und auch Frau Blume sah anders aus. Sie schritt aufrecht neben Ameli her. Sie hatte ihre gebeugte Haltung am Grab zurückgelassen.

Lucas konnte wieder mal nur staunen, wozu Frauen fähig waren.

Ameli hakte sich bei ihm unter und sagte, dass alles gut werden würde.

Was immer das heißen mochte, dachte Lucas.

Da der Friedhof nicht weit von der Wohnung entfernt war, wollte Ameli nicht mit dem Auto zurückfahren. An solche Eigenarten war Lucas ja schon längst gewöhnt. Bei Ameli lief einfach nichts nach Plan. Er musste sich geschlagen geben. Er fuhr alleine zurück und ließ die Frauen hinter sich.

 

 

Ameli fühlte sich wieder wohl in den Straßen Berlins. Es war ihre Heimat, sie merkte es. Sie lebte richtig auf. Sie musste es hautnah erleben. Sie musste den Dialekt wieder in sich aufsaugen und sie merkte, dass ihr nach den zwei ruhigen Wochen am Meer die Hektik der Stadt gut tat.

Ihre Mutter ging ein wenig ängstlich neben ihr. Sie wich jedem aus und entschuldigte sich für jeden Rempler.

Ameli musste lächeln.

Sie hüpfte förmlich durch die Straßen. Dann fiel ihr auf, dass ihre schwarze Kleidung überhaupt nicht zu ihrer Stimmung passte.

Friedhof war Friedhof.

Stadt war Stadt.

Schnell zerrte sie ihre Mutter in eins der unzähligen Geschäfte. Sie brauchten einen frischen Farbtupfer.

Sie brauchten beide einen.

Sie fand für sich einen roten Schal und ihre Mutter entschied sich für einen weißen. Spontan fiel ihr Schneeweißchen und Rosenrot ein. Sie ließ sich auf dem Weg nach Hause das Märchen von ihrer Mutter erzählen. Schneeweißchen und Rosenrot.

Sie gehörten zusammen.

So kamen sie auch die Straße zur Wohnung ihrer Mutter entlang. Lucas sah vom Fenster aus, wie die beiden untergehakt die Straße herauf kamen.

Sie leuchteten.

Er stellte fest, dass sowohl Ameli, als auch ihre Mutter von dem Wiedersehen profitierten. Er fand es erstaunlich, dass beide in so kurzer Zeit ein freundschaftliches Verhältnis zueinander gefunden hatten. Sie wirkten nicht wie Mutter und Tochter, sondern wie zwei Frauen, die unverkennbar eine schwere Zeit hinter sich hatten und nun durch eine gemeinsam gefundene Stärke alles bewältigen wollten. Ameli strahlte plötzlich eine unglaubliche Willenskraft aus. Das faszinierte Lucas schon immer an Amelie. Wenn sie etwas unbedingt wollte, dann konnte sie ihn mitreißen, es ihr gleich zu tun.

Er erinnerte sich daran, dass Ameli einmal bei einem Winterspaziergang barfuß im Schnee laufen wollte. Er fand die Idee völlig abartig. Keine zehn Minuten später tummelten sie beide übermütig ohne Schuh und Strümpfe im Schnee herum. Er lächelte in sich hinein. Es hatte riesigen Spaß gemacht. Aber solche ausgelassenen Momente gab es viel zu selten in ihrer Beziehung. Meistens war Ameli ruhig und zurückhaltend, ja vielleicht sogar ein wenig ängstlich, dachte er. Dann konnte sie aber auch sehr eigenwillig, arrogant und bestimmend sein. Wenn sie einmal Nein sagte, dann wusste er, sie meinte auch Nein. Sie ließ sich nie umstimmen. Nun wusste er, dass das zu ihrem Muster gehörte. Sie konnte nicht anders. Kam sie an ihre Grenzen, zog sie sich zurück und blieb alleine mit ihrem Kummer. Diesen totalen Rückzug hatte er einige male erlebt. Zu oft, wie er jetzt feststellte. Er konnte sich nie einen Reim darauf machen, wie sie es schaffte, wenig später wieder gelöst zu sein. Aber er fragte nie. Er merkte nur, dass es ihr wieder besser ging.

Er hätte nie eine Antwort darauf bekommen.

Jetzt allerdings trat sie den Weg nach vorne an, mit einem Lächeln im Gesicht und einer offenen Herzlichkeit. Sie zog ihre Mutter mit und es tat ihnen beiden augenscheinlich gut, fand er.

Er verliebte sich von Minute zu Minute immer mehr in Ameli. Er entdeckte neue Seiten an ihr, die ihm sehr gefielen. Er wollte versuchen ihre eingefahrenen Ungereimtheiten zu verstehen und er wollte ihr dabei helfen, diese loszuwerden.

Ameli polterte in die Wohnung.

„Lucas, du glaubst gar nicht, wie schön es hier in Berlin ist. Das ist meine Stadt“, schwärmte Ameli.

„Heute Abend gehen wir ins Kino. Und du Mutter, kommst mit“, sagte sie wieder sehr bestimmend in Richtung ihrer Mutter. Lucas machte eine Geste, die besagte, Wiederrede ist sinnlos. Amelis Mutter zierte und sträubte sich.

„Ich vermute mal, dass du nicht weißt, wo ein Kino ist, stimmts?“ meinte Ameli belustigt.

„Na ja, ganz so schlimm ist es nicht, aber der letzte Kinobesuch liegt Jahrzehnte zurück. Das letzte mal war ich mit dir in der Kindervorstellung.“

„Sag ich doch,“ kicherte Ameli.

Frau Blume schüttelte immer noch den Kopf.

Auch Lucas wäre gerne mit Ameli alleine. Wieder schlich sich so etwas wie Eifersucht bei ihm ein. Schon zum zweiten mal. Er runzelte die Stirn und tat den Gedanken ganz schnell wieder ab.

Auf einmal kreischte Ameli auf.

„Hör mal. Mein Lieblingssong.“ Im Radio lief Amy Mac Donald. Sie schnappte sich Lucas und fing an, mit ihm zu tanzen. Gerade vor wenigen Minuten hatte sich Lucas an die äußerst selten spontan reagierende Ameli erinnert. Und nun war sie zum zweiten mal übermütig. Sie war da. Überschwänglich und mitreißend stand sie vor ihm und verzauberte ihn. Er zog sie an sich.

„Du bist ein geheimnisvolles Vögelchen“, raunte er ihr zu.

„Ich liebe dich auch.“

Frau Blume fand die Situation himmlisch. Genauso war sie auch als junges Mädchen. Sie freute sich an dem, was sie sah. Sie war glücklich, dass sie diesen Augenblick miterleben durfte.

 

Als sich Ameli abends im Bad für den Kinobesuch fertig machte, ging sie in sich. Bis jetzt hatte sie kaum die Möglichkeit, mit sich allein zu sein. Sie hatte immer jemanden um sich herum. So viel Nähe war sonst ein Horror für sie. Sie betrachtete ihr Spiegelbild.

Ameli bist du das?

Sie berührte ihr Gesicht und kniff sich leicht in die Wangen. Sie war es.

Was machst du nur?

Ihr Spiegelbild zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen.

Willst du so sein? Fühlst du dich wohl?

Der Kopf im Spiegel nickte. Die Augen strahlten.

Was ist anders?

Der Mund im Spiegel begann zu sprechen.

Ich fühle, dass ich lebe.

Du fühlst, dass du lebst.

Was hast du vorher gefühlt?

Ich hatte immer das Gefühl, dass ich nicht so leben konnte, wie ich wollte.

Das verstehe ich nicht. Was war es genau? Denk nach, sag es mir.

Ich konnte keine glücklichen Augenblicke erleben.

Wie, du konntest nicht?

Ich habe mir einredet, dass sie nicht für mich sind.

Keine glücklichen Augenblicke? Nie?

Wenig. Sie haben mich erdrückt, sie waren schmerzhaft.

Und nun strahlst du?

Ja. Hast du mich denn vorhin nicht tanzen gesehen? War das nicht schön?

Doch, ja. Was ist passiert?

Ich konnte mein glückliches Gefühl ausdrücken. Früher hätte ich geweint bei dem schönen Lied. Heute habe ich getanzt.

Ich spüre die Freude des Lebens in mir.

Wer hat es dir denn vorher verboten?, fragte das Spiegelbild entrüstet zurück. Wer macht denn so etwas?

Keiner. Ich war es selber.

Bist du dir sicher, dass du ganz allein dafür verantwortlich bist, hörte Ameli das Spiegelbild fragen?

Nein.

Und trotzdem bist du glücklich und lächelst mir entgegen, fragte das Gesicht auf der anderen Seite?

Ja. Nimm es so, wie es jetzt ist, Ameli. Genieße dein neues Glücksgefühl. Und ich kann dir nur raten, bleib dir treu und du tust recht daran, dass du deiner alten Mutter vergibst. Und nun hopp hopp mach dich fertig, die anderen warten.

Ameli küsste ihr Spiegelbild.

Genau in diesem Moment schaute Lucas ins Bad. Er schaute sie fragwürdig an.

„Oh, ich teste nur, ob mein Lippenstift kussecht ist“, erwiderte Ameli schnell.

 

 

Nach dem Kino schlenderten Ameli, Lucas und Frau Blume noch durch die Straßen Berlins. Ameli genoss wieder die Lichter und das Treiben der Stadt und war sehr angetan von der Atmosphäre. Lucas merkte es, denn Ameli war einerseits ganz still und dann wiederum völlig überdreht. Er sah, dass sie erst die Eindrücke auf sich wirken ließ und wenn sie ihr gefielen, dann legte sie los. So hüpfte Ameli dauernd wie ein aufgescheuchtes Huhn vor seinen Füßen und gestikulierte wild mit ihren Armen. Lucas musste sie dauernd zurecht rücken. Aber Ameli konnte bald nicht mehr an sich halten und gackerte nur noch rum.

„Hoffentlich sind wir bald zu Hause“, stöhnte ihre Mutter. „Die Leute gucken schon nach uns. Ameli kannst du nicht mal ein bisschen ruhiger sein?“

„Ach, Mutter, lass mich mal. So ausgelassen wie heute, war ich schon lange nicht mehr. Ich fühle mich eben wohl. Und morgen bist du mich ja schon wieder los. Also entspann dich. Dich kennt doch hier keiner. Und mich auch nicht.“

„Morgen wollt ihr schon wieder fahren?“ entfuhr es ihrer Mutter. Sie blieb abrupt stehen.

Ameli sah Traurigkeit in ihren Augen. Was hatte sie denn gedacht, wie lange sie bleiben würden?

„Lucas hat Montag wieder Termine.“

„Und du musst auch wieder arbeiten“, ergänzte ihre Mutter.

„Nein, ich muss mir aber wieder einen Job suchen.“ Ameli schaute zu Lucas. Den Rest des Weges ging sie wieder ganz gesittet und unauffällig neben Lucas und ihrer Mutter.

Sie war in Gedanken.

Dass was ihr durch den Kopf ging, irritierte sie und sie konnte es nicht fassen.

 

Im Bett war Ameli immer noch sehr still und zurückhaltend. Lucas wusste nicht so genau, ob er darauf eingehen sollte oder nicht. Er wollte jetzt jedenfalls keine Gespräche oder sonst etwas, er wollte ausschließlich seine Ameli lieben. Sie roch verführerisch und er hatte schon den ganzen Abend ein ungestilltes Verlangen mit sich herumgetragen. Er wusste nicht so genau, wie er sich ihr nähern sollte. Alles war irgendwie anders geworden. Er war auf der Suche nach etwas Besonderem für Ameli.

Er dachte viel zu lange nach.

Ameli spürte sein Verlangen, wusste aber nicht, warum er sich zurückhielt. Sonst war er doch viel schneller an ihr dran. Sie hielt es nicht mehr aus und verkroch sich unter seiner Decke.

Das war nun etwas Besonderes für Lucas. Er konnte sich kaum daran erinnern, dass Ameli diejenige war, die die Initiative ergriff.

Sie bedeutete ihm still zu sein. Sie schlug die Decke zurück und vollführte einen verführerischen Striptease über ihn.

So etwas von Ameli?

Lucas hielt die Luft an. Das war schön anzuschauen aber gleichzeitig regten sich in Lucas Bedenken. So hatte er Ameli noch nie erlebt. So hatte sie sich ihm noch nie präsentiert.

Es machte Ameli Spaß. Sie sah in Lucas Augen eine unglaubliche Gier und sie zog ihren Tanz absichtlich in die Länge. Ameli genoss für einen kurzen Augenblick ihre Macht über den unter ihr liegenden Körper. Lucas. Er gehörte ihr ganz allein. Dann überkam sie der unglaubliche Wunsch des Teilens. Sie wollte ihm so nah wie möglich sein, wollte seinen Körper spüren, seine Wärme in sich aufnehmen.

Sie wollte geben und nehmen.

Sie wollte eins sein.

Sie wurden eins.

Ihre Körper klickten zusammen und ihre Bewegungen vollführten einen langen Tanz in Harmonie.

„Ameli, was machst du nur mit mir?“, hauchte Lucas ihr immer noch ganz benommen ins Ohr. Er sah Ameli in ihrer Schönheit vor sich liegen. Ihr Körper glänzte noch vom Schweiß der Liebe. Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Sie stöhnte leise auf. Jede Berührung hallte noch in ihr nach. Ihr Körper schrie immer noch nach Zärtlichkeit. Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihren vibrierenden Bauch. Sie spürte in sich. Da war noch eindeutig das Verlangen nach mehr. So kannte sie sich selber nicht. Sie schloss die Augen.

Hol dir was du brauchst.

Sie ließ Lucas Hand nicht los, sondern führte sie weiter an ihrem Körper herunter.

Sie brauchte noch einen kurzen Wellenbrecher.

Was muss Lucas nur von mir denken, schoss es ihr durch den Kopf.

Aber Lucas dachte gar nichts. Er gehorchte ihr und wusste zu ihrem Erstaunen ganz genau, was sie wollte.

„Lucas, was machst du nur mit mir?“

 

***

Montag

 

Ameli und Lucas erwachten durch das Geklapper von Geschirr und dem ständigen Öffnen von Schranktüren. Sie zogen sich beide, wie auf Kommando, die Decke fest über die Ohren. Es war für einen Montag Zeit, um aufzustehen.

Sie wollten wieder zurück nach Köln.

Ameli hatte aber noch keine Lust. Als sie sah, dass Lucas genauso dachte wie sie, ging sie kurz zu ihrer Mutter und sagte ihr, dass sie noch ein wenig im Bett bleiben wollten.

Sie kuschelte sich an Lucas und grunzte vor Vergnügen. Lucas spürte ihre festen Brüste im Rücken und musste sofort an ihre nächtlichen Verführungskünste denken. Eigentlich war sie ihm eine Antwort schuldig geblieben.

Aber er wollte es irgendwie nicht zerreden. Trotzdem fragte er sich, woher diese Wandlung kam. Sollte es wirklich mit ihrer inneren Verstrickung zu tun haben, die sich jetzt, wie sie sagte, langsam entwirrte?

Er konnte es sich nur teilweise vorstellen.

„Da haben wir die letzten 5 Jahre ja ganz schön was verpasst“, sagte er gegen die Wand. „Wie ist das nur möglich?“

Was sollte Ameli ihm darauf antworten?

Klang das etwa anklagend?

So frei und fordernd hatte sie sich selber noch nie erlebt. Sie war verwirrt und konnte es sich auch nicht so recht erklären.

„Ich weiß nur, dass ich dich am liebsten aufgefressen hätte“, kam ihr spontan in den Sinn. Genauso war es. Sie wollte ihn mit Leib und Seele.

„Und früher? Was wolltest du früher, als du mit mir geschlafen hast?“ Lucas drehte sich zu Ameli um und stützte sich auf den Ellenbogen. Er betrachtete ihr noch verschlafenes Gesicht.

„Ich weiß nicht. Stimmt, manchmal habe ich einfach nur so mit dir geschlafen, weil ich glaubte, dass du es willst. Hast du das gemerkt?“ Sie strich sich verlegen die Haare aus dem Gesicht. „ Dumme Frage, nicht?“

„Ich habe manchmal gemerkt, dass du nicht bei der Sache warst. Ich hätte dich ja auch darauf ansprechen können. Aber weißt du, manchmal war ich einfach nur froh, dass du überhaupt mit mir geschlafen hast.“

„Ach du meine Güte. Was waren wir nur für ein schlechtes Paar. Und wie rücksichtsvoll. Keiner wollte dem anderen weh tun.“

„Ja, aber was ist jetzt passiert, Ameli?“ Lucas nahm Amelis Hände. Sie waren weich und warm. Er führte sie an seinen Mund. Er erinnerte sich an Nächte, wo Ameli einfach nur da lag und er wie ein Schnellzug über sie gerattert war. Da war nichts zum Anhalten und Mitnehmen. Es gab wohl Liebesmomente, wo es anders war, wo ein leises gemeinsames Zwitschern aus der Vögelei hervorging. Aber was er jetzt bei und mit ihr erlebte übertraf alles bisher Erlebte.

„Lucas, ich habe wohl deine Liebe empfangen“, begann Ameli zögerlich. „Aber es war schwer für mich, dir das Gleiche zurückzugeben. Ich konnte nicht. Verstehst du? Meine Liebe für dich, fühlte sich für mich immer irgendwie verlogen an. Ich musste oft aus Schmerz zurückweichen.“

Sie sprach nicht weiter.

 

Ameli schloss die Augen.

In ihrem Hirn vollendete sie leise das Gespräch:

Du wirst es nicht verstehen, aber ich habe dich genau aus diesem Schmerz heraus betrogen. Ich war einfach nicht fähig, jemanden zu vertrauen und mich jemanden anzuvertrauen. Auch dir nicht. Und mein Körper schrie dann ab und an nach Befreiung. An geheimer Stelle tobte ich mich an fremden Männern, die nicht zu meinem Leben gehörten, aus. Erst zaghaft, dann immer wilder. Ich konnte sie beherrschen, ich benutzte sie, ich quälte sie, ich peitschte sie aus und ich genoss ihre Untertänigkeit. Ich brauchte Macht und ich fühlte Macht. Ich streifte allen Frust ab und kehrte als scheinbar freier Mensch wieder in die Öffentlichkeit zurück. Zurück zu dir. Ich weiß, dass ich dich die ganze Zeit belogen und betrogen habe.

Sie konnte ihm ihr Geheimnis nicht offenbaren.

Niemals.

Ihr wurde klar, dass sie Lucas damit tief treffen würde. Selbst, wenn er es verstehen würde, dachte Ameli, hieße es noch lange nicht, dass er ihr verzeihen könnte. Und wieder sagte sie sich, dass es nicht gegen Lucas war. Es war ihrer eigenen inneren Verfassung entsprungen und diente ganz alleine zur Herstellung ihres eigenen Wohlbefindens.

Sie tat es für sich.

Sie musste es für sich tun.

Lass Lucas da raus.

Das Geheimnis muss mein Geheimnis bleiben.

 

Sie öffnete wieder die Augen und sprach weiter zu Lucas.

„Aber ich wollte dich immer mit ganzen Herzen. Du glaubst gar nicht, wie oft ich unter diesem Zustand gelitten habe. Du hast immer zu mir gestanden und hast mich nie fallen lassen. Und erst jetzt konnte sich mein Herz und mein Körper voll und ganz für dich entscheiden. Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“ Tränen füllten Amelis Augen. Sie wollte nicht weinen, aber sie konnte es nicht aufhalten.

„Weine nicht, Ameli. Es ist doch alles gut. Es war schön, wie du mich heute nacht liebevoll aufgenommen hast. Ich habe es gespürt. Nun weiß ich endlich, wie es sich anfühlt, wenn man sagt, sie hat seine Liebe erwidert.“

„Oh, Lucas, es tut mir so leid, dass dir das die ganze Zeit gefehlt hat.“

„Nun mach mal kein Drama draus. Dann hatten wir bis jetzt eben immer wundervollen Sex zusammen und ab jetzt wird uns die Liebe begleiten.“

„Hm, das hast du aber schön gesagt.“

„Dann lass uns gleich mal sehen, ob auch alles noch so ist, wie heute Nacht.“

 

Frau Blume saß derweil in der Küche und trank bereits ihren zweiten Kaffee. Versonnen schaute sie aus dem Fenster und beobachtete einen Vogel, der sich auf der Balkonbrüstung mit seinem Futter zu schaffen machte. Im Hintergrund dudelte leise Musik aus dem Radio. Sie hörte sonst kaum Radio, aber seit Ameli hier war, lief das Radio oder der Fernseher ohne Unterlass.

Ameli brauchte die Geräusche als Bestätigung des Lebens, wie sie sich ausdrückte.

Über diese Feststellung dachte Frau Blume gerade nach. Nach wie vor war es bei ihr dunkel und leise. Sie musste wirklich zugeben, dass die Geräusche aus dem Radio, wie leises Geplätscher eines Baches auf sie wirkten. Die Ruhe, die sie sonst umgab, bekam einen leisen Anstrich und sie spürte eine wohltuende Wirkung.

Ameli hatte es geschafft ihrem Leben wieder eine Stimme hinzuzufügen.

Nicht nur das.

Frau Blume hatte heute morgen zum ersten mal das Bedürfnis, sich von ihren schwarzen Sachen zu trennen. Sie fand eine gelbe Bluse im Schrank, nicht mehr ganz im Trend, aber das war ihr egal. Sie betrachtete sich im Spiegel und kam sich sehr fremd vor. Sie widerstand aber der Versuchung, sich wieder umzuziehen.

Sie tat es nicht nur Ameli zu liebe.

Sie gestand sich ein, dass Amelis Anwesenheit eine gewisse Aufmerksamkeit für das Leben in ihr weckte. Die letzten Stunden waren lebendig schön für sie.

Der Abschied von Andreas auf dem Friedhof nahm ihr ein wenig die Schwere von der Brust.

Als Ameli in die Küche kam, saß ihre Mutter mit stolz erhobenen Kopf am Tisch. Sie lächelte ihr entgegen.

Sie ist zurück im Leben, dachte Ameli sofort. Sie freute sich.

„Wow, ich hätte nicht gedacht, dass ich so eine schöne Schwiegermutter habe“, sagte Lucas, der gleich hinter ihr in die Küche kam. Er trug noch seinen Schlafanzug und Frau Blume sah ihm sofort an, dass er gerade ein wundervolles Geschenk aus Amelis Schoß und Herz erhalten hatte.

„Schwiegermutter? Da habe ich wohl etwas verpasst?“ erwiderte Ameli und zwickte ihn lachend in die Seite.

Frau Blume sagte nichts. Sie war auf einmal traurig, dass sie bald wieder alleine sein würde.

 

 

Ameli verspürte beim Abschied keine aufkommende Traurigkeit. Sie fühlte keinen Kloß im Hals.

Die Tränen weinten andere.

Sie war sich nicht sicher, was das bedeutete.

Hatte es überhaupt eine Bedeutung?

Die Fahrt durch die Stadt genoss Ameli in vollen Zügen. Sie herrschte Lucas regelrecht an, er solle nicht so schnell fahren. Am liebsten wäre sie noch einmal ausgestiegen.

Sie wollte die Stadt festhalten.

Sie konnte sich nicht erklären, was in ihr vorging.

In ihrem Inneren schrie es: warte, warte, warte.

Aber Lucas fuhr mit ihr erbarmungslos aus der Stadt.

Die Autofahrt verlief wortlos.

Ameli wollte zwar immerzu etwas sagen, aber sie wusste nicht so recht was. Sie hatte auf einmal das Gefühl, als wenn nicht sie im Auto saß. Wie von früher gewohnt, musste sie sich erst einmal kneifen. Sie flüsterte leise, ich bin es. Lucas bekam davon nichts mit.

Sie fuhren bereits eine Stunde, als Lucas fragte.

„Bist du zufrieden mit dem Besuch bei deiner Mutter?“

„Ja.“

„Wirst du sie bald wieder besuchen wollen?“

„Weiß nicht.“

„Was wirst du jetzt machen?“

„Keine Ahnung.“

„Ameli?“

„Ja, ja, ja. Lucas, du weißt doch, ich rede manchmal nicht gerne im Auto. Guck nach vorne und bring uns ohne Unfall nach Köln, ok?“

Lucas wusste, dass damit die Unterhaltung beendet war und er wusste auch, dass Ameli tief in Gedanken war und nicht gestört werden wollte.

Worüber sie wohl nachdachte?

Da gab es viele Möglichkeiten. Selbst für ihn gab es eine Menge zum Nachdenken. Die vielen neuen Informationen, hatte selbst er noch längst nicht verarbeitet.

Wie sollte es Ameli nur damit gehen?

Zum einen, dachte Lucas, musste sie ihre eigene Befindlichkeit neu einordnen und zum anderen, musste sie die Begegnung mit ihrer Mutter und vor allem die Informationen über ihren Vater verarbeiten. Als er sie betrachtete, war er erstaunt darüber, dass sie so gelöst wirkte. Oder war alles nur Show?

Er drehte die Musik ein wenig lauter und begnügte sich damit, in die vorbeifahrenden Autos zu schauen, um zu sehen, wer mit ihm die Autobahn teilte. Ab und zu schenkte er einer Frau ein Lächeln.

Ameli war Lucas dankbar, dass er sie in Ruhe ließ. Sie wusste, dass er sich Gedanken über sie machte. Aber sie brauchte nach dem Abschied von ihrer Mutter Ruhe.

Sie wollte nicht reden.

Sie wollte nicht nachdenken.

Sie wollte nur aus dem Fenster schauen und alles an sich vorüberziehen lassen. Sie wusste genau, dass das höchstens zehn Minuten so sein würde, dann würden von ganz alleine die Gedanken kommen. Sie wollte sich kein Problem aussuchen. Sie wollte es kommen lassen. Sie wollte sehen, welches Problem ihr als erstes über den Weg lief.

Sie versuchte sich abzulenken. Auch sie schaute in die Autos. Sie lächelte aber keinem zu. Lucas fuhr so schnell, dass sie keine Person richtig erkennen konnte, ohne den Kopf ständig wenden zu müssen. Also schaute sie nur konsequent nach rechts und betrachtete sich die Autonummern. Sie versuchte schnell aus den Buchstaben und Zahlen eine Geschichte für das jeweilige Auto zu erfinden. Es machte ihr zeitweilig Spaß. Bei manchen Zahlenkombinationen fiel ihr sofort etwas ein, andere waren nichts sagend und hinterließen keinen Eindruck.

Irgendwann rutschten ihre Gedanken ab und sie war bei der Geschichte ihres Vaters.

Vater.

Sie wusste nicht was schlimmer war, die ganze Zeit zu denken, dass ihr Vater sie nicht wollte oder jetzt zu wissen, dass ihr Vater tot war. Sie konnte es drehen und wenden, wie sie es wollte. Er war nicht für sie da gewesen. Es machte keinen Sinn darüber nachzudenken, was gewesen wäre, wenn er an dem Tag des Streites nicht verunglückt wäre.

Die Geschichte begann, bevor sie geboren wurde.

Sie lauschte der Musik.

Aber so einfach war das nicht. Sie hing mit drin in der Geschichte. Ihr ganzes Leben wäre anders verlaufen, wenn ihre Mutter den Mut aufgebracht hätte, ihrem Vater von dem Seitensprung zu erzählen. Oder aber, kam es ihr in den Sinn, sie wäre gar nicht erst gezeugt worden? Ihr Vater hätte schließlich ihre Mutter gleich nach dem Geständnis verlassen können.

Plötzlich stand ihr Leben, gegen gar kein Leben?

Verpfuschtes Leben.

Kein Leben.

Ameli stöhnte innerlich auf. Sie stellte sich die Frage, was ihr lieber gewesen wäre? Sie blickte zum Himmel und sah kleine Schäfchenwolken. Die Sonne schickte ihr Licht auf die Erde.

Sie war da.

Ameli war froh, da zu sein.

Sie wandte sich zu Lucas. Er schaute friedlich gerade aus.

„Lucas, bist du gerne auf der Welt?“

„Was ist das denn jetzt für eine Frage?“

„Sag doch mal, lebst du gerne? Oder anders, könntest du dir vorstellen, nicht auf der Welt zu sein?“

Lucas ließ sich Zeit mit der Antwort. Worauf wollte Ameli hinaus? Hatte sie etwa auch schon einmal, wie ihre Mutter, an Selbstmord gedacht? Er schaute sie skeptisch von der Seite an.

„Eigentlich müsstest du wissen, dass ich gerne lebe“, sagte er.

„Ja, das stimmt. Du machst immer alles mit großer Freude. Und bei dir sieht immer alles so leicht aus.“

„Dass das so ist, dafür habe ich selber gesorgt. Als ich damals gerafft hatte, dass sich meine Mutter ja auch für eine Abtreibung hätte entscheiden können, war ich so dankbar über mein Leben, dass ich mir geschworen hatte, es sinnvoll zu nutzen und zu genießen. Ich strengte mich an, dass zu verwirklichen, was ich wollte. Ich bin glücklich mit meinem Beruf. Er lässt mich mein eigener Herr sein. Ich will mich bei niemanden einmischen und wie du weißt, will ich auch nicht, dass sich jemand bei mir einmischt. Übrigens hatte ich immer das Gefühl, dass du da auf meiner Welle mit schwimmst und ich empfinde dein Lebensstil passend für mich.“

Ameli nickte.

„Zum Teil zwei deiner Frage. Die Vorstellung nicht auf der Welt zu sein, kam mir noch nicht.“

„Hm. Mir auch nicht“, stellte Ameli fest.

„Warum dann diese Frage?“

„Wenn meine Mutter damals ehrlich zu meinem Vater gewesen wäre, hätte es doch sein können, dass es mich gar nicht geben würde.“

„Ameli, ich verstehe deine Gedanken. Auch mir sind diese Gedanken gekommen bei der Erzählung deiner Mutter. Aber diese Frage steht nicht, Ameli. Du bist da. Ein Glück aber auch. Was wäre sonst mit meinem Leben? Siehst du, so kann man immer fragen, was wäre wenn? Ich glaube wichtig ist, dass du deiner Mutter vergeben hast. Zweifelst du jetzt daran?“

„Keinesfalls. Ich frage mich nur, ob ich mir nicht alles zu einfach mache. Die Sache mit meinem Vater habe ich so noch nicht gewusst.“

„Du denkst wirklich, dass du dir alles zu einfach machst? Nein, das sehe ich anders, Ameli. Dein ganzes Leben war nicht einfach. Nun weißt du endlich ganz genau warum. Weißt du, dein Vater spielte bis jetzt keine Rolle in deinem Leben. Warum sollte er es jetzt tun? Warum willst du jetzt über ihn nachdenken? Es ändert nichts an der Situation, oder?“

„Nein.“ Ameli schaute gequält. Sie wusste das Lucas in diesem Punkt recht hatte. Sie fühlte es selber.

Was wäre wenn, zählt nicht.

Es war so.

Und dieses war, wollte sie hinter sich lassen.

„Danke Lucas. Du hast mir sehr geholfen.“ Ameli schmiss ihm ein Luftkuss zu.

Sie schaute wieder aus dem Fenster, widmete sich den Autonummern und erfand wieder ihre eigenen Geschichten.

Du wolltest nicht mehr träumen, dachte sie.

Träumen kann machmal so schön sein.

 

„Willst du zu dir oder fahren wir zu mir?“, unterbrach Lucas ihre Träumerei.

Ameli hatte gar nicht gemerkt, dass sie schon fast da waren. Als sie die Abfahrt Köln passierten, krampfte sich ihr Herz zusammen. Ihr wurde ein wenig schwindelig und sie musste mehrmals schlucken.

Was hatte das denn zu bedeuten?

„Ich möchte zu mir“, hauchte sie Lucas schwach entgegen. „Da du heute Abend noch Termine hast, treffen wir uns morgen erst wieder, ok? Ich will diese Nacht alleine sein.“

Lucas nickte, obwohl es ihm nicht ganz recht war. Aber er konnte sich vorstellen, dass Ameli heute nacht wirklich alleine in ihrer Wohnung sein wollte. Er wollte sie zu nichts drängen. Er spürte, dass sie noch längst nicht so frei war, wie sie vorgab. Er würde auf sie aufpassen müssen.

 

Ameli wollte nur abgesetzt werden. Sie gab Lucas einen flüchtigen Kuss und verschwand winkend hinter der Haustür.

Im Hausflur blieb sie stehen. Sie atmete den ihr bekannten Geruch ein. Diesen Hausflur betrat sie täglich seit ungefähr acht Jahren. Plötzlich fühlte sie sich fremd und unwohl. Schnell holte sie die Post aus ihrem Briefkasten und hastete die Treppen hinauf. Vor ihrer Haustür fingen ihre Hände an zu zittern. Sie schaffte es mit Müh und Not ihren Schlüssel ins Schloss zu führen.

Sie stand in ihrem Flur und atmete schwer. Sie überlegte, ob sie Lucas anrufen sollte. Dann schalt sie sich eine dumme Göre und nahm sich zusammen. Angelehnt an der Wand betrachtete sie sich im großen Spiegel.

Sie wurde ruhiger.

Ameli Blume, was war das denn?

Mit langsamen Schritten machte sie einen Rundgang durch ihre Räume. Zuerst ging sie in ihr schlicht gehaltenes Schlafzimmer. So wenig wie nötig war in diesem Raum untergebracht. Es sollte sie nichts vom Schlafen abhalten. Sie öffnete das Fenster und tauschte die abgestandene Luft mit frischer. Sehnsüchtig blickte sie zu ihrem großen Bett. Sie wusste selbst nicht, warum sie ihrem inneren Impuls, sich einfach hinzulegen, nicht nachgab. Statt dessen ging sie ins Bad. Sie drehte den Wasserhahn auf und ließ kaltes Wasser über ihre Hände laufen.

Es tat ihr gut.

Auch hier blickte sie in den Spiegel. Sie hob die Hand und winkte ihrem Spiegelbild zu. Es lächelte zurück.

Na also, es geht doch, dachte sie.

Dann ging sie durch den Flur zurück in ihr Wohnzimmer.

Sie sah Ameli noch zwei mal im Flur an sich vorbei huschen.

Das große Zimmer war hell und weitläufig. Hier fühlte sie sich immer wohl. Sie blieb in der Mitte stehen und schloss die Augen.

Sie spürte nichts.

So sehr sie sich auch anstrengte, es kamen keine heimischen Gefühle in ihr auf.

Sie fing an zu frösteln.

Dann stieß sie einen Schrei aus.

Sie wollte es nicht wahrhaben.

Es war nicht mehr ihr zu Hause.

Dann sah sie ihre verwelkten und eingetrockneten Pflanzen. Es tat ihr leid, sie so lange im Stich gelassen zu haben. Sie fand für jede die passenden Worte und war sich sicher, dass sie ihr verzeihen würden.

Dann kochte sie sich einen Tee und rief ihre Mutter an. Es war schön ihre Stimme zu hören.

Sie hörte auf zu frieren.

Wenig später verabredete sie sich mit Elisa. Sie musste raus aus ihrer Wohnung. Wie ein Besucher eines Hotels bewegte sie sich in ihr. Sie ließ alles stehen und liegen für das Zimmermädchen.

 

 

Sie traf sich mit Elisa drei Ecken weiter in einem kleinen Kaffee. Sie freute sich.

„Ameli, was ist mit dir los, du bist ja völlig blass. Nach der frischen Luft am Meer solltest du anders aussehen“„ wurde sie von Elisa begrüßt.

Ameli erzählte ihrer besten Freundin alles über den Besuch bei ihrer Mutter, von ihren neuen Gefühlen zu Lucas, von ihrem großartigen Eindruck von Berlin und letztendlich von ihrer schockierenden Ankunft hier in Köln.

„Kannst du mir mal erklären, was das soll?“ beendete sie ihre Erzählung.

Elisa hatte ihr aufmerksam zugehört. Ihr ist nicht entgangen, wie sehr Ameli von Berlin geschwärmt hatte. Sie vermutete mehr dahinter. Sollte sie es ihr sagen? Oder sollte sie darauf hoffen, dass Ameli selbst darauf kam. Ameli sah so verzweifelt aus, dass Elisa sich entschied, ihr ihre Vermutung mitzuteilen.

„Ameli, du willst zurück zu deiner Mutter nach Berlin.“

„Ehrlich?“ Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Musste sie deswegen beim Abschied nicht weinen, weil sie wusste, dass sie wieder zurück kommen würde? Sehr bald sogar?

Fühlte sie sich deswegen in ihrer eigenen Wohnung so unwohl?

Ja, natürlich, sie wollte wieder zurück in ihre Heimatstadt Berlin. Vielleicht nicht unbedingt zurück zu ihrer Mutter, aber auf alle Fälle hatte es ihr Berlin angetan. Wenn sie es sich richtig überlegte, hatte sie es die ganze Zeit irgendwie gespürt. Es wurde nun zur Gewissheit.

„Du hast wirklich recht. Genau das ist es.“ Ameli schüttelte fassungslos mit dem Kopf. „Warum bin ich nicht selber darauf gekommen?“

„Tu es einfach, Ameli. Ich kann es dir nur raten. Wie war überhaupt der Abschied von Chris?“ fragte sie nahtlos weiter.

„Oh, an Chris habe ich seit dem Abschied überhaupt nicht mehr gedacht.“ Dann erzählte sie Elisa von der Fotosession mit Chris am Strand und von den Abschiedsfotos, die er ihr geschenkt hatte.

„Das ist ein gutes Zeichen.“

„Du sprichst in Rätseln, aber Chris ist mir im Moment so ziemlich einerlei. Elisa, was soll ich denn jetzt machen?“

„Wie gesagt, pack deine Koffer und verzieh dich nach Berlin.“

„Spinnst du? Und Lucas?“

„Lucas ist nicht das Problem, das weißt du genau.“

„Aber ich liebe ihn.“

„Du kannst ihn auch in Berlin lieben, Schatz?“

„Meinst du, er würde mit mir mitkommen?“

„Frag ihn.“

„Sag, mal willst du mich los werden?“

„Nein. Ich will nur, dass du die richtige Entscheidung triffst. Zwischen deinen Worten habe ich herausgehört, was du willst. Und jetzt bist du wieder dabei, deine Wünsche nicht ernst zu nehmen. Das solltest du aber. Höre auf dein Gefühl, Ameli. Fang an damit. Alles andere wird sich fügen.“

„Na ,da bin ich ja wirklich auf Lucas Reaktion gespannt. Oh man ja, ich will es.“

„Dann will ich jetzt kein Aber mehr hören. Zieh dein Ding durch. Du schaffst es.“ Elisa nickte ihr aufmunternd zu. Sie hatte es irgendwie gewusst, dass Amelis Fahrt ans Meer nicht mehr zurück nach Köln führen würde. Aber dass sie zurück zu ihrer Mutter finden würde, das überraschte sie dann doch. Aber es freute sie unheimlich.

Sie sah auch das neue Leuchten in Amelis Augen.

„Hey, ich bin stolz auf dich“, sagte Elisa. „Mach dir keine Sorgen, Lucas wird dich verstehen. So wie ich ihn kenne und einschätze, wird er zu dir stehen. Und wenn er sagt, dass er dich liebt, und du liebst ihn auch, dann findet ihr einen Weg. Glaube mir.“

„Wenn ich dich nicht hätte. Nun habe ich auch keine Angst mehr, zurück in meine Wohnung zu gehen. Ich muss jetzt auch los. Ich habe totales Chaos hinterlassen.“ Sie übertrieb maßlos.

Vorm Kaffee verabschiedeten sie sich bestimmt viermal. Sie spürten beide, dass sich ihre Wege nun bald trennen würden.

Ameli wollte nach Berlin.

Elisa wollte an die Ostsee.

 

Ameli betrat mit gemischten Gefühlen ihr Haus. Sie wollte so wie immer dieses Haus betreten, aber es ging nicht so recht. Das fremde Gefühl wich nicht von ihrer Seite. Schon allein der Geruch, das ging gar nicht. Sie empfand ihn als störend. Hatte es hier immer so gerochen? Sie fand es sehr verwunderlich, nahm es aber als Zeichen hin.

Aber immerhin fühlte sie sich nicht mehr ganz so ohnmächtig, wie bei ihrer Ankunft. Auf dem Weg zur Haustür dachte sie an Lucas. Sie wünschte sich, dass er jetzt hier sein würde. Sie wollte und brauchte seinen Trost. Als sie den Schlüssel aus ihrer Tasche zog, kündigte ihr Handy eine Nachricht an.

Als wenn Gedankenübertragung stattgefunden hätte.

Sie stand im Hausflur und las die Nachricht von Lucas. Sie drückte ihr Handy erst an ihren Mund und dann an ihr Herz. So funktionierte ihre Liebe auf Abstand. Manchmal.

Mit dieser Nachricht war der Abend gerettet.

Das reichte ihr. Er musste nicht mehr da sein.

Nicht mehr ganz so schwerfällig, betrat sie ihre Wohnung. Sie sah ihren Koffer im Flur. Sollte sie ihn wirklich gar nicht erst auspacken?

Bei dem Gedanken wieder zurück nach Berlin zu fahren, wurde ihr warm ums Herz. Sie spürte eindeutig, dass sie nicht abgeneigt war.

Im Gegenteil.

Außer Lucas hatte sie hier nichts zu verlieren. Sie konnte alles aufgeben. Aber vielleicht sollte sie sich nur eine neue Wohnung suchen? Vielleicht reichte das ja schon?

Warum immer wieder diese Selbstzweifel, Ameli?

Sie ging wieder durch ihre Wohnung und räumte, während sie alles auf sich einwirken ließ, ganz nebenbei ihre Sachen weg. Sie hatte das Gefühl, dass das alles nicht ihr gehörte.

Sie fühlte sich fremd.

Sie wollte weg.

Aber wie weit weg?

Sie setzte sich mit angezogenen Knien auf ihr Sofa. Sie konnte aus dem Fenster in die Ferne blicken. Immer wieder drehten sich die Fragen in ihrem Kopf, wie eine Endlosschleife.

Wollte sie nur weg, irgendwohin? Dann konnte sie doch jetzt endlich zu Lucas in die schöne große Wohnung ziehen.

Oder wollte sie wirklich zu ihrer Mutter?

Oder wollte sie nur zurück nach Berlin?

Im Augenblick wusste sie nur ganz sicher, dass sie für ihr neues Ich einen neuen Ort brauchte. Aber wo war dieser Ort?

Berlin?

Köln?

Stadt X?

Es lag schon nahe, dass sie sich zu ihrer Mutter hingezogen fühlte. Aber warum so intensiv? Und warum überlagerten die Gefühle zu ihrer Mutter, die zu Lucas?

Das konnte Ameli überhaupt nicht begreifen und verstehen.

Sie stand wieder auf und ging ziellos durch ihre Wohnung. Wie ein getriebenes Tier ging sie auf und ab und kam nicht zur Ruhe. Immer wieder fragte sie sich:

Ameli was willst du?

Was brauchst du?

Was fehlt dir?

Was? Was? Was?

Als ihr Blick den Laptop streifte, musste sie nun doch an Chris denken. Chris.

Chris ihr Traum-Meer-Mann.

Ein Lächeln umspielte ihr Mund.

Dann erst dachte sie an die Fotos. Sie öffnete ihr Postfach und sah sich die versprochenen Bilder an. Sie waren hinreißend. So hatte sich Ameli selbst noch nie gesehen.

War sie das wirklich?

Immer und immer wieder wiederholte sie die Diashow. Sie war verblüfft, wie unterschiedlich sie auf den Fotos wirkte. Sie konnte sich noch erinnern, wie Chris ihr verschiedene Situationen verbal hingeworfen hatte und sie versucht hatte, den passenden Gesichtsausdruck und die passende Bewegung dazu zu finden. Sie spielte mit ihm und mit der Kamera. Es hatte ihr Spaß gemacht.

Sie fand, dass Chris wirklich ein Talent hatte, alles gut in einem Foto einzufangen. Sie war lebendig. Dagegen wirkten die drei Fotos, die Lucas gemacht hatte, total stümperhaft. Hingestellt und abgedrückt. Ameli musste lachen.

Als sie sich mit Chris an ihrer Seite sah, kamen, wie sie erleichtert feststellte, keine schmerzenden Gefühle für ihn hoch. Sie war richtig froh darüber.

Dann las sie die Mail dazu.

 

Liebe Ameli,

hier die versprochenen Fotos. Du siehst fabelhaft aus und ich möchte mich noch einmal bei dir bedanken, dass ich diese Fotos machen durfte. Es vergeht kein Tag, an dem ich sie mir nicht anschaue.

Ameli stöhnte auf. Mach doch nicht so was, Chris.

Besonders gefällt mir dein Gesicht auf dem Bild, wo du dich zu mir umdrehst. Du siehst so glücklich aus und ich wünsche mir immer, dass du nur mir so zulächelst. Lass mir diese Illusion.

Nein. Ich lächle nicht dir zu, Chris. Lucas kam gerade den Aufgang hinunter. Du konntest ihn nicht sehen. Mein Lächeln galt nur ihm allein.

Vielleicht werde ich doch etwas in Richtung Fotografie unternehmen. Darf ich deine Fotos dann dazu verwenden? Sie bringen mir bestimmt Glück.

Kannst du. Ich sehe schließlich wirklich fabelhaft aus. Ich muss mich nicht verstecken.

Ameli, ein Teil von mir wird immer auf dich warten. Ich weiß, ich habe dir glaubhaft gemacht, dass wir als Freunde auseinander gegen. Ich habe auch versucht es zu glauben. Es klappt nicht. Ich kann dich nicht vergessen. Und ich will dich auch noch nicht vergessen.

Dann lösch meine Fotos, Chris, verdammt noch mal. Dann kannst du mich auch vergessen. Ich will nur eine Freundin sein. Mehr nicht.

Ist es verkehrt Hoffnung in sich zu tragen?

Nein. Aber manche Hoffnung ist vergebens. Und ich als Hoffnung für dich, ist vergebens. Chris versteh das doch endlich, bitte. Lösch mich aus deinem Leben.

Wenn ich an dich denke, dann fühle ich dich hautnah bei mir. Es tut weh und ich weiß, dass du das nicht gerne hören wirst. Aber was soll ich machen?

Du könntest es für dich behalten und mich damit in Ruhe lassen. Ich will das nie mehr hören, verstehst du? Nie mehr.

Ich bin mir nicht einmal sicher, ob du mir nach dieser Mail überhaupt antworten wirst. Ich könnte es verstehen. Was war ich denn schon für dich? Eine Affäre. Mehr nicht. Ich wäre froh, wenn ich es genauso sehen könnte. Aber ich kann meine Liebe nicht einfach als Affäre abtun. Es geht nicht. Jedenfalls jetzt noch nicht.

Chris du warst die wichtigste Affäre in meinem Leben. Ich weiß, das tröstet dich nicht, wenn ich dir das schreiben würde. Ich weiß wirklich nicht, ob ich dir antworten soll. Du würdest dir nur unnötig Hoffnung machen. Ich will das nicht. Ich will dir nicht weiter weh tun. Ich will dir nicht einmal das sagen. Lass Gras drüber wachsen. Ich behalte dich weiter in meinem Herzen. Vielleicht sehen wir uns irgendwann einmal wieder.

Ameli, du hast versprochen, dich bei mir zu melden. Vielleicht habe ich es hiermit kaputt gemacht.

Ja, Chris, das hast du. Ich muss unser Band kappen. Ich dachte es könnte für dich, wie für mich ein freundschaftliches sein. Aber wie ich sehe, habe ich mich geirrt. Für dich ist es immer noch Liebe. Ich tu es, damit du wieder frei werden kannst.

Ich umarme dich und schicke dir eine Brise Meer.

Für immer Chris

Danke.

Und genau dieses eine Wort schickte Ameli als Antwort an Chris.

Nicht mehr und nicht weniger.

Danke.

 

***

Zur gleichen Zeit saß Chris in seinem Zimmer.

Die Fotos hatte er noch am selben Tag bearbeitet und auf die Reise geschickt. Die Mail, die er dazu schrieb, floss ihm aus dem Herzen in die Finger. Es war die Wahrheit und er wollte sich nicht vor dieser Wahrheit verstecken.

Was hatte er schon zu verlieren? Ameli war fort.

Nun wartete er sehnsüchtig auf eine Antwort. Er stand gerade am Fenster und schaute auf das recht bewegte Meer. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er trommelte ungeduldig mit den Fingern auf das Fensterbrett und fluchte. Dann vernahm er den langersehnten Ton, für die Ankündigung einer Mail. Er drehte sich um und starrte seinen Laptop an. Nun kam endlich die Antwort und er traute sich nicht, sie zu lesen. Ihm schien das Herz bis an den Hals zu klopfen. Er öffnete die Mail und starrte fassungslos auf den Bildschirm.

Danke.

Er starrte immer wieder auf dieses eine Wort. Was sollte er damit anfangen?

Danke.

Danke für die Fotos? Oder was? Keine Antwort auf seine Mail? Was war das denn?

Danke.

Danke für die schöne Zeit? Sollte das alles sein? Was sollte das bedeuten?

Chris konnte es kaum glauben. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte. Ameli hatte nichts weiter zu sagen, als Danke. Damit gab sie ihm nicht einmal die winzige Gelegenheit einer Antwort.

Sie sagte Danke.

Danke und Tschüss?

Nur so konnte sie es gemeint haben, dämmerte es Chris. Schließlich hatte sie sich doch beim Abschied klar und deutlich ausgedrückt. Sie wollte eine gute Freundin sein.

Und was machte er? Er bedrängte sie in seiner Mail wiederum mit seiner Liebe, die sie nicht haben wollte. Er durfte auf gar keinen Fall in Versuchung kommen und ihr erneut schreiben. Er musste sich damit abfinden. Warum fiel es ihm nur so schwer? Sein Verstand war doch schon soweit.

Danke.

 

***

Ameli hatte eine unruhige Nacht. Sie konnte einfach nicht einschlafen. Sie versuchte sich von ihren Gedanken abzulenken. Es funktionierte nicht. Entnervt stand sie wieder auf.

Aber auch beim Lesen konnte sie sich nicht konzentrieren. Außerdem fühlte sie sich unwohl und sie konnte sich nicht erklären, was es ganz genau war.

Sie kochte sich mitten in der Nacht einen Tee.

Sie saß auf dem Sofa und blickte in die dunkle Nacht hinaus. Sie musste Stunden so dagesessen haben, denn als sie ins Bad ging, dämmerte es bereits.

Da ihr Waschzeug noch in der Reisetasche war, nahm sie aus dem Schrank ihre Ersatzzahnbürste. Ihr Blick blieb an der Tamponschachtel hängen. Sie setzte sich auf den Wannenrand und schloss die Augen. Sie hätte sie gestern benutzen müssen.

Entsetzen machte sich breit.

Ameli entschied sich damals nach ihrem Abbruch gegen die Pille. Man sagte ihr, dass sie höchstwahrscheinlich keine Kinder mehr bekommen würde. Es war ihr egal, sie wollte ohnehin keine haben. Mit Lucas hatte sie einen guten Weg gefunden, er wusste über ihre gefährlichen Tage meist besser Bescheid als sie.

Wie konnte sie das alles nur am Meer vergessen?

Warum hatten sie um Himmels willen keine Kondome benutzt? Nun gut, dachte sie, beim ersten mal ging alles zu schnell und unerwartet, das wäre verzeihlich. Aber die anderen Male? Wie konnte sie nur so unachtsam sein?

Ihr wurde schlecht.

Die Angst kroch ihr vom Magen in den Hals.

Sie konnte auch nicht die Verantwortung auf Chris abwälzen. Er hatte bestimmt gedacht, dass sie die Pille nähme. Aber an ein Kondom hätte er doch auch denken können. Auch wenn sie seine Erste war.

Das kann doch wohl nicht wahr sein, flüsterte Ameli. Sie saß immer noch mit geschlossenen Augen auf dem Wannenrand.

Das darf nicht wahr sein.

Vielleicht verschiebt sich auch alles nur um ein paar Tage, beruhigte sie sich dann. Der ganze Stress und die Ortsveränderungen können schließlich die Hormone total durcheinander bringen. Mit dieser doch einleuchtenden Erklärung schleppte sich Ameli schließlich ins Bett. Sie zog sich die Zudecke über den Kopf und wollte nur ganz schnell einschlafen und an nichts mehr denken.

Gegen Mittag wachte sie auf.

Regen trommelte an die Scheiben.

Sie richtete sich im Bett auf und betrachtete die Regentropfen auf der Fensterscheibe. Sie hafteten an ihr, wie angeklebt. Nur ab und zu liefen vereinzelt einige Tropfen herunter. Sie fing an die Regentropfen zu zählen. Es mussten Tausende sein. Plötzlich liefen auch bei ihr die Tränen über die Wangen. Langsam und vereinzelt, wie die Regentropfen an der Fensterscheibe.

Könnten doch so die Blutstropfen aus ihr fließen.

Sie fühlte sich schwach. Was sollte sie nur machen? Warum musste ihr das passieren. Sie wollte schon aufstehen und zum Arzt gehen. Dann ließ sie sich aber wieder nach hinten fallen und entschied sich zu warten.

Sie wollte es einfach nicht wahrhaben.

Langsam wälzte sie sich aus dem Bett.

War das etwa ihr neues Leben?

Neues Leben in ihr?

Sie wischte es mit einer Handbewegung beiseite.

Weg.

Sie musste irgendetwas Sinnvolles tun. Sie wusste aber nicht, mit was sie anfangen sollte.

Was war daran nur so schwer?

Sie kochte sich einen Tee und schaltete das Radio ein. Sie müsse sich unbedingt wieder Arbeit suchen. Sie würde so keinen weiteren Tag verbringen können.

Dann fühlte sie sich auf einmal wieder so verlassen und fremd in eigenen vier Wänden. Mit der Teetasse in der Hand stand sie am Fenster und schaute in das Innere ihrer Wohnung. Ihre Gedanken überschlugen sich.

Sie sah ihren Einzug vor sich, wie sie damals stolz ihre ersten Möbelstücke platziert hatte und wie sie nach und nach alles einrichtete. Und sie sah, wie sie sich hier einigelte, wie sie Schutz suchte in ihren vier Wänden vor der rauen Härte da draußen, die sie nicht ertragen konnte.

Sie ging auf und ab.

Sie sagte sich, dass sie das alles so nicht mehr haben wollte. Ihr wurde bewusst, dass dieser Satz in der letzten Zeit, ihr Leitsatz wurde.

Sie wollte nicht mehr flüchten müssen, sie wollte sich nicht mehr zurückziehen müssen, sie wollte endlich das Leben leben. Ihr wurde mehr und mehr klar, dass sie den Neuanfang wirklich innerlich wollte und dass diese Wohnung dazu nicht mehr passte.

Sie fühlte seit dem Augenblick, als sie hier her zurück kam, eine Enge um sich.

Ich werde hier ausziehen, sagte sie mit fester Stimme.

Jetzt sofort.

Sie machte sich im Bad fertig, packte eine kleine Tasche mit den nötigsten Sachen und verließ ihre Wohnung mit dem Gefühl des Abschieds.

Es tat nicht weh.

 

Sie ging zu Lucas.

Lucas war nicht da. Ameli war froh, dass sie einen Schlüssel hatte. Sie war noch nie ohne Ankündigung zu Lucas gegangen. Sie stellte ihre Tasche im Flur ab und setzte sich in den bequemen Lesesessel am Fenster.

Sie wollte warten.

Sie wusste, dass es spät werden könnte, oder aber auch nicht. Lucas dachte nie an Zeit. Sein ganzes Leben gestaltete er zeitlos, so war es interessanter für ihn. Er nahm alles so, wie es kam. Er fand es schöner, nicht zu wissen, wie der nächste Tag werden würde. Ameli beneidete ihn für diese Lebensweise. Trotz allem legte er eine Verantwortung an den Tag, so dass Ameli immer das Gefühl hatte, bei ihm könne nichts schief laufen und nichts sei dem Zufall überlassen. Es sah dann doch immer alles wie geplant aus.

Wie anders war sie dagegen.

Perfekt kontrolliert

Unberechenbar launisch.

So wollte sie nicht mehr sein. Ihr Leben sollte ein neues Gesicht bekommen.

Wenn da nur nicht dieses eine Hindernis wäre. Unwillkürlich glitten ihre Hände zu ihrem Bauch. Ruckartig stand sie auf und sagte laut: Nein.

Was immer sie damit meinte.

Nein.

Um sich die Zeit zu vertreiben, ging sie durch alle Zimmer. Bei Lucas sah wie immer alles aufgeräumt aus.

Tadellos. Trotzdem strahlten die Räume eine behagliche Wärme aus. Ameli stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie hier einziehen würde. Lucas wünschte sich das ja schon seit mindestens zwei Jahren. Sie wusste es. Aber sie konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie sich beide nach einiger Zeit eingeengt fühlen würden. Sie konnte überhaupt nicht verstehen, dass Lucas bei seiner Lebensführung an so etwas überhaupt dachte.

Sie setzte sich wieder in den Sessel und dachte weiter über eine gemeinsame Wohnung nach. Die Nachteile überwogen eindeutig. Hier konnte sie nicht einziehen.

Niemals.

Sie stand auf und schaute aus dem Fenster. Lucas hatte sich damals für diese Wohnung entschieden, weil er mit diesem Blick Freiheit verspürte. Ihr Blick schweifte über Köln. Er war bedeutungslos. Es war ein Blick aus dem Fenster ohne nachhaltige Wirkung.

Wie anders war das Gefühl in Berlin gewesen. Die Stadt hatte es ihr sofort angetan. Dort fühlte sie sich frei. Glücklich. Sie verspürte Sehnsucht nach Berlin und ein wenig nach ihrer Mutter. Und plötzlich wusste sie ganz genau, was sie wollte und was sie tun musste. Sie wollte wirklich wieder an den Ursprung ihres Lebens zurückkehren. Auch wenn dort alles mit einer Lüge angefangen hatte.

Sie wollte genau dort ihren Neuanfang starten.

Aber wie sollte sie das nur Lucas erklären?

Ihr fiel auf, dass sie ihre Euphorie mit einer einzigen Frage wieder zunichte machen konnte. Typisch Ameli, dachte sie.

Nein, diesmal würde sie nicht wochenlang mit sich hadern, diesmal würde sie ihren spontanen Entschluss sofort in die Tat umsetzen, schwor sie sich. Keine quälenden Fragen mehr.

Sie ging zum Telefon und rief ihre Mutter an.

„Mama, grüß dich. Wie geht es Dir?“

„Gut, Ameli. Ich denke oft an dich. Ich war heute in der Stadt und habe mir ein grünes Kleid gekauft.“

„Da wäre ich gerne dabei gewesen.“

„Ja, das wäre schön gewesen.“

„Berlin fehlt mir.“

„Dann komm doch. Du weißt, bei mir ist Platz. Da musst du nicht fragen.“

Ameli hatte auf diese Antwort gehofft und es machte ihr ihre Entscheidung um vieles leichter. Ihre Mutter gab ihr also grünes Licht.

„Ich weiß, Mama. Vielleicht bin ich ja eher da, als es dir recht ist.“

„Was verschweigst du mir, Ameli?“

„Nichts. Ich will dir keine falschen Hoffnungen machen. Ich melde mich wieder.“

„Grüß Lucas von mir.“

„Mach ich.“

Kaum das Ameli aufgelegt hatte, kam Lucas zur Tür herein.

„Hey, was machst du denn hier. Und mit Tasche? Bleibst du länger? Oder willst du weg?“ In Lucas Gesicht zeichnete sich erst überschwängliche Freude und dann Bedenken ab. Er ging auf Ameli zu und umarmte sie.

„Puh, du musst erst mal unter die Dusche.“

„Ich wollte schnell nach Hause, als wenn ich geahnt hätte, dass du da bist.“ Trotz seines doch sehr herben Schweißgeruchs umarmte er Ameli noch einmal und küsste sie zärtlich. Sie schob ihn sachte in Richtung Bad, blieb aber an seinen Lippen hängen.

„Wir können ja gemeinsam duschen“, nuschelte er in ihre Haare und vor seinen Augen lief schon die prickelnde Szene in der Dusche ab. „Lass mich raten, du kannst nicht mehr, stimmts? Schade, schade. Warum müsst ihr Frauen aber auch so was haben?“ Als Lucas sah, dass Ameli das Bad verließ, fühlte er sich in seiner Vermutung bestätigt.

Die Wahrheit holte Ameli hart auf den Boden der Tatsachen zurück. Verzweifelt stand sie im Flur. Am liebsten hätte sie ihre Tasche geschnappt und wäre davongelaufen. Statt dessen bereitete sie ein paar Sandwiches und eine Schüssel Salat zu und stellte Kerzen auf den Tisch.

„Na, das könnte ich mir für die Zukunft doch immer so vorstellen“, sagte Lucas im Vorbeigehen. Er kam nackt aus dem Bad, um sich neue Sachen aus dem Schlafzimmer zu holen. Amelis Blick blieb an seinem knackigen Po hängen. Am liebsten wäre sie ihm gefolgt, aber die Lüge vom Bad ließ es nicht zu.

Wenig später saßen sie gemeinsam am Tisch.

„Bist du sicher, dass du das in Zukunft so haben willst?“

„Was?“ fragte Lucas ein wenig abwesend.

„Na, das hier. Täglich Abendbrot und eine Frau, die auf dich wartet. Die dir dann aber Vorhaltungen machen würde, weil du ständig unpünktlich bist und dich ständig fragen würde, wann du kommst und wo du gewesen bist. Willst du das wirklich?“

„Ist ja schon gut. Nein das will ich so nicht haben. Aber du hast schon recht, so würde es wahrscheinlich irgendwann mal enden.“

„Lucas, kann ich ein paar Tage hier bleiben?“ Ameli schaute ihn schüchtern an.

Lucas kannte Ameli, wenn sie so schaute, dann war das nur der Anfang von Hiobsbotschaften. Er wappnete sich für den Rest. „Warte, ich hole mir noch eine Flasche Bier. Willst du vielleicht ein Glas Wein?“

Ameli nickte. So hatte sie noch ein wenig Zeit zum Überlegen, wie sie es Lucas schnell, aber schonend beibringen konnte.

Lucas gab ihr einen Kuss, stellte das Glas Wein vor ihr hin und bat sie, zu reden.

Ameli lächelte ihn dankbar an. Er war ein Sonnenschein.

„Du kennst mich ja doch ganz gut. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“

„Fang einfach irgendwo an“, machte ihr Lucas Mut.

„Also gut. Zu Hause habe ich gemerkt, dass das nicht mehr mein zu Hause ist. Ich kann da nicht weiter leben. Ich kündige morgen meinen Mietvertrag.“ Dass sie es so klar und deutlich formulieren konnte, hätte Ameli selbst nicht für möglich gehalten. Aber der Satz fühlte sich schon mal gut an. Sie zweifelte nicht daran. Nun musste sie nur noch den Rest hinkriegen. Sie sah Erstaunen in Lucas Augen.

„Warum das denn?“

Sie erklärte ihm ihre unangenehmen Gefühle seit ihrer Ankunft. Dabei wurde ihr noch einmal klar, dass ihre Entscheidung richtig ist. Lucas hörte aufmerksam zu und versuchte alles zu verstehen. Dass Ameli sich schon Elisa anvertraut hatte, fand er gut. Früher hatte sie ja alles in sich reingefressen und alles mit sich selber ausgemacht. Er betrachtete Ameli genauer. Sie redete sich förmlich in Rage. Ihre Wangen glühten und Lucas wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihm etwas sagen wollte, womit er nicht rechnen würde. Er nahm ihre Hand und drückte sie zärtlich. Auch er brauchte diesen Halt.

„Und nun willst du mich fragen, ob du hier einziehen darfst?“

„Ja. Nein. Also Lucas ich bin selbst überrascht über meinen Entschluss. Gerade jetzt, wo ich doch endlich herausgefunden habe, dass ich dich liebe.“

„Komm Ameli, was willst du mir sagen. Mach es dir nicht so schwer.“ Nun wurde es Lucas doch ein wenig mulmig zu mute. Bei so einer Einleitung war kein gutes Ende in Sicht.

„Also gut, ich möchte nach Berlin ziehen.“

Der Satz platzte in den Raum, wie eine Bombe. Damit hatte Lucas nun wirklich nicht gerechnet.

„Nach Berlin?“ konnte er nur sagen. Tausend Fragen wirbelten durch seinen Kopf, aber er war nicht fähig, auch nur eine zu stellen. Er war froh, dass Ameli auch nichts mehr sagte, so konnte er alles ein wenig auf sich wirken lassen. Er stand auf und schaute aus dem Fenster.

Das mit ihrer Wohnung, konnte er verstehen, keine Frage. Dass sie dann aber nicht zu ihm ziehen wollte, fand er unbegreiflich. Gut, seine Wohnung wäre dazu zu klein. Aber man könnte sich ja eine größere anmieten, wo jeder genug Raum für sich finden würde. Vielleicht sollte er ihr das vorschlagen? Lucas drehte sich zu Ameli um und blickte ihr ins Gesicht. Was er sah, entmutigte ihn sofort. Amelis Entschluss stand fest. Sie machte einen spitzen Mund und das hieß, Widerrede sinnlos. Er wollte es dennoch versuchen.

„Warum so weit weg? Hast du dabei auch an mich gedacht?“ Lucas blieb klar und sachlich. Er hasste endlose Diskussionen.

Genau das liebte Ameli an Lucas. Mit dieser Frage gab er ihr zu verstehen, dass er ihren Entschluss zumindest nicht anzweifelte und das er bereit war, mit ihr darüber zu reden.

Ihr wurde eine klare Frage gestellt.

„Als ich vor wenigen Minuten aus deinem Fenster geschaut habe, sah ich nicht Köln, sondern Berlin vor mir. Glaube mir Lucas, bei diesem Gedanken ist mein Herz aufgegangen. Ich muss es tun. Um ehrlich zu sein, ich habe es schon in Berlin gespürt.“ Ameli strahlte über das ganze Gesicht. „Ich finde dort bestimmt schnell Arbeit und die erste Zeit kann ich ja bei meiner Mutter wohnen, bis ich was nettes für mich gefunden habe.“

„Willst du nach Berlin oder willst du zu deiner Mutter?“

„Das weiß ich selber nicht so genau. Vielleicht beides? Elisa meint, ich will zu meiner Mutter.“

„Und ich? Welche Rolle werde ich dann für dich spielen?“

„Liebst du mich“, fragte Ameli zurück.

„Mehr denn je. Das weißt du doch.“

„Ich liebe dich auch, Lucas. Wir werden das schaffen. Unsere Liebe wird das aushalten. Wir haben beide ein Auto, es gibt Flugzeuge und Züge und es gibt Urlaub. Versteh Lucas, ich muss es tun. Ich muss es für mich tun. Ich kann nicht hier bleiben. Es hat nichts mit dir zu tun.“ Liebevoll blickte Ameli Lucas in die Augen. „Ich weiß, es wird eine große Herausforderung für uns werden. Aber wir schaffen das. Sieh es positiv. Du arbeitest viel und ich bin nicht anders. Und dann freuen wir uns immer auf unser Wiedersehen. Wir werden eine ständige Vorfreude auf uns haben. Schon beim Abschied freuen wir uns wieder auf das Wiedersehen.“

Lucas musste lachen. „Und du meinst, das funktioniert so?“

„Na klar.“

„Ich sehe, du hast schon alles bis ins kleinste Detail durchgespielt und geplant. Weiß deine Mutter schon davon?“

„So halb.“

„Dann müssen wir es wohl versuchen.“

„Danke Lucas. Mit dir im Rücken fühle ich mich stark. Dieser Neuanfang ist verdammt wichtig für mich. Ich möchte, dass du dabei bist.“

„Ich bin dabei.“

Ameli war gerührt. Sie musste weinen. Lucas nahm sie in den Arm. Sie fühlte sich geborgen und sicher in seinen Armen. Das erst mal. Die Liebe war für beide greifbar nahe. Sie blieben lange so stehen und genossen das Gefühl der Zweisamkeit.

Wir.

Damit war alles gesagt. Ameli würde handeln. Die Stunden des Abschieds waren somit gezählt.

 

Als sich Ameli im Bad fertig machte, kam wieder ihr Problem zurück. Sie hatte es die ganze Zeit unterdrückt und sogar für einen Moment total vergessen. Aber nun war es wieder da. Sie stöhnte auf und betete zu Gott, dass alles nicht wahr sein möge.

Sie sehnte sich so sehr nach Blut.

Lucas lag schon im Bett und schaute sich ein paar Zeitschriften an. Er legte sie schnell weg und nahm Ameli in seine Arme. Sie kuschelte sich eng an ihn und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Sie konnte ihm nicht in die Augen schauen. Da lag sie nun neben ihm und wusste nicht, ob sie schwanger war, oder nicht. Aber eines wusste sie ganz sicher, Lucas wäre nicht der Vater.

Irgendwie kam ihr die ganze Geschichte bekannt vor. Aber sie hatte noch keine absolute Gewissheit. Es gab noch keine Wahrheit und ohne diese Wahrheit konnte es auch noch keine Lüge geben. Die einzige Lüge bis hierhin war diese, dachte Ameli, dass Lucas davon ausging, dass er heute nicht mit ihr schlafen konnte.

Ihr Verlangen nach ihm war unglaublich stark und sie dachte sie müsse innerlich verbrennen.

Sie wollte ihn lieben. Das konnte sie tun. Aber sie wollte auch geliebt werden. Das ließ ihre Lüge jedoch nicht zu.

Ihre Hände glitten an Lucas Körper auf und ab. Sie tat hingebungsvoll alles für ihn.

Sie lagen danach beide noch lange wach nebeneinander, jeder in seinen Gedanken versunken.

Lucas wusste, um ehrlich zu sein, nicht so recht, was er von der ganzen Sache mit Berlin halten sollte. Es ging ihm nicht aus den Kopf. Letztendlich würde sich nicht viel ändern, nur die Zeitabstände zwischen ihren Besuchen würden wesentlich größer werden. So gesehen könnte man sagen, sie hätten ja schon geübt. Trotzdem war es etwas ganz anderes. Bis jetzt hatte er immer das Gefühl, dass Ameli in seiner Nähe war, auch wenn sie sich nicht jeden Tag sahen. Sie war aber da. Und nun würde sie in Berlin sein, Hunderte Kilometer entfernt. Da konnte man sich nicht eben mal schnell treffen. Da war jegliche Spontanität weg. Alles musste geplant werden. Lucas wusste schon jetzt, dass er das hassen würde. Andererseits war auch er von Berlin fasziniert. Die Stadt hatte auch ihm gefallen. Vielleicht sollte er ihr folgen, wenn es nicht so funktionieren würde, wie sie es sich gedacht hatten? Er war ungebunden, er war sein eigener Mann. Er könnte auch in Berlin seine beruflichen Interessen verwirklichen. Mit diesen dann doch beruhigenden Gedanken schlief er endlich nach dem langen Tag ein.

 

***

Mittwoch

 

Als er morgens aufwachte, hörte er schon, wie Ameli in der Küche hantierte. Sie fluchte, weil er die Kaffeemaschine vom Vortag nicht sauber gemacht hatte. Lucas verdrehte die Augen. So wollte er nun wirklich nicht geweckt werden. Da war ihm sein morgendliches Alleinsein angenehmer.

„Ameli, geht es noch lauter?“ rief er wütend aus dem Schlafzimmer.

Sie klappte daraufhin nur die Tür zu und wetterte weiter. Schließlich hatte sie aber alles fertig und holte Lucas zum Frühstück.

„Da war ich wohl ein bisschen zu laut, hm?“ Sie stand schön wie immer in der Tür und Lucas konnte ihr nicht mehr böse sein. Er sprang mit einem Satz aus dem Bett und machte sich schnell fertig.

„Also, ich frage dich jetzt noch einmal offiziell, ob ich bis zu meinem Abflug nach Berlin bei dir wohnen darf.“

„Aber klar doch. Du darfst nur nicht so laut und oft meckern, wie eben.“

„Oh, das war nur eine kleine Kostprobe. Du wirst erschrocken sein, wie übellaunig ich sein kann.“

„Du willst also wirklich nicht mehr in deine Wohnung? Auch nicht mehr zum Schlafen?“

„Nein. Ich habe mich entschieden. Ich fange so nach und nach an, alles wegzuschmeißen, zu verkaufen und einzupacken. Noch drei Monate Miete zahlen.“

„Das geht aber fix.“

„Lucas, du weißt, wenn ich einmal was will, dann kann es nicht schnell genug gehen.“

„Ich sehe bei dir nur unglaubliche Freude und Eifer.“ Lucas schaute Ameli tief in die Augen.

„Ich weiß, was du meinst. Lucas, ich bin genauso traurig, wie du. Aber hier geht es nicht um unsere Liebe, hier geht es um mein Leben. Unsere Liebe wird stark genug sein, glaube mir. Unsere Liebe können wir überall leben. Aber mein Leben kann ich hier nicht mehr leben. Das hängt nicht von der Wohnung ab, das hängt von dem Ort ab. Hier drinnen“, Ameli klopfte mit der rechten Hand auf ihr Herz, „ist die Entscheidung gefallen. Ich kann und will mich nicht dagegen wehren. Denn ich weiß, wenn ich es nicht tun würde, würde ich es später bitter bereuen. Ich weiß, mein Leben fing dort mit einer gewaltigen Lüge an, aber ich muss an meinen Ursprung zurückkehren. Kannst du das verstehen?“

„Ich glaube schon. Aber es fällt mir verdammt schwer.“

„Was meinst du, können wir nächstes Wochenende nach Berlin fahren?“

„Da muss ich dich leider enttäuschen. Da ist hier die größte Sportmesse des Jahres. Ich habe mich schon im Sommer angemeldet und bin froh, dass ich einen eigenen Stand bekommen habe. Übrigens sind auch viele Berliner da. Ich kann ja mal versuchen ein paar Kontakte zu knüpfen. Entweder du fährst alleine oder wir fahren später. Das musst du für dich entscheiden.“

„Ja stimmt. Davon hast du ja schon viel erzählt.“ Ameli knabberte an ihrem Brötchen. „Bist du mir böse, wenn ich alleine fahre?“ Sie wusste genau, dass Lucas sich gefreut hätte, wenn sie vorbeigekommen wäre. Das war seine Chance, sich neben den Großen in der Branche einen Namen zu machen. Wann immer es ihr möglich gewesen war, zeigte sie Interesse an seiner Arbeit.

„Ich müsste schwindeln, wenn ich nein sagen würde. Aber ich weiß, dass dir deine Sache wichtiger ist. Wenn es dir eine Hilfe ist, ich würde nicht anders entscheiden.“

Ameli lächelte Lucas zufrieden an.

Das war genau das, was beide so unzertrennlich machte. Beide hätten nie gewollt, dass der andere dem anderen zu Liebe etwas tat, was er nicht wollte. Sie taten beide immer alles aus freien Stücken. Ameli wurde bewusst, dass ihre Liebe gerade dadurch echt und tief geworden ist.

„Danke Lucas.“

„Kann ich dir heute irgendwie helfen in deiner Wohnung. Ich habe erst am frühen Nachmittag meine ersten Stunden und heute Abend noch zwei Kurse. Also, wir hätten jetzt noch etwas Zeit.“

Sie gingen beide zu ihrer Wohnung.

 

Im Treppenflur bekam Ameli eiskalte Hände und sie drückte fest Lucas Hand. Er merkte es und wusste nun, was Ameli meinte, als sie sagte, sie könne hier nicht mehr wohnen. Er wollte es erst nicht so recht glauben, aber nun sah er ihr Leid und sie fand seine volle Unterstützung. Er nickte ihr aufmunternd zu und gab ihr zu erkennen, dass er bei ihr war. Das war unheimlich wichtig für Ameli. Sie gab ihm einen Kuss. Sie mussten nicht darüber reden.

Sie inspizierten die Wohnung und entschieden sich, welche Möbelstücke zum Verkauf waren, welche zu Lucas in die Wohnung passten und welche Ameli unbedingt mit nach Berlin nehmen wollte. Davon gab es nicht viele und auch nur kleine Stücke, die ins Auto passten.

„Nur gut, dass bei mir alles so schön übersichtlich ist. Dann packe ich noch schnell meinen Ordner mit meinen Unterlagen ein und dann können wir schon wieder verschwinden.“

„Vergiss nicht deinen Laptop. Hat dir Chris eigentlich die Bilder gemailt?“

„Ja, kann ich dir heute Abend zeigen. Sind super geworden. So, dann lass uns gehen.“

Lucas merkte, dass Ameli schnell wieder weg wollte. Ihm wurde bewusst, dass sie wirklich mit einem Abschnitt in ihrem Leben abgeschlossen hatte. Sie wollte alles hinter sich lassen.

Nur ihn wollte sie mitnehmen.

Er war glücklich.

„Ja, lass uns gehen.“

 

Sie nahmen unten an der Ecke einen kleinen Imbiss und gingen wieder zu Lucas. Viel Zeit hatte er nicht mehr. Nachdem er seine Sporttasche gepackt hatte, musste er auch schon los.

„Mach dir einen schönen Nachmittag. Ich werde gegen zehn wieder da sein, aber du musst nicht warten. Du weißt ja, alles kann anders werden.“

Ameli musste lächeln. Wie könnte man mit so einem Mann nur zusammen wohnen? Täglich unterschiedliche Zeitpläne, ständig im Kommen und Gehen. Darauf könnte sie sich nicht einstellen. Sie hätte ständig das Gefühl immer auf diesen Mann warten zu müssen. Nach einer gewissen Zeit würde sie alles satt haben, da war sie sich sicher.

„Ja, bis irgendwann. Warte auch nicht auf mich.“

„Willst du noch weg?“

„Nein, mein Schatz, ich warte auf dich.“

„Wie nun?“

Ameli schubste Lucas in Richtung Tür und lachte nur.

 

***

Tage später

 

Die nächsten Tage war sie damit beschäftigt, ihre Wohnung für die Abgabe her zu richten. Am meisten ärgerte sie sich darüber, dass sie noch drei Mieten bezahlen musste.

Sie blutete immer noch nicht.

Im Internet recherchierte sie den Berliner Wohnungsmarkt. Eine Wohnung zu finden, war in Berlin kein Problem. Sie wollte aber erst direkt in Berlin damit anfangen. Sie wollte durch die Stadt gehen und ihr Gefühl sollte sie an den richtigen Ort führen. Sie war schließlich nicht in Zeitnot. Sie konnte sich vorstellen, dass ihre Mutter sie gerne so lange wie möglich bei sich haben wollte.

Das größere Problem war die Arbeitssuche. Darauf musste sie sich als erstes konzentrieren. So richtig wusste sie noch nicht, was ihr vorschwebte.

Wollte sie wieder in einem Reisebüro arbeiten? Oder sollte sie etwas anderes ausprobieren?

Sie stellte ihre Bewerbungsunterlagen zusammen. Damit konnte sie ja schon mal anfangen. Das war alles ziemlich zeitaufwendig und des Öfteren verlor Ameli einfach die Lust weiter zu machen. Lucas fing an zu nerven. Ameli hasste es, wenn ihr jemand reinredete. Sie hatte ihr Ziel vor Augen und würde es schon erreichen.

Irgendwann.

Eben nicht sofort. Und schon gar nicht, wenn es ein anderer ihr vorschrieb. Auch wenn es ihr Freund war.

„Was passt dir denn nicht an meiner Arbeitsweise, hm“, fauchte sie ihn schließlich an.

„Ameli, seit drei Tagen friemelst du an deiner Bewerbung rum. Was ist denn daran so schwer?“

„Ich bin mir eben noch nicht ganz sicher. Das ist noch nicht perfekt. Mir fehlt noch das gewisse etwas, sozusagen. Und außerdem fehlt mir noch der Ansprechpartner. Das ist alles noch zu früh. Ich lass das jetzt sein. Punkt aus Ende. Und du lass mich auch in Ruhe.“ Damit schob sie ihren Laptop mit grimmiger Miene beiseite. „Siehst du, nach ein paar Tagen fangen wir schon an, uns auf die Nerven zu gehen. Du engst mich ein. Ich fühle mich ständig beobachtet und ich kann nichts machen, ohne dass du irgendeinen Kommentar abgibst.“

„Fertig?“

„Fertig.“

Sie mussten beide lachen.

„Schau, Ameli, Einzelgänger haben es immer schwer und sind sehr empfindlich. Lass mal gut sein. Zumindest dürften wir damit beide wissen, wie der andere fühlt und denkt. Aber ich habe keine Lust, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen.“

„Nein, sollst du ja auch nicht. Aber du musst eben auch damit rechnen, dass ich dich ab und zu mal anraunze. Es ist ja auch nicht so gemeint.“

„Hm, bei mir ist es auch nicht immer so gemeint“, erwiderte Lucas mit Lachen in der Stimme.

„Na, das ist doch prima. Damit kann man doch leben. Wir sagen ständig was, was nicht so gemeint ist und gehen davon aus, dass der andere es versteht. Alles klar?“ Ameli klatsche vor Vergnügen in die Hände.

„Alles klar.“

Die zwei verstanden sich für den Augenblick.

 

***

Zwei Tage später

 

„Übrigens ich fahre übermorgen nach Berlin. Ich habe schon alles mit meiner Mutter abgesprochen. Ich werde mich auch trauen und mit dem Auto fahren.“

„Das ist aber mutig“, stellte Lucas fest.

„Na, ich brauch doch nur den Weg zurückzufahren, den wir letztens hergekommen sind. Das werde ich doch wohl hinkriegen.“

„Dazu sage ich mal nichts. Aber wenn du noch Fragen hast, dann frag mich.“ Lucas hatte keine Zweifel an Amelis Fahrkünsten. In der Stadt war sie ein Fahrgenie. Aber ihre Autobahnerfahrungen waren gleich Null. Aber warum sollte sie das nicht meistern, dachte er sich. Er wollte sie keineswegs unsicher machen.

 

***

Freitag

 

Ameli hatte eine unruhige Nacht.

Sie träumte von roter Grütze.

Es war eklig. Überall um sie herum war dieser widerliche Schleim. Er klebte an ihr und sie wehrte sich mit Händen und Füßen. Sie versuchte sich von ihm zu befreien, aber es kam immer mehr. Sie drohte daran zu ersticken. Als er ihr am Hals hochkroch und sich langsam ihr Mund zu füllen begann, wollte sie schreien.

Es kam nur ein kläglicher Laut aus ihr heraus, wovon Lucas erwachte. Er schüttelte Ameli ganz sanft. Sie schlug die Augen auf und stellte erleichtert fest, dass sie im Bett lag.

„Oh, ich dachte schon ich muss in roter Grütze ersticken“, hauchte sie leise. Völlig erschlafft, Arme und Beine von sich gestreckt, lag sie da.

„Das hast du nun wirklich nicht verdient“, gab Lucas von sich.

„Nein?“ Ihre Stimme klang erwartungsvoll mit einem Hauch von Lust auf Überraschung. Lucas hörte es sofort heraus. Als er sah, dass Ameli einfach so breit aufgefächert liegen blieb und die Augen geschlossen hielt, hauchte er ihr ins Ohr.

„Ich mag rote Grütze.“

„Sie ist überall.“

„Das dachte ich mir schon.“

„Lass dir Zeit, es ist genug da.“

Ameli ließ sich lieben, gab sich den Liebkosungen hin. Sie blieb passiv und quälte Lucas damit. Sie wollte als erste und alleine kommen. Sie wusste, dass sie für den Moment egoistisch war und dass Lucas es so nicht verdient hatte. Aber genau in diesem Augenblick, wollte sie es sein. Als sie bekommen hatte, was sie wollte, schaute sie ihm dankbar in die Augen. Sie sah aber auch seinen fragenden Blick, der ihr sagte, dass er damit nicht zufrieden war. Wie konnte er nur denken, dass sie so gemein wäre, dachte sie belustigt.

Sie holte sich seinen Saft.

 

***

Hinterher, als Lucas bereits in der Dusche war, dachte Ameli noch einmal über ihr Verhalten nach.

Erst Ich dann Du, fiel ihr dazu spontan ein. Da war es wieder, ihr Gefühl, immer zu kurz zu kommen. Ameli schwor sich, dass Lucas darunter nie mehr leiden sollte.

Sie musste lernen gemeinsam zu teilen.

Sie wollte es doch.

 

Nach dem Frühstück begann ihre erste große Autofahrt.

Ameli war aufgeregt, aber auch froh, dass sie alleine fuhr. So konnte sie alles so machen, wie sie es für richtig hielt. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass alles klappen würde. Sie würde vielleicht etwas länger brauchen, oder sich gar verfahren, aber das sollte ja wohl nicht so schlimm sein.

„Sag einfach nur schnell Tschüss und nicht mehr“, ermahnte sie Lucas, als sie sah, dass er zu einer großen Rede ansetzen wollte. „Ich melde mich erst, wenn ich da bin. Wage nicht, mich vorher anzurufen, ok? Du könntest mir sowieso nicht helfen. Und im Auto gehe ich auch nicht ans Handy.“

„Dann lass dich umarmen und sag deiner Mutter einen schönen Gruß. Und, viel Erfolg bei deinem Sportevent“, fügte er lakonisch hinten an.

„Oh, man Lucas. Das habe ich ja ganz vergessen. Ja, viel Erfolg.“ Sie umarmten sich innig und gaben sich einen flüchtigen Kuss zum Abschied.

Die Tür fiel ins Schloss.

 

Nach drei Stunden Fahrt, fragte sich Ameli, warum sie vorher überhaupt nervös war. Es lief alles bestens, bis auf ein paar Spinner und Raser, die es auch in der Stadt gab. Zugegeben, sie fuhr lieber auf der rechten Spur, schließlich musste sie ja auch ihren Zweck erfüllen, dachte sie heiter.

Sie hatte außerdem Zeit.

Ameli summte in ihrem Auto die Songs mit und wurde immer entspannter. Auf dem Berliner Ring wurde es allerdings ziemlich voll und Ameli verlor bei den vielen Auf- und Abfahrten langsam den Überblick. Sie dachte schon, sie hätte sich verfahren. Die Fahrerei in der Stadt war doch angenehmer.

Sie war nicht in Gedanken, sie fuhr konzentriert und angepasst. Sie merkte, dass es immer langsamer wurde und sie drosselte ihr Tempo.

Dann ging alles rasant.

Ihr schien es, als wenn das Auto vor ihr plötzlich stehen bleiben würde. Sie dachte nur noch, bremsen.... bremsen... bremsen. Ausweichen war nicht mehr.

Sie bekam ihr Auto noch rechtzeitig zum Stillstand, ohne aufzufahren. Sie wollte gerade tief durchatmen, als ein heftiger Druck sie nach vorne wirbelte.

Ihr Hintermann war nicht so gut wie sie beim Bremsen.

Sie wurde mit einer unglaublichen Wucht an ihr Lenkrad gedrückt und dann fiel sie wieder zurück in ihren Sitz. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall und mehrere Auto rasten an ihr vorbei.

Dann war es auf einmal still.

Ameli hatte immer noch beide Hände am Lenkrad. Sie fühlte keinen Schmerz. Sie schaute nach vorne und sah, wie Leute blutverschmiert aus den Autos vor ihr krochen.

Ameli berührte langsam, wie in Zeitlupe, ihr Gesicht und schaute dann auf ihre Hände.

Kein Blut.

Sie wagte kaum zu atmen.

Dann fingen ihre Hände an zu zittern. Sie wollte irgendwie schreien, konnte aber nicht.

Wozu auch?

Plötzlich krampfte sich ihr Bauch zusammen und ein heißer Schwall ergoss sich zwischen ihren Beinen. Ihre helle Hose färbte sich rot. Ameli starrte voller Entsetzen an sich herunter. Sie musste an ihren Traum denken.

Rote Grütze.

Sie sah Blut und es fühlte sich wie ekliger klebriger Schleim an. Ihr wurde schlecht.

Das war mehr als normales Monatsblut.

Nicht nur ein paar Tropfen.

So konnte sie auf keinen Fall aussteigen, schoss es ihr schlagartig durch den Kopf. Was sollten die Leute denken? Blutige Hose.

Dann wurde auch schon ihre Autotür aufgerissen. Eine Frau fragte, ob sie verletzt sei.

„Ich habe mein Kind verloren“, antwortete Ameli ganz leise. Dann sackte sie aufs Lenkrad und schloss die Augen. Sie dankte im Stillen Gott, dass er sich das geholt hatte, was nicht werden sollte. Die ärztliche Untersuchung bestätigte später Amelis Verdacht. Sie war erleichtert.

Ihr wurde die Entscheidung ihres Lebens abgenommen.

Eine Wahrheit wurde nicht zur Wahrheit und nicht zur Lüge.

Keines von beiden wäre ihr recht gewesen.

 

***

8 Monate später

Juni

 

Ameli saß im Park. Sie hatte ein schattiges Plätzchen mit Blick auf den kleinen See ausgesucht. Es war schwer noch eine freie Bank zu finden. Die Sonne schien warm und eine Entenfamilie schwamm auf dem See friedlich ihre Runden. Das Buch auf ihrem Schoß war zugeklappt. Heute hatte sie nur vier Seiten geschafft, dann war ihre Mutter neben ihr im Rollstuhl eingeschlafen. Sie wurde von Tag zu Tag schwächer und die Ärzte gaben ihr nicht mehr viel Zeit. Das Wachstum des viel zu spät entdeckten Tumors in ihrem Kopf ließ sich nicht mehr aufhalten und eine Operation kam nicht mehr in Frage.

Seit 7 Wochen war sie nun im Hospiz.

Ihre Mutter schien im Schlaf zu lächeln. Ameli bedachte sie mit einem liebevollen Blick und die Tränen liefen ihr übers Gesicht.

 

Sie erinnerte sich an ihre Ankunft in Berlin.

Es fing mit einem Unfall an, bei dem sie ihr Kind verloren hatte. Sie beschloss für sich, dass es dieses Kind nie gegeben hatte. Es fiel ihr nicht schwer, das zu glauben. Noch gab es die dunklen Ecken in ihrem Körper. Sie wollte zum letzten mal etwas in sich verschließen.

Sie machte ihrer Mutter gleich am ersten Tag klar, dass sie beide für die Vergangenheit genug gelitten hätten. Sie wollten beide gemeinsam wieder anfangen zu leben.

Sie taten es.

Für Ameli war jeder Tag, wie ein Kindergeburtstag. Sie blühte an der Seite ihrer Mutter auf und zog ihre Mutter mit in das pulsierende Leben. Sie hatten beide ihren Spaß und lernten wieder zu lachen und zu genießen.

Sie hatten es verdient.

Lucas bemerkte mit Freude Amelis Veränderung, auch wenn es ihn schmerzte, sie nicht mehr so oft zu sehen.

Manchmal überkam ihn Eifersucht.

Eifersucht auf Amelis Mutter.

Aber nur manchmal.

Ameli schien recht zu haben, ihre Liebe war stark.

Beide zweifelten nicht daran.

 

Anfang des Jahres hatte Ameli endlich wieder eine Arbeit gefunden. Obwohl sie eigentlich etwas anderes ausprobieren wollte, fing sie doch wieder in einem Reisebüro an. Das schien ihr für den Zeitpunkt einfacher. Sie brauchte nur ihr Wissen zu nutzen. Sie musste sich eingestehen, dass sie für einen völlig neuen Start noch nicht die Kraft hatte. Ihr Hinterkopf sagte ihr, dass sie auch den Mut dazu nicht hatte. Vielleicht später.

Auf Wunsch ihrer Mutter suchte sie sich noch keine neue Wohnung.

Alles verlief prächtig und Ameli beneidete sich fast selbst vor so viel Glück.

Dann fingen die Schwindelanfälle ihrer Mutter an. Sie nahmen sie beide nicht allzu ernst. Schließlich hatte sich ihr Leben drastisch verändert. Von einem Mauerblümchendasein zurück in ein pralles Leben, erforderte viel Lebensenergie. Das musste schwindelerregend sein.

Doch dann fing sie an, unkontrolliert zu zittern und sie hatte Sprach- und Sehstörungen. Sie versuchte es Ameli zu verschweigen. Sie hatte Angst.

Aber es kam immer öfter vor und es blieb Ameli nicht mehr verborgen. Sie machte sich große Sorgen und schickte ihre Mutter zum Arzt.

Die Diagnose war erschütternd.

Bösartiger Hirntumor.

Für Ameli brach eine Welt zusammen. Sie kündigte sofort wieder ihre Arbeit. Sie wollte jede Minute bei ihrer Mutter sein.

Auch Lucas war verzweifelt. Er wollte Ameli helfen, aber Ameli nahm seine Hilfe nicht an. Sie telefonierten jeden Tag. Ameli weinte oft und Lucas weinte still mit.

Sie wollte nicht, dass er nach Berlin kam.

Sie wollte die letzte Zeit nur mit ihrer Mutter teilen, das müsse er verstehen. Sie hatten schließlich noch das ganze Leben vor sich.

Lucas verstand.

Er musste.

Er wollte sich nicht dazwischen drängen, wenn es Ameli nicht wollte. Ameli versicherte ihm, dass sie sich von ihm gehalten fühle. Das war mehr als genug.

 

So schnell vertauschten sich die Rollen. Ameli wurde Mutter ihrer eigenen Mutter. Sie spielte keine Rolle, sie nahm ihre Rolle an. Ernsthaft.

Der Zustand ihrer Mutter wurde immer instabiler. Es gab Tage, wo alles in Ordnung schien und es gab Tage, wo nichts so war, wie es sein sollte.

Ihre Mutter hatte es als Kind gut bei ihr. Ameli legte ihr ihre ganze Liebe und Wärme zu Füßen. Sie versuchte ihrer Mutter das zu geben, was sie sich als Kind von ihr gewünscht hatte. Diese Wünsche hatten sich in ihr Hirn gebrannt.

Sie brachte ihr täglich den Sonnenschein, den sie haben wollte. Liebevoll strich sie ihr übers Haar, lächelte ihr bei jeder Gelegenheit zu, nahm sie an die Hand, las ihr Geschichten vor, deckte sie zu und brachte sie abends ins Bett. Sie sorgte und kümmerte sich bis zur Erschöpfung um ihre Mutter.

Ameli fühlte diese Erschöpfung, wollte sie aber nicht zulassen. Jedes kleine Lächeln, was sie zurückbekam, jeder zarte Händedruck , den sie fühlte, gaben ihr Mut und Kraft.

Sie verdrängte das Unausweichliche.

Im Verdrängen war sie Spitze.

Sie stand mit einer unglaublichen Stärke ihrer Mutter zur Seite.

 

Durch ein leises Schnaufen wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Sofort blickte sie zu ihrer Mutter. Ihr Kopf hing zur rechten Seite und ein kleiner Sabberfaden lief ihr aus dem Mund.

„Lies weiter, Ameli. Hoffentlich schaffen wir es noch.“

„Mama, sag doch nicht so etwas.“ Ameli wischte ihrer Mutter das Gesicht trocken und fing wieder an zu lesen. Ihre Kehle war zugeschnürt. Sie musste hart mit sich kämpfen. Aber bereits nach zwei Seiten schlief ihre Mutter schon wieder.

Ameli war verzweifelt. Die Wachzeiten wurden immer kürzer. Sie entschloss sich, noch eine Runde durch den Park zu drehen. Es fiel ihr immer schwerer, diese Runden zu drehen. Familien, die sie gestern noch gesehen hatte, waren plötzlich nicht mehr da.

Es würde der Tag kommen, dann würde man auch sie hier nicht mehr sehen.

Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie hatte sich längst abgewöhnt heimlich zu weinen, sie schämte sich ihrer Tränen nicht.

Sie brachte ihre Mutter ins Zimmer. Wie sie vermutet hatte, wollte ihre Mutter nichts mehr essen. Sie machte sie noch fürs Bett fertig und blieb noch so lange bis sie wieder eingeschlafen war.

Dann musste sie sich auch schon wieder beeilen, dass sie pünktlich zu ihrer Spätschicht kam.

 

Seit ihre Mutter im Hospiz war, arbeitete Ameli in einem Nachtclub.

Um die einsamen Nächte zu ertragen, wählte sie nicht Lucas sondern Arbeit. Durch die Arbeit im kleinen Nachtclub gleich um die Ecke, tauchte Ameli in eine andere Welt ab. Hier legte sie ein anderes Gesicht auf, war sie ein anderer Mensch. Sie bediente freundlich fremde Leute und legte für ein paar Stunden ihre Traurigkeit am Eingang ab.

Alles schien vergessen.

Für ein paar Stunden.

Sie schaltete komplett ab und war dankbar, dass sie diese Gabe besaß.

Sie wusste, dass sie genau das, mit Lucas an ihrer Seite, nicht erreichen konnte. Und genau deswegen durfte Lucas jetzt nicht bei ihr sein. Mit Lucas würde sie weiter über ihre Mutter reden. Leiden. Sie würden beide leiden. All diese fremden Leute hatten jedoch den Vorteil, dass sie nichts von ihr wussten und sie ihnen nichts erzählen musste. Und das war genau das, was sie brauchte.

Sie nutzte die Zeit um zu vergessen, sie nutzte die Zeit um sich zu regenerieren. Sie musste ein Niemand im Niemandsland sein. Nur so konnte sie Kraft tanken, die sie für ihre Mutter brauchte.

Lucas wusste Bescheid darüber. Er konnte es schwer akzeptieren. Er hätte gerne mit Ameli geteilt.

Aber Ameli teilte ihr Leben mit ihrer Mutter. Es war schwer genug. Mehr konnte sie nicht teilen. Es war ihr nicht möglich. Sie wusste, dass sich Lucas trotz Verständnis ausgeschlossen fühlen musste.

Es war nicht ihre Absicht.

Sie glaubte an seine Liebe.

Lucas glaubte an ihre Liebe.

Er gab ihr die Zeit.

Sie nahm sich die Zeit.

 

Als Ameli erschöpft nach ihrer Nachtschicht nach Hause kam, fand sie wieder eine Postkarte im Briefkasten.

Fußspuren im Sand.

Sie musste lächeln.

Im März, zu ihrem Geburtstag kam die erste leere Postkarte. Sie erkannte Elisas Handschrift und sie erkannte in dem Motiv den Blick für das Wunderbare von Chris. Nach einem Anruf erfuhr sie, dass die Postkarte tatsächlich ein Produkt von Chris war. Seitdem bekam sie des Öfteren leere Postkarten von Chris über Elisa. Ameli bewunderte nach wie vor seine Motive.

Elisa war mittlerweile erfolgreich in die Zweigniederlassung eingestiegen und verbrachte fast jedes Wochenende im Haus am Meer.

Als sie nun die Karte zu den anderen legen wollte, fiel sie ihr aus der Hand. Diesmal stand etwas auf der Rückseite. Liebe Grüße von Elisa und Chris.

Ameli wusste erst gar nicht, was sie davon halten sollte. Aber dann ging ihr ein Licht auf. Fußspuren im Sand. Von rechts und von links.

Sie hatten sich wohl gefunden.

Trotz ihrer tiefen Traurigkeit konnte sie sich für ihre Freundin und für Chris freuen. Das hieß, schlussfolgerte sie schnell, dass er über sie hinweggekommen war. Obwohl Ameli sehr müde und geschafft war, schickte sie Chris eine Mail.

Sie schrieb wieder nur das eine Wort.

Danke.

Sie war sich sicher, dass Chris diese Antwort dankend zur Kenntnis nahm.

Vielleicht konnten sie ja doch noch Freunde werden.

Bleiben.

Sie schlief diese Nacht tief und fest.

 

 

Wenige Tage später

 

Bevor sie zu ihrer Mutter fuhr, telefonierte sie wie jeden Tag mit Lucas. Sie hatten eine feste Telefonzeit. Sie sprach nur wenig über ihre Mutter. Sie hielt ihn lediglich auf dem Laufenden. Viel lieber wollte sie mit Lucas in der kurzen Zeit die andere Seite des Lebens teilen. Sie ließ sich von seiner Arbeit berichten, wollte wissen was er aß, wie er geschlafen hatte, wie das Wetter war und was er in seiner freien Zeit machte. Sie hörte ihm zu und ließ sich von seiner Stimme berauschen. Es musste reichen bis zum nächsten Tag. Sie war sich bewusst, dass sie Lucas viel abverlangte. Sie flehte ihn an, dass er ihr verzeihen möge.

Lucas drängelte erneut, dass er gerne kommen würde und ihr mehr Beistand geben wollte.

Ameli lehnte erneut ab und bat ihn, nie wieder davon anzufangen.

Auf dem Weg zum Hospiz hatte Ameli Lucas gegenüber ein schlechtes Gewissen. Vielleicht sollte sie nicht so hart zu ihm sein. Sie hatten sich jetzt fast drei Monate nicht gesehen. Ameli merkte, dass sie immer schwächer wurde und seiner Hilfe eigentlich bedurfte. Sie wollte ihm aber nicht schwach in die Arme fallen und sie wollte nicht, dass er sie andauernd weinen sah. Wenn sie ein Paar gewesen wären, ein unzertrennliches Paar, dass sich täglich an den Händen hält, dann, so sagte sie sich, wäre es etwas anderes. Dann müssten sie das gemeinsam leben und gemeinsam durchstehen.

Aber ihre Situation war eine andere.

Sie waren nicht so ein Paar.

Zum anderen fand Ameli nach wie vor, dass ihre Mutter nicht in Lucas Leben gehörte. Jetzt so kurz vor ihrem Tod erst recht nicht.

Es war ihre Mutter.

Gefunden.

 

Ihre Mutter schlief noch, als sie im Hospiz ankam. Sonst war sie schon immer wach und wartete ungeduldig auf Ameli.

Ameli setzte sich ans Bett und betrachtete ihr Gesicht. Auch heute sah sie wieder friedlich aus im Schlaf, als wenn ihre Krankengeschichte nicht wahr wäre, als wenn sie nie Schmerzen verspürte. Sie klagte auch nie.

Ameli wusste nicht genau, ob sie es vor ihr verborgen hielt oder ob die Medikamente bereits so stark waren, dass sie keine Schmerzen fühlen musste.

Warum muss uns das passieren?

Mama.

Liebevoll strich sie ihr über den Kopf.

Diese Frage stellte sie sich fast täglich.

Warum?

Sie wollte doch einfach nur mit ihrer Mutter leben.

Schief gelaufenes Leben nachholen. Sie konnte nicht verstehen, warum man es ihr verwehrte.

Sie weinte.

Sie weinte wie ein Kind.

Sie weinte damals nie als Kind.

Sie träumte damals lieber.

Ameli wusste, dass ihr jetzt kein Traum helfen würde.

Sie hielt die Hand ihrer Mutter. Sie fühlte sich warm an. Endlich wachte sie auf. Ihre Augen waren glasig. Sie schaute durch Ameli hindurch und ließ sich von ihr wie ein kleines Kind anziehen. Frühstücken wollte sie nicht, sie meinte, dass sie schon gegessen hätte.

Ameli wurde es schwer ums Herz. Es kam immer öfter vor, dass ihre Mutter die Zeit verwechselte.

Sie wollte raus an den See und wollte weiter vorgelesen bekommen. Die Zeit dränge.

Ameli schob den Rollstuhl vor sich her und weinte im Rücken ihrer Mutter bittere Tränen. Eine Hand hatte sie ihr auf die schmale Schulter gelegt, damit sie ständig in Kontakt mit ihr blieb. Wärme drang zu ihr herüber.

Sie wählte eine Bank direkt am Wasser. Ihre Mutter saß zufrieden im Rollstuhl und lächelte leise vor sich hin. Ameli nahm ihre Hand und und streichelte sie sanft. Sie war weich, wie Babyhaut.

Sie schauten sich in die Augen.

„Geht es dir gut, Mama?“

Sie nickte. Das Sprechen fiel ihr zunehmend schwerer. Aber heute nahm sie alle Kraft zusammen.

„Danke, dass du mich im Frieden gehen lässt“, brachte sie ohne Pause klar und deutlich hervor.

Ameli stockte der Atem.

Was wollte sie damit sagen?

Sie lächelten sich an.

„Ameli, mein Kind. Die Sonne ist für dich. Schau hin.“

Ameli wandte ihren Blick für einen kurzen Augenblick von ihrer Mutter ab und richtete ihn zum Himmel. Die Sonne brach sich gerade ihren Weg durch eine Wolke und schickte tausende Sonnenstrahlen auf die Erde.

Es sah wundervoll aus.

Das war ihre Sonne, die sie sich immer gewünscht hatte.

Sie sah sich plötzlich als kleines Kind in ihrem dunklen Zimmer. Die Fenster waren verschlossen, wie immer mit dunklen Vorhängen zugezogen. Sie sah die Sonne an der Decke in ihrem Zimmer, die keine Sonne war und ihr wurde ihr flehender Wunsch an ihre Mutter bewusst.

Gib mir die Sonne zurück.

Jetzt bekam sie die Sonne von ihrer Mutter.

Jetzt war es soweit.

Mit einem dankbaren Lächeln drehte sie sich wieder zu ihrer Mutter um.

Sie saß mit geschlossenen Augen im Rollstuhl.

Sie sah friedlich aus.

Sie würde die Sonne nie wieder sehen.

Ameli sank schluchzend in ihren Schoß.

Danke Mama.

 

***

Es war eine kleine Trauergemeinschaft.

Ameli und Lucas.

Amelis Mutter fand ihren Platz neben Amelis Vater.

Eltern.

Familie.

Das Grab schmückten Sonnenblumen.

 

***

Danach

 

Ameli blieb in Berlin.

Sie suchte gemeinsam mit Lucas eine schöne Wohnung für sich, nicht weit vom Friedhof ihrer Eltern entfernt.

Gemeinsam richteten sie sie ein. Sie war groß, hell und ausreichend für zwei.

Lucas fühlte sich wohl, wenn er nach Berlin kam.

Ameli fuhr nie zurück nach Köln.

Zu Elisa ans Meer schon.

 

Lucas und Ameli entschieden sich letztendlich für eine Fernbeziehung. Sie wollten es beide so. Sie brauchten beide mehr Zeit für sich selber, als für sich zusammen. Das erkannten sie immer mehr und sie bekannten sich beide dazu, dass sie Einzelgänger waren. Sie brauchten nach wie vor beide ihre Freiräume. Es war egal ob sie in einer gemeinsamen Stadt oder in unterschiedlichen Städten wohnten. Sie trafen sich, wann immer sie es für richtig hielten.

Wenn sich Ameli sehr alleine fühlte, rief sie Lucas an. Ein kurzes Telefonat brachte ihn dann ganz nah zu ihr. Seine Stimme zu hören, reichte ihr dann schon aus. Sie konnte ihn so in Gedanken über die weite Distanz lieben. Sie wusste, dass er an ihrer Seite war, dass sie sich auf ihn verlassen konnte.

Er war für sie da.

Immer.

Sie war sich aber nicht ganz sicher, ob sie ihm das Gleiche zurückgab.

Sie bemühte sich.

Sehr.

 

Manchmal ging Ameli zum Grab ihrer Eltern.

Am Grab ihres Vaters weinte sie, weil sie nicht die Chance hatten, sich kennen zu lernen.

Am Grab ihrer Mutter weinte sie aus tiefer Traurigkeit. Minuten vor dem Tod, bekam sie von ihr die Sonne, die in ihrer Kindheit hätte leuchten sollen. Sie hatte sie sich so sehr gewünscht.

Wünsche gehen in Erfüllung.

Manchmal zu spät.

Amel nahm das verspätete Geschenk ihrer Mutter an. Sie ließ die Sonne scheinen und war bestrebt keine Schatten mehr aufkommen zulassen. Im Gegenteil, sie ließ sich immer mehr wach kitzeln von den Sonnenstrahlen.

Sie öffnete sich dem Leben, so wie sie es sich im Haus am Meer vorgenommen hatte. Das alles sollte nicht umsonst gewesen sein.

 

Ameli fing wieder in einem Reisebüro an zu arbeiten.

Sie liebte immer mehr die Kleinigkeiten des Alltags.

Sie freute sich über einen zwitschernden Vogel und sie regte sich nicht mehr über dicke unfreundliche Menschen auf.

Sie legte ihre schwarze Kleidung ab und erfreute sich an den hellen Farben.

Sie kam mit ihrer Stadt in Kontakt. Sie fühlte sich zu Hause.

Sie war im Leben angekommen. Sie war dabei.

Sie musste sich nicht mehr kneifen, um sich zu spüren.

Sie war da.

Sie lächelte dem Leben zu und sie bekam ein Lächeln zurück.

Sie zeigte sich dem Leben und verkroch sich nicht mehr.

Die Zeiten der kontrollierten Alltagsbewältigung waren vorbei.

Gefühle durften kommen und gehen. Sie wurden nicht mehr festgehalten und versteckt.

Sie ließ das Leben fließen. Kummer und Leid abfließen.

Sie merkte, dass dadurch vieles leichter ging.

Sie gewann eine gewisse Lockerheit. Elisa hatte ihre Freude daran. Ameli war endlich nicht mehr das angespannte Etwas, gefangen in ihrer eigenen straffen Haut.

Sie lebte und liebte mit jedem Tag mehr. Der Gipfel des Berges lag offen vor ihr im Sonnenlicht.

 

Und trotz alledem, sie wusste nicht warum, hatte sie ein einziges mal das Gefühl, dass die Sonne dunkel wurde.

Mit aller Macht wurde sie zurückgeholt in eine Welt, in der sie nicht mehr sein wollte.

Sie konnte sich nicht wehren.

Sie ging hinaus und ließ sich für einen kurzen Augenblick in diese Welt entführen.

Das Geheimnis ließ sie nicht los.

Es spielte mit ihr.

 

 

 

 

 

 

 

 

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Bildmaterialien: alle Rechte beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 22.07.2015

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