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Im Kreisverkehr der Liebe

 

 

 

 

 

 

Im Kreisverkehr der Liebe

 

 

 

Ein Gefühl,

dass nicht weiß

wo es hin soll.

Ein Suche,

die nicht weiß

wo sie hingeht.

 

 

 

 

 

 

Corinna May

 

 

 

 

Sommer

 

Es war früh am Morgen. Sehr früh am Morgen. Linda stand am Fenster und blickte in den Garten. Hinter ihr schlief Eric tief und fest. Er war gestern Abend spät von seiner Tour zurückgekommen.

Linda hatte ein unbeschreiblich eigenartiges Gefühl. Sie konnte sich einfach nicht erklären, warum sie die ganze Nacht unruhig neben Eric gelegen hatte und nicht schlafen konnte. Sie war innerlich beunruhigt und aufwühlt. Sie fröstelte.

Mit fragenden Blick schaute sie über ihre Schultern zu Eric. Er strahlte eine angenehme Ruhe aus. Ihr Blick wurde sanfter und ihre Stirn entspannte sich ein wenig. Ihre Augen wanderten über seinen nackten Oberkörper. Obwohl er kein Sport trieb, hatte er einen muskulösen Körper ohne ein Gramm Fett zu viel. Linda beneidete ihn für sein Glück. Mit weit ausgestreckten Beinen lag er auf dem Bauch mittig im Bett. Linda musste sich diese Nacht ganz klein machen, um Platz zu finden.

Konnte sie etwa deswegen nicht schlafen?

Sie mochte es nicht glauben. Sie schüttelte den Kopf und leckte sich über die Lippen. Die Decke bedeckte Eric sehr spärlich. Sie fand ihn äußerst anziehend und sie verspürte ein leichtes prickeln auf ihrer Haut. Sie steigerte sich in ihre Lust und fing an ihn aufzusaugen. Plötzlich durchfuhr es sie. Mit einem mal wusste sie, was sie irritiert hatte. Sie atmete tief ein und aus.

Er roch anders. Es traf sie wie ein Schlag.

Nicht, dass er ein anderes Parfüm benutzt hätte, nein. Es war das Gleiche, wie immer. Da war sie sich sicher. Sie hatte es bei seiner Begrüßung gerochen.

Herb, männlich.

Sie liebte es an ihm. Seit sie ihn kannte benutzte er dieses Parfüm. Es würde auch kein anderes zu ihm passen.

Nein, das war es nicht.

Er hatte einen anderen Körpergeruch an sich. Insgesamt roch er anders. Interessanter? Angenehmer? Oder gar abstoßend?

Linda wusste es nicht einzuordnen. Sie fand nur, dass er einen anderen Duft produzierte und ihn auch ausdünstete. Ihre Nase war empfindlich. Sie kannte nicht nur Erics Parfüm, sie kannte auch seinen Eigengeruch. Seit Jahren. Sie würde schwören, dass sie ihn mit geschlossenen Augen unter Hunderten von Männern heraus riechen könnte.

Nun lag er da und roch anders.

Fragend schaute ihn an. Sie musterte ihn von oben bis unten. Sie konnte nichts Auffälliges an seinen Äußerem und an seinen Gesichtszügen feststellen. Wie sollte sie auch.

Er lag da wie immer.

Er schlief wie immer.

Tief und fest.

Entspannt.

Zu Hause.

Bei ihr.

Vielleicht irrte sie sich ja auch nur? Sie wandte sich von ihm ab und schaute wieder in den Garten. Ihr wurde wieder bewusst, dass sie fröstelte. Kein Wunder. Sie stand seit gut einer halben Stunde am geöffneten Fenster mit ihrem dünnen Etwas, einem Hauch aus Nichts. Sie trug es für Eric. Sie musste lächeln. Sie schloss die Augen und spürte noch einmal seinen starken männlichen Körper auf sich, der ihr fast den Atem nahm. Sie liebte seine Last auf sich und sie liebte den Augenblick, wenn seine Last erschöpft in sich zusammenbrach und auf ihr ruhte. Aber selbst in ihren träumerischen Gedanken mischte sich nun der fremde Geruch mit ein.

Abrupt öffnete sie die Augen und verließ das Schlafzimmer. Unten im dunklen Flur stolperte sie über seine Tasche. Achtlos hingeschmissen lag sie quer vor der Küchentür.

Sie schmunzelte kopfschüttelnd.

Alles war wie immer.

Wie immer war sie sein erster Anlaufpunkt. Wie immer konnte er es nicht erwarten, zu ihr zu eilen. Wie immer drängte es ihn, sich zwischen ihre Beine zu drängen.

Seit Jahren immer das gleiche Ritual, dachte sie. Er kam von seiner Tour und stürzte sich auf sie.

Sie musste sich den fremden Geruch einbilden. Das konnte nicht sein.

Sie war schon fast an der Tasche vorbei, doch hielt dann plötzlich inne. Zu stark lag der fremde Geruch in ihrer Nase.

Verdammt.

Es war kein neues Parfüm.

Nein.

Der Geruch musste an ihm haften, durchfuhr es sie. Von einer anderen Frau?

Sie kam nicht umhin sich zu bücken, um die Tasche zu öffnen. Es drängte sie förmlich dazu. Das hatte sie noch nie getan. Sie hatte ihren Mann noch nie kontrolliert. Langsam öffnete sie den Reißverschluss. Sie kam sich falsch und schlecht vor. Aber sie musste es tun.

Was erwartete sie?

Sie wusste es selbst nicht so genau. Sie nahm das erste Kleidungsstück von Eric in die Hand und schnupperte. Sie drückte das Hemd ganz tief in ihr Gesicht. Es roch nach ihm. Nur nach ihm. Was für ein Glück. Sie seufzte leicht. Aber es reichte ihr nicht aus. Sie griff tiefer in die Tasche und zog ein T-Shirt heraus. Auch Eric. Erleichterung machte sich breit. Sie nickte leicht mit dem Kopf und stopfte alles wieder zurück.

Trotzdem blieb ein unsicheres Gefühl.

Eric würde nachher seine Tasche selbst im Bad ausräumen und ihr alles zum Waschen hinlegen.

Wie immer.

Es sollte alles so bleiben wie immer.

 

Langsam ging sie in die Küche und fing an, Frühstück zu machen. Ihre Gedanken schweiften jedoch ständig ab. Sie wurde ungehalten und mürrisch. Das kannte sie so gar nicht von sich. Nach einer Nacht voller Liebe, war sie sonst immer ausgeglichen und ruhig. Aber an diesem Morgen schien es nicht zuzutreffen.

Warum wurde sie unsicher?

Warum war sie unsicher?

Ihr fiel eine Tasse aus der Hand. Sie hob die Scherben auf und schnitt sich. Auch das noch, dachte sie wütend. Verflixt aber auch, entfuhr es ihr. Es blutete. Nur wenig. Es schmerzte nicht. Sie fühlte nichts. Ihre Gedanken waren ganz woanders.

Fremde Gerüche.

Sie steckte abwesend den Finger in den Mund und sog genüsslich das Blut in sich ein. Es war ihr eigenes. Sie legte ihre Zunge auf die Wunde und umspielte verträumt die angeschnittene Fingerkuppe. Es machte sich ein prickeln in ihrem Bauch breit und wärmte sie innerlich. Kurzfristig wähnte sie etwas anderes in ihrem Mund. Kopfschütteln und schmunzelnd zog sie ihren Finger aus dem Mund. Die Wunde blutete nicht mehr. Ein kleiner Schnitt an einer unbedeutenden Körperstelle. Es würde schnell wieder verheilen.

Bedeutungslos.

Sie fühlte aber tief in sich, dass etwas anderes an Bedeutung gewinnen würde. Ihre Unruhe verstärkte sich immer mehr.

Es legte sich ein leichter Druck auf ihre Brust. Sie nahm ein Schluck Wasser und spülte alles hinunter.

Es half.

Sie schaute aus dem Fenster. Sie musste sich ablenken und beruhigen. Rasen, Bäume, Grillecke mit Schuppen. Alles lag friedlich vor ihr. Sie begann zu träumen. Sie hörte Kindergeschrei, sah lustige Geburtstage und wilde Grillpartys.

Wo ist die Zeit nur hin?

Früher stand rechts hinten eine Buddelkiste und eine Schaukel. Der Rasen war ständig übersät mit Spielzeug der Kinder. Das ständige aufräumen war ihr zeitweise über und sie ließ es einfach liegen für den nächsten Tag.

Die Kinder waren jetzt groß.

Brauchten kein Spielzeug mehr.

Waren mehr weg, als zu Hause.

Werden auch bald keine Mutter mehr brauchen, durchfuhr es sie.

Angst breitete sich in ihr aus. Schmerzhaft machte sich wieder der Druck auf ihrer Brust bemerkbar. Sie musste tief Luft holen, das Atmen viel ihr schwer.

Sie wollte sich doch beruhigen.

Noch ist es nicht so weit, dachte sie wehmütig.

Leise flüsterte sie: Noch schlafen sie oben in ihren Betten. Noch warten sie darauf, dass ich ihnen das Frühstück mache und ihnen die Wäsche wasche. Bleib ganz ruhig Linda.

Es war nicht das erste mal, dass sie daran dachte. Vor Monaten kam plötzlich diese Angst über sie, machte sich breit und wollte nicht mehr gehen. Seitdem verspürte sie auch den Druck auf ihrer Brust.

Hatte sie vor ein paar Minuten noch den fremden Duft ihres Mannes in der Nase, verspürte sie plötzlich auch noch unglaubliche Angst vor dem Tag, an dem ihre Kinder nicht mehr da sein würden.

Sie lehnte sich ans Fenster und schloss verzweifelt die Augen.

Sie könnte, wenn die Kinder gehen würden, wieder mehr Frau für ihren Mann sein.

Wollte sie das? Sie gestand sich ein, dass sie lieber noch länger Mutter für ihre Kinder sein wollte.

Angst hatte sie plötzlich vor beidem.

Sie wusste seit langem, dass dieser Umbruch irgendwann kommen würde. Nun schien er jedoch unwiderruflich über sie einzubrechen. Tief in sich fühlte sie den Beginn. Heftig und unwiderruflich.

Warum musste er mit einem ungewohnten Geruch beginnen?

Absurderweise wollte sie allein und weit weg sein.

Sie fühlte sich wie auf einem sinkenden Schiff. In ihrem Kopf schrie es, spring, du musst den Absprung schaffen. Sie sah nichts, außer Wasser. Ihr wurde immer schlechter. Sie lehnte den Kopf an die kühle Fensterscheibe und dachte sie müsse ertrinken. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die über schwappten.

Sie hörte nicht, wie Eric nach unten kam.

 

Eric sah Linda gedankenversunken am Fenster stehen und schlich sich leise von hinten an sie heran. Sanft legte er seinen Arm auf ihre rechte Schulter.

Linda schrak zusammen. Eric sah ihre Tränen.

„Ich sah gerade unsere Kinder im Garten herumtollen. Ich vermisse das so“, sagte sie tonlos zu ihrer Entschuldigung. Sie schaute wieder geradeaus in den Garten. Sie wollte Eric nicht in die Augen schauen. Er würde sie nicht verstehen. Und eigentlich wollte sie ihn jetzt gar nicht sehen. Sie wollte noch ein wenig alleine sein und ihre Gedanken ordnen. Als sie seine Nähe spürte, fing sie wieder an zu frösteln.

Darüber erschrak sie.

„Linda, das liegt doch schon Jahre zurück. Sei froh, dass das Kindergeschrei vorbei ist und sie dir keine Arbeit mehr machen“, kam prompt Erics kühle Antwort zurück.

Er verstand sie nicht. Sie hatte es gewusst.

„Lass uns Frühstück machen, Linda. Eigentlich dachte ich, dass du schon fertig damit bist. Du bist doch schon seit Ewigkeiten in der Küche und sonst nicht so langsam. Ich muss nachher noch mal ins Büro, um meine Rechnung abzugeben. Die Wäsche habe ich dir schon ins Bad gelegt. In drei Tagen muss ich wieder los. Ich brauche meine weißen Hemden. Das schaffst du doch, oder?“ Eric machte wie immer eine klare vollständige Ansage. Manchmal war sie ausreichend für den ganzen Tag. Von ihm aus war nun alles gesagt.

Linda drehte sich endlich zu Eric um.

Sie nickte.

Wie immer.

Aber alles war anders. Sie spürte es tief in sich.

Sie fing langsam an den Kaffee in die Tassen zu füllen und Eric deckte widerwillig den Tisch. Es war nicht seine Aufgabe.

„Sind die Kinder auch da?“

„Ja“, erwiderte Linda zeitverzögert und einsilbig.

„Ist was?“

„Nein.“

„Na komm schon, denk nicht mehr an die alten Zeiten. Jetzt ist es doch auch schön. Jetzt haben wir endlich Zeit für uns.“

„Ja.“

Linda war zum Heulen zu mute. Sie ahnte, dass es jeden Moment aus ihr brechen würde. Sie versuchte krampfhaft es zurückzuhalten. Dann passierte etwas unvorhergesehenes. Eric fing ihren traurigen Blick auf und nahm sie in seinem Arm. Er tat es einfach so. Es tat ihr gut. Linda fing sich wieder und lächelte ihn dankbar an. So kannte sie ihn überhaupt nicht.

„Wie war deine Tour überhaupt?“ Linda wechselte zu einem Thema, was ihr keine traurigen Gedanken heraufbeschwören würde.

„Ganz gut. Der Bus war voll. Alles alte Leute. Na ja, Thüringen, ist ja auch nicht gerade das Urlaubsziel der jungen Leute. Aber das Hotel war gut und das Essen spitzenmäßig, kann ich nur sagen.“ Über die Jahre hatte es Eric gelernt überzeugend zu Lügen, ohne rot zu werden. Sehr wohl waren auch Leute in seinem Alter auf dem Bus. Er wollte darüber aber nicht mit Linda reden. Er war zu Hause und wollte seine Ruhe haben. Er wollte die wenige Zeit, die er mit Linda verbringen konnte, nicht über solche Belanglosigkeiten reden. Seine Arbeit hatte mit Linda nichts zu tun. Meinte er.

Linda gab sich zufrieden.

Wie immer.

Eric war erleichtert.

Wie immer.

 

Vivien kam wie aus dem Nichts und ohne Vorankündigung die Treppe herunter gepoltert. Es störte sie wenig, ob im Haus noch jemand schlief oder nicht. Sie machte Krach, wenn sie Krach machen wollte. Als wenn sie Angst hätte, man würde sie sonst überhören und übersehen. Mehr oder weniger hatte sich die ganze Familie daran gewöhnt. Sie war fertig angezogen für die Fahrt in die Stadt.

„Hey Paps, auch mal wieder da? Gib mir schnell dein Brötchen, ich habe keine Zeit mehr. Der Bus wartet nicht. Wir sehen uns dann irgendwann. Tschüss Mama.“ Als sie schon fast aus der Tür war, drehte sie sich noch mal um und teilte flüchtig mit, dass sie bei ihrem Freund übernachten würde.

Linda atmete schwer durch und schloss für einen kurzen Augenblick die Augen.

Beim Freund schlafen? Hatte sie da etwas Entscheidendes verpasst als Mutter? Nahm Vivien etwa die Pille, ohne dass sie es wusste? Sie war entsetzt.

„Kennst du ihren Freund?“, fragte Eric neugierig.

„Nein. Er war noch nicht hier.“

„Nun guck nicht so. Deine Tochter ist 17. Da kann man ja wohl mal beim Freund schlafen, oder nicht?“

„Ja, warum nicht.“

„Man Linda, du bist heute irgendwie anders.“

„So?“ Sie schaute Eric in die Augen. Ja, sie war anders. Alles andere um sie herum schien so zu sein, wie immer. Oder etwa nicht? Ihr wurde wieder schlecht. Sie atmete tief ein und aus. Sie konnte dazu nichts sagen.

Zum Glück kam Tom in die Küche. Verschlafen setzte er sich zu ihnen.

„Vivien ist ein Pferd. Muss sie immer so laut sein? Aber schön, dass ich euch beide hier zusammen antreffe. Ist wohl mein Glückstag heute.“ Er nahm sich in aller Seelenruhe ein Brötchen und goss sich Kaffee ein.

„Na, was willst du uns denn mitteilen?“, fragte Linda gespannt. Sie kannte ihren Sohn. Wenn er ihnen beiden etwas sagen wollte, dann war es nicht nur eine Kleinigkeit. Sie begann zu schwitzen.

Noch mehr Unruhe.

Wie sollte sie das alles nur aushalten?

Was war heute nur los?

„Also, Annabell und ich, wir werden zusammenziehen. Wir haben auch schon eine Wohnung. In zwei Wochen können wir einziehen.“ Tom schaute seine Eltern nur kurz an und aß einfach weiter.

„Nein.“ Linda sah ihren Sohn entsetzt an.

„Was nein? Die Sache ist beschlossen, Mama. Der Vertrag ist unterzeichnet. Ein bisschen mehr Freude hätte ich schon erwartet? Ich bin keine 18 mehr.“

Linda schaute entgeistert zu Eric. Er schien sich zu freuen, sagte aber nichts.

„Na ja, vielleicht freut ihr euch wenigstens darüber, wenn ich euch auch noch sage, dass wir ein Baby bekommen.“ Tom schaute diesmal erwartungsvoll zu seinen Eltern.

Eric lächelte seinem Sohn entgegen. Sie verstanden sich. Er sagte aber immer noch nichts.

Linda musste schlucken und konnte nur langsam nicken. Alles verschwamm vor ihren Augen. Der Tisch drehte sich und sie schien zu fallen. Wie im Fahrstuhl rauschte sie in die Tiefe. Es dröhnte in ihren Ohren. Sie wartete sehnsüchtig auf das Ende, um wieder Luft zu bekommen. Leise hörte sie, dass Tom wieder sprach. Ihr kam alles wie eine Ewigkeit vor.

„O.k. Ich mache mich dann mal auf den Weg zu Annabell.“ Er verließ langsam die Küche. Er war eher belustigt über den Zustand seiner Eltern. So sehen Eltern also aus, wenn sie erfahren, dass sie Oma und Opa werden, dachte er nur.

„Warte, ich kann dich mitnehmen und dich bei Annabell absetzen“, rief Eric seinem Sohn zu. Er freute sich über die Nachricht seines Sohnes, aber er freute sich noch mehr darüber, endlich vom Frühstückstisch verschwinden zu können.

Er fand Linda eigenartig.

Die beiden Männer verließen die Küche und ließen Linda allein zurück.

 

Linda saß fassungslos am Küchentisch. Der ganze Morgen hing wie eine schwere graue Nebeldecke über sie. Sie fühlte sich eingeengt von ihr. Sie wollte sie zerfetzen. Sie konnte sie aber nicht greifen, geschweige denn fassen. Sie hing wirklich schwer in der Luft und kam bedrohlich näher. Sie nahm ihr immer mehr die Luft zum Atmen.

Sie musste aufstehen, um dieser grauen Wolke zu entrinnen. Sie wollte sich nicht umhüllen lassen oder gar einfangen lassen. Sie musste raus. Sofort. Panikartig verließ sie die Küche.

Sie stand im Garten und weinte. So hemmungslos hatte sie seit Ewigkeiten nicht mehr geweint. Es floss aus ihr in Strömen und für einen Moment dachte Linda, sie könne nie wieder aufhören zu weinen. Sie fühlte sich mit einem mal so unendlich allein.

Allein und allein gelassen.

Vor ein paar Minuten war noch die ganze Familie im Haus und nun stand sie alleine da.

Wirklich alleine?

Sie konnte sich kaum beruhigen.

Sie drehte sich im Kreis.

Nehmt mich mit, wollte sie schreien.

Warum nimmt mich keiner mit, dachte sie traurig.

Warum lasst ihr mich hier alleine?

Ich will nicht alleine sein.

Tränenüberströmt ging sie langsam zurück ins Haus. Im Flur schaute sie in den Spiegel und sah eine äußerst bemitleidenswerte Person.

Erschreckend.

Wollte sie das sein?

Was sollte das ganze Theater?

Was war nur los mit ihr?

Was hatte sie in diese Situation gebracht?

Ein fremder Geruch in ihrer Nase!

Lachhaft.

Einbildung.

Es war doch alles so wie immer.

 

Linda ging zurück ins Schlafzimmer. Sie legte sich für einen kurzen Moment ins Bett. Sie lag auf Erics Kopfkissen und versuchte den zurückgebliebenen Duft einzuatmen. Unverkennbar sein Parfüm. Es stimmte sie jedoch nicht um. Sie blieb tief in sich traurig.

Langsam erhob sie sich und holte aus ihrem Geheimversteck ihr Tagebuch hervor. Sie schrieb äußerst selten hinein. Nur wenn etwas ganz wichtiges in ihrem Leben passierte oder etwas sie bewegte. Dieser Tag, so entschied Linda, war ein Tag, der festgehalten werden musste. Sie blätterte in ihrem Tagebuch und stellte mit Erstaunen fest, dass der letzte Eintrag vor drei Jahren war.

Drei Jahre war es her.

Ein Kuss hatte sie damals aus dem Gleichgewicht gebracht.

Ein einziger Kuss.

Sie konnte sich aber immer noch ganz genau an diesen Kuss erinnern, so einzigartig war er. Sie würde diesen Kuss nie vergessen. Sie schloss die Augen und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, so wie sie es damals nach dem Kuss getan hatte. Sie schmeckte in Gedanken den Kuss. Eigentlich wusste sie nichts weiter über den Kuss zu sagen. Während des Kusses war sie nämlich gar nicht da. Irgendwie nicht anwesend. Aber das machte den Kuss ja gerade so einzigartig großartig. Sie fühlte sich damals mitgenommen in eine andere Welt und dann wieder sachte zurückgestellt ins Leben.

Eric hatte sie so nie geküsst.

Das war ihre einzige Verfehlung. Ansonsten war sie Eric über all die Jahre treu geblieben. Sie liebte ihn und dennoch war sie froh, diesen Kuss erlebt zu haben.

Nun nahm sie sich einen Stift und schrieb:

Ein Baum verliert im Herbst seine Blätter.

Er treibt im Frühling wieder neu aus und wächst.

Die Vögel verlassen uns , weil sie frieren. Sie kommen zurück, wenn es wieder warm wird.

Mein Haus wird leer und still.

Was bleibt mir?

Verzweifelt klappte Linda ihr Tagebuch wieder zu und versteckte es an seinem sicheren Ort. Kinderkram dachte sie. Sie wollte sich nicht weiter runterziehen lassen.

Wegen so ein bisschen Einsamkeit.

In ein paar Stunden würde Eric wieder da sein.

Und dann Annabell.

Und dann Vivien.

Und dann wäre alles wieder so wie immer.

 

***

Eric musste gar nicht ins Büro, um seine Rechnung abzugeben. Das war längst erledigt. Er hatte Linda angelogen. Bewusst angelogen. Zum ersten mal. Er fühlte sich nicht wohl dabei. Wütend über seine innere Aufruhr, die nicht zu bändigen war, schimpfte er leise vor sich hin. Es machte ihn richtig gehend fertig, dass die Lüge diesmal etwas mit ihm selbst zu tun hatte und er sich nicht einkriegen konnte.

Unehrlich war er nämlich all die Jahre Linda gegenüber. Bei allem was seine Arbeit anging, hatte er Linda von Anfang an nur das Nötigste erzählt, sie ihr immer gleichbleibend monoton dargestellt und ihr somit auch so manche Unwahrheit aufgetischt. Manchmal wunderte er sich schon, dass sie ihm alles abkaufte, was er ihr sagte. Aber er hatte dabei kein schlechtes Gewissen. Es war nur zu seinem und wie er sich auch immer selbst sagte zu ihrem Schutz.

Seit Jahren war er ständig unterwegs als Reiseleiter. Mal länger mal kürzer. Er suchte sich seine Arbeit aus. Er konnte es sich zum Glück leisten. Er war gut. Wenn er mal eine Auszeit brauchte, dann machte er eben länger Pause. Die Pausen dauerten aber nicht lange. Er war ein Zugvogel, der immer wieder in sein Nest zurückkam. Linda hatte es damals so akzeptiert. Aus Liebe, wie er wusste. Er wähnte sie hinter sich mit allen Konsequenzen. Er machte sich darüber keine Gedanken. Das war vor Jahren alles so besprochen.

Warum sollte sich das irgendwann einmal ändern?

Warum?

 

Nachdem er seinen Sohn bei seiner Freundin abgesetzt hatte und dort noch kurz in aller Ruhe einen Kaffee getrunken hatte, fuhr er zu seinem Lieblingsplatz außerhalb der Stadt.

Der Morgen setzte ihm wirklich zu. Er musste sich in der Stadt zweimal anhupen lassen, weil er bei grün an der Ampel stehen stehen blieb. Er stellte sich die Frage, was mit Linda los war. Sie kam ihm anders als sonst vor. Er konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Verdammt aber auch, er hatte weiß Gott andere Sorgen. Die Nacht war aber schön, wie immer.

Linda, Linda, murmelte er leise vor sich hin.

Er verließ das Tal und schlängelte sich langsam die Serpentinen entlang. Im Radio spielte klassische Musik. Eric empfand sie zu seiner eigenen Verwunderung angenehm. Er ließ sie laufen. In sich spürte er jedoch eine starke Unruhe, die die Musik auch nicht verschwinden lassen konnte. Er fingerte eine Zigarette aus der Schachtel und fing an, hastig zu rauchen. Er rauchte selten. Nur im Auto. Alleine.

Zielstrebig erklomm er den Berg, seinen Berg. Im Kreis nach oben. Er liebte den Schwarzwald mit den Bergen und Tälern und der unendlichen Weite, die sich ganz oben auftun konnte. In Gedanken an die schöne Aussicht, beruhigte er sich ein wenig. Während er so genüsslich an die Höhen und Tiefen des Schwarzwaldes dachte, kam ihn in den Sinn, dass eine Frau für ihn genau diese natürlichen Reize haben musste. Er brauchte die Berge zum festhalten, die Täler und Schluchten zum eintauchen und die Unebenheiten zum erkunden. Flachland, mit eckigen Kanten, hatte für ihn nichts zu bieten. Reizlos.

Er war angekommen. Das letzte Stück wühlte sich Eric zu Fuß hinauf. Er schnaufte und war froh, als er endlich seine Bank erblickte. Vom Berg aus hatte er den erhofften freien Blick in die Ferne und vor allem frische Luft. Er genoss es. Laut atmete er ein und aus. Er war alleine.

Langsam ging er zur Bank und nahm auf der rechten Seite Platz, so wie immer. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er nahm die Geräusche wahr und fühlte sich eins mit der Natur. Er erkannte Vogelstimmen und hörte das Geäst in der Ferne knacken. Fast überkam ihn Sehnsucht nach seinem Vater, der ihn an diesen Platz brachte und ihn mit der Natur vertraut machte. Er ließ ihn ziehen und konzentrierte sich weiter auf die Stimmen der Natur. Er lauschte den Vögeln.

In Gedanken strich er über ihren Körper.

Langsam, sinnlich, genüsslich.

Wohlgeformt lag er in seinen Händen.

Genau richtig.

Er löste ihre Haarspange.

Plopp.

Wallend fielen ihre Haare über ihre Schultern und streiften sein Gesicht.

Eine leichte Berührung, die ihn erregte.

Ihr Haar duftete.

Er nahm sie in den Arm und fühlte sich ihr ganz nah. Angeschmiegt.

Brust an Brust.

Becken an Becken.

Fest.

Er drehte sich mit ihr im Kreis. Es war wunderschön. Sie ließ sich führen und nahm seinen Takt auf. Sie verschmolzen miteinander.

Er bekam einen Steifen.

Joanna was machst du nur mit mir?

Eric stöhnte laut auf. Mehrmals.

Er brauchte nur von ihr zu träumen und die Welt stand Kopf. Er hatte sie vor zwei Monaten im Büro kennen gelernt. Sie war die Nachfolgerin seiner alten treuen Sachbearbeiterin. Lächelnd nahm sie seine Rechnung entgegen. Genau dieses Lächeln ging ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf. Es verfolgte ihn. Seitdem träumte er von ihr.

Joanna.

Vor ein paar Tagen sah er sie zum zweiten mal. Er verließ das Büro mit einem unglaublichen Glücksgefühl. Seine Hormone tanzten wild durcheinander. Irgendwie anders. Dummheiten waren vorprogrammiert.

Er wollte sie.

Er wollte sie mehr, als all die anderen. Es schien ihm so, als wenn er sich Hals über Kopf in sie verliebt hätte.

Täglich sagte er sich, dass das alles nicht wahr sein konnte.

Aber in seinem Innern war es genauso angekommen. Richtig angekommen. Es schmerzte ihn und langsam drängte es auch nach außen.

So eine Scheiße aber auch, schrie er in die Stille.

Linda, ich liebe dich doch auch, hauchte er hinterher.

Auch?

Warum auch?

Eric kickte einen Stein den Berg hinab. Er riss andere mit sich in den Abgrund. In den tiefen Abgrund. Da werde ich auch noch enden, dachte Eric bitter. Er fühlte sich überfordert. Überfordert mit seinen Gefühlen.

Ihm kam wieder die letzte Nacht mit Linda in den Sinn.

Linda.

Sie hatte ihn, obwohl sie schon längst geschlafen hatte, mit offenen Armen empfangen. Egal wann er kam, sie war immer bereit für ihn und sie gab ihm immer das Gefühl, dass er bei ihr eintauchen, abtauchen und verweilen konnte. Und er konnte gehen, wann immer er wollte. Er hatte bei ihr wirklich alles, was er brauchte. Er fühlte sich bei ihr gut aufgehoben.

Warum musste er sich jetzt in Joanna verlieben?

Verlieben?

Hatte er sich tatsächlich verliebt?

Er wusste es nicht.

Er wusste nur, dass die andere Frau etwas in ihm zum Erwachen brachte.

Verlieben?

Er konnte das unbekanntes Gefühl in sich nur so deuten.

Wie es weiter gehen sollte, darüber zerbrach er sich seit Tagen den Kopf. Er kam kein Stück voran. Er war festgefahren.

Wie angewurzelt saß er auf der Bank und starrte in die Ferne. Er wusste, dass Linda auf ihn wartete. Er hatte aber im Moment keine Lust auf Linda. Es wunderte ihn, dass sie ihn noch nicht angerufen hatte. Er wollte doch nur die Rechnung abgeben. Dafür brauchte er doch nicht mehr als zwei Stunden. Dann fiel ihm wieder ein, dass sie am morgen irgendwie komisch war. Deswegen wollte er ja auch so schnell weg.

Eric spuckte aus.

Er musste Joanna vergessen.

Unbedingt.

Das hatte doch alles keinen Sinn.

Wie wollte er überhaupt an sie ran kommen?

Obwohl, darüber sollte er sich eigentlich die wenigsten Gedanken machen. Die Frauen waren scharf auf ihn. Warum sollte Joanna anders auf ihn reagieren?

Wenn Linda wüsste.

Aber sie wusste nicht.

Eric hatte, seit dem er Reiseleiter war, ständig One-nigth-stands. Anfangs hielt er sich noch zurück, konnte nicht glauben und fassen, wie hemmungslos die Frauen im Urlaub nur auf das Eine aus waren. Aber dann erfüllte er den allein stehenden Frauen ihre Wünsche. Wenn sie ein Abenteuer in ihrem Urlaub brauchten, warum nicht. Wenn es sich ergab und eine nach seinem Geschmack war, sagte er nicht nein. Er hatte sich regelrecht daran gewöhnt und fand schon lange nichts mehr dabei. Es war für ihn eine Dienstleistung. Mehr nicht. Darum musste man kein Gewese machen, fand er. Er war sich auch sicher, dass Linda davon keinen blassen Schimmer hatte.

Würde sie ihn sonst immer so stürmisch empfangen?

Wohl kaum.

Linda.

Linda, ich liebe dich doch auch.

Dieser Satz schoss Eric nun schon zum zweiten mal durch den Kopf. Als wenn Linda schon Vergangenheit wäre. Aber zur Zeit dominierte einfach Joanna in seinem Hirn. Er konnte machen was er wollte.

Er sah wieder ihren Körper vor sich und stellte sich vor, wie er ihr sachte das Kleid von den Schultern strich. Offen lagen ihre Brüste vor ihm. Nicht allzu groß, aber fest und wohlgeformt. Sie passten in seine Hände.

Eric riss sich von seinen Gedanken los. Er konnte die Dauererektion nicht mehr aushalten. Er fluchte laut. Sollte er sich etwa hier an seinem Lieblingsplatz einen runter holen? Ihm war fast danach.

Er machte ein paar Schritte und setzte sich wieder auf die Bank.

Linda.

Linda war ohne Frage sein Anlegeplatz. Sein Hafen. Er brauchte sie, wie jeden Morgen seine Zahnpasta. Er benutzte sie, um zu leben. Sie war sein Leben. Sie gab ihm die Frische und die Kraft, die er brauchte. Ohne sie ging es nicht. Er war sich ihrer so sicher, dass er sich über sein tun außerhalb ihres Hoheitsgebietes keine Gedanken machte. Wenn er bei ihr war, dann war er bei ihr. Er war sich hundertprozentig sicher, dass er ihr dann auch alles gab.

Er war für sie da. Immer, wenn er bei ihr war.

Sie konnte mit ihm zufrieden sein, fand er.

Aber nun drängte sich Joanna dazwischen. Anders. Intensiver. Er wollte sie erobern. Warum auch immer.

Warum nur?

Eric hatte keine Kraft mehr darüber nachzudenken. Er kam mit seinen Gedanken nicht weiter. Er musste nach Hause.

Er hatte Hunger.

 

***

Linda hatte über ihre Gedanken jegliches Zeitgefühl verloren. Nachdem sie in ihr Tagebuch geschrieben hatte, setzte sie sich kraftlos in ihr Arbeitszimmer vor die Staffelei. Sie war frisch aufgezogen für ein neues Bild.

Gedanken kamen ihr keine. Leere. Nichts. Am liebsten hätte sie ihren Pinsel genommen und hätte mit schwarzer Farbe quer Feld ein, von rechts nach links, von unten nach oben auf dem weißen Blatt herum gewütet. Sie konnte sich gerade noch so beherrschen. Statt dessen musste sie wieder weinen. Sie saß einfach da und weinte, wie von Sinnen. Sie war froh, dass sie vom Weinen keine rote Nase bekam. Also konnte sie weinen, so viel sie wollte. Und wenn schon weinen, dann konnte sie auch gleich noch ein Glas Wein trinken.

Warum nicht?

Wer war denn da?

Keiner.

Weinen mit dem Wein.

 

Sie hörte nicht, wie Eric die Treppe hoch kam. Sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Sie erschrak, als er plötzlich vor ihr stand.

Eric erschrak, als er seine Frau um die Mittagszeit weinend mit einem Glas Wein vorfand. Fragend schaute er sie an.

„Ich weiß auch nicht, was das soll“, beantwortete Linda seinen fragenden Blick. „Wie spät ist es denn?“.

„Ist das eine Antwort?“, empörte sich Eric. Gleichzeitig fiel ihm auf, dass er überhaupt keine Frage gestellt hatte. In ihm stieg eine ihm unbekannte Aggression Linda gegenüber auf. Er musste sich zurückhalten.

„Ich sagte doch, dass ich nicht weiß, was das soll? Vielleicht war ich nur traurig, weil ich Oma werde? Oder vielleicht habe ich mich gefreut, weil ihr alle abgehauen seid? Kann ich nicht mal weinen?“ schrie sie Eric völlig hysterisch an. Im gleichen Augenblick sank sie wie ein nasser Sack auf ihrem Malerschemel in sich zusammen und weinte einfach hemmungslos weiter.

Eric stand der Situation völlig hilflos gegenüber. Was sollte er darauf nur antworten? Was sollte er mit so einer Heulsuse machen? Seine Aggression wich. Plötzlich war er angewidert. Ganz gewaltig angewidert.

„Das solltest du lieber mit deiner Freundin besprechen. Ich geh in die Küche und mache was zu essen. Beruhige dich erst mal.“

Eric war nicht nur angewidert, sondern auch ratlos. Er musste unbedingt etwas essen.

Linda war verzweifelt. Sie musste unbedingt noch ein Glas Wein trinken.

Und alles fing mit einem fremden Duft in ihrer Nase an.

 

Beim Mittagessen taten beide so, als wenn nichts vorgefallen wäre. Sie erwähnten den Vorfall vor einer knappen Stunde mit keiner Silbe. Er schwebte zwar in der Luft, war aber dabei, sich stillschweigend zu verziehen. Mit gesenkten Köpfen stocherten sie beide in ihren Tellern umher. Sie vermieden es, sich anzuschauen.

Eric hätte auch nicht darüber reden wollen. Hysterische Ziegen konnte er überhaupt nicht leiden. Linda war, soweit er sich erinnern konnte, noch nie eine gewesen. Hoffentlich war das eine einmalige Sache, dachte er. Er betrachtete seine Frau aus dem Augenwinkel heraus. Sie sah nach einem verweinten Vormittag mit einer Flasche Wein im Schlepptau frisch und lebendig aus. Das sollte ihr mal jemand nach machen. Wieder ratlos schüttelte er kurz den Kopf.

Linda merkte, dass sie beobachtet wurde, sagte aber nichts dazu. Sie kam sich albern vor und ihr Auftritt war ihr peinlich. Sie dankte Eric im Stillen, dass er seinen Mund hielt. Obwohl sie wusste ganz genau, dass sie darüber hätten reden müssen. So durfte es nicht weiter gehen. Linda war sich bewusst, dass der hysterische Ausbruch ein Ausdruck ihrer angestauten Gefühle sein musste. Sie suchten sich einen Weg nach außen. Sie wollte sie auch nicht zurückhalten.

Aber so wollte sie es auch nicht.

Wie wollte sie es denn?

Vielleicht sollte sie sich doch einmal ihrer Freundin anvertrauen, dachte sie stillschweigend. Aber was ging es ihrer Freundin an? Überhaupt musste sie sich selbst erst einmal klar werden, was in ihr abging.

Was war eigentlich ihr Problem, was sie hysterisch werden ließ? Sie konnte es auf Anhieb nicht benennen. Worüber sollte sie dann mit ihrer Freundin überhaupt reden?

Und überhaupt, wer sagte denn, dass sie die Einzige in diesem Haus sei, die ein Problem hatte?

War denn wirklich alles so wie immer? Wenn ja, dann wäre sie doch auch so wie immer? Was trieb sie in diese Situation?

Fragen über Fragen wirbelten in ihrem Kopf umher.

Sie verspürte plötzlich den Drang ganz laut zu schreien. Stattdessen füllte sie brav ihren Mund mit Buttererbsen, die, wie sie dachte, ihr Mann ihr liebevoll zubereitet hatte.

 

II

***

Der Sommer verabschiedete sich und der Herbst kündigte sich langsam an. Graue Tage, nebelverhangen, machten es Linda nicht gerade leicht ihr Gleichgewicht wieder zu finden. Sie schlich schwer beladen mit ihren ungelösten Problemen durch das Haus. Sie sah nur noch Probleme, hatten keinen Sinn für irgend etwas anderes.

Die letzten Wochen waren einfach grausam für Linda. So hatte sie sich selbst noch nie erlebt. Sie bebte in ihrem Inneren. Sie hatte sich schlecht im Griff. Sie nahm reiß aus vor sich selbst. Sie fühlte sich dem Ertrinken nahe und sah keine rettende Hand. Aber sie kämpfte tapfer alleine gegen den Strom. Es musste doch zu schaffen sein, sagte sie sich in stillen Stunden immer wieder. Keiner merkte ihren inneren Kampf. Sie versteckte ihren Kummer, der in ihr war, so gut es ging.

Eric war öfter fort als sonst. Linda wusste nicht genau, ob sie das gut fand oder nicht. Wenn er da war, störte er sie und wenn er fort war, vermisste sie ihn. Mehr als sonst. Sie fragte sich warum? Alles was Eric machte war verkehrt. Wie er es hätte richtig machen können, darauf hatte Linda keine Antwort.

Eric spürte die Veränderung, nahm aber keinen Anteil daran. Er reagierte darauf, indem er sich ihr wortlos entzog. So konnte er erst einmal nichts falsch machen, dachte er. Sie würde schon was sagen, wenn sie was von ihm wollte, dachte er.

Sie schauten sich immer nur fragend und erwartungsvoll in die Augen. Sie konnten darin nichts finden, am allerwenigsten eine Antwort. Es schien, als wenn sie sich nicht verstehen wollten.

Einzig ihre Körper hielten die Nähe und überbrückten die schweigende Distanz. Sie nahmen und gaben wortlos, was sie brauchten.

Linda schwebte von einer körperlichen Erfüllung zur nächsten und hielt sich daran fest. Die Zwischenräume kamen ihr einer Katastrophe gleich. Sie hing an einem seidenen Faden.

Am schlimmsten waren für Linda die gleichbleibenden Alpträume, de immer dann kamen, wenn Eric nicht da war.

Sie gefangen in einem dunklen, muffigen, kaltem Raum ... sie alleine mit ihrem Baby in sich... dunkle Gestalten verhüllt ... mit stumpfen Messern über ihr ... über ihren Bauch ... entreißen ihr das Baby aus dem Mutterleib ... verschwinden ... Blut ... Schmerz ... Schreie ....Tränen ... mit ausgestreckten Armen will sie ihr Baby zurück haben ... keiner hört sie ... keiner hilft ihr ... sie ist ganz allein.

Immer wenn dieser Alptraum über sie kam, erwachte sie schweißgebadet und musste sich erbrechen. Sie sprach mit niemanden darüber, ahnte, dass es mit dem bevorstehenden Auszug ihres Sohnes zu tun hatte. Wer sollte da helfen können? Sie hätte nie gedacht, dass ihr das Loslassen so schwer fallen würde. Sie würde es überwinden müssen. Andere Mütter schafften es doch auch. Sie musste es schaffen.

Die innere Erschöpfung machte sich immer breiter. Sie fing an Eric immer launischer zu begegnen und das Mitleid darüber, dass sie ihm Unrecht tat, zerfraß sie. Sie konnte mit Eric einfach nicht darüber reden, sie wollte wahrgenommen und gefragt werden. Sie wusste aber, dass Eric sie nicht fragen würde. Das machte sie wütend. Sie konnte sich einfach nicht mehr halten. Sie wurde zum Schatten ihrer selbst. Sie fing an, sich dafür zu hassen.

Sie suchte für sich nach Lösungen. Sie ließ alles bei sich und sie blieb bei sich. Sie joggte, sie malte, sie hörte Musik, sie versuchte alles, nur um sich zu beruhigen. Es half nichts. Sie wütete wie eine Besessene in sich und um sich herum.

Die Tür, in die Eric nach ihren Vorstellungen eintreten sollte, hielt sie letztendlich selbst verschlossen.

Eric sah die Tür allerdings erst gar nicht.

Er ließ Linda einfach kommentarlos wüten. Er reichte ihr keine helfende Hand. Ihm kam es geradezu gelegen, konnte er sich so hinter seinen eigenen Problemen verstecken. Er zog sich weiterhin still und leise zurück.

Sie schrie ihn an und er ließ sich anschreien.

Sie weinte und er reichte ihr das Taschentuch.

Sie trank und er kaufte ihr neuen Wein, damit er seine Ruhe hatte.

Sie nahmen sich beide nicht ernsthaft wahr. Sie blieben beide allein mit ihren Gefühlen und ignorierten sich gegenseitig. Dieser Zustand schlich sich immer mehr in ihr Leben ein und sie gewöhnten sich daran. Sie spürten beide, dass etwas falsch war. Sie nahmen es jedoch nicht als Hinweis auf. Sie ließen einfach alles laufen.

Sie trifteten auseinander mit sehnsuchtsvollem Blick. In der Dunkelheit trafen ihre Körper aufeinander und die unausgesprochenen Worte entluden sich mit einer unglaublichen Wucht, dass es fasst schon schmerzte.

So fingen sie an, wortlos im eigenen Schmerz unterzugehen.

Jeder für sich.

 

***

Tom hatte seine Kisten schon längst gepackt und der um ein paar Wochen verspätete Umzug stand nun endgültig vor der Tür.

So sehr sich Linda vor diesem Augenblick fürchtetet, so sehr sehnte sie ihn auch herbei. Würden nun auch ihre Alpträume enden? Sie wünschte es sich sehr. Ihr Baby ging von ihr.

Linda stand in der neuen Wohnung des jungen Paares. Sie hatte sich angeboten, bei der Renovierung zu helfen. Das war das Einzige, was sie tun konnte. Tom und Anabell hatten dankend angenommen. Für diese Arbeit fehlte ihnen nicht nur die Zeit sondern auch, wie sie freimütig zugaben, auch das Geschick. Sie ließen Linda freie Hand.

Linda tat diese Arbeit gerne. Sie hatte immer Freude daran, dass Haus den Jahreszeiten entsprechend zu dekorieren. Auch kleine Umgestaltungen nahm sie gerne vor, um ständig ein paar Abwechslungen zuzulassen. Sie brauchte diese Veränderungen um sich herum, kam sie doch aus ihren vier Wänden so selten heraus. So hatte sie wenigsten den Eindruck, dass sich auch ihr Leben veränderte. Sie wusste, dass das nur ein gesponnener Trost war. Sie hielt sich aber daran fest.

Mit Liebe und Freude hatte sie die Farben ausgesucht und eingekauft. Sie wusste so ungefähr, wie Anabell sich ihr neues Heim vorstellte. Daran orientierte sie sich. Tom sagte zu allem ja.

Ihr Herz zog sich bei jedem Eintauchen der Malerrolle in die Farbe zusammen. Jede neue Rolle bedeutete dem Ende ein Stück näher kommen. Für sie blieb der Auszug ihres Sohnes nach wie vor unvorstellbar. So sehr sie sich auch ins Gewissen redete, sie konnte die unglaubliche Traurigkeit in sich nicht beherrschen. Sie hatte nach wie vor das Gefühl, dass sie ihn für immer verlieren würde. Und sie traute sich nach wie vor nicht, mit jemanden darüber zu reden. Sie war sich sicher, dass jeder sie nur auslachen würde. Besonders Eric.

Sie tat ihre Arbeit verzweifelt langsam. Es half nichts. Sie wurde fertig. Weinend stand sie in der schönen Wohnung, wo bald Kindergeschrei den Raum füllen würde. Auch darüber freute sie sich nicht. Sie konnte sich nicht damit anfreunden, Oma zu werden. Was für ihren Sohn Glück bedeutete, war für sie ein unbeschreiblicher Verlust ihrer Mütterlichkeit. Ja, sie fühlte sich durch den Auszug ihres Sohnes ihrer Mütterlichkeit ihm gegenüber beraubt.

Plötzlich.

Unerwartet.

Überraschend.

Sie konnte es nicht verkraften. Ihr schien ein Teil ihres Lebens weg zu brechen. Sie konnte es nicht aufhalten. Es war unwiderruflich. Es passierte ohne ihr Zutun, es passierte ohne ihre Erlaubnis. Es passierte einfach.

„Tom, mein kleiner Tom“, flüsterte sie leise in den Raum.

„Mama, ich bin doch da“, flüsterte Tom leise hinter ihr. Sie hatte nicht bemerkt, dass Tom zur Tür hereingekommen war.

Langsam drehte sie sich um und sah ihren Sohn an. Sie liebte es, wenn er Mama zu ihr sagte. Es schnürte ihr die Kehle zu.

„Mama, wein doch nicht. Kannst du dich denn gar nicht für uns freuen?“, fragte Tom traurig.

„Doch. Ich weiß doch, dass der Zeitpunkt irgendwann kommen musste.“

„Na also. Dann lächle wieder und wische die Tränen weg. Bitte. Anabell kommt auch gleich. Das sieht übrigens super aus. Du hast in der Farbauswahl wie immer die richtige Entscheidung getroffen. Passt alles gut zusammen.“ Tom nahm seine Mutter liebevoll in den Arm und hielt sie ganz fest. Es tat ihr unwahrscheinlich gut.

Anabell fand ihren Freund und ihre fast Schwiegermutter in dieser tiefen Umarmung vor. Sie hatte schon längst gemerkt, dass Toms Mutter Schwierigkeiten mit dem Loslassen ihres Sohnes hatte. Sie musste immer darüber schmunzeln. Als sie jetzt aber das tränen verschmierte Gesicht sah, überkam sie fast ein wenig Mitleid. Sie ging einfach zu ihnen und legte ihre Arme dazu.

„Das wird schon alles werden“, sagte Anabell leise.

Linda war gerührt. So kannte sie Anabell gar nicht. Sie konnte ja so etwas wie ein Herz haben, dachte sie. Plötzlich freute sie sich für ihren Sohn und Anabell. Sie spürte ein wenig Zuversicht und Vertrauen.

„Ja, es wird alles gut werden. Jetzt putze ich Euch noch die Fenster und dann verschwinde ich.“ Linda wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und machte sich an die Arbeit. Sie sah noch wie Tom und Anabell lachend und eng umschlungen die Wohnung verließen und dann war sie wieder allein.

Eric würde morgen von seiner Londontour zurück kommen und übermorgen sollte der Umzug stattfinden.

Sie fröstelte, wie so oft in letzter Zeit, wenn sie an Eric dachte.

 

***

Joanna war frustriert. Voller Wut schlug sie mit der flachen Hand auf ihren Schreibtisch und schnaufte laut.

Der ganze Tag schien schief zu laufen. Es fing schon morgens an. Sie hatte verschlafen und es war kein Kaffee im Haus. Es war nicht das erste mal, dass sie vergessen hatte einzukaufen. Völlig zerknirscht kam sie ins Büro. Der Automatenkaffee war kein Ersatz, das wusste sie. Die Laune blieb auf dem Nullpunkt. Die Rechnungen stapelten sich und ausgerechnet jetzt an diesem Tag musste auch noch das Computerprogramm abstürzen. Bis der Schaden behoben war, würden wertvolle ungenutzte Stunden vergeben. Joanna hasste verschwendete Zeit. Die Rechnungen mussten aber unbedingt noch raus und es würde Spätschicht für Joanna bedeuten. Ohne wenn und aber. Das passte ihr überhaupt nicht. Übellaunig schaute sie aus dem Fenster. Auch das Bild frustrierte sie. Sie schaute in den Hinterhof. Dort stapelten sich riesige Müllberge von zusammengefalteten Kartons und sonstigen Mist, der schon längst hätte entsorgt werden müssen. Das Büro war außerdem eine Katastrophe. Klein und dunkel. Am liebsten hätte Joanna ihre Sachen gepackt und wäre gegangen. Es kribbelte in ihren Fingern es zu tun. Es ging aber nicht. Sie setzte sich wieder zurück an ihren Schreibtisch und wartete. Auf ihrem Bildschirm blinkte eine Wartungsanzeige. Sie konnte nichts machen. Wenigstens hatte sie einen Blumenstrauß auf dem Tisch. Der einzige Lichtblick, für den sie selbst sorgte. Sie fing an zu träumen und wäre fast eingeschlafen. Endlich kam das erlösende Signal. Sie startete ihren Computer neu und konnte weiter arbeiten. Nur gut, dass sie sich so schnell in ihr neues Aufgabengebiet eingearbeitet hatte. Es stellte kein Problem für sie dar. Aber die Zeit war dahin.

Als sie die letzte Rechnung zur Anweisung nahm, musste sie schmunzeln.

Eric Sandermann. Reiseleiter.

Zum ersten mal an diesem Tag und das schon fast am Abend huschte ihr ein Lächeln übers Gesicht. Sie erinnerte sich an den netten Typen, der immer ganz konfus wurde, wenn er das Büro betrat. In der letzten Zeit kam er allerdings auffällig oft, wegen jeder Kleinigkeit und Nichtigkeit. Anfangs fiel es Joanna gar nicht auf, aber nun war sie sich sicher, dass sie der Grund dafür war. Er konnte richtig niedlich sein in seiner Unbeholfenheit ihr gegenüber.

Verträumt hielt sie die Rechnung in der Hand und dachte an Herrn Sandermann. Sie wusste, dass er verheiratet war. Mehr nicht. Er sah gut aus, verdammt gut sogar. Aber ein verheirateter Mann? Sie runzelte die Stirn und presste die Lippen zusammen.

Nein. Niemals. Das würde nur Ärger bringen. Sie schüttelte schnell weitere Gedanken an Herrn Sandermann ab.

Na immerhin kann ich dir dein Geld überweisen, sagte sie leise vor sich hin und beendete damit ihre Träumerei.

Wenig später war sie dann endlich fertig und entschied sich nach dem langen Tag für einen Kinobesuch.

Alleine.

 

***

Eric stand im Schlafzimmer vorm Kleiderschrank und überlegte, was er zur Einzugsparty seines Sohnes anziehen sollte. Linda würde ihm dabei keine große Hilfe sein, befand er schließlich. Seit Wochen war sie neben der Spur und heute besonders, fand er. Eric runzelte die Stirn. Er konnte sich immer weniger einen Reim darauf machen. Er war jedenfalls nicht der Schuldige, darin war er sicher. Er hatte auch keine Lust mehr, weiter darüber nachzudenken. So schlimm war es nun auch wieder nicht, beschied er für sich. Im Bett stimmte alles. Das war schließlich wichtig. Da hatte er nicht das Gefühl, dass sie sich ihm entzog, eher das Gegenteil. Sie wurde für seine Begriffe immer wilder. Dass das ein Ausdruck ihrer Verzweiflung war und dass das passend für seine angestaute innere Erregung nach einer anderen Frau war, kam ihn nicht in den Sinn. Er nahm es so hin, ohne zu denken.

Eric betrachtete sich selbstverliebt im Spiegel. Er wusste schon, warum die Frauen ihn begehrten. Konnte Frau bei so einem Körper nein sagen? Er lächelte sich zu und drehte sich wie ein Gockel.

Würde Joanna nein sagen?

Er war immer noch kein Stück weiter.

Seit Monaten schwänzelte er um sie herum. Eigentlich wollte er nicht. Aber er musste.

Er kam sich wie der letzte Depp vor. Aber es hielt ihn nicht zurück, weiter den Deppen zu spielen. Wenn er nur wüsste, ob Joanna schon etwas gemerkt hatte. Bestimmt, dachte er auf einmal beschämt. Sie würde sich garantiert schon über ihn kaputt lachen. Unsicher schaute Eric in den Spiegel. So unsicher war er schon lange nicht mehr in Bezug auf Frauen. Er seufzte tief auf.

Ach Linda, nur gut, dass ich dich habe. Bei dir bin ich sicher.

Dann nahm sich Eric das braun gestreifte Hemd, Lindas Lieblingshemd, und ging pfeifend zu ihr ins Bad.

Linda war fertig und saß unschlüssig mit herabhängenden Schultern auf dem Wannenrand. Eric sah sofort, dass irgendetwas los war. Er sah aber auch, dass Linda wunderschön war. Am liebsten wäre er mit ihr auf der stelle ins Bett gegangen. Es überkam ihn plötzlich mit voller Wucht.

„Was ist los, Linda?“, fragte er schroff und angenervt im Widerstreit seiner inneren Gefühle.

„Ich weiß nicht ob ich mitkommen soll.“

„Das kannst du nicht machen. Das ist Toms und Anabells Einweihungsparty. Das würden sie dir übel nehmen. Komm schon, es wird bestimmt nett. Ich freue mich drauf.

Linda dachte wütend, wenn ihr wüsstet was ich euch manchmal so übel nehme. Sie schloss die Augen, um Eric nicht anzublitzen. Sie wollte ihre aufkommende Wut, die allein schon durch Erics ungetrübte Fröhlichkeit plötzlich aufwallte, nicht wieder an ihm auslassen. Sie hätte ihm am liebsten angeschrien und aus dem Bad geschmissen. Sie konnte seine Freude an der Einweihungsparty nicht verstehen und schon gar nicht teilen. Sie hätte ihm ihr Verhalten aber nicht erklären können, deswegen ließ sie es bleiben.

„Ja, ja, ich komm ja schon mit“, sagte sie statt dessen betrübt.

 

Linda fühlte sich den ganzen Abend nicht wohl. Der einzige, der es bemerkte, war Tom.

Er beobachtete seine Mutter und sah den traurigen, ja fast schon vorwurfsvollen Blick in ihren Augen. Es machte ihn langsam wütend. Er spürte, dass sie ihm damit die Freude an seiner Feier nahm.

Was sollte er nur zu ihr sagen?

Mit einem Glas Sekt lockte er seine Mutter in eine ruhige Ecke.

Er konnte nichts sagen. Er nahm sie einfach in die Arme und gab ihr damit mehr, als tausend Worte vermocht hätten.

Es tröstete sie.

Es befreite ihn.

Mutter und Sohn.

 

III

***

Linda stand am Fenster. Sie dachte an Tom. Seit seinem Auszug vor zwei Monaten war er ein einziges mal zu Besuch gekommen. Linda war traurig.

Es hatte angefangen zu schneien. Ganz sanft rieselten die Flocken vom Himmel hinab. Jeder andere hätte sich über diesen Anblick gefreut. Es hatte etwas beruhigendes und leichtes an sich. Etwas getragenes und gehaltenes. Schweben wie in Watte gepackt. Dieses Bild verstärkte jedoch Lindas Trauer noch mehr. Sie kam sich so ganz anders vor. Ihr wäre ein Schneesturm lieber gewesen. So richtig mit Ach und Krach, das hätte etwas Wohltuendes.

Etwas Kräftiges.

Etwas Mitreißendes.

Aber dieses sanfte dahin schweben der Flocken machte ihr ihren Kummer nur noch bewusster und unerträglicher. Wie kleine Nadelstiche empfand Linda das sanfte schneien. Dieses leichte dahin schweben der Flocken übte plötzlich einen schier unerträglichen Schmerz in ihr aus. Sie hatte das Gefühl, als wenn er nie mehr vorübergehen würde. Langsam, ganz bedächtig bohrte er sich in sie hinein und verbreitete sich in ihr. Langsam.

Quälend.

Schleichend.

Selbst als sie ihre Augen schloss, sah sie den bohrenden dahinziehenden Schmerz in ihrem Körper. Er brannte in ihr.

Sie schlug mit ihren Fäusten auf das Fensterbrett. Immer und immer wieder. Sie brauchte diesen gewaltigen Gegenschmerz. Sie wollte den inneren Schmerz nicht mehr spüren. Wollte ihn stoppen.

Es gelang ihr nicht.

Er schien sich wirklich in ihrem Körper wohl zu fühlen.

Sie starrte wieder in die Schneeflocken. Sie konnte ihren Schmerz kaum aushalten.

Schneeflöckchen

Schneeflocke

Schneeball

Lawine

Linda fing verzweifelt an zu weinen.

Sie sah die kleinen Schneeflöckchen anwachsen zu riesigen Schneeflocken. Unwillkürlich formten sie sich zu einem Schneeball der immer größer wurde. Letztendlich sah sie sich von der Lawine überrollt, unfähig, sich wieder aufzurichten. Vergraben in der Dunkelheit des Schnees fand sie frierend den Tod. Keiner suchte sie.

Keiner vermisste sie.

Sie war allein.

Sie, die immer für alle anderen da war.

Sie, die nie an sich selbst dachte, musste einen qualvollen einsamen Tod sterben. Es gab auch keine Beerdigung für sie, weil man sie nicht fand.

Sie weinte immer heftiger.

Lawine

überrolle mich nicht

bitte

Ihre Gedanken an einen qualvollen einsamen Tod zwangen Linda in die Knie. Noch nie hatte sie dermaßen intensiv an den Tod gedacht und dass sie fähig war ihn so tief zu spüren, erschütterte sie.

Lawine

Schneeball

Schneeflocke

bleib ein Schneeflöckchen

Zitternd ließ sich Linda von den Schneeflöckchen davontragen.

Zitternd ertrug sie den Sonntag.

Zitternd lag sie des Nachts allein im Bett und sehnte den Morgen herbei.

 

Am Morgen fühlte sich Linda matt und müde. Sie hatte die ganze Nacht über Leben und Tod nachgedacht. Sie war entsetzt über sich, dass sie den Wunsch aufkommen ließ, niemals geboren worden zu sein.

War sie tatsächlich schon so tief gesunken? Warum nur?

Tief betrübt saß sie am Küchentisch und hielt sich an ihrer Kaffeetasse fest. Obwohl sie ihren dicken Bademantel an hatte, fror sie erbärmlich. Sie wurde das Zittern, was ihr die kleinen Schneeflöckchen am Vortag beschert hatten, einfach nicht mehr los.

Als Vivien in die Küche kam, setzte Linda jedoch schnell ein Lächeln auf und spielte ihr heile Welt vor. Vivien sollte sich keine Sorgen um sie machen, das wäre das letzte, was sie wollte.

Aber Vivien sah genauso bekümmert aus wie sie, stellte Linda mit einer tiefen Traurigkeit fest. Linda bemerkte ihre geröteten Augen und schaute sie fragend an.

„Nein, Mama, frag nicht. Schlimm genug, dass man es sieht. Wenn die wichtige Klausur heute nicht wäre, würde ich zu Hause bleiben. Also, bis heute Abend, Tschüss.“

Linda atmete tief durch. Über ihren Kummer hatte sie doch tatsächlich ihre Tochter vergessen. Wie konnte das nur passieren? Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie die letzten Wochen kaum mit ihr gesprochen hatte. Sie nahm sich vor, das zu ändern.

Da Linda noch etwas Zeit hatte, konnte sie in aller Ruhe noch eine zweite Tasse Kaffee trinken. Sie musste erst um neun im Büro sein. Linda war froh, dass sie die Arbeit im Steuerbüro hatte. Sie arbeitete 20 Stunden die Woche. Im Moment war es wohltuend für sie, dass sie 20 Stunden in der Woche aus ihrem Haus flüchten konnte. 20 Stunden konnte sie ihrem Schmerz entfliehen, der sich, wie sie immer mehr herausfand, in ihrem Haus zu verstecken schien und sie dort aufsuchte.

Nur dort.

 

***

Weihnachten stand kurz vor der Tür.

Eric hatte über über die Feiertage frei. Er hatte sich eigentlich eine Tour gewünscht, es wurde aber kein Reiseleiter benötigt. Es ärgerte ihn.

Vivien hatte Liebeskummer und permanent schlechte Laune.

Linda hatte Magenschmerzen. Der Schmerz konzentrierte sich zunehmend auf ihren Magen.

Keiner dachte an Weihnachten. Keiner wollte Weihnachten.

Im Haus lag Spannung.

Die Türen zu den Zimmern waren zu. Jeder wollte alleine sein.

Das Weinregal war gefüllt.

Linda weinte viel. Manchmal ununterbrochen.

Eric hatte aufgehört, ihre Tränen zu sehen.

Er hörte auch nicht mehr ihr Gekeife.

Linda konnte aufhören zu keifen.

Sie nahmen weiterhin alles so hin.

Täglich.

Die Zeiten, in denen Eric nicht anwesend war, wurden zunehmend von beiden als wohlverdiente Ruhephasen gesehen.

Sie sprachen kein Wort über ihre Gefühle.

Linda erlebte intensiv ihren Schmerz und Eric erlebte nebenbei intensiv seine Gefühle für eine andere Frau. Sie ließen beide weiterhin wortlos zu, dass ihre Körper sich liebten.

Intensiv.

Sie wollten beide die Feiertage überstehen.

 

Eric war in der Stadt. Er war auf der Suche nach einem passenden Parfüm für Linda. Ein Glück, dass ihr Fläschchen bald alle war. Er hätte sonst nicht gewusst, was er ihr sonst hätte schenken können. Er stand schon recht lange im Laden und schnupperte an den verschiedenen Flakons herum.

Er fand ihren Duft nicht.

Nicht annähernd.

Joanna.

Wollte er wirklich, dass Linda so riechen sollte?

Wollte er sich wirklich an ihren Hals schmiegen und sich in Gedanken Joanna vorstellen?

Joanna war immer noch unerreichbar für ihn.

Es machte ihn geradezu wütend.

Warum?

Er liebte doch Linda.

Er entschied sich dann für einen ganz anderen neuen Duft, der ihn auf andere Gedanken bringen sollte.

Linda.

Joanna.

Gemischt.

Mit gesenkten Kopf ging er die Einkaufspassage entlang. Er wollte noch nicht nach Hause. Was erwartete ihn dort schon? Er konnte Lindas jämmerliche Gestalt nicht mehr ertragen. Das ständige Geheule ging ihm auf die Nerven. Die anklagenden Blicke brachten ihn zur Weißglut. Er wollte das alles nicht mehr. Wenn er ehrlich war, wollte er Linda nur noch in der Nacht begegnen. Er war sich sicher, dass auch sie es wollte. Je unerträglicher der Tag war, um so schöner war die Nacht. Eric bildete sich das nicht nur ein, es war so. Warum es so war, war ihm unbegreiflich.

Dann sah er sie im Eiskaffee.

Sie sah ihn schon von Weitem.

Zaghaft hob sie ihre Hand. Unschlüssig, ob sie es tun sollte und ungläubig, ob er sie sehen würde.

Er ging langsam auf sie zu. Unschlüssig, ob er es tun sollte und ungläubig, ob er gemeint war.

Schüchtern, wie junge Teenager begrüßten sie sich. Es war anders als im Büro. Dort fühlten sie sich beide irgendwie sicherer. Hier wussten sie plötzlich nichts zu sagen.

Joanna schaute auf die Einkaufstüte aus der Parfümerie. Parfüm für seine Frau, dachte sie bitter. Weihnachten stand vor der Tür.

„Je dore“, sagte Eric plötzlich. Natürlich. So roch sie.

„Ja“, nickte Joanna und lächelte ihn an. Sie sah die Werbung vor sich und stellte sich vor, wie sie den Schleier fallend in ihr Schlafzimmer verschwand, gefolgt von ihm. Sie errötete leicht.

Eric fand sie zauberhaft.

Endlich kamen beide zu sich und konnten sich wie zwei normale Menschen unterhalten. Eric versuchte nach und nach unbemerkt an sie heranzurücken, was mit den leichten Alustühlen nicht allzu schwer war.

Joanna registrierte wohlwollend die Annäherungsversuche. Sie ließ es zu. Schon als Eric auf sie zukam, fand sie ihn äußerst erregend. Vor einem viertel Jahr, im Sommerurlaub hatte sie den letzten Orgasmus durch einen Mann.

Isa war auch gut, aber ein Mann war eben ein Mann.

Wenn er nur nicht verheiratet wäre, dachte sie angestrengt. Sollte sie sich wirklich auf ihn einlassen?

Lass es einfach laufen, dachte sie dann in ihrer unbekümmerten Art. Sie war schließlich frei und er würde schon wissen, was er tun würde.

Gerade als sie sich lachend ein wenig zu nahe mit ihren Gesichtern kamen, steuerte Vivien auf das Eiskaffee zu. Auch sie machte in der Einkaufspassage Weihnachtseinkäufe, obwohl ihr überhaupt nicht danach war. Sie hatte letztendlich auch nichts gefunden. Sie war nur mit ihrem Liebeskummer beschäftigt und hatte dadurch keinen Einfall für ihre Familie. Nun wollte sie sich wenigsten einen riesigen Eisbecher gönnen. Als sie ihren Vater allerdings mit einer fremden jungen Frau vor sich sah, verging ihr alles.

Hatten sie sich etwa gerade geküsst? Es sah für sie ganz danach aus. Sie blieb wie angewurzelt stehen und schaute ihrem Vater direkt ins Gesicht.

Eric erschrak, als er plötzlich seine Tochter vor sich sah, sagte aber nichts, sondern schaute sie nur mit großen Augen an.

Joanna merkte, dass irgendetwas nicht stimmte.

Keiner sagte etwas.

„Kennst du sie?“, fragte Joanna.

„Entschuldigung, ich habe mich verguckt“, antwortete Vivien schnell und verließ augenblicklich das Eiskaffee.

Eric hob gespielt ahnungslos die Hände.

Er konnte nicht mehr fröhlich sein. Die Stimmung schlug um und sie trennten sich.

Die erste Begegnung mit Joanna außerhalb des Büros endete frustrierend für Eric und eigenartig für Joanna. Joanna wusste überhaupt nicht, was sie von Eric halten sollte und was er überhaupt von ihr wollte. Sie hatte schon das Gefühl, dass er ihre Nähe suchte, aber dann war er doch wieder sehr zurückhaltend und verschlossen.

Waren verheiratete Männer immer so? Sie hatte bis jetzt die Finger von ihnen gelassen. Eric machte sie auf einmal sehr neugierig.

Eric dagegen traute seinen Gefühlen nicht. Er hätte Joanna am liebsten in die nächste dunkle Ecke gezogen und wäre über sie hergefallen.

Warum bloß?

Vom Typ her, glich sie Linda auffallend. Warum wollte er wechseln? Was machte das für einen Sinn? Sie war wesentlich jünger als Linda. Wollte er zurück in die Vergangenheit? Was war da besser? Oder hatte er etwa Angst vorm älter werden?

Er quälte sich mit Fragen und merkte gar nicht, dass er schon zu Hause war.

Wie sollte er sich überhaupt Vivien gegenüber verhalten?

 

Auch Vivien stellte sich die gleiche Frage. Sollte sie ihren Vater zur Rede stellen oder sollte sie alles vergessen und so tun, als wenn sie ihn nicht gesehen hätte? Schließlich konnte er ja eine alte Bekannte getroffen haben, mit der er sich angeregt über alte Zeiten unterhalten hatte. Dann fiel ihr aber gleich wieder ein, dass die Frau ziemlich jung gewesen war. Sie hätte eine jüngere Schwester von ihrer Mutter sein können. Ihre Mutter hatte aber keine Schwester.

Vivien trank ihre zweite Cola und konnte sich nicht dazu bewegen nach Hause zu fahren. Ihr Vater hatte sie mächtig geschockt.

Was bildete er sich eigentlich ein? Er zerstörte auf einmal ihre heile Welt von Familie. Wenigstens die Familie sollte heil bleiben, dachte sie wehmütig. Nachdem ihr Bruder ausgezogen war, blieb ihr doch nur noch Vater und Mutter. Obwohl sie mit ihrem Bruder oft Streit hatte, liebte sie ihn, wie man eben einen größeren Bruder liebte. Sie vermisste ihn. Sie vermisste seine laute Musik, seine brummelnden Antworten, seinen Galgenhumor, ja sogar seine kleinen Bösartigkeiten ihr gegenüber. Es tat ihr schon weh, dass er nicht mehr im Haus war und Unruhe verbreitete.

Was wäre nun, wenn ihr Vater wirklich mit dieser Frau etwas hätte? Müsste sie es nicht ihrer Mutter sagen?

Arme Mutter.

Böser Vater.

Plötzlich dachte sie wie ein kleines Kind und ihr standen die Tränen in den Augen. Vielleicht war sie aber auch nur so empfindlich, weil sie selber gerade ihre erste große Liebe verloren hatte?

Sie wusste nicht einmal, was sie verkehrt gemacht hatte. Er ließ sie einfach fallen, wie eine heiße Kartoffel. Nachdem er sie langsam ausgepellt und enthäutet hatte, durfte sie wieder gehen. Nach vier Monaten war sie nicht mehr interessant. Jedenfalls wusste sie nun wenigstens wie es ging. Es war kein Hochgenuss aber es konnte mit einem Sahneschnittchen allemal mithalten. Sie aß gerne Kuchen und ein Sahneschnittchen bekam bei ihr die Note zwei minus.

Wenn ihre Mutter wüsste.

Aber es kümmerte sich keiner um sie. Weder Mutter noch Vater. Sie war enttäuscht, traurig und hilflos. Sie war deprimiert. Jedenfalls für den Augenblick.

Sie legte großzügig Geld auf den Tisch und verschwand. Geh einfach weg, dachte sie. Lass den Müll dort und schau nach vorne. Sie wollte nicht traurig sein, dass passte einfach nicht zu ihr. Sie wusste, dass die Welt in ein paar Tagen für sie wieder anders aussehen würde.

Aber ihre Eltern? Was sollte sie da nur tun? Mund halten oder Klappe aufreißen?

 

***

Es blieb dabei. Im Hause der Sandermanns herrschte das erste mal einfach keine Weihnachtsstimmung.

Tom war entsetzt, als er mit Anabell zu Besuch kam. Die beiden wollten sich bei seinen Eltern vor ihrem letzten Urlaub, bevor das Baby zur Welt kommen würde, verabschieden. Fassungslos blieb er im Flur stehen. Er hatte sich auf das festlich geschmückte Haus seiner Familie und Kindheit gefreut. Kein weihnachtlicher Plätzchenduft. Keine weihnachtliche Dekoration. Nichts.

Das Haus war still und leblos.

Er fand seine Mutter oben in ihrem Arbeitszimmer vor der Staffelei. Sie war in Gedanken versunken und im Hintergrund lief leise Musik.

Tom klopfte zaghaft an die Tür. Linda schaute überrascht auf. Sofort lief ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie stand auf und drückte ihren Sohn ganz fest an sich.

Tom hatte das Gefühl, dass er für irgendetwas herhalten musste. Ihm schien seine Mutter verzweifelt Halt suchend. Er schob sie sachte von sich und sah dann ihren traurigen Blick. Immer noch dieser traurige Blick, wie bei seiner Einweihungsparty. Seitdem waren doch Wochen vergangen, dachte er betrübt.

Es traf ihn tief. So traurig hatte er seine Mutter noch nie gesehen. Aber er wusste sofort, dass er nicht derjenige war, der ihr helfen konnte. Aber wer konnte ihr helfen? Was war überhaupt passiert?

„Wann geht denn eure Reise los?“, unterbrach Linda endlich die Stille.

„Morgen. Anabell ist unten in der Küche. Wir wollten uns nur schnell verabschieden.“

„Ja, dann lass uns runtergehen.“

„Mama, in drei Tagen ist Weihnachten. Was ist hier los?“

„Wie, was ist hier los?“

„Weihnachten ist doch immer dein Highlight, Mama. Ich hatte mich darauf eingestellt, hier deine schöne Weihnachtsdekoration vorzufinden und den mir bekannten Weihnachtsduft einzuatmen.“

„Oh. Wenn ich gewusst hätte, dass du noch mal kommst ... Warum hast du nicht Beschied gesagt?“ Es legte sich noch mehr Traurigkeit um Lindas Augen.

Tom schüttelte fassungslos den Kopf. Sollte sein Auszug wirklich Schuld daran gewesen sein, dass es hier so kalt und ungemütlich war? Er konnte das nicht so recht glauben.

„Weihnachten hängt doch nicht von mir ab, ihr seid doch auch da und Vivien.“

„Ich habe es immer für euch gemacht. Du bist nicht mehr da und Vivien wollte den Scheiß nicht, wie sie unmissverständlich sagte.“

„Und dann fällt Weihnachten eben dieses Jahr aus“, beendete Tom Lindas Gedanken. Anabell hatte ihm oft genug prophezeit, dass seine Mutter es schwer haben wird, wenn er ausziehen wird. Er wollte es nie so recht glauben, aber nun fühlte er es. Und es ging ihm nicht gut dabei.

Sie lebt einfach zu sehr für uns Kinder, dachte er.

Er spürte auf einmal, wie ihn Weihnachten sentimental machte. Das hätte er nicht für möglich gehalten. Im stillen beschied er, dass seine Mutter damit alleine fertig werden müsste, er musste sich jetzt schließlich um seine eigene Familie kümmern. Er nahm seine Mutter noch einmal in die Arme und führte sie dann die Treppe runter. Mehr konnte er nun wirklich nicht tun.

Anabell hatte schon Kaffee gekocht und Eric hatte zum Glück beim Einkaufen an Weihnachtsplätzchen gedacht.

Vivien kam nach mehrmaligen rufen nicht aus ihrem Zimmer.

Tom ging schließlich zu seiner kleinen Schwester, die er heulend im Bett vorfand. Auch sie schmiss sich hilfesuchend an seine Brust.

Was war hier nur los? Wieder überkam ihn ein ungutes Gefühl.

Vivien erzählte ihm kurz von ihrer enttäuschten Liebe. Tom hörte ihr mitfühlend zu. Das kam ihm alles irgendwie bekannt vor. Nur aus der Sicht eines Mädchens hatte er es noch nie betrachtet und auch noch nie gehört. Er kam sich wie ein Schwein vor, hatte er doch selbst Mädchen so abserviert.

Sie tat ihm wirklich leid. Sie war so zart und zerbrechlich. Seine kleine Schwester. Nun lag sie wie ein Häufchen Unglück in seinen Armen.

Waren sie sich jemals als Geschwister so nahe gekommen?

Nie.

Aber auch hier fühlte sich Tom wieder irgendwie fehl am Platze.

„Du kannst doch auch mit Mama und Papa darüber reden, oder?“ Sanft strich er über ihren Kopf.

„Niemals. Es ist alles anders geworden, seit du weg bist. Ich will auch weg.“

Tom schnürte sich der Hals zu. Schon bei seiner Mutter fühlte er sich schuldig und nun kam von seiner Schwester der direkte Vorwurf.

„Was wäre denn, wenn ich noch hier wäre, Vivien?“

„Ich weiß es auch nicht. Jedenfalls stimmt hier nichts mehr. Ich fühle mich nicht mehr wohl.“

„Wir hatten doch nie viel miteinander zu tun, Vivien.“ Tom klang jetzt ein wenig verzweifelt.

„Nee, ich weiß. Aber die Stimmung ist umgeschlagen. Ganz gewaltig. Mama hat sich verändert und Papa auch." Vivien überlegte, ob sie Tom von ihrem Verdacht erzählen sollte, dass ihr gemeinsamer Vater vielleicht eine Affäre hatte und dass sie dadurch in einen gewaltigen Gewissenskonflikt geraten war. Es machte ihr schwer zu schaffen, mehr noch als ihr Liebeskummer, wenn sie es sich so recht überlegte. Aber dann entschloss sie sich, es ihm nicht zu erzählen. Irgendwie dachte sie, dass er sich lieber auf seinen Urlaub und auf sein Kind freuen solle. Als sie ihn genauer in die Augen schaute, sah sie aber, dass Tom nicht gerade glücklich aussah.

„Na, komm schon Brüderchen. Ich kriege mich schon wieder ein. Das bisschen Liebeskummer wird mich nicht umhauen. Und damit unsere Mutter für heute auch mal wieder lächelt, werde ich jetzt mit dir raus kommen. Dann hat sie ihre Familie mal wieder komplett am Tisch. Ich glaube das wünscht sie sich am meisten.“

Tom spürte instinktiv, dass Vivien ihm etwas verheimlichte. Nun schien es ihm fast unmöglich, dass er der alleinige Grund für die, wie sagte Vivien so schön, umgeschlagene Stimmung war. Es erleichterte ihn ein wenig, aber ganz wohl war ihm immer noch nicht.

Was hatte Vivien plötzlich gegen die Eltern?

Tom verließ mit bedrückter Stimmung sein Elternhaus. Der einzige, der ihm völlig normal schien, war sein Vater.

Wie sollte er sich nur auf seinen einzigartigen Urlaub freuen?

 

***

Das Weihnachtsfest wurde eine Katastrophe. So viele freie Tage mit so viel Spannung im Haus war einfach nicht auszuhalten. Jeder verschwand immer wieder möglichst schnell aus der Küche, die seit Jahren der gemeinsame Treffpunkt aller war.

Vivien verschanzte sich hinter ihren Liebeskummer. Aber wenn sie ehrlich war, dann ging sie eigentlich nur ihrem Vater konsequent aus dem Weg. Sie konnte ihn nicht mehr ertragen. Sie hatte ein feines Gespür. Sie sah, dass sie ihn damit quälte. Damit war sie sich sicher, dass er etwas zu verbergen hatte. Sie warf ihm bissige Blicke zu und er krümmte sich unter diesen anklagenden Blicken.

Geschieht dir recht, dachte Vivien bissig.

Eric wollte sich das nicht bieten lassen, fand aber keinen Zugang zu seiner Tochter. Was und wie hätte er ihr alles erklären können? Er war selbst unfähig, alles für sich zu erklären. Er konnte sich einfach keine Klarheit verschaffen. Er fragte sich immer wieder, warum es ihn zu Joanna zog. Was machte sie so attraktiv für ihn? Was hatte sie, was Linda nicht mehr hatte? Er quälte sich weiß Gott genug und da musste ihn nicht auch noch seine Tochter dermaßen zusetzen.

Das hatte er nicht verdient.

Auch Linda hatte ein feines Gespür. Der Kleinkrieg zwischen den beiden blieb ihr nicht verborgen.

Beim Abendbrot hatte sie genug von der angespannten Sprachlosigkeit zwischen Eric und Vivien. Es wurde immer unerträglicher für sie. Wenigstens Vater und Tochter sollten miteinander reden, wenn es Mann und Frau schon nicht taten. Sie knallte so unerwartet mit der Hand auf den Tisch, dass Eric und Vivien zurückwichen und sie völlig entgeistert anblickten.

„Jetzt sagt endlich, was zwischen euch los ist. Das kann ja kein Mensch aushalten.“

Vivien und Eric schauten sich an und beide wussten, dass sie nicht mit der Wahrheit herausrücken konnten.

Vivien war klar, dass sie das alleine mit ihrem Vater klären musste.

Eric war klar, dass er nichts erklären konnte.

Mit flehenden Augen schaute er seine Tochter an und hoffte innigst, dass ein Wunder geschehen würde. Er vergaß zu atmen und ihm wurde fast schon schwarz vor Augen, als Vivien plötzlich sagte: „Papa hat mich beleidigt.“

Dann hörte er sich wie hinter einer Wand erleichtert sagen: „Tja, ich habe Vivien beleidigt.“ Dankbar sah er Vivien an und konnte sich nicht erklären, was sie zu dieser Antwort bewogen hatte.

„Ja, dann klärt das doch bitte. Ihr zwei seid doch wohl alt genug dazu. Ihr seht jedenfalls beide nicht danach aus, als wenn ihr mit mir darüber reden wolltet.“ Linda schaute abwechselnd zu Vivien und Eric.

Viel zu hastig antworteten beide mit nein. Für Linda blieb alles weiterhin ein Rätsel. Sie hatte momentan absolut keine Lust auf Rätsel. Sie wollte schlicht weg ihre Ruhe haben. Sie sehnte sich fast danach, dass Eric wieder fahren würde.

Sie wusste nicht warum.

Sie war entsetzt über ihre Gedanken.

 

Vivien hatte nach der Begebenheit am Küchentisch nur einen Begriff für ihren Vater.

Waschlappen. Weichei.

Sie war in ihrem Zimmer und beschallte sich mit ihrer Lieblingsmusik. Sie sah nicht, dass ihr Vater in der Tür stand.

Eric machte sich nicht bemerkbar. Er betrachtete genauer das Zimmer seiner Tochter. Mit Erschrecken musste er feststellen, dass er diesen Bereich seit Ewigkeiten nicht mehr betreten hatte. Wie konnte er nur so seine Tochter vernachlässigen, ging es ihm durch den Kopf. Sicher, auf Anhieb hatte er zig Entschuldigungen parat. Aber das Mädchen vor ihm, kam ihm plötzlich nicht wie seine Tochter, sondern wie ein fremdes Wesen vor. Sie war hübsch und fraulich. Das hatte er an ihr so noch gar nicht gesehen. Für ihn war sie immer noch die kleine Vivie. So wie er sie jetzt sah, stimmte das überhaupt nicht mehr. Er musste sich eingestehen, dass er rein gar nichts über Vivien wusste. Sie war jetzt in der 12. Klasse. Was wollte sie überhaupt werden? Was hörte sie für Musik? Was machte sie überhaupt in ihrer Freizeit?

Er kam sich in seiner Vaterrolle plötzlich als großer Versager vor. Diese Erkenntnis traf ihn tief. Er wollte alles wieder gut machen aber im gleichen Augenblick wusste er, dass es längst zu spät dazu war. Er wollte fast schon wieder geräuschlos das Zimmer verlassen, als sich Vivien plötzlich umdrehte und sich die Kopfhörer runter riss.

„Stehst du schon lange da“, herrschte sie ihren Vater an, so dass Eric ihr am liebsten eine geknallt hätte. Also doch zu spät, dachte er wehmütig.

„Ich danke dir.“

„Wofür? Dass ich dir vor Mama den Allerwertesten gerettet habe?“

„Vivien, nicht in diesem Ton.“

„Nein. Dann erkläre mir, was ich in dem Eiskaffee gesehen habe. Und warum du mir seit dem aus dem Wege gehst? Hm? Ich höre?“ Vivien war außer sich. Sie wusste, dass sie so nicht mit ihrem Vater reden durfte. Aber sie konnte nicht anders. Sie hatte eine unglaubliche Wut auf ihn, gemischt mit einer großen Portion Enttäuschung.

„Das hat alles keine Bedeutung.“

„Klar, das hat keine Bedeutung. Weiß Mama auch, dass das keine Bedeutung hat? Ich glaube nicht.“ Vivien wollte den Worten ihres Vaters Glauben schenken und so, wie er vor ihr stand, hätte sie ihn am liebsten umarmt. Aber ihr Inneres schrie, dass die Worte nicht stimmten. Sie fühlte plötzlich einen tiefen schmerzhaften Riss in sich, der ihr die Tränen in die Augen trieb.

„Vivien. Mama muss davon nichts wissen. Du verstehst da was falsch. Wir hatten uns einfach nur nett unterhalten. Sie saß am Tisch und wir kamen ins Gespräch. Was ist daran so schlimm.“

„Nichts, gar nichts. Wenn man der flüchtigen Bekanntschaft nicht ins Gesicht kriechen würde und wenn man sich hinterher normal benehmen würde, dann würde ich sagen, daran ist nichts Schlimmes.“ Vivien presste den Satz ohne Luft zu holen aus sich raus.

„Also wirklich Vivien. Da war gar nichts. Das hast du völlig falsch gesehen. Ich kenne diese Frau nicht einmal.“

„Das wäre auch besser so. Stimmt das auch?“ Sie wünschte sich von ganzen Herzen, dass ihr Vater recht mit dem hätte, was er sagte. Warum konnte sie es ihm nicht glauben?

„Ja. Mach dir keine Sorgen.“

„Und warum gehst du mir seitdem aus dem Weg?“

„Mach ich doch gar nicht. Das kommt dir nur so vor.“

„Meinst du. Ich sehe das anders.“

„Vivie...“ , Eric wusste nichts zu sagen.

„Weißt du Papa, seit Tom weg ist, geht hier alles drunter und drüber.“

„Meinst du? Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.“ Eric wollte alles herunterspielen. Ihm wurde bei Viviens Worte allerdings richtig bewusst, dass er der Wahrheit einfach nicht ins Auge schauen wollte. Er schob es wirklich vor sich her.

„Papa, das ist jetzt aber nicht dein Ernst. Mama ist ständig traurig. Sie tut mir leid.“ Vivien fühlte eine tiefe Liebe zu ihrer Mutter. Wieder schossen ihr Tränen in die Augen.

„Ach, komm. Sie hat doch uns. Und zwischen uns ist jetzt auch wieder alles gut, oder?“ Eric ging auf seine Tochter zu und nahm sie in den Arm. Vivien ließ es geschehen und drückte schnell ihre Tränen weg.

„O.k. Und nun lass mich meine Musik hören.“ Vivien setzte ihre Kopfhörer auf und ließ dann ihren Vater einfach so stehen. Nein, sie glaubte ihm nicht. Das machte alles noch viel schlimmer für sie.

Waschlappen.

Sie liebte den Waschlappen.

Er war ihr Vater.

 

 

Eric verließ Viviens Zimmer und schloss leise die Tür. Er ging ins Wohnzimmer und goss sich ein Glas Whisky ein. Das Gespräch mit Vivien setzte ihm mehr zu, als ihm lieb war. Er wirkte zwar augenscheinlich erleichtert, aber im Inneren war ihm nicht wohl, dass er seine Tochter so täuschen musste. Er war sich nicht sicher, ob sie ihm glaubte. Das war die eine Seite des Gesprächs. Die andere Seite drehte sich um ihre Sorge, dass sich alles verändert hatte, seit Tom weg war. Natürlich war auch ihm aufgefallen, dass seitdem alles anders war. Aber er verdrängte diesen Zustand immer und immer wieder. Letztendlich fand er es ganz normal, dass sich etwas verändern musste, schließlich fehlte ja eine Person. Er ging einfach davon aus, dass sich alles wieder einpegeln würde. Warum nicht? Aber Vivien betonte es extrem und dass machte es ihn zum ersten mal etwas nachdenklicher. Vielleicht sollte er wirklich mal mit Linda darüber reden?

Reden.

Aber er wollte nicht reden. Er wollte seine Ruhe haben. Verdammt noch mal. Er goss sich noch ein Glas ein.

Der Anstoß von Vivien bewirkte ein kurzzeitiges aufflackern in ihm. Er wurde fast schon unruhig. Er hätte nicht gedacht, dass Vivien schon so reif war und so feinfühlig sein konnte. Typisch Frau, dachte er. Auf einmal wurde Eric unheimlich stolz auf seine Tochter. Seine Gesichtszüge entspannten sich. Er hatte wirklich ihre Entwicklung verpasst. Plötzlich konnte er Linda ein wenig verstehen, als sie vor ein paar Monaten wehmütig mit Blick in den Garten gefragt hatte, wo die Zeit nur geblieben war. Für sie musste das alles noch viel schlimmer sein, ahnte Eric nun. Sie war ja immer hautnah dran an den Kindern und hatte jede ihrer Schritte überwacht.

Und seine eigenen etwa auch?

Hatte sie auch ein Auge auf ihn?

Nun wurde ihm ein wenig mulmig zu Mute. Er musste zu Linda. Er stellte sein Glas ab und streifte durchs Haus.

Eric fand Linda in ihrem Arbeitszimmer. Die Tür war geöffnet. Sie saß vor ihrer Staffelei und malte mit einer Hingabe an einem für ihn unbeschreiblich faszinierenden Werk. Seine Augen mussten sich sofort auf die Mitte des Bildes richten. Sie wurden förmlich von einer dunklen klaffenden Wunde angezogen. Er konnte aber nicht lange bei dieser hässlichen und schmerzenden Wunde verweilen. Musste er auch nicht. Sofort wurde sein Blick in andere Richtungen gezogen. Er wusste gar nicht, wohin er zuerst gucken sollte. In der oberen rechten Ecke präsentierte sich ihm ein Lichtschein so hell, dass es fast schon in den Augen schmerzte. Gleichzeitig wurde sein Blick in die untere rechte Ecke gezogen, wo sofort Wärme in sein Herz strahlte. Die anderen beiden Ecken waren noch nicht vollständig, aber sie offenbarten einen Weg nach draußen, wohin es Eric drängte, denn sein Blick wurde unwillkürlich immer wieder zurück in die Mitte des Bildes gezogen, wo er nicht verweilen wollte.

Eric machte sich nicht bemerkbar und beobachtete Linda. Auch hier schien ihm etwas entgangen zu sein. Er stand mit offenen Mund da.

Das sollte seine Frau vor ihm sein? Er wusste gar nicht, dass Linda sich so einfangen lassen konnte bei ihrer Malerei. Er hatte es immer als Spielerei angesehen und ihr keinerlei Beachtung geschenkt. Nun sah er sich zum ersten mal genauer an, was sie da tat. Sie schien in einer ganz anderen Welt zu sein. Ihre Bewegungen waren fließend, sie malte mit ihrem ganzen Körper. Sie steckte förmlich in dem Bild und versuchte sich anscheinend gerade wieder herauszuwinden. Sie kämpfte und stöhnte leise auf.

Gebannt starrte er auf ihren Rücken.

Er begriff, dass sie nicht irgendetwas malte, sondern voller Hingabe ihr eigenes Gefühl. Er war hingerissen von dem, was er sah. Sie malte und lebte ihr Gefühl. In einem war er sich sicher, es war etwas explosionsartiges. Plötzlich bekam er Angst.

Eric wusste nicht, wie lange er hinter ihr gestanden hatte. Er ließ sich einfangen und war gefangen. Er wollte seinen Platz aber nicht verlassen. Er war immer noch ganz still.

Endlich schien Linda fertig zu sein. Noch lange nicht mit dem Bild, aber für den Moment mit sich. Sie ließ ihre Arme sinken und nickte leicht mit dem Kopf. Sie streckte sich und stand auf. Eric schien es, als wenn sie sich ganz langsam, wie in Zeitlupe umdrehte. Er schaute sie mit ganz großen Augen an, unfähig etwas zu sagen.

Sie dagegen blickte ihm ganz ruhig ins Gesicht. Sie war nicht überrascht über ihren stillen Zuschauer, es war eher so, als wenn sie gespürt hätte, dass er hinter ihr stand. Sie lächelte ihn an. Sie hatte Schweißperlen auf der Stirn.

Eric war fasziniert und konnte immer noch kein Wort sagen. Er musste schlucken. Sie sah wunderschön aus. So zufrieden mit sich selbst. Wie aus einer anderen Welt entsprungen.

War das seine Linda?

Kannte er so seine Linda?

Eric machte einen Schritt auf Linda zu und strich ihr die Schweißperlen aus der Stirn. Erst jetzt sah er, dass ihre Bluse an ihr klebte. Sie bebte. Ihre Brust hob und senkte sich. Eric wurde fast schwindlig vor Gier nach dem sich ihm bietenden Anblick.

Das Fleisch bebte und wölbte sich ihm entgegen.

Es gehörte ihm.

Er durfte zugreifen.

Warum war er so zaghaft? Er nahm sich doch sonst alles, was ihm gehörte. Sogar das, was ihm nicht gehörte. Warum kam ihm jetzt in den Sinn, fragen zu müssen? Und tatsächlich hörte er sich leise und schüchtern fragen: „Darf ich“?

Linda lächelte ihn an und wunderte sich ein wenig über seine Zurückhaltung. Vielleicht lag es daran, dass er sich schuldig fühlte, weil er sie heimlich beobachtet hatte, dachte sie kurzweilig. Aber viel wichtiger war für sie im Moment, dass er genau zum richtigen Zeitpunkt da war.

Sie hatte sich beim Malen ganz der Liebe hingegeben und hielt sie nun in den Händen. Sie war hin und weg. Die Liebe durchdrang ihren Körper. In dem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass sich nun diese Liebe auf sie beide übertragen würde.

Innerlich.

Tief und fest.

Für immer.

Jede Faser ihres Körpers vibrierte und gierte nach Liebe. Das war ihr so noch nie passiert, dass sie beim Malen diesen Zustand erreichte.

Das war Premiere.

Sie glühte und musste gelöscht werden. Was wäre gewesen, wenn Eric nicht gekommen wäre? Sie hätte heimlich im Bad oder gar hier direkt vor der Staffelei alleine für Abkühlung sorgen müssen.

Was für ein Zufall?

Er war da zur Premiere.

Premiere der Liebe.

Sie wollte ihn. Nur ihn.

Sie wollte ihre tiefe Liebe mit ihm teilen.

Sie drängte ihren verschwitzten Körper an seinen und hielt ihn zurück, als er mit ihr ins Schlafzimmer gehen wollte. Der Weg dorthin war ihr zu weit, sie brauchte nicht mehr lange, die Hälfte des Weges war sie bereits gegangen. Sie hatte einen Vorsprung und sie war nicht bereit, diesen einzubüßen.

Eric musste sich anstrengen, dass er mit ihr mithalten konnte. Sie war ungehalten und ungeduldig. Wild. Er war ihr zu langsam. Sie war fertig, bevor er kommen konnte. Dabei wollte sie doch gemeinsam mit ihm die Liebe lieben. Innerlich. Tief und fest. Für Immer.

Sprachlos schauten sie sich in die Augen. Sie waren beide überrascht.

Er kam zu spät zur Premiere.

 

***

Joanna stand am Fenster und schaute auf die andere Straßenseite. Fast alle Fenster waren weihnachtlich geschmückt. Sie erinnerte sich an ihre Kindheit. Auch ihre Eltern hatten immer das Haus festlich herausgeputzt und eine große Tanne zierte das Wohnzimmer. Sie fand es schön und freute sich schon immer im voraus auf Weihnachten. Das war einmal.

Seit Joanna ihre Eltern verlassen hatte, war sie es gewohnt, die Feiertage allein zu verbringen. Sie wurde zwar jedes Jahr von ihren Eltern zu Weihnachten eingeladen, aber sie lehnte jedes Jahr dankend ab. Die Fahrt nach Thüringen war ihr einfach zu weit und sie wusste, dass sie keine zwei Stunden bei ihren alten Eltern in der Stube verbringen konnte. Die Zeiten waren einfach vorbei. Es schnürte ihr jedes mal den Hals zu, wenn sie bei ihren Eltern war. Sie hatte keine Erklärung dafür, wollte es sich aber nicht mehr antun. Sie telefonierte einmal in der Woche mit ihnen, um über ihre eigenen nicht definierbaren Schuldgefühle hinwegzukommen.

Aber dieses Jahr wollte sie nicht alleine zu Hause bleiben. Kurz entschlossen fuhr sie mit ihrer Freundin Isa für ein paar Tage in ein Wellnesshotel. Sie hatte es sich verdient, Urlaub zu machen. Schließlich war sie seit dem Sommer nicht mehr weg.

Sie hoffte, dass ihr dann endlich Eric Sandermann aus dem Kopf gehen würde.

 

Isa und Joanna kannten sich seit 5 Jahren. Ihre Bekanntschaft begann in einer Wohngemeinschaft. Nach drei Wochen ging Joanna ein Licht auf, dass Isa lesbisch war und auf sie stand. Sie stand Kopf und wollte Reißaus nehmen.

Wo sollte sie aber hin?

Es war schwer genug überhaupt eine so günstige Bleibe zu finden. Joanna fühlte sich damals mit ihren 22 Jahren überfahren und hilflos. Sie kannte keinen in der Stadt und ihren Job wollte sie auch nicht verlieren. Sie musste sich also Isas Annäherungsversuchen stellen. Und zwar schnell und eindeutig.

Sie konnte sich immer noch an das klärende Gespräch erinnern. Sie saßen stundenlang in der Küche und tranken ein Tee nach dem anderen. Isa schien überhaupt kein Problem mit ihren Äußerungen und Aussagen zu haben. Im Gegenteil, Joanna fand, dass Isa sehr souverän damit umging. Sie schien es fast zu genießen und ihre Absage beeindruckte sie anscheinend überhaupt nicht.

Wer hinterher ein Problem hatte, war Joanna selbst. Sie hatte sich immer eingebildet nur für Männer da zu sein und zu empfinden. Niemals anders. Plötzlich weckte eine Frau ganz vorsichtig und bedächtig in ihr eine Empfindung, die sie nie in sich vermutet hätte und die nun unerwartet zum Klingen kam. Sie fing tatsächlich an, sich für Isa zu interessieren.

Isa bedrängte Joanna damals nicht, denn sie spürte sehr wohl und sehr genau, dass Joanna zu einer Beziehung mit einer Frau auch bereit war. Sie hatte schließlich einen Blick dafür. Sie musste nur geduldig abwarten. Joanna war es ihr wert.

Joanna hätte nicht gemusst, aber sie wollte irgendwie. Isa hatte etwas dominant männliches an sich, dem sich Joanna nicht entziehen konnte. Sie fühlte sich tatsächlich zu Isa hingezogen. Nicht ausschließlich. Den Männern war sie ebenso zugeneigt. Sie wollte und konnte beides.

Isa verstand es.

Seit 5 Jahren.

Die Wohngemeinschaft lösten sie allerdings relativ schnell auf. Jede suchte sich eine eigene Wohnung. Sie trafen sich manchmal ganz unverbindlich, wie eben dieses Jahr zum gemeinsamen Weihnachtsurlaub.

 

Mit einem fruchtigen Longdrink lagen sie am Swimmingpool und erzählten sich die Neuigkeiten der letzten Wochen.

Joanna berichtete Isa von Eric Sandermann.

„Na, da hat aber jemand Feuer gefangen“, meinte Isa beiläufig. Genüsslich rekelte sie sich auf ihrer Liege und nippte an ihrem Trink. Sie fand es wunderschön mit ihrer Freundin zusammen zu sein. Sie hatte sich wirklich sehr über Joannas Anruf gefreut und hatte sofort eingewilligt, mit ihr mitzufahren. Sie wusste von vorn herein, dass sie es nicht bereuen würde.

„Das kann man so nicht sagen. Ich bin nur, wie soll ich sagen, neugierig?“ Joanna wusste, dass sie mit Isa ganz offen darüber reden konnte. Schließlich war Isa darüber im Bilde, dass sie auf Frauen und Männer stand und sie akzeptierte es. Obwohl sie intensiv an Eric dachte, beäugte sie Isas muskulären weiblichen Körper, der, sie konnte es nicht leugnen, einen unheimlichen Reiz auf sie ausübte.

„Hey, lass die Finger von verheirateten Männern. Die suchen nur irgendetwas, was in ihrer Beziehung fehlt und zum Schluss stellen sie fest, dass es doch nicht gefehlt hat. Und dann lassen sie dich fallen. Einfach so. Mit der fadenscheinigen Begründung, aus uns wäre sowieso nichts geworden. In Wahrheit haben sie Schiss vor der eigenen Frau.“

„Du magst vielleicht recht haben. Aber ich glaube bei Eric ist das alles anders. Ich werde aus ihm nicht schlau. Überlege mal, seit April stiefelt er hinter mir her. Er kommt mir total unbeholfen oder zaghaft oder was weiß ich nicht wie vor. Ich kann mir einfach keinen Reim daraus machen. Weißt du, deswegen bin ich auch irgendwie neugierig geworden. Ich glaube, der weiß selbst nicht was er will.“

„Hm. Hört sich wirklich komisch an. Total untypisch für einen, der mal schnell fremdgehen will. Der greift nämlich bei der erst besten Gelegenheit zu. Da gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder, er ist Anfänger im Fremdgehen und ist sich noch nicht so richtig sicher, ob er seine liebe Gattin betrügen soll oder nicht, oder aber, er hat es richtig ernsthaft auf dich abgesehen, mein Schätzchen. Und das braucht dann eben ein bisschen mehr Zeit.“

„Verstehe ich nicht.“

„Ne? Hast du nicht gesagt, dass er oft ins Büro kommt, obwohl nichts anliegt, stottert, einen roten Kopf kriegt, fahrige Bewegungen macht und so weiter? Sieht das nach einer normalen Begegnung aus? Steckt da nicht mehr dahinter?“

„Jetzt übertreibst du aber.“ Obwohl Joanna immer noch nicht genau wusste, worauf Isa hinaus wollte, ahnte sie es jedoch.

„Das waren deine Worte“, grinste Isa.

„Du meinst, er hat sich ernsthaft in mich verliebt ?“

„Könnte doch sein.“

„Ach du großer Gott. Das hättest du mir jetzt nicht sagen dürfen. Wie soll ich mich denn nun beim nächsten mal verhalten?“

„Bleib erst mal ganz ruhig und beobachte die ganze Sache.“

„Das wird jetzt schwer möglich sein mit dem Gedanken im Hinterkopf.“ Joanna blies die Backen auf und ließ die Luft wieder geräuschvoll stoß weise entweichen.

„Das kann ja auch alles ganz anders sein. Und dein Eric entpuppt sich als ein Blindgänger.“

„Du hast ihn noch nicht gesehen. Ein Traum von einem Mann. Der ist ganz bestimmt kein Blindgänger. Kann ich mir absolut nicht vorstellen. “

„Was willst du eigentlich, Joanna?“

„Wenn ich das wüsste. Ich weiß ganz genau, dass es nur Ärger geben wird. Aber es reizt mich einfach. Ich kann irgendwie nicht aufgeben und nein zu der Sache sagen, obwohl ich es müsste. Die gelackmeierte werde ich zum Schluss sein, auf jeden Fall. Das weiß ich doch. Der bleibt bestimmt bei seiner Frau. Vielleicht finde ich ja wenigstens heraus, was sein Ansinnen ist?“

„Oh, wie nobel. Vergiss es. Fange bloß nicht an, dich zwischen ihn und seine Frau zu stellen. Das ist Mist. Entweder du lässt die Finger von ihm, oder aber du gestattest ihm eine kleine heimliche Affäre mit dir. Ich sagte Affäre. Und heimlich. Du weißt, was das bedeutet. Du musst ihn gehen lassen. Zu jeder Zeit. Du hast keinen Anspruch auf ihn. Nur so kann die Affäre für dich schön sein. Es sei denn, er macht einen Schlussstrich und ist für dich frei. Dann kannst du anfangen an mehr und vielleicht auch an Liebe zu denken.“

„Hm. Klare Anweisung. Und das funktioniert?“

„Affären funktionieren nie, Joanna.“

„Auch klar.“ Joanna schaute betrübt in ihr Glas, welches schon seit einigen Minuten leer war. Sie wollte doch Eric Sandermann vergessen.

„Weißt du was“, sagte sie plötzlich, „wir gehen jetzt zur Massage und verlangen den geilsten Kerl, den sie dort haben.“

„Ja, für dich“, sagte Isa mit vollem Lachen. Sie freute sich eher auf zarte Frauenhände. Sie war sich sicher, diese zu bekommen. Wenn nicht jetzt bei der Massage, dann spätestens in der Nacht in der Suite.

 

***

Januar

 

Tom und Anabell standen nach ihrem Urlaub strahlend im Flur. Linda ahnte sofort, dass irgendetwas großartiges mit ihnen passiert war. Sie spürte, dass sie regelrecht platzten vor Anspannung und als Tom noch nach seinem Vater und Vivien fragte, wusste Linda, dass wirklich eine wichtige Neuigkeit zu verkünden war. Zum Glück kamen Vivien und Eric sofort aus dem Keller, wo sie gerade Viviens Fahrrad reparierten. Endlich waren sie alle im Wohnzimmer versammelt.

Tom und Anabell konnten kaum noch an sich halten. Anabells Bauch wölbte sich ihnen allen stolz entgegen und Linda sah sich plötzlich mit Erschrecken als Oma von Zwillingen.

Nein. Es kam anders.

Tom legte eine DVD ein und Familie Sandermann erlebte eine Hochzeit, die vor zehn Tagen am 30. Dezember stattgefunden hatte.

Vivien weinte.

Eric war stolz.

Linda war froh, dass das alles im Dezember und nicht im Januar passiert war.

 

Januar 1975

 

Lindas Eltern waren erbost. Seit Tagen wehrte sich Linda äußerst hartnäckig, mit ihnen in den gemeinsamen Winterurlaub zu fahren. Mit ihrer ganzen Bockigkeit hatte sie es auch noch geschafft, ihren kleineren Bruder anzustecken, der nun auch langsam anfing zu maulen. Lindas Eltern wollten aber unbedingt an dem bewährten Familienwinterurlaub im Januar in der Schweiz festhalten. Sie hatten sogar fünf schulfreie Tage für ihre Kinder erkämpft, was nicht leicht war.

Sie konnten wirklich nicht verstehen, warum Linda ihren Freund nicht einmal für ein paar Tage zurücklassen konnte. Sie waren gerade mal seit zwei Monaten zusammen. Nicht dass sie kein Verständnis für diese junge Liebe hatten, im Gegenteil, sie mochten Eric von Anfang an sehr gern. Sie wollten aber nicht nachgeben. Sie waren die Eltern.

Eine Woche ohne Eric, dass müsste doch wohl möglich sein, war ihre Meinung, an der sie festhalten wollten, bis zum bitteren Ende.

Aber das war gerade das, was eben nicht möglich war in Lindas Augen. Sie konnte es ihren Eltern aber nicht erklären. Sie war sich hundertprozentig sicher, dass sie Eric, wenn sie ihn für diese Zeit verlassen würde, verlieren würde.

Eric war nämlich der Frauenschwarm der ganzen Stadt. Wer ihn bekam, machte für ihn alles und sofort. Aber Linda hielt ihn bereits seit zwei Monaten hin. Sie war noch keine Frau. Aber jetzt, gerade jetzt, wo sie endlich soweit und bereit war, konnte sie doch nicht mit ihren Eltern in den Skiurlaub fahren und Eric der wartenden Meute überlassen. Das war einfach unmöglich. Dieser Urlaub sollte ihrer geplanten Entjungferung nun wirklich nicht im Wege stehen. Aber das konnte sie ihren Eltern wohl kaum begreiflich machen.

Letztendlich hatte sie es aber doch irgendwie geschafft, ihren Willen durchzusetzen. Auf Biegen und brechen. Ihr Bruder hatte allerdings mit seinen 14 Jahren kein Glück, er musste wohl oder übel mitfahren.

Linda blieb mit ihren 17 Jahren und ihrer Unschuld zu Hause und winkte mit einer unglaublichen Vorfreude auf die kommenden Tage ihren Eltern hinterher.

Ihr Vater verstand ein wenig, ihre Mutter war ihr bitterböse und ihr Bruder verabschiedete sich erst gar nicht von ihr.

Linda war es gleichgültig.

Das, was sie innerlich gespürt hatte, sollte ihr schließlich Recht geben.

 

Eric studierte im ersten Semester Geschichte, war 22 Jahre und der bestaussehende Mann in der ganzen Stadt. Linda hatte ihn durch eine Freundin kennen gelernt und war sofort Feuer und Flamme. Sie rechnete sich allerdings keine Chancen mit ihren 17 Jahren aus. Trotz größter Verliebtheit, zierte sie sich wie ein kleines Kätzchen. Aber sie schnurrte.

Eric wurde auf sie aufmerksam und gerade ihre schüchterne Art gefiel ihm. Sie war anders als all die anderen, die ihm sofort um den Hals fielen und sich sofort für in frei machten. Er musste sich endlich einmal um ein Mädchen bemühen und er musste sich ständig etwas neues einfallen lassen. Das hatte er fast schon verlernt. Er hatte jedoch seine Freude daran. Nach zwei Monaten fand er aber, dass er sich genug abgemüht hatte. Nun wollte er endlich anfangen an dem zarten Fräulein zu knabbern. Sie musste ihm nicht sagen, dass sie noch etwas besonderes in sich hatte. Das war ihm nach ein paar Tagen klar. Deswegen ließ er ihr die Zeit.

Nun war endlich die Zeit abgelaufen. Linda wollte und Eric durfte.

Sie hatten ein Haus ohne Zuschauer.

In zaghafter Annäherung ließen sie sich anfangs langsam und bedächtig auf kleinen Wogen der Zweisamkeit treiben. Nach und nach wurden die Wogen zu Wellen und sie begannen die Wellen zu reiten, stürzten sich in den sich öffnenden Tunnel und kamen mit einem Freudenschrei aus dem Tunnel wieder heraus.

Das war tausendmal besser als Skifahren, befand Linda. Sie war froh, dass sie sich in ihren Gefühlen nicht getäuscht hatte. Ihr Kampf mit den Eltern war somit nicht sinnlos gewesen.

Eric blieb fünf Tage bei Linda. Fünf Tage zelebrierte die Liebe in dem Haus.

Lindas Eltern meldeten sich nicht ein einziges mal aus dem Urlaub. Linda vermisste sie auch nicht.

Sie hatte Eric.

Sie war verliebt.

Am Abend vor der Rückkehr ihrer Eltern gaben beide noch eine große Party im Haus. Als sie am darauf folgenden Tag mit Eric gerade beim Sauber machen war, klingelte es an der Haustür.

Polizei.

Linda dachte zuerst, dass die spießigen Nachbarn sie angezeigt hätten, aber sofort wurde ihr klar, dass das nicht stimmte. Sie hätten gar nichts sagen brauchen. Linda sah sofort in ihren Augen und in ihrer Haltung, dass etwas Schlimmeres als eine Anzeige passiert war.

„Linda Sandermann?“

Nicken.

„Es tut uns unendlich leid Ihnen mitteilen zu müssen,....“

Bei den leisen mitfühlenden Worten glitt ihr die Schnapsflasche aus der Hand, zerschellte auf den Fliesen und bespritzte die Schuhe der Polizisten.

„...dass Ihre Eltern und Ihr Bruder vor wenigen Stunden auf der Autobahn einen schweren Verkehrsunfall hatten, ...“

Linda spürte Erics Hände auf ihren Schultern. Sie fand es unheimlich hilfreich, sie wäre sonst umgefallen. Es rauschte in ihren Ohren.... Unfall...Hoffnung.

„...den sie alle drei nicht überlebt haben.“

Dann schloss Linda die Augen und sackte in sich zusammen. Erics Arme um sich.

Drei Tage konnte sie nicht denken. Sie stand unter Beruhigungsmitteln.

Tränen überschwemmten sie.

Die Beerdigung war ein schwarzer Film.

Sie hatte nur Eric.

Sie hatte ein Haus.

Sie kämpfte um das Haus.

Sie heiratete Eric.

Eric heiratete Linda.

Mit Unterstützung der Eltern ihrer Mutter machten sie das Haus zu ihrem Haus.

In einem Raum unterm Dach richtete sie ein Zimmer in Gedenken an ihre ausgelöschte Familie ein. Ansonsten leerte sie das gesamte Haus, bis auf die Grundmauern.

 

28. Januar 2001

 

In diesem Zimmer unterm Dach verbrachte sie jedes Jahr am 28. Januar ein paar Stunden.

Nun zum 26. mal.

Der Januar war für sie der schwarze Monat.

Im Januar sollte nichts passieren. Genau aus diesem Grund war sie froh, dass ihr Sohn nicht im Januar geheiratet hatte.

Jedes Jahr musste sie mit Wehmut daran denken, dass sie in Unfrieden mit ihren Eltern und ihrem Bruder auseinander gegangen war.

Es gab damals keinen Abschied. Es blieben ihr keine herzlichen Worte in Erinnerung, nur die verbitterten Gesichter ihrer Eltern und ihres Bruders.

Es zerriss ihr jedes mal das Herz, wenn sie daran dachte. Sie gab sich voll und ganz der Trauer hin. Sie trauerte nur einmal im Jahr um ihre Familie, aber das mit ganzer Kraft.

In dem Raum unter dem Dach hatte sie damals von ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem Bruder die Lieblingsstücke und die für sie wichtigsten Sachen aufbewahrt.

Linda strich über das alte grüne Sofa, dem Lieblingsplatz ihres Vaters. Wie eh und je sah man die Fettränder, wo er immer seinen Kopf abgelegt hatte. Jeden Abend saß er auf diesem Platz, bis er letztendlich mit der Fernbedienung in der Hand schnarchend eingeschlafen war.

Linda gab sich den Erinnerungen hin.

Sie ließ sich Zeit.

In der Ecke unterm Fenster stand die alte Nähmaschine ihrer Mutter. Linda hörte wieder das leise surren der Maschine und das Fluchen ihrer Mutter, wenn der Faden ständig riss und sie beim neu einfädeln mit ihren immer schwächer werdenden Augen Schwierigkeiten hatte. Auf der Nähmaschine lag ihr Einschulungskleid, welches ihre Mutter mühevoll mit viel Kleinarbeit genäht hatte. Sie nahm es in die Hände und drückte ihr tränen verschmiertes Gesicht hinein. Die Spuren des jahrelangen Weinens waren sichtbar. Sie sollten es sein.

Sie wünschte sich jedes mal die Zeit zurück.

Sie berührte jedes Stück in diesem Raum und verknüpfte mit jedem ihre Erinnerungen, die sie nie vergessen würde.

Besonders traurig wurde sie immer, wenn sie von ihrem Bruder die Fußballschuhe und sein Lieblingstrikot sah. Er wollte so gerne Profi werden. Er wurde durch den Unfall seiner Chance beraubt. Er war gerade erst 14 Jahre.

In den ersten Jahren war Linda manchmal wütend auf ihre Eltern, weil sie ihn gezwungen hatten, mitzukommen. Dann gab sie sich wiederum selbst die Schuld. Sie sagte sich, wenn sie mitgefahren wäre, dann wäre alles anders gekommen. Sie hätte bestimmt den ganzen Ablauf zeitlich durcheinander gebracht und sie wären somit zu einem anderen Zeitpunkt auf der Autobahn gewesen. Diese Gewissensbisse konnte ihr keiner nehmen.

Sie kamen einmal im Jahr.

Am 28. Januar.

Linda war froh, dass an allen anderen Tagen diese Erinnerungen keinen Platz hatten. Sie hatte sich diszipliniert. Ein Tag Trauer. Mehr nicht.

Ihr wurde nun wieder bewusst, dass sie am meisten darunter litt, dass es keinen richtigen Abschied gegeben hatte. Ihr kamen wieder die Bilder, wie ihre Eltern und ihr Bruder damals ins Auto stiegen. Ihre Mutter mit bösen Blicken, ihr Bruder ohne Blick, lediglich ihr Vater gab ihr mit den Augen zu verstehen, dass er ihr nicht all zu böse war.

Keine Umarmung, kein Wort.

Ihr krampfte sich wieder der Magen zusammen.

Sie murmelte leise vor sich hin, dass jeder Abschied ein schöner sein sollte. Wie schnell konnte etwas passieren.

Abschied.

Mit einem Schlag wurde ihr klar, dass sie seit gut einem viertel Jahr mit einer unglaublichen Intensität um ihren Sohn trauerte.

Täglich.

Linda sprang vom alten grünen Sofa auf und beschloss, damit Schluss zu machen. Das konnte so nicht weiter gehen.

So nicht.

Tom lebte. Und wie. Er war glücklich und er würde bald Vater werden.

Wie konnte sie da nur so eine Trauerstimmung in sich aufkommen lassen. War sie noch ganz bei Troste?

Sie schüttelte ihren Kopf, so, als wenn sie ihre Gefühle aus ihrem Hirn schütteln wollte. Ihr kam auch wieder ins Bewusstsein, dass selbst Tom die letzten male ein wenig bedrückt wirkte. Wie sollte er auch glücklich sein, wenn sie so eine Untergangsstimmung ihm gegenüber zur Schau trug, dachte sie plötzlich. Sie kam sich albern und kindisch vor. Sie sollte sich wirklich etwas schämen. Sie sollte glücklich und stolz auf ihren Sohn sein, was sie mit Sicherheit auch war. Sie beschloss ganz tief und fest, dass sie es ihm gegenüber von nun an auch zeigen wollte.

Sie hatte eine Idee.

Mit einem letzten ruhigen Blick verabschiedete sie sich von diesem Zimmer, welches sie erst wieder in einem Jahr betreten würde.

 

***

Vivien fand ihre Mutter in ihrem Arbeitszimmer tief versunken in einem Meer von Fotos.

„Was machst du denn hier?“

„Ich mache für Tom ein Fotoalbum. Angefangen von seiner Geburt bis hin zu seinem Auszug. Er soll seinem Kind einmal zeigen können, wie seine Kindheit war, wer seine Verwandten sind und was er so als Kind gemacht hat.“

„So etwas will ich dann aber auch haben“, erwiderte Vivien sofort.

„Dann findest du also meine Idee gut? Papa hatte dafür keine Wort übrig.“

Das wunderte Vivien überhaupt nicht. In ihren Augen hatte sich ihr Vater in der letzten Zeit sehr verändert.

Sie war tief enttäuscht von ihm.

Sie war immer noch ratlos.

Sie war immer noch hilflos.

Seit Wochen.

Mit ihrer Mutter konnte sie aber nicht darüber reden. Sie fühlte sich immer mehr zwischen den Stühlen. Die Wut ihrem Vater gegenüber wurde immer größer und das Mitleid ihrer Mutter gegenüber sprengte langsam ihren Rahmen. Zu beiden fand sie keinen Weg. Zu sehr liebte sie sie beide.

Ihr Vater stürzte sie wirklich in ein großes Leid. Sie war bereit, es für ihre Mutter auszuhalten. Aber wie lange noch?

Arme Mama? Warum merkst du nichts? Mach die Augen auf. Sieh auch das, was ich sehe. Er ist doch dein Mann.

Vivien stöhnte leise auf.

„Findest du nicht gut?“ Linda verstand Viviens Stöhnen plötzlich doch als Abwertung.

„Doch, sagte ich doch gerade.“ Sie setzte sich zu ihrer Mutter auf den Teppich und beobachtete sie lange und eingehend. Sie fand, dass ihre Mutter für ihr Alter noch sehr schön aussah und vor allem eine gute Figur hatte. Sie konnte überhaupt nicht verstehen, warum ihr Vater eine jüngere Frau suchte. Was war es, was ihr Vater in die Arme einer anderen trieb. Vivien war traurig. Wenn es nur das eine mal gewesen wäre vor Weihnachten, dann hätte sie es vielleicht vergessen. Aber vor ein paar Tagen hörte sie ihren Vater im Bad leise mit einer Frau namens Joanna telefonieren. In seiner Stimme lag ein anderer Klang. Ein Klang, der ihre weiblichen Alarmglocken schrillen ließ.

Ganz unbewusst legte Vivien ihren Arm um die Schulter ihrer Mutter. Linda schaute sie irritiert an. Auch Vivien wurde sich plötzlich ihrer völlig unüblichen Art bewusst.

„Damit will ich dir nur sagen, dass ich das großartig finde“, erwiderte sie schnell.

„Aha.“

„Wann willst du es denn Tom geben?“ lenkte sie schnell ab.

„Ich werde heute noch fertig. Morgen Abend fahre ich zu den beiden in die Stadt. Willst du mitkommen?“

„Das ist eine gute Idee. Ich will Anabell auch noch einmal mit ihrem dicken Bäuchlein sehen. Was meinst du, wollen wir danach noch gemeinsam ins Kino gehen?“

„Wir waren noch nie gemeinsam im Kino“, argwöhnte Linda. „Was ist los Vivien, du willst mir doch irgendetwas sagen.“

„Nein. Schau Mama, Tom bekommt etwas und dann will ich auch etwas bekommen.“ Vivien war froh, dass ihr auf die Schnelle etwas Gescheites eingefallen war. Das war aber denkbar knapp.

 

***

Tom freute sich über das Geschenk seiner Mutter. Er verstand sofort, was seine Mutter ihm damit sagen wollte. Er drückte sie liebevoll. Sie brauchten keine Worte. Er fühlte sich jetzt endlich frei und Linda sah es in seinen Augen. Für sie war damit ein erster Schritt gemacht. Es war das symbolische Loslassen. Sie wusste, dass das so richtig war.

Vivien war mittendrin. Sie spürte das besondere Verhältnis zwischen ihrer Mutter und ihrem Bruder. Sie war ein wenig eifersüchtig. Ich bin nur die Tochter, dachte sie wehmütig. Sie schluckte schnell ihren Missmut hinunter, schließlich ging ihre Mutter ja mit ihr ins Kino.

Sie suchten sich eine Komödie aus. Sie wollten beide Spaß haben, darin waren sie sich einig. Linda besorgte noch Getränke und Knabbereien.

Es dauerte.

Vivien schaute sich im Kino um. Lautes Gelächter machte sie auf zwei Frauen aufmerksam. Sie standen mit dem Rücken zu ihr. Vivien war langsam genervt von dem Gegackere und wollte gerade zu ihrer Mutter gehen. In dem Augenblick drehte sich die etwas größere Frau um und blickte einen kurzen Moment in ihre Richtung. Vivien erstarrte. Sie wusste sofort, dass das niemand anderes war als Joanna. Dieses Gesicht hatte sich ihr eingebrannt. Dieses Gesicht würde sie nie vergessen. Das war das Gesicht, welches dem ihres Vaters so unglaublich nahe gewesen war. Da stand nun diese Person, die ihre heile Familienwelt durcheinander brachte, keine fünf Meter von ihr entfernt.

Zum Glück erkannte die Andere Vivien nicht.

Vivien fing an zu schwitzen. Und sie war wütend.

Was, wenn ihr Vater mit ihr hier im Kino verabredet war? Hatte er etwas über seine Abendplanung gesagt?

Musste sie ihre Mutter jetzt schnell an einen sicheren Ort bringen?

Dann fiel ihr aber ein, dass ihr Vater ja wusste, dass sie im Kino waren. Und es gab nur dieses eine in der Gegend. Vivien atmete erleichtert aus. So dumm konnte ihr Vater schließlich nicht sein, dann auch noch hier aufzukreuzen.

Vivien betrachtete Joanna genauer. Sie dachte wieder, dass sie eine jüngere Schwester ihrer Mutter hätte sein können. Gleiche Figur, fast gleiche Größe, gleiche Haare, nur ein wenig länger.

Was sollte das?

Als sie von ihrer Mutter sachte angestoßen wurde, weil sie keine Hände frei hatte, erschrak Vivien. Sie war völlig in Gedanken versunken. Linda beschlich wieder ein komisches Gefühl, dass ihre Tochter irgendetwas bedrückte. Sie ging aber nicht darauf ein. Sie schlenderten langsam zu ihrem Kinosaal und suchten ihre Plätze.

Vivien hatte sich einen schönen Kinoabend gewünscht. Statt dessen plagten sie Mordgedanken. Joanna saß zwei Reihen direkt vor ihr. Hätten sie sich doch nur einen anderen Film ausgesucht, dachte sie andauernd ärgerlich. Der Film rauschte an ihr vorbei.

 

Als sie nach Hause kamen, lief ihr zu allem Übel auch noch ihr Vater über den Weg. Gut gelaunt wollte er seine zwei Damen, wie er sagte, auf ein Gläschen Wein einladen. Vivien blitzte ihn nur an und verschwand in ihrem Zimmer.

Sie war zu sehr aufgebracht, um eine gute Absicht in der Einladung ihres Vaters zu erkennen. Für sie war das, dass allerletzte.

Eric runzelte die Stirn.

Linda schaute überrascht und zuckte mit den Schultern.

Sie wollte sich aber den Abend nicht verderben lassen. Die Komödie hatte ihr gefallen und sie war glücklich, dass Tom ihr Geschenk so verständnisvoll ohne große Worte angenommen hatte. Sie hatte nun wirklich das Gefühl, dass es jetzt wieder zwischen ihnen stimmte, sie ihn gelungen verabschiedet hatte und ihm den Weg in die eigene Zukunft freigegeben hatte. Sie war stolz auf sich, dass sie zu dieser Einsicht gekommen war. Ihr Magen dankte es ihr sofort. Sie hatte das Gefühl, dass sich ihr Klumpen ein wenig verkleinerte. Ein Problem hatte sie gelöst.

Darauf konnte sie ein Glas Wein trinken. Sie entspannte sich en wenig.

Für einen gemütlichen Abend mit Eric sah sie allerdings keinen Grund.

Sie fühlte sich nach wie vor von ihm im Stich gelassen und unverstanden. Sie hatte wirklich einige male versucht, ihm ihre Verstimmung klar zu machen. Er konnte oder wollte sie nicht verstehen. Es wurde ein regelrechter Streitpunkt zwischen ihnen. Sie gab es bald auf, mit ihm darüber zu reden. Es machte einfach keinen Sinn. Sie hatten überhaupt keine gemeinsamen Themen mehr zum bereden, fand sie auf einmal.

Linda verzweifelte mehr und mehr an ihrem Mann. Deswegen zog sie sich auch immer intensiver in ihre Malerei zurück.

Eric ließ sie aus ihrer Sicht einfach ziehen und holte sie nicht zurück.

Linda war enttäuscht. Sie hätte wirklich mehr von Eric erwartet. Sie fand, dass er ihr in dieser schwierigen Zeit einfach keinen Rückhalt gab. Sie stand am Abgrund und hatte wirklich das Gefühl, dass Eric sie fallen ließ. Vieles blieb nach wie vor einfach unausgesprochen. Auf beiden Seiten, gestand sie sich ein. Auch sie redete immer weniger. Ihre Worte verhallten, verloren sich im Sand. Wortlosigkeit schlich sich in ihr Leben und beherrschte es zunehmender. Viel zu schnell gewöhnten sie sich daran. Wenn Worte fielen, dann waren es nur kurze Mitteilungen oder Anschuldigungen, weil sie sich nicht verstanden oder aneinander vorbei redeten. Immer mehr dominierten die kleinen Zettelchen den Küchentisch.

Lediglich ihre Körper verstanden sich weiterhin. Sie sprachen eine verständliche Sprache miteinander. Wild und heftig. Vereint am Ende.

Das alles ging Linda durch den Kopf, als sie Eric gegenüber saß und stumm an ihrem Weinglas nippte. Sie betrachtete ihn verstohlen. Sie wusste nicht, was sie tun könnte, um ihr Problem zu lösen. Sie fühlte sich auf einmal kraftlos. Traurig schloss sie die Augen.

Auch Eric war in Gedanken versunken.

Was wäre gewesen, wenn er nicht erfahren hätte, das Linda mit Vivien ins Kino wollte? Ihm wurde ganz heiß. Es wäre zu einer Katastrophe gekommen. Tatsächlich war er mit Joanna das erste Mal verabredet. Im Kino. An Stelle der Freundin hätte er neben ihr sitzen sollen. Das war noch einmal gut gegangen.

Eric betrachtete Linda genauer. Mit geschlossenen Augen saß sie ihm gegenüber. Er hätte gerne gewusst, an was sie gerade dachte. Er wagte es sich jedoch nicht, sie zu stören. Sie sah hinreißend aus in ihrem grünem Kleid, fand er. Er bekam bei dem Anblick Appetit und konnte es kaum erwarten, ihr das Kleid von den Schultern zu streifen.

Sie war schließlich seine Frau.

Er liebte schließlich seine Frau.

Seine Linda.

Er wollte an diesem Abend seine Linda lieben.

Er konnte es kaum erwarten.

Die Dunkelheit im Schlafzimmer verhinderte endlich den Blick in ihre ständig fragenden Augen und er war endlich nicht mehr ihrem anklagenden Blick ausgesetzt, den er immer mehr auf sich spürte. Für einen kurzen Moment fühlte er sich sicher. In der Dunkelheit.

Auch Linda fand Dunkelheit in Gegenwart von Eric zunehmend angenehmer. Dunkelheit war für sie der Inbegriff der Stille. Hier musste man nichts sagen. Hier durfte man fühlen, riechen und genießen.

Sie sehnten sich beide nach der wohltuenden Entladung ihrer angestauten schmerzenden Frustrationen. In der Dunkelheit konnte es geschehen. Ohne Worte. Körperlich. Wild und heftig, immer mehr kämpfend. Sie fühlten beide, dass sie ihren Schauplatz in die Dunkelheit verlagerten.

Eric war nach dem Akt sofort eingeschlafen und er hatte es sogar geschafft, nicht an Joanna zu denken.

Linda lag wach neben Eric. Sie lauschte seinem Atem. Er schnorchelte friedlich in sein Kopfkissen. Sie konnte nicht einschlafen. Sie hatte nun doch wieder Magenschmerzen. Obwohl Eric in der Dunkelheit ihre Wünsche erfüllte, bekam sie in seiner Nähe zunehmend Magendrücken. Sie spürte ständig diese Spannung zwischen sich und ihm und sie versuchte wieder einmal herauszufinden, wann es damit angefangen hatte und warum.

Kurz vor Weihnachten?

Oder eher?

Sie grübelte.

Eric warf ihr ständig vor, dass sie sich seit Toms Auszug verändert hatte. Sie musste ihm innerlich Recht geben, aber sie fand, dass er es sich damit ziemlich einfach machte.

Sie wollte es nicht glauben. Lag wirklich die Schuld nur ganz allein bei ihr?

Irgendetwas musste sie doch übersehen. Aber was?

Plötzlich fiel ihr wieder der fremde Geruch jener Sommernacht ein. Sie hatte es fast vergessen. Sie beugte sich langsam zu Eric rüber und beschnupperte ihn, atmete ihn tief ein. Sie konnte nichts eigenartiges feststellen. Sie hatte sich anscheinend an den neuen Körpergeruch von Eric gewöhnt. Obwohl, momentan roch er intensiv nach Liebe. Noch ganz frisch. Unverkennbar. Genau wie sie.

Linda stand auf und ging ans Fenster. Die Nacht war sternenklar. Je länger sie in den Himmel schaute, um so mehr Sterne entdeckte sie. Sie konnte sich gar nicht satt sehen. Dann fiel ihr wieder der Grund ein, warum sie überhaupt am Fenster stand.

Eric.

Sie fand, dass auch er sich sehr verändert hatte. Etwa wegen ihr? Hatte er sich nur ihren Launen angepasst? War sein Verhalten deswegen normal? Nein, nein ,nein. Er war öfter abwesend, nicht nur körperlich sondern auch geistig. In Gedanken versunken, so kannte sie ihn nicht. Sie hatte plötzlich das Empfinden, dass er vor ihr reiß aus nahm. Nicht nur weil sie sich zickig benahm. Sie fühlte tiefer. Ihre weiblichen Instinkte gaben ihr plötzlich einen Hinweis, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie konnte den Faden aber nicht aufnehmen, er entglitt ihr sofort wieder. Sie wollte ihn auch nicht aufnehmen. Sie verlor ihn ganz schnell wieder aus ihren Augen und aus ihrem Sinn. Sie sehnte sich nach früheren Zeiten. Früher hatte er immer Verständnis und Zeit für sie. Oder täuschte sie sich nur? Wann sollte dieses früher gewesen sein? Und wann fing dieses verdammte Jetzt an?

Am liebsten hätte sie Eric geweckt. Sie wollte reden. Endlich einfach nur mal richtig mit ihm reden.

Sie seufzte leise.

Sie betrachtete ihren schlafenden Mann neben sich.

Vielleicht sollte sie mal mit ihm auf eine seiner Reisen gehen?

 

Diesen Vorschlag unterbreitete sie ihm gleich am nächsten Morgen beim Frühstück. Sie war richtiggehend fasziniert von ihrer Idee. Sie hatte seit langen mal wieder ein Lächeln im Gesicht.

„Ich würde gern mal mit Dir auf Reisen gehen.“

„Stimmt, wir hatten lange keinen gemeinsamen Urlaub. Aber dafür bin ich doch oft hier. Wir haben hier doch ständig Urlaub. Reicht das nicht?“

„Hörst du mir vielleicht mal zu? Ich sagte ich will mit dir auf Reisen gehen. Ich will auch mal weg von hier. Nicht nur in die Stadt fahren und hier zu Hause sein. Ich könnte doch auf die nächste Romreise mitgehen."

„Bei mir?“

„Ja, bei wem denn sonst? Von was rede ich denn die ganze Zeit?“ Linda merkte, dass sie schlagartig wütend wurde.

Eric schaute Linda mit großen Augen an. Wie kam sie denn auf diese hirnrissige Idee. Auf keinen Fall, dachte er sofort. Wie konnte er ihr das nur klarmachen?

„Das geht nicht.“

„Wie, das geht nicht? Ich kann doch ganz normal eine Busreise im Reisebüro buchen, wo du Reiseleiter bist. Wo ist da das Problem?“

„Ich glaube, die Romreise ist schon ausgebucht.“

„Dann nehme ich eben eine andere. Es muss ja nicht Rom sein.“

Eric schüttelte den Kopf.

„Was? Du willst nicht, dass ich dich begleite?“, fragte Linda geradeheraus. Sie war fassungslos.

„Versteh das nicht falsch, Linda. Aber ich besuche dich ja auch nicht auf Arbeit und schaue dir zu.“

„Das du das so siehst, hätte ich nicht gedacht und ich kann es auch nicht ganz verstehen. Bin ich dir etwa peinlich?“ Linda war entsetzt.

„Ach Linda, Schatz. Nein. Aber ich habe noch nie gesehen, dass ein Reiseleiter oder ein Busfahrer seine Frau mit auf Arbeit nimmt.“

„Nein?“

„Nein.“

„Hat das einen Grund?“

Natürlich hat das einen Grund, dachte Eric ärgerlich. Den wollte er ihr aber ganz bestimmt nicht verraten. Wo käme er denn dann hin. Aber irgendwie musste er sie jetzt glaubwürdig überzeugen. Vor allem musste er ganz ruhig bleiben.

„Wie gesagt, das ist unsere Arbeit, Linda. Das musst du doch verstehen!“

„Muss ich? Du arbeitest doch nicht rund um die Uhr. Du hast doch auch Freizeit. Und die könntest du dann mit mir verbringen. Ich lass dich doch arbeiten. Mehr will ich doch gar nicht. Nur mal weg und ein wenig mehr Zeit mit Dir verbringen. Woanders.“

„Das lenkt mich aber von der Arbeit ab.“

„Nun werd nicht albern, Eric.“

Eric wusste kein schlagendes Argument. Er hätte gleich sagen sollen, dass es nicht gestattet sei, dass Reiseleiter und Busfahrer ihre Frauen oder Freundinnen mitnehmen dürfen. Er hätte sich ohrfeigen können.

„Also gut“, sagte Linda schließlich, „ich habe verstanden, du willst mich nicht dabei haben. Hat sich erledigt, ich werde nicht mehr darum betteln.“

„Nun sei doch nicht gleich ein geschnappt.“

„Ein geschnappt? Weißt du was Eric, lass mich einfach in Ruhe.“

„Also bist du doch ein geschnappt.“

„Nein. Ich dachte nur, du könntest mir ein bisschen von der Welt zeigen, die du alle Weilen siehst und jedem anderen zeigst. So privat willst du ja nirgendwo hinfahren. Das kann ich ja auch verstehen. Aber vielleicht will ich auch mal weg? Da liegt es doch nahe, dass ich dich auf einer deiner Reisen begleite. Mehr ist es doch gar nicht.“

„Ja, dann fahren wir eben mal weg.“ Eric schaute sie groß gönnerhaft an und dachte erleichtert, dass das Problem damit erledigt sei.

„Nein, Eric. So fahren wir nicht eben mal weg. So nicht.“

„Was ist denn nun schon wieder? Eben wolltest du doch noch weg.“

„Eric, weißt du was, du kannst mich mal.“

„Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr.“

„Eben. Du verstehst überhaupt nichts. Meinst du, ich weiß nicht, dass du das nur so sagst und in Wirklichkeit überhaupt keine Lust dazu hast? Warum sagst du es dann? Meinst du es würde mir Spaß machen, mit dir irgendwohin zu fahren und du bist dann griesgrämig an meiner Seite? Dann bleibe ich lieber hier. Nein besser. Ich werde alleine irgendwohin fahren. Ich brauche dich nicht als Reiseleiter. Und nun lass mich in Ruhe.“ Linda wurde immer wütender und lauter. Sie wollte ganz simpel mit ihrem Mann als Reiseleiter eine Busreise machen. Sie konnte überhaupt nicht verstehen, dass sich das zu einem Streit entwickeln konnte. War sie nur kratzbürstig oder an was lag es? Sie konnte es nicht begreifen.

Wenn sie mal redeten, endete es immer in einem Streit.

Unverstanden.

Linda trank ihren Kaffee aus und verließ wortlos die Küche, jedoch nicht ohne die Tür heftig zuzuschlagen.

Eric zuckte kurz zusammen, aß dann aber langsam sein Brötchen in aller Ruhe zu Ende. Er wusste, dass der Streit nur zu Stande gekommen war, weil er unehrlich zu Linda war. Deswegen hielt er jetzt lieber still und versuchte Linda nicht weiter zu erzürnen. Er hoffte nur, dass sie sich wieder ein kriegen würde.

Verdammt aber auch.

Eric hörte, wie Linda das Haus verließ. Sie ging doch tatsächlich eine Stunde früher zur Arbeit.

Vivien war in der Schule.

6 Stunden Ruhe dachte Eric erleichtert.

Er blieb am Küchentisch sitzen. Er dachte nach. Ihm war klar, dass er sich mit Linda immer öfter zankte. Dabei war ihm das Zanken wirklich zuwider. Früher hatten sie sich doch auch nie gestritten.

Früher.

Was war schon früher?

Plötzlich musste er daran zurück denken, wie er Linda kennen gelernt hatte. Sie die Unschuld vom Lande. Aber gerade ihre Zurückhaltung imponierte ihn damals und ihre Schüchternheit brachte ihn oft zum Schmunzeln. Auch jetzt lächelte er in sich hinein. Um an sie heranzukommen, musste er sie wirklich wie ein rohes Ei behandeln. Die meisten Jungs standen nicht darauf. Schneller Angriff und schneller Fall war gefragt. Auch er war Liebhaber dieser schnell fallenden Frauen. Linda schien davon allerdings nichts zu haben, sie war standhaft wie ein Zinnsoldat. Da Eric genug gefallene Bräute auf seinem Konto hatte, sagte er sich damals, pflück dir zur Abwechslung mal die unreife Pflaume. Er hatte es eigentlich nie bereut.

Eigentlich.

Allerdings mit der Heirat ging es ihm dann doch zu schnell. Aber er konnte damals einfach nicht mehr zurück. Er konnte Linda nicht im Stich lassen. Dieser unglückliche Unfall ihrer Familie besiegelte seine Zukunft. Linda wollte ihr Elternhaus nicht aufgeben. Sie mussten dafür heiraten. Er tat es einfach.

Irgendwann wollte er schon heiraten, aber irgendwie nicht so, unter diesen Umständen. Plötzlich war er schneller gebunden, als er wollte. Nicht nur an eine Person, sondern auch noch an einen Ort. Es erdrückte ihn damals. Er verdrängte es. Er wollte Linda damit nicht belasten. Sie hätte es nicht verstanden. Sie liebte ihn doch so. Er wollte es ihr auch nie erklären. Er konnte es auch nicht erklären.

Für einen kurzen Moment hatte Eric ein komisches Gefühl. Er verspürte eine unglaubliche Traurigkeit in sich aufsteigen. Plötzlich wollte er nach etwas Verlorenem greifen. Nein viel schlimmer, nach etwas, was nie da gewesen war. So ganz kurz und heftig spülte es ihn hinweg, an ein Ufer der Einsamkeit. Schnell griff er nach seiner Kaffeetasse, er brauchte etwas handfestes. Seine Gedanken blieben aber in der Vergangenheit hängen.

Ihm wurde bewusst, dass er für die Heirat nicht bereit war. Die Ehe und die Kinder engten ihn ein. Er brauchte seine Freiflüge. Deswegen hatte er sich dann auch relativ schnell nach dem Geschichtsstudium dazu entschieden, selbstständiger Reiseleiter zu werden, dämmerte es ihm. Er hatte ständig das Gefühl in sich gespürt, dass er aus seinem Käfig raus flattern musste. Aber in diesem Käfig saß sein Goldvogel. Er brauchte diesen Goldvogel und diesen Landeplatz. Ohne diesen Landeplatz und ohne diesen Goldvogel würde er abstürzen. Auch darin war er sich sicher. Er war ständig hin und her gerissen.

Immer auf Abflug.

Immer im Anflug.

Es war sein zu Hause und doch nicht sein zu Hause.

Er hatte mit Linda nie über seine Gefühle gesprochen. Warum auch? Schließlich hatte sie ihm nie Steine in den Weg gelegt und er fühlte sich immer gut bei ihr aufgehoben. Er konnte sich verwirklichen. Er konnte seine Träume in der weiten Welt träumen und hatte seinen Spaß.

Linda hatte sich nie beschwert.

Warum sollte er sich da jemals Sorgen machen?

Jetzt kam sie plötzlich damit, dass sie auch mal raus wollte.

Warum überraschte es ihn eigentlich dermaßen? Es war doch das normalste auf der Welt.

Nein. Nicht für Eric.

So wie Eric seine Freiflüge brauchte, so brauchte er auch seine Gleichtönigkeit. Er brauchte seinen Goldvogel an seinem festen Landeplatz. Daran durfte sich nichts ändern. Er hatte schließlich immerzu veränderte Bedingungen, mit denen er klar kommen musste. In seinem zu Hause sollte alles immer gleich sein. Vor allem seine Linda sollte sich nicht verändern. Sie sollte so bleiben, wie sie war. Sie war doch sein Halt. Jahrelang ging alles gut. Jahrelang blieb sie so, wie er sie haben wollte.

Und nun? Nun wollte sie raus. Das konnte er nicht zulassen. Wer weiß, was sie da draußen finden würde?

Es reichte ihm schon, dass sie sich seit dem Auszug von Tom so verändert hatte. Und wie. Das musste nun wirklich nicht sein. Es brachte ihn völlig durcheinander. Er konnte überhaupt nicht verstehen, warum sie sich so affig anstellte. Jedes Kind verlässt schließlich irgendwann einmal das Elternhaus. Ihm waren die ständigen Diskussionen darüber leid. Er konnte es schon nicht mehr hören. Was würde erst werden, wenn Vivien ausziehen würde. Daran mochte er gar nicht denken.

Linda warf ihm Herzlosigkeit vor. Das konnte nun wahrlich nicht sein. Er liebte seine Kinder schließlich auch. Er war ein ganz realistischer Vater, der seine Kinder im Herzen trug und nicht am Rockzipfel. Und das wollte Linda seiner Meinung nach nicht verstehen. Eric mochte sich darüber wirklich keine Gedanken mehr machen. Die Diskussion war für ihn beendet.

Es sollte einfach nur alles so bleiben wie es immer war.

Eric stöhnte laut auf. Ja verdammt noch mal, warum konnte nicht alles so bleiben. Angewidert schaute er zum Fenster heraus. Seine Gedanken wühlten ihn auf. Sie waren so durcheinander und er spürte auf einmal, dass mehr dahinter steckte. Er wollte aber dieses Mehr nicht zulassen. Er wusste auf einmal, dass dieses Mehr ganz bedeutend war. Er hatte Angst vor diesem Mehr.

Eric zog die Schultern runter und machte sich für einen Moment ganz klein. Doch sofort gewann er wieder Überhand und wurde ganz Mann.

Er stellte seine Kaffeetasse ab. Der Kaffee war längst kalt.

Kalter Kaffee.

Kalter Kaffee von gestern, fiel ihm ein.

Also wozu reden?

Er hasste reden.

Er hasste stundenlanges reden.

Er hasste stundenlanges reden über ein und das selbe.

Linda sollte einfach nur still sein und für ihn da sein. Sie hatte es doch gut bei ihm. Oder etwa nicht?

Dann dachte er an die überraschend schöne Nacht mit ihr.

Also es geht doch.

Sein Gleichgewicht war wieder hergestellt.

Er griff sein Handy und rief Joanna an.

Er hatte noch zwei Tage frei.

Trotz der schönen Nacht war es spürbar unangenehm im Käfig.

Er fühlte sich eingeengt.

Er.

 

***

Lindas schlechte Laune wollte einfach nicht vergehen. Der Streit mit Eric lag ihr immer noch auf dem Magen. Sie wünschte sich die Magenschmerzfreiezeit zurück.

So was dummes aber auch. Warum stellte er sich nur so an?

Arbeit.

Natürlich war es seine Arbeit. Sie war ja nicht blöd. Für jeden Touristen stand er da und präsentierte sich und sein Wissen und wenn sie dabei sein wollte, dann ging es nicht? So ein Unsinn. Selbst wenn er ihr heute Abend doch noch das Angebot machen würde, ihn zu begleiten, würde sie ablehnen. Auf jeden Fall.

So nicht mein Lieber, dachte sie immer noch äußerst wütend.

Sie merkte, dass sich in der letzten Zeit ihre schlechte Laune schnell in Wut auf Eric umwandelte. Sie konnte es sich nicht erklären. Die ständigen Streitereien nervten sie und brachten sie an den Rand der Verzweiflung. Sie fand irgendwie keinen Schuldigen und somit keinen Weg aus der sinnlosen Zankerei.

Irgendetwas musste geschehen.

Irgendetwas war schon geschehen.

Warum konnte sie es nicht genauer sehen und begreifen?

Sie zermarterte sich den Kopf und merkte, wie sich neben den Magenschmerzen auch noch ein leichter Kopfschmerz ausbreitete. Sie fühlte sich elendig. Wenn sie jetzt zu Hause gewesen wäre, hätte sie sich ein Gläschen Wein zur Entspannung geholt. Es war gerade erst mal Mittag.

In ihrer kurzen Pause surfte sie wahllos im Internet rum. Wie zufällig fand sie schöne Urlaubsorte und günstige Flugangebote. Sie überlegte ganz kurz, wann ihr Enkelkind auf die Welt kommen sollte und dann buchte sie kurz entschlossen Flug und Unterkunft noch vor der Geburt ihres ersten Enkelkindes.

Eine Woche.

Bald.

Dann eben so.

 

Froh gelaunt kam sie nach Hause. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel von Eric.

Bin weg auf ein Bier. Kann später werden.

Keine Entschuldigung, kein liebes Wort.

Linda zerknüllte den Zettel und räumte den Abwasch weg. Sie wollte darüber nicht nachdenken. Sie wollte sich ihre Freude an ihrem ersten alleinigen Urlaub nicht nehmen lassen.

Bin weg auf ein Bier.

Wirklich? Sie wusste nicht, warum sie plötzlich daran zweifelte. Eric traf sich öfter mit seinen Freunden im Pub.

Sie war nie eine kontrollierende Ehefrau gewesen. Sie vertraute blind.

Dann fiel ihr wieder ein, wie sie vor gut einem halben Jahr an Erics Sachen geschnüffelt hatte. Ihr wurde kalt und ihr Magen zog sich zusammen. Sie bekam wieder so ein schweres Gefühl.

Sie schleppte sich ins Bad und räumte seine Sachen weg. Sie musste unwillkürlich an seinem Hemd schnuppern. Immer noch der gleiche Duft. Wie damals in der ersten Nacht. Überhaupt in ihrer ersten Nacht. Sie kannte nur Eric als Liebhaber und Mann. Außer bei dem einen wundervollen Kuss, hatte sie keine Berührung mit einem anderen Mann.

Ihr kam zum ersten mal der Gedanke an eine Umarmung mit einem anderen Mann. Wie würde sich wohl fremde nackte Haut anfühlen? Würde sie überhaupt fähig sein, sich jemand anderen nackt zu zeigen und sich von einem anderen streicheln und verführen zu lassen? Würde sie es überhaupt wollen?

So richtig nicht.

Wie kam sie auf einmal nur auf diese Idee? Sie schüttelte den Kopf und legte das Hemd beiseite. Sie musste über sich lächeln. Sie setzte sich auf den Wannenrand und dachte darüber nach.

Was war nur in der letzten Zeit anders als sonst?

Was brachte sie aus dem Gleichgewicht?

Ihr fehlte die Harmonie. Eindeutig. Sie wusste nicht, wie sie wieder Harmonie in ihr Leben bringen sollte. Alles lief irgendwie aus dem Ruder. Ungereimte Kleinigkeiten zerstörten ihre Harmonie, ihren inneren Frieden. Sie war nicht fähig sich diesen Ungereimtheiten zu stellen. Sie konnte sie nur fühlen, aber nicht benennen. Sie spürte, dass das Ende irgendwie noch nicht erreicht war. Sie sah wieder diese graue erdrückende Wolke auf sich zu kommen, wie damals in der Küche. Sie hatte Angst.

Der Druck im Magen verstärkte sich rasant. Die plötzlich aufsteigende Übelkeit konnte sie gerade noch so runter schlucken. Sie hätte sie gerne ausgespuckt, aber es ging nicht. Sie würgte. Mehr war nicht drin.

Sie brauchte schnell ein Glas Wein.

Sie brauchte immer öfter ein Glas Wein, stellte sie fest.

Na und?

Sie brauchte einen Seelentröster. In ihrem Arbeitszimmer fand sie etwas zu ihrer Beruhigung. Hier versteckte sie sich und ihren Wein.

Mit dem Glas in der Hand betrachtete sie ihr angefangenes Bild.

Sommerwiese.

Es passte so gar nicht zu ihrer Stimmung. Sie nahm es ab und tauschte es mit einem anderen unvollendeten Bild aus. Das passte schon eher.

Herbstnebel.

Es riss sie aber noch mehr in die Tiefe. Sie hatte mehrere angefangene Bilder. In ihrer momentanen Ratlosigkeit und Uneinigkeit mit sich selbst, fing sie ständig mit neuen Bildern an, die sie nicht vollenden konnte. Sie betrachtete eins nach dem anderen. Sie blieb aufgewühlt, wütend und trotzig. Sie hängte einen weißen leeren Rahmen auf.

Nichts.

Sie schaute sich dieses Nichts an. Sie wurde ruhiger.

Es wirkte so einladend jungfräulich.

Weiß.

Leer.

Wie ein neuer Anfang.

Linda fing an zu weinen. Auch das passierte ihr immer häufiger. Sie konnte einfach so aus dem Nichts anfangen zu weinen. Ganz still und friedlich liefen die Tränen aus ihren Augen. Sie konnte allerdings auch anders. Sie konnte hysterisch herum schreien und hysterisch heulen. Besonders in Erics Gegenwart passierte ihr das in letzter Zeit immer öfter. Sie wusste, dass er das hasste. Sie hasste es auch. Aber er brachte sie dazu und dann musste er es auch aushalten, fand sie. Wer denn sonst?

Aber jetzt war einfach nur stille Traurigkeit in ihr.

Traurigkeit, die wehtat.

Traurigkeit, die ihr Herz berührte.

Traurigkeit, die ihr das Leben schwer machte.

Traurigkeit.

Sie gab sich der Traurigkeit hin. Sie wusste, dass es keinen Zweck hatte, sich ihr zu entziehen. Dann würde sie später nur wieder kommen.

Zum Glück kam Vivien und zerriss die depressive Stimmung, die sich langsam immer weiter ausbreitete.

„Jemand zu Hause?“

Wie eh und je polterte Vivien zur Haustür herein. Wie eh und je knallte die Haustür ins Schloss. Sie hatte sich schon darauf eingestellt und war durch nichts mehr zu erschüttern. Sie blieb heil.

„Ich bin hier oben“, antwortete Linda. Sie wusste, dass Vivien erst noch in den Kühlschrank schauen würde, einen Joghurt öffnen würde, um ihn nicht zu essen, und dann erst nach oben kommen würde. Sie hatte also noch alle Zeit der Welt ihre Tränen zu beseitigen und den Wein weg zustellen.

„Hi. Mama. Wie geht es dir? Wo ist Papa?“

„Im Pub, bei Freunden.“

„Ach so. Wirklich?“

„Schreibt er jedenfalls.“ Sie wunderte sich ein wenig, warum auch ihre Tochter daran zweifelte, schob ihre Gedanken aber gleich wieder weg.

„Aha. Was willst du denn malen?“ Vivien registrierte die leere Leinwand.

„Ich weiß noch nicht.“

„Ich weiß auch noch nicht, was ich nach der Schule machen will. Ich habe einfach keine Idee, Mama.“

„Ja, darüber sollten wir uns wirklich mal langsam Gedanken machen. Ich dachte, du willst BWL studieren? Nun nicht mehr? Hast du dich nicht beworben? Mein Gott Vivie, hast du die Zeit verpasst? Wir haben das doch alles schon besprochen, oder etwa nicht?“

„Ja doch, Mama. Die Zusage müsste bald kommen. Aber ich will nicht mehr.“

„Wie, ich will nicht mehr?“

„Jedenfalls nicht jetzt sofort. Kann ich nicht erst mal ein Jahr Pause machen?“

„Wie, ein Jahr Pause machen?“

„Man Mama, wie, wie, wie? Nach zwölf Jahren Schule habe ich doch irgendwie ein Jahr Erholung vorm weiteren Lernen verdient, oder? Nächstes Jahr kann ich doch immer noch mit dem Studium anfangen. Das läuft doch nicht weg.“

„Also, ich höre. Du willst mir doch jetzt nicht weis machen, dass du keinen Vorschlag parat hast.“ Linda wusste genau, dass Vivien einen Plan hatte. Ohne Plan ging bei Vivien nichts.

„Ok. Ich möchte für ein Jahr nach Frankreich als Au-pair. Ich habe mich auch schon bei einer Organisation erkundigt. Es geht von August bis August und nächstes Jahr im September fange ich an zu studieren, versprochen.“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst.“

„Warum nicht?“

„Dazu kann ich erst mal gar nichts sagen, Vivien. Das überrascht mich total. Aber es hört sich nicht verkehrt an. Lass mich einfach darüber schlafen.“

„Hm, gut.“

„Ein ganzes Jahr nach Frankreich?“, entfuhr es Linda plötzlich nach ein paar Minuten.

„Ein ganzes Jahr.“ Vivien sah das Entsetzen im Gesicht ihrer Mutter. Sie hatte damit gerechnet. Sie hatte eigentlich mit viel mehr gerechnet. Ihre Mutter würde heute Abend bestimmt weinen, dachte sie besorgt. Auf einmal sah sie die bereits verweinten Augen ihrer Mutter. Sie sprach sie aber nicht darauf hin an, sie tat ihr unheimlich leid. Sie hätte ihre Mutter liebend gern in den Arm genommen. Sie konnte aber nicht. Vivien merkte, dass sie stark gegen ihre eigenen Tränen ankämpfen musste. Auch sie hatte viele Abende in ihrem Zimmer geweint. Nun stand aber ihr Entschluss fest. Sie musste es tun. Sie musste es für sich tun. Sie konnte sich zwischen ihren Eltern zur Zeit einfach nicht bewegen. Sie musste entfliehen aus dieser Zwickmühle. Es war ihre einzige Chance. Sie war sich sicher, dass sie sich durchsetzen würde.

Leise ging sie zurück in die Küche, um ihren aufgemachten Joghurt zu essen.

 

Linda wusste, dass das alles irgendwie zusammenpasste.

Aber sie wusste nicht wie.

Alles flog auseinander.

Auch sie fing an, weg zufliegen.

 

***

Eric war eine Stunde zu früh am verabredeten Ort. Er wollte einfach nur weg sein, bevor Linda von der Arbeit kommen würde.

Feige legte er ihr den Zettel auf den Küchentisch.

Bin weg auf ein Bier. Kann später werden.

Er fühlte sich nicht wohl dabei. Er tat es trotzdem.

Der Streit am Frühstückstisch ließ ihn nicht los. So kannte er Linda überhaupt nicht. Sie legte plötzlich etwas kämpferisches an den Tag. So wollte er sie nicht.

Er wollte bei ihr der Stärkere sein.

Er war immer der Stärkere.

Was bildete sie sich überhaupt ein? So hatte sie ihn noch nie angegriffen. Was hatte das nur für einen Grund? Es musste einen Grund haben, warum sie seit einiger Zeit nicht mehr so war, wie sie sonst immer war. Die häufigen Streitereien kamen doch nicht so zufällig daher?

Hatte Vivien vielleicht gepetzt?

Er musste vorsichtig sein und durfte nichts riskieren.

Ihm war mittlerweile klar, dass er hartnäckig auf eine Affäre aus war. Er wollte es nicht. Aber er konnte nicht anders. Immer wieder fragte er sich, warum er es trotzdem tat. Was war diesmal so anders?

Er hatte doch schon mit vielen anderen Frauen geschlafen. Aber eben nur geschlafen. Er konnte sich an nichts mehr erinnern. Er wollte sich auch an nichts erinnern. Er teilte nur für eine Nacht sein Bett mit ihnen, damit sie nicht froren. Er tat es ihnen zu liebe. Er stellte sich zur Verfügung. Er wurde genommen. Er gab, was man von ihm wollte. Mehr nicht. Nur so betrachtete er seine fremden Nächte.

Aber Joanna. Joanna würde sich zu einer Affäre entwickeln. Er war diesmal derjenige, der etwas wollte. Von ihr könnte er nicht lassen.

Eric war nachdenklich in seine Gedanken vertieft.

Noch konnte er gehen. Noch konnte er ihr sagen: tut mir leid, ich habe mich getäuscht. Aber es ging nicht. Er wusste, dass er dazu zu schwach war.

Was hatte sie, was Linda nicht hatte?

Eric spulte alle Erinnerungen an Joanna in seinem inneren Auge ab. Von der ersten Begegnung im Büro bis zum letzten Telefonat vor ein paar Stunden.

Sie war eine Frau.

Einfach nur eine Frau.

Eric wunderte sich über seine Erkenntnis. Ein Mann hätte ihn schließlich nicht angezogen. Ganz eingenommen von seinen Gedanken, merkte er gar nicht, dass Joanna neben ihm stand. Sie berührte leicht seinen Arm.

Sie war einfach nur eine Frau. Darüber musste er später noch ein mal nachdenken. Unbedingt. Was sollte das bedeuten?

Ganz Frau stand sie vor ihm. Ihr Lächeln brachte ihn diesmal nicht aus der Fassung. Diesmal wollte er sich ganz Mann benehmen. Diesmal behielt er den Überblick und diesmal behielt er auch die Tür im Blick. Diesmal sollte nichts schief gehen.

Joanna hatte nur Augen für Eric. Die Neugier auf diesen verheirateten Mann schlug langsam in blanke Begierde um. Sie bemerkte ein leichtes Kribbeln im Bauch, welches zu ihrem Entsetzen immer tiefer zu wandern schien. Ihre ganze Energie floss in die Mitte ihres Körpers. Sie fürchtete, dass sie bald nicht mehr fähig sein würde, sich angemessen an der Unterhaltung zu beteiligen. Sie antwortete seit geraumer Zeit nur noch mit Ja und Nein und war über jede Frage dankbar. In ihrem Kopf schien nur noch Luft zu sein. Alles was sie, wollte, war der Mann, der neben ihr saß. Schnell musste es gehen.

„Ähm, Eric, es tut mir leid. Ich muss nach Hause. Ich wollte bügeln, ähm ich habe gebügelt, ähm ich glaube es ist noch an.“ Sie musste irgendwie raus aus dem Kaffee. Ihr fiel nichts besseres als das Bügeleisen ein, womit sie kurz vorm weggehen noch ihren Rock gebügelt hatte. In ihrem Schoß wurde es heiß und heißer.

„Das Bügeleisen“, sagte Eric verwundert.

„Ja, das Bügeleisen. Da kann man nichts machen. Es geistert mir schon die ganze Zeit durch den Kopf und mir wird ganz heiß, wenn ich daran denke, dass es an ist.“ Joanna schaute Eric tief in Augen.

Bügeleisen.

Heiß.

Bügeln.

Sie hätte fast losgelacht. Ihr fiel plötzlich die Bemerkung ihres Vaters über mürrische Frauen ein, die nur mal richtig gebügelt werden müssten. Joanna hielt den Atem an. Sie war entsetzt und belustigt zugleich über sich.

Als wenn Eric Joannas Gedanken erraten hätte, grinste er sie Kopfschütteln an. Sollte Joanna etwa auf den blöden Spruch unter Männern anspielen? Jetzt wurde ihm auf einmal heiß.

„Du könntest es ja ausschalten gehen? Oder wir?“, fragte Eric ganz zaghaft zurück.

Nun musste Joanna doch lachen. Sie hätte fast gesagt, dann lass uns bügeln gehen. Sie war sich sicher, dass Eric sie genau so verstanden hatte.

Joanna wohnte nicht weit vom Kaffee entfernt. Eric betrat hinter Joanna den Flur und blieb erst einmal stehen. Tatsächlich stand im Schlafzimmer das Bügelbrett. Sie hatte nicht gelogen. Das Bügeleisen war natürlich aus.

In ihrer Wohnung gewann Joanna endlich wieder ihre natürlich Art zurück. Sie war beglückt darüber. So eine Sprachlosigkeit sollte sie nie wieder überraschen, wünschte sie sich. Sie fing langsam an, mit Eric zu flirten. Sie wusste was sie wollte. Sie wusste aber noch nicht so genau, was er wollte. Er schien ihr immer noch ein wenig verkrampft und zurückhaltend. Aber gerade das machte ihn so unwiderstehlich. Ob er das wusste?

Eric wusste überhaupt nichts.

Sie ist einfach nur eine Frau, fiel ihm wieder ein.

Ja, was denn sonst.

Und was für eine Frau.

Anders Frau als Linda.

Kraftvoll.

Bestimmend.

Besitzergreifend.

Nicht fürsorglich.

Nicht beschützend.

Nicht mütterlich.

Linda war eine mütterliche Frau.

Mehr Mutter als Frau?

Mehr Mutter als Frau.

Joanna war keine mütterliche Frau.

Joanna war einfach nur Frau.

Sollten Linda jetzt etwa die gemeinsamen Kinder zum Verhängnis werden?

Eric war verwirrt über seine Gedanken. Wollte er nicht selbst manchmal wie ein Kind behandelt werden? Das hatte ihn doch bisher noch nie gestört. Und jetzt schrie auf einmal der ganze Mann in ihm. Jetzt fand er auf einmal seine mütterliche, liebe Linda albern, oder was? Eric stöhnte innerlich über so viel Verwirrung auf. Er konnte sich überhaupt nicht auf Joanna einlassen. Was redete sie überhaupt?

Er war froh, als es plötzlich an der Haustür klingelte. So konnte er sich wieder ein wenig sammeln.

Joanna ging zur Tür und begrüßte ihre Freundin Isa, die ganz zufällig auf ein Sprung vorbei kommen wollte.

Eric sah, dass die beiden Frauen sich küssten. Es war anders, als Frauen sich sonst begrüßten, registrierte er sofort. Gebannt schaute er zu ihnen.

Joanna sah, dass Eric die Begrüßung verfolgte.

Das, was sie in diesem Moment gerne Eric gegeben hätte, das gab sie nun ganz spontan ihrer verdutzten Freundin Isa. Es folgte für Isa völlig überraschend ein langer inniger Zungenkuss als Vorführung für Eric. Isa erkannte es sofort und machte mit. Sie war sich allerdings nicht sicher, ob der Mann da hinten auf dem Sofa dafür empfänglich war und sich Joanna damit nicht ein Eigentor schießen würde.

„Oh, du hast Besuch?“ hauchte Isa scheinheilig, aber doch laut genug, dass es Eric hören konnte.

Eric stand schon auf und wollte gehen, aber wiederum wollte er auch bleiben. Seine Gedanken brachten ihn durcheinander, aber der ihm dargebotene Zungenkuss setzte noch eins oben drauf. Das war plötzlich alles ein bisschen zu viel. Sein Gleichgewicht war nun vollends gestört und kam an diesem Tag zum zweiten mal ins wanken.

Eigentlich war er auf ein Bier weg.

Vielleicht sollte er wirklich lieber in Pub auf ein Glas Bier gehen. Aber das Schauspiel des Zungenkusses hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Er war für Liebe zwischen Frauen offen. Nur wollte er da nicht unbedingt mit hinein geraten. Aber anschauen?

Was dachte er nur? Ihm wurde schon wieder heiß. Bevor er eine Entscheidung treffen konnte, war Isa schon wieder verschwunden. Wie gar nicht da gewesen.

Joanna schwebte auf ihn zu, schmiegte sich an ihn und küsste ihn so, wie gerade ihre Freundin. Himmlisch leicht sog sie ihn in sich auf und gab ihn lächelnd wieder frei. Das sollte für den Anfang reichen beschied sie für sich. Souverän plauderte sie noch ein Weilchen mit ihm und setzte ihn dann kurz entschlossen vor die Tür.

Ich hab ihn, triumphierte sie.

Ich bin bescheuert, dachte er.

Wie benebelt fuhr er nach Hause.

Er blieb wie ein begossener Pudel in seinem Auto sitzen und traute sich nicht ins Haus. Er sah Licht in Lindas Arbeitszimmer und ab und zu ihren Schatten vorbei huschen.

Er wollte jetzt alleine sein. Am liebsten wäre er in irgendein Hotel gefahren.

 

Linda war müde, obwohl es noch viel zu zeitig fürs Bett war. Erics Nachricht auf dem Küchentisch ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Sie hatte seitdem Magenschmerzen. Auch der Wein half ihr nicht. Sie fand keine Ablenkung. Sie ging in ihrem Arbeitszimmer auf und ab. Sie war sich sicher, dass Eric erst spät nach Hause kommen würde. Sie wollte dennoch warten.

Sie wollte ihm noch so gerne sagen, dass sie sich einen Flug gebucht hatte. Sie merkte, dass sie immer noch sauer auf ihn war. Ihre Wut wollte einfach nicht vergehen. Sie konnte seine Abweisung einfach nicht verstehen. Sie wollte ihm so richtig eine reinhauen. So wütend war sie noch nie auf ihn.

Sie schaute aus dem Fenster und sah Erics Auto vor der Haustür stehen. Als sie genauer hinschaute, sah sie, dass er im Auto saß und sein Kopf auf dem Lenkrad lag. Ihre Wut verstärkte sich. Nach einem trinkreichen Abend im Pub, sollte er sich ein Taxi nehmen. Sie nahm an, dass er betrunken war.

Sie schaute bereits seit zehn Minuten aus dem Fenster. Eric regte sich nicht. Mit einem mal wurde ihr schmerzhaft bewusst, dass sie kein Mitleid mit ihm empfand. Sie blieb einfach am Fenster stehen und machte keine Anstalten, ihm zur Hilfe zu eilen.

Hatte sie ihm denn jemals helfen müssen?

War er nicht immer der Starke, der nie Hilfe brauchte?

Und war sie dadurch nicht immer automatisch die Schwächere?

Die, die immer als kleines Dummchen da stand und abgewertet wurde?

Warum hatte sie sich nie dagegen gewehrt? Warum nicht? Warum hatte sie Eric eigentlich immer in dem Glauben gelassen, dass er derjenige war, der alles im Griff hatte?

Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie nie als Schwächere da stehen wollte und aus dieser Angst heraus, auch nie um Hilfe gebeten hatte, obwohl sie sie so manches mal gebraucht hätte.

Zum anderen wollte sie aber auch, dass Eric es fühlen und spüren sollte, wenn sie Hilfe brauchte. Aber er fühlte und spürte es nie. Nahm er sie überhaupt wahr?

Auch darüber wurde Linda auf einmal sauer. Sollte es wirklich sein, dass sie jahrelang so ein verrücktes Machtspiel miteinander trieben?

Aber war es nicht ihre eigene Schuld?

Hatte sie es nötig, sich so klein zu machen?

Wütend atmete sie laut tief ein und aus. Sie ballte ihre Faust und grub ihre Fingernägel tief in ihre Handballen bis es schmerzte. Sie hätte am liebsten ganz laut geschrien. Sie wollte Vievien aber nicht aufwecken.

Sie fragte sich, warum sie sich immer und immer wieder nur selbst die Schuld für alles gab.

Sie wusste es nicht. Es war eben so. Sie hatte ihre Rolle, so wie Eric seine Rolle hatte.

Linda wurde immer trotziger. Sie schaute wieder auf die leblose Gestalt im Auto vor der Haustür. Es war ihr Mann.

Mit Blick auf ihn, dachte sei weiter still in sich hinein. Ihr wurde klar, dass sie sich immer mit den Kindern irgendwie alleine durchboxen musste. Oft war Eric nicht zu Hause, wenn mit den Kindern etwas passierte, sie krank waren oder in der Schule etwas nicht klappte. Plötzlich überkam Linda großer Stolz. Mit aller Kraft hatte sie sich nie das Ruder aus der Hand nehmen lassen. Sie war Tag und Nacht der Wächter der Kinder. Ihrer Kinder. Über all die Jahre. So wollte und konnte sie Eric beweisen, dass auch sie zu etwas fähig war.

Was war das nur für ein Blödsinn? Also doch Machtkampf, schoss es ihr durch den Kopf.

Ja.

Sie hatte jahrelang ihre Kinder als ihre alleinige und einzige Hauptaufgabe angesehen, musste sie sich eingestehen. Jetzt wurde ihr langsam klar, dass das ein Fehler war. Dabei hatte sie sich und Eric aus den Augen verloren. Ihre Beziehung musste dabei unwillkürlich immer mehr ins Hintertreffen geraten. Unbewusst hatte sie sich ihm dadurch selbst entzogen.

Aber er hatte sie auch ziehen lassen. Er zog sie nur zu sich, wenn er sie brauchte.

Wer hatte nun Schuld?

Er oder sie?

Warum waren ihr die Kinder wichtiger als alles andere?

Warum haben sie sich als Paar unterkriegen lassen?

Konnte man das so sagen?

Irgendwie schon, befand Linda ganz nüchtern. Trotz der drei Gläser Wein konnte Linda auf einmal ganz klar denken.

Jetzt, wo Tom aus ihrem Schoß gesprungen war, jetzt, wo Eric wieder mehr Platz in ihrem Leben hätte, war er nicht da. Nein, viel schlimmer. Ihr schien es fast so, als wenn er den Platz nicht haben wollte.

Bei diesen Gedanken wurde ihr auf einmal schwindlig. Sie hockte sich vors Fenster und verlor Eric aus ihrem Blick.

Was haben wir nur gemacht, stöhnte sie.

Sie fühlte Wut und Traurigkeit.

Sie fühlte Schwäche aber auch aufkeimende Kraft in sich.

Sie wusste im Augenblick nicht, ob ihr zum Lachen oder zum Weinen war.

Und da unten im Auto saß Eric, ihr Mann, der Vater ihrer Kinder, immer noch leblos mit dem Kopf auf dem Lenkrad.

Wir müssen reden, dachte Linda.

Ihr Blick war leer.

 

Wir müssen reden, dachte auch Eric im gleichen Moment. Hier ging es nicht um die Vergangenheit, darüber wollte er nicht reden, hier ging es um die Zukunft. Es war aber alles so verschwommen und vielleicht ja auch gar nicht wichtig? Warum voreilig sein? Warum alles zerstören? Es kann doch einen Nebenschauplatz geben.

Eric hob langsam seinen Kopf vom Lenkrad und schaute zum Fenster. Er sah Linda nicht mehr auf und ab gehen, aber das Licht brannte noch. Er schaute auf seine Uhr und stellte fest, dass er bereits eine halbe Stunde im Auto saß.

Ich kann nicht reden, sagte er leise vor sich hin und schüttelte zur Bekräftigung seiner Worte mit dem Kopf.

Langsam schälte er sich aus dem Auto.

Als er die Autotür abschloss, sah er Linda am Fenster stehen und auf sich herabblicken. Ihre Mine war verschlossen, in sich gekehrt. Hatte sie wieder getrunken?

Jetzt musste er doch zu ihr gehen, dachte er mürrisch. Sie hatte ihn gesehen. Er konnte sich nicht so einfach ins Bett legen und so tun als ob.

Er hatte keine Lust.

Wenig später stand er in der Tür ihres Arbeitszimmers und blickte sie fragend an. Sie stand wie ein Fels in der Brandung mit verschränkten Armen am Fenster. Eric ärgerte sich darüber, dass er plötzlich Schwäche ihr gegenüber empfand. Wo war die innere Stärke, die er sonst immer hatte, geblieben?

Was war mit Linda passiert?

Warum wirkte sie plötzlich anders auf ihn?

Wusste sie vielleicht doch etwas von Joanna?

Als wenn das die Frage wäre.

Sie schauten sich an. Keiner sagte etwas. Sie hatten wirklich verlernt, miteinander zu reden. Statt dessen baute sich wieder Spannung zwischen ihnen auf, obwohl beiden nicht danach war. Sie wollten beide keinen Streit anfangen. Sie konnten aber einfach nicht aufeinander zugehen.

Es ging nicht.

Sie stießen sich momentan ab wie ein Magnet.

„Ich fliege nächste Woche für fünf Tage nach Rhodos“, entlud sich Linda plötzlich. Sie konnte nicht mehr an sich halten. Zu weit triftete sie ab. Sie schrie ihm diese Worte fast ins Gesicht, aus Angst er könnte sie plötzlich nicht hören.

„Du? Alleine? Das glaubst du doch selbst nicht? Du kommst doch alleine nicht mal bis zum Flughafen“, antwortete Eric mit einem unbeholfenen Grinsen im Gesicht. Seine Stimme klang fest, aber innerlich war er geschockt und verspürte Angst. Sollte das Linda wirklich vorhaben? Und natürlich traute er ihr zu, alleine zum Flughafen zu fahren. So hatte er es nicht gemeint. Er wollte sie nicht treffen. Warum sagte er dann so etwas? Warum tat er ihr weh? Am liebsten hätte er seine Worte zurückgenommen. Aber gesagt war gesagt. Er verspürte wirklich Angst. Kalter Schweiß lief ihm über den Rücken.

Linda zwang sich, darauf nicht zu antworten. Sie war dermaßen über Erics Antwort enttäuscht, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Sie schluckte ihre Enttäuschung herunter. Ihre Knie fingen an zu zittern. Gerade hatte sie noch über Macht und Schwäche nachgedacht und nun fühlte sie sich in ihren Gedanken bestätigt. Er sah sie wirklich als schwach und abhängig von ihm an, die selbst unfähig wäre, ihren eigenen Willen durchzusetzen. Sie fühlte sich plötzlich degradiert zum Aschenputtel.

Ausgenutzt all die Jahre.

Verdammt zum Stillhalten.

Verdammt zum Gehorchen.

Auf einmal drehte sich alles in ihr. Die einzige Hoffnung, die sie hatte, war, dass er es nicht so gemeint hätte. Einfach nur so dahingesagt. Aber irgendwie fühlte sich die Hoffnung falsch an.

Sie gab ihm die Chance, seine Antwort zurückzunehmen. Sie wartete lange.

Nichts.

Sie schaute ihm in die Augen. Sein Blick war ins Unendliche gerichtet, nicht auf sie. Linda sah nichts in ihnen. Ihr wurde unheimlich kalt.

Sollte das ihre Liebe sein?

Wo ist sie nur hin?

Gibt es sie noch?

Gab es sie überhaupt?

Alles brach mit einem Schlag zusammen. Plötzlich fühlte sie sich unendlich klein und nutzlos. Sie hatte ihr Leben für ihren Mann und ihre Kinder geopfert. Aus Liebe. Sollte das auf einmal alles keinen Wert mehr haben?

Sie war innerlich so aufgewühlt, enttäuscht und wütend über sich und ihn, dass sie mit aller Kraft versuchte, nicht über zu reagieren. Sie biss sich auf die Zunge, sonst hätte sie angefangen zu schreien.

Für einen kurzen Augenblick schaute sie noch einmal aus dem Fenster. Schnell drehte sie sich aber wieder um, aus Angst, Eric könnte einfach weggehen. Betont ruhig suchte sie seinen Blick. Er war immer noch nicht da. Was konnte sie ihm nur sagen? Hörte er sie überhaupt? Wollte sie ihm überhaupt noch was sagen?

„Lass gut sein Eric. Irgendetwas läuft hier schief. Irgendwie sind wir beide zur Zeit nicht auf dem gleichen Weg. Ich bin mir sicher, dass du das auch merkst.“ Linda machte wieder eine Pause, um ihm abermals die Gelegenheit einer Antwort zu geben. Sie wartete. Aber Eric machte wieder keine Anstalten, zu antworten. Sie hatte es geahnt.

Er konnte nicht.

Was sollte er sagen?

Dass sie Recht hatte?

Dass er sich vor ein paar Stunden mit einer anderen Frau getroffen hatte und sich küssen ließ?

Dass er die andere sogar wollte.

Dass er selbst nicht wusste, warum er das tat?

Das konnte er doch nicht sagen. Statt dessen hätte er sie einfach nur gerne in den Arm genommen und ihr beteuert, dass er sie liebt. Das war seine momentane Wahrheit, auch wenn die Realität anders aussah.

Auch Eric war plötzlich zum Schreien zu Mute.

Sie hätten es beide tun sollen.

Linda unterbrach als erste die Stille.

„Aber anscheinend können wir nicht darüber reden. Wir streiten nur. Seit Monaten. Ich habe es satt. Ich muss hier raus. Zur Geburt unseres Enkelkindes bin ich wieder da.“

„Ja.“

„Ja.“

 

Sie lagen beide gequält, stundenlang wach nebeneinander. In Linda kochte die Wut. Es brodelte in ihr, wie in einem Hexenkessel und es entstand eine hochexplosive Mischung. Es war noch nicht klar voraussehbar, in welche Richtung das Hexengebräu wirken würde. Es machte sie jedenfalls nicht müde und heizte sie auf. Zunehmend verlagerte sich die Hitze in ihre Mitte und ihr Schoß fing an zu glühen und machte sich bereit für einen Kampf, der keinen Aufschub mehr zuließ. Sie konnte den Schmerz kaum noch aushalten und sehnte sich nach Erlösung. Sie schob innerlich schluchzend und stöhnend ihr Becken Stück für Stück dem Punkt entgegen, wo sie glaubte zu finden, was sie brauchte.

Es lag vor ihr, ihr bereits zugewandt, wartend, mit einem Lusttropfen auf der Spitze.

Wie so oft entschieden sich ihre Körper für Nähe und Vereinigung. Sie brauchten beide den körperlichen Zusammenschluss. Sie brauchten es als Bestätigung, ihrer doch noch vorhandenen Liebe.

Sie hatten sich noch nicht ganz verloren.

Sie mussten sich aber wieder finden. Sie fingen immer mehr an zu kämpfen.

Wollten sie?

 

***

Wenige Tage später begleitete Vivien ihre Mutter zum Flughafen. Sie stellte keine Fragen. Sie war sich sicher, dass sie keine ehrliche Antwort erhalten würde. Ihr kam es so vor, als wenn ihre Eltern selbst nicht wussten, was sie gerade machten.

Sie wussten es wirklich nicht.

Ihr Abschied fiel fragend aus.

Sie sehnte sich bereits nach der Wiederkehr ihrer Mutter. Sie wollte nicht alleine mit ihrem Vater sein.

Eine Woche.

5 Tage.

 

Erst als Linda im Flugzeug saß, fiel langsam die Anspannung von ihr. Den Abschied und die Abfertigung am Flughafen ließ sie automatisch über sich ergehen, ohne richtig dabei zu sein. Jetzt fühlte sie sich wieder fähig, überhaupt zu denken. Mit einem mal tat ihr ihre Tochter leid, die sie im Ungewissen zurückgelassen hatte. Sie schaute aus dem Fenster, als ob sie damit noch etwas rückgängig machen konnte. Sie wusste, dass es zu spät war. In tiefen liebevollen Gedanken schickte sie ihrer Tochter dennoch einen Blick zurück, auch wenn er bei ihr nicht ankommen würde. Sie würde ihr ein schönes Geschenk mitbringen. Im Augenblick konnte sich Linda nur damit trösten. Sie hoffte, dass sie sich damit wieder versöhnen würden. Mit einem letzten Seufzer ließ sie den Flughafen und ihre Familie hinter sich.

Sie musterte ihren Flugnachbarn, lächelte ihm zu und schaute sich die anderen Mitreisenden genauer an. Ihr Urlaub begann. Beim Start schloss sie die Augen und genoss das warme Gefühl, dass sich durch ihren Bauch zog. Sie legte ihre Hände auf ihren Magen, der ihr in letzter Zeit ständig schmerzte, und wünschte sich, dass alles gut werden würde.

Mehr wollte sie gar nicht.

Es sollte alles nur gut werden.

 

Gleich am ersten Abend beglückwünschte sich Linda zu ihrem spontanen Entschluss für diese Urlaubsreise. Das war wirklich das Beste, was sie für sich tun konnte. Es gefiel ihr auf Anhieb in dem netten kleinen Hotel und sie hatte keine Mühe sich zurechtzufinden. Sie benahm sich wie ein echter Urlaubsprofi. Sie hatte aber auch Glück. Sie traf ausschließlich nette Leute. Sie fühlte sich von Anfang an wohl.

Linda nutzte jede Gelegenheit mit den Leuten in Kontakt zu kommen. Stille und Abgeschiedenheit hatte sie zu Hause genug. Jahr für Jahr. Sie konnte es kaum erwarten, gleich nach dem Frühstück auf Pirsch zu gehen. Sie erfreute sich an den Farben und an der Lebendigkeit des Treibens. Sie ließ sich mitreißen mit dem Strom, der so ganz anders war als ihr bisheriger.

Zeit spielte keine Rolle. Sie kam irgendwann, irgendwo an und es passte. Sie durfte ganz alleine über sich selbst verfügen. Sie bekam ein ganz neues Lebensgefühl. Es berauschte sie. Sie war glücklich. Sie konnte wirklich sagen, dass sie glücklich war.

Ganz benommen saß sie auf einer Bank und dachte über ihr momentanes Glücksgefühl nach. Sie bekam fast ein schlechtes Gewissen. Durfte sie hier alleine so glücklich sein?

War sie zu Hause etwa nicht glücklich?

Doch, sie war zu Hause auch glücklich, aber anders glücklich.

Wie glücklich?

Glücklich gebunden?

Glücklich gehalten?

Glücklich gefangen?

Und nun fragte sie sich ernsthaft, wie glücklich sie sich hier fühlte?

Glücklich frei.

Dieses Gefühl war schön und sie wollte es genießen. Sie wollte ein Stück davon mit nach Hause nehmen. Sie wollte ihr Leben damit ergänzen. Nein nicht ergänzen, sondern auswechseln. Neu gestalten.

Sie dachte viel über Eric und sich nach. Über ihre Liebe, die den Bach runter gelaufen war. Denn, dass sie das war, das wurde ihr immer deutlicher klar. Sie wollte das Rinnsal nicht aufhalten. Sie spürte, dass es einen Sinn machte. Aber sie wollte das Rinnsal umleiten. Sie wollte es wieder zurückführen in den großen See des Glücks, den es einmal gegeben hatte.

Ob es ihr gelingen würde? Sie wollte es schaffen. Sie wollte das Loch wieder stopfen.

Sie war ganz in Gedanken versunken. Der Malblock lag aufgeklappt auf ihrem Schoß. Sie schaute auf das ruhige Meer und wurde selbst immer ruhiger. Der Tag neigte sich langsam dem Ende zu und es wurde schon langsam ein wenig schummrig. Erst als Linda anfing zu frösteln, merkte sie, dass sie viel länger als geplant sitzen geblieben war. Sie wollte eigentlich noch ein wenig spazieren und die Gegend erkunden. Die Gedanken an Eric hielten sie jedoch an den Platz gefesselt. Trotz innerer Gelassenheit und Zuversicht war sie starr und bewegungslos.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

Linda nahm die Frage wahr, bezog sie aber nicht auf sich, zu weit war sie weg in ihren Gedanken. Erst als sie merkte, dass die Gestalt neben ihr nicht verschwand, wendete sie ihren Blick langsam vom Meer und schaute in ein freundliches Gesicht, welches Ruhe und Wärme ausstrahlte. Genau wie die Stimme.

"Warum nicht?" Sie erwiderte seine Freundlichkeit und lächelte zurück. Sie erkannte das Gesicht. Ein Gast aus dem Hotel.

Der Mann nahm neben ihr Platz, viel zu nah, wie sie fand. Er berührte sie fast, stellte Linda verärgert fest. Musste das sein? Sie wollte ein wenig beiseite rücken, tat es aber nicht. Im Gegenteil, sie wandte sich ihm zu, ihr Gefühl sagte ihr etwas anderes als ihr Verstand. Sie konnte Gefühl und Verstand nicht in Einklang bringen. Sie hörte auf ihr Gefühl und blieb ruhig und entspannt sitzen.

„Wenn ich ehrlich bin, beobachte ich sie schon den ganzen Tag. Wir sind im gleichen Hotel,“ sagte der fremde Mann.

„Ich weiß.“

„Was wissen Sie? Dass ich sie beobachte oder dass wir im gleichen Hotel sind?“

„Dass wir im gleiche Hotel sind. Ich habe Sie heute morgen gesehen.“

„Und es macht Ihnen nichts aus?“

„Ich kann ja wohl kaum etwas daran ändern.“

„Sie sind alleine hier?“

„Ja.“

„Sind sie zu Hause auch alleine?“

„Sind sie immer so direkt?“

„Ja.“

Jetzt war es an Linda, weiter Fragen zu stellen. Sie wollte aber nicht. Sie legte eine Pause ein und unterbrach damit das Gespräch.

In dem Moment kam ein etwa 12jähriges Mädchen auf die Bank zugestürmt und setzte sich neben sie. Auch ganz dicht. Linda fühlte sich wie eingezwängt, in die Klemme genommen, vereinnahmt.

Angenehm vereinnahmt.

„Das ist meine Tochter, Eva. Wir machen unseren ersten gemeinsamen Urlaub seit Jahren.“

Eva grinste und reichte Linda die Hand, ohne ein Wort zu sagen.

„Hallo Eva, ich bin Linda", nahm Linda die ihr dargebotene Hand an.

„Hm.“ Große Kulleraugen starrten sie an.

Linda musste lachen. Das war wirklich ein komisches Gespann. Vater und Tochter. Der eine plapperte munter drauf los, und die andere bekam den Mund nicht auf. So schnell wie Eva gekommen war, so schnell war sie auch wieder verschwunden.

Der Mann nahm sofort den Faden des Gespräches wieder auf. Linda hatte nichts anderes vermutet

„Der Urlaub ist anstrengend für mich. Ich kenne Eva kaum. Ihre Mutter und ich, wir trennten uns als Eva drei Jahre alt war. Ich habe sie selten gesehen. Der Urlaub kam für mich völlig überraschend. Die Reise war Eva versprochen, aber ihre Mutter musste einen wichtigen Auftrag übernehmen. So musste ich in die Presche springen, als Notnagel sozusagen. Übrigens ich bin Simon.“ Er reichte Linda seine Hand und Linda legte ihre in seine. Sie spürte einen warmen herzlichen Händedruck. Er hielt sie länger fest als üblich, registrierte Linda. Auch das ließ sie geschehen, ohne Widerrede.

Angenehm.

„Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet“, fuhr er fort.

„Ja, ich weiß. Nein, ich bin zu Hause nicht alleine. Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder. Allerdings sind sie schon fast erwachsen.“

„Traurig?“

„Worüber?“

„Na, dass sie schon fast Erwachsen sind. Es klang jedenfalls so.“

„Sagen wir mal so, es wirft gerade mein Leben um.“

„So schlimm?“

„Können Sie nur anstrengende Fragen stellen?“

„Mit Fragen kommt man schneller ans Ziel?“

„So, so. Und was ist ihr Ziel?“ Nun wurde Linda aber neugierig.

„Sie kennen zu lernen. Wie gesagt, ich beobachte sie schon den ganzen Tag.“

„Na, dann kann ich ja froh sein, dass ich davon nichts mitbekommen haben. Wenigsten darin sind sie diskret.“

„Oh, gehe ich ihnen auf die Nerven?“

„Nein. Eigentlich nicht. Ich mag es nur nicht, wenn man mich dauernd mit Fragen bombardiert.“

„Ja, das kann, ich verstehen. Tut mir leid. Ich bringe jetzt Eva nach oben aufs Zimmer. Ich würde mich freuen, wenn ich sie heute Abend noch an der Bar treffen könnte. Haben sie Lust?“

Linda musste schmunzeln. Sie sagte nicht Nein.

Beim Weggehen betrachtete sie Simon etwas genauer. Er schien jünger als sie zu sein. Ob er ihr Typ Mann war, konnte sie so genau nicht sagen. Über diese Frage hatte sie sich noch nie Gedanken gemacht. Sie hatte Eric und Eric war der Richtige. Sie hatte nie nach anderen Männern geschaut. Musste sie auch nicht.

Musste sie es jetzt?

Sie stöhnte tief auf.

Sie blieb noch sitzen. Zu schön war der Abend. Nun war ihr auch gar nicht mehr kalt. Sie streckte ihre Beine aus und versuchte an nichts zu denken. Sie wollte einfach nur da sein und genießen.

Glücklich frei.

Sie ertappte sich dabei, wie sie überlegte, was sie wohl nachher anziehen würde. Natürlich wollte sie schön sein.

Natürlich wollte sie Simon gefallen.

Natürlich wollte sie Nichts.

 

Simon saß an dem Tisch, den auch Linda gewählt hätte, wenn er frei gewesen wäre. Er war ein wenig versteckt, aber man konnte trotzdem noch aus dem Fenster schauen und hatte einen freien Blick in alle Richtungen. Besonders aufs Meer.

Er fing an zu reden. Er hatte eine ruhige, angenehme, tiefe Stimme. Das war Linda schon bei ihrer ersten Unterhaltung aufgefallen.

Angenehm.

Linda hörte sich sein Leben an. Sie hatte das Gefühl, dass er jemanden brauchte, um sich frei zu machen von seinen Sorgen. Er befand sich in einer neuen Situation in Bezug auf seine Tochter. Sie kam überraschend für ihn und er hatte Angst etwas falsch zu machen. Sie verstand das als Frau. Sie blickte ihm tief in die Augen und war fasziniert, dass ein Mann fähig war, seine Gefühle in Worte zu fassen. Spontan griff sie nach seinen Händen und ließ sie nicht mehr los. Erst als Simon fertig war, merkten sie, dass sie sich immer noch die Hände hielten. Sie lächelten sich nur an und ließen sich ganz natürlich wieder los.

Aber die Anziehung blieb. Sie lag wie ein Magnetfeld zwischen ihnen. Mal mehr mal weniger. Es zog sie zueinander und stieß sie wieder ab. Hin und her. Leichte Berührungen, ob gewollt oder ungewollt, ließen die Körper erzittern.

Natürlich wollte sie Nichts.

Natürlich wollte er alles.

„Hörst du mir noch zu?“ Simon strich sanft über ihre Wange, ließ seine Finger an ihrem Hals hinab gleiten und ließ seine Hand auf ihrer Schulter liegen. Sie fand es nicht unangenehm.

Angenehm.

 

„So halb. Ich bin auf einmal total müde. Was trinken wir hier überhaupt die ganze Zeit?“ Linda merkte , dass sie genug hatte. Wirklich genug. Sie schob ihr halb leeres Glas beiseite.

„Das ist nur etwas Leichtes.“

„Hm. Das merke ich. Lass uns für heute Schluss machen.“

Simon begleitete Linda.

Linda ließ sich begleiten bis in ihr Zimmer.

Natürlich wollte sie Nichts.

Natürlich wollte er alles.

Er zog sie in seinen Bann. Sie ließ sich berauschen. Sie standen schweigend am Fenster und schauten auf das ruhige Meer.

Simon stand hinter Linda. Sie konnte ihn spüren. Ihr wurde heiß, sie wagte kaum zu atmen. Sie schloss die Augen und dachte gar nichts mehr.

Natürlich wollte sie Nichts.

Simon öffnete ganz selbstverständlich ihren Reißverschluss. Linda ließ es geschehen.

Ihr Kleid rutsche über ihre Schultern. Es fiel auf den Boden. Linda hielt immer noch ihre Augen geschlossen und ihr Atem ging schneller, als sie wollte.

Simon hielt sie von hinten umfangen. Seine Hände lagen warm und fest auf ihren Brüsten und Linda spürte seinen heißen Atem an ihrem Hals. Sie wand sich aus seiner Umarmung.

„Simon, ich kann das nicht.“

„Was kannst du nicht?“

„Das.“

„Das kann jeder.“

„Will ich das?“

„Frag mich doch nicht.“

Ihr Bewusstsein schien abzustürzen.

 

In der Nacht tobte ein Gewitter.

Erst sah es so aus, als wenn alles vorüber ziehen würde, als wenn keine Einigkeit zwischen Blitz und Donner bestehen würde. Aber dann braute es sich langsam zusammen. Die Wolken kamen sich immer näher und schoben sich ineinander. Sie verschmolzen und wuchsen zu einer Einheit. Feuchtigkeit sammelte sich in ihnen und leichter Regenschauer blieb nicht aus. Sanft rieselten die Regentropfen vom Himmel herab und umspielten streichelnd alles was sie erreichen konnten. Es bildeten sich kleine Rinnsale in den Furchen und zunehmend wurde es feuchter. Es blieb angenehm warm und regnete sich langsam ein. Das leise Plätschern ging mit zunehmender Zeit zu einem Tosen über. Es drückte alles platt, nahm dem Leben den Atem, ließ nur noch ein lautes Keuchen zu und überspülte alles mit einer gewaltigen Kraft. Blitze durchkreuzten den Himmelskörper und krachend stießen die Elemente aufeinander, wie bei einer heftigen Explosion.

So langsam wie es kam, so langsam verzog es sich auch wieder.

Zurück blieb, von der Heftigkeit des Zaubers überrascht, ein Staunen auf ihren Gesichtern.

 

Linda, Simon und Eva verbrachten viel Zeit miteinander. Eva war ein lebhaftes und aufgewecktes Mädchen. Sie störte sich nicht daran, dass Linda an der Seite ihres Vaters war.

In den Nächten schlich sich Simon zu Linda. Er wollte sie mit Haut und Haaren. Er begehrte sie. In ihrer Nähe hatte er nur ein Ziel. Er wollte sie an sich reißen. Er musste sie besitzen. Es stellte sich ihm überhaupt nicht die Frage, ob sie es auch wollte. Er konnte nicht anders.

Und sie?

Linda wusste nicht was sie tat. Er hatte sie gefangen. Eingefangen. Ihr kam es so vor, als wenn sie sich seinem Willen unterwerfen würde. Als wenn er sie zwingen würde. Aber trotzdem fand sie es schön und genoss es in vollen Zügen. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Sie ließ es einfach geschehen in den Gedanken, dass der Zauber bald vorbei sei würde.

Sein Begehren und ihre Hingabe war in ihrer beider Leben für ein paar Tage Sex pur.

 

Simon und Eva brachten Linda gemeinsam zum Flughafen.

„Linda, ich möchte, dass wir uns wieder sehen.“

„Nein.“

„Warum nicht? Du kannst doch nicht alles vergessen.“

„Doch. Lass alles so, wie es war.“

„Linda, wo finde ich dich?“

„Nein.“

„Linda. Bitte.“

„Nein.“

Linda blieb hart. Sie ließ sich nicht erweichen. Sie blickte sich noch einmal um, hob ihre Hand zum Abschied und verschwand mit den Reisenden.

Linda hatte einen Entschluss gefasst. Die Begegnung mit Simon sollte einen Sinn haben.

Es sollte ihr Leben verändern.

 

***

Eric und Vivien holten Linda vom Flughafen ab.

Vivien war über glücklich, als sie ihre Mutter wieder sah. Eine Woche war lang. Vivien war noch nie so eine lange Zeit von ihrer Mutter getrennt gewesen. Sie hatte sie tatsächlich vermisst. Sie kam sich kindisch vor in ihrem Alter. Aber es war so. Ihre Mutter war sonst immer da. Dass der Vater ständig weg war, spielte keine Rolle für sie. Das war so üblich und musste nicht hinterfragt werden. Als Vivien jedoch ihre Mutter genauer betrachtete, spürte sie auf einmal ganz deutlich, dass der Urlaub ihrer aller Leben verändern würde.

Vivien beobachtete ihre Eltern.

Eric war abwartend reserviert.

Linda schaute freundlich.

Die Begrüßung zwischen ihnen fiel ernüchternd aus. Sie standen sich gegenüber und schauten sich nur kurz an.

Vivien war entsetzt. Sie spürte mit aller Härte und Gewissheit die Entfremdung ihrer Eltern. Sie musste ihre Tränen zurückhalten.

Linda registrierte Viviens Enttäuschung. Sie nahm sie schnell in den Arm und drückte sie ganz fest an sich.

Es tat beiden gut.

Linda wollte nur noch schnell nach Hause. Aber schon bald merkte sie, dass sie einen anderen Weg fuhren. Ihre Fahrt endete am Krankenhaus. Seit 9 Stunden war sie Oma.

Anabell war noch sehr geschwächt, aber stolz präsentierte sie ihre kleine Tochter Elisa. Tom schlief in der Ecke. Die Geburt war sehr anstrengend für ihn, meinte Anabell lächelnd.

Neues Leben.

Es stachelte Linda an.

Neues Leben.

 

Auch Eric merkte sofort, dass Linda anders war. Schon auf dem Flughafen, als sie ihm entgegen kam, spürte er, dass da eine andere Linda kam. Ihr Gang war aufrechter, ihre Haltung drückte eine unglaubliche Entschlossenheit aus.

Nun wartete Eric seit Stunden auf den Augenblick, wo Linda ihm eine wichtige Mitteilung machen würde. Er fürchtete sich davor. Er hatte seit ihrer Ankunft Angst.

Linda ließ sich Zeit. Sie ahnte ja nicht, dass sie so einen Eindruck auf Eric machte.

Am Abend hielt es Eric nicht mehr aus.

„Linda, nun sag schon, was ist los?“

Linda nippte an ihrem Wein.

„Ja. Ich hatte einen schönen Urlaub. Das Hotel war super, das Essen hat geschmeckt und das Wetter war angenehm. Es hätte ein Tick wärmer sein können, aber wir haben ja schließlich erst Anfang März.“

„Das meinte ich nicht.“ Eric klang gereizt.

„Schade, dass ich zur Geburt dann doch nicht rechtzeitig da war. Tom hätte bestimmt meiner Hilfe bedurft.“

„Das meinte ich auch nicht.“ Eric wurde immer verzweifelter. Wollte Linda ihn verschaukeln?

„Nein. Das meintest du auch nicht. Ich weiß, Eric.“ Bevor sie weiter redete, goss sie sich noch ein Glas Wein ein. Sie wusste, dass sie Eric damit auf die Palme brachte. Sie wollte ihre Worte aber genau und richtig wählten. Sie schaute ihn an. Er sah jämmerlich aus. Sollte die darauf jetzt Rücksicht nehmen? Nein. Hatte er in der letzten Zeit auf sie Rücksicht genommen? Nein. Dass was sie sich vorgenommen hatte im Urlaub, dass würde sie ihm jetzt präsentieren. Es war schließlich nicht nur für sie, es war für sie beide von großer Bedeutung.

„Nun gut, Eric. Dann will ich dich mal nicht weiter quälen. Ich habe einen Entschluss gefasst. Ich weiß, dass dir meine Entscheidung nicht gefallen wird. Sie wird euch allen nicht gefallen, vermute ich. Aber ich habe lange darüber nachgedacht und ich werde mich durch nichts, wirklich durch nichts, davon abringen lassen. Das will nur gleich am Anfang klarstellen.“ Linda machte eine Pause. Eine lange Pause. Sie drehte bedächtig ihr Weinglas in der Hand, als wenn sie die Qualität des Weines überprüfen wollte.

Eric hatte Angst, eine Frage zu stellen. Er war sich sicher, dass Linda gleich weiter sprechen würde. Er nahm sich zur Beruhigung schnell noch einen Whisky. Er spürte die Angst vor dem Sturm.

Linda wartete bis Eric wieder im Sessel saß.

„Also gut. Ich werde, wenn Vivien nach Frankreich geht, das Haus verkaufen. Wir werden uns räumlich trennen.“ Sie sagte es mit einer Seelenruhe und schaute Eric dabei tief in die Augen. Der Satz lag wie ein Brocken zwischen ihnen. Es herrschte absolute Stille im Raum. So hatte es Linda nicht sagen wollen. Es kam aber so plötzlich über ihre Lippen, dass die Worte ihr fast selber weh taten. Aber genau so meinte sie sie. Sie verstand ihre Worte. Sie war sich aber sicher, dass Eric sie so nicht verstehen würde. Dazu fehlte nämlich noch die vollständige Begründung, die sie ihm jetzt auch noch liefern müsste.

„Das werden wir ganz bestimmt nicht tun, Linda“, brauste Eric jedoch plötzlich auf. Er stand abrupt auf und hätte beinahe den Tisch mit umgerissen. Wie ein Tiger lief er im Zimmer auf und ab. Linda ließ ihn laufen und wartete bis er sich wieder ein wenig beruhigt hatte.

„Doch, das werden wir. Ich sagte doch schon, ich lasse mich durch nichts davon abbringen. Höre mir doch nur einmal richtig zu. Es ist mein Haus. Mit diesem Haus kann ich machen, was ich will.“ Sie ließ sich nicht durch Erics Unruhe anstecken. Sie blieb ganz ruhig.

„Linda, es ist unser aller zu Hause. Wie kommst du nur auf diesen Schwachsinn?“ Eric stand vor ihr und schaute sie entsetzt an. Er musste sich verhört haben. Er konnte es nicht glauben.

„Setze dich, und höre mir zu. Eigentlich geht es gar nicht um dieses Haus. Es geht um uns, Eric. Die letzte Zeit war die Hölle für mich. Ich sage dir, wie ich auf diesen, wie du sagst, Schwachsinn komme. Ganz ehrlich, ich zweifle an unserer Liebe. Du hast mich tief verletzt. Du warst nicht für mich da, obwohl du gesehen hast, dass es mir schlecht ging. Ich fühlte mich wirklich allein. Ich fühle mich nicht mehr sicher neben dir. Das will aber.“ Linda machte eine kurze Pause. Eric schaute sie so an, als wenn er kein Wort über die Lippen bringen könnte. Wieder befiel Linda Mitleid. Aber sie wusste, Mitleid war hier fehl am Platze. Es ging schließlich um ihre Zukunft. Das hatte sie begriffen. Sie fuhr ein wenig sanfter fort.

„Ich will dir aber nicht allein die Schuld geben, das wäre unfair. Das weiß ich. Auch ich habe meinen Anteil daran geleistet. Wir sind in den letzten Monaten immer mehr auseinander gedriftet, haben nicht mehr miteinander geredet, waren für uns nicht mehr da und außer der körperlichen Nähe gab es in der letzten Zeit nicht mehr viel zwischen uns. Oder, wie siehst du das?“ Linda richtete ihren Blick direkt zu Eric, der immer noch wie versteinert neben ihr saß.

Was sollte er nur dazu sagen. Sollte er ihr sagen, dass es ihm auch schlecht gegangen war? Dass sie das dann wohl gänzlich übersehen hatte? Sollte er ihr sagen, dass er sich anscheinend in eine andere Frau verliebt hatte, es aber selbst noch nicht so genau wusste? Dass er sie aber trotzdem noch liebe. Oder überhaupt nur sie liebe, und nicht wusste, was die andere Frau mit ihm machte? Sollte er ihr das wirklich sagen? Nein. Er konnte es ihr nicht sagen. Sein Inneres schrie nach Linda, aber er konnte nur verzweifelt die Hände heben.

Im tiefsten Inneren hatte Linda damit gerechnet, dass Eric nichts sagen würde. Ja, sie hatte es wirklich nicht anders erwartet. Eines war ihr aber klar, sie musste Eric mit ihrem Zweifel an ihrer Liebe konfrontieren. Sofort nach dem Urlaub. Sie konnte damit nicht warten und sie konnte auch nicht hoffen, dass ihre Empfindung sich ändern würde. In dem Moment, wo ihr Körper von einem anderen berührt wurde und sie es zuließ sich berühren zu lassen, wurde ihr klar, dass mit ihrer Liebe zu Eric irgendetwas nicht stimmte. Sie wollte aber um diese Liebe kämpfen und sie musste herausfinden, ob es einen Sinn machte, um ihre gemeinsame Liebe zu kämpfen. Dafür gab sie das Haus her. Sie setzte alles auf eine Karte. Sie wollte wissen, ob sie sich beide noch einmal füreinander entscheiden würden. Das musste sie nun Eric klar machen.

„Du sagst nichts. Also gehe ich davon aus, dass du mir Recht gibst?“

„Linda, so einfach kann man das doch nicht machen. Du kannst doch nicht alles über den Haufen werfen.“
„Das will ich doch gar nicht, Eric. Ich habe nicht davon gesprochen, dass ich dich verlassen will. Ich will mich doch nur räumlich von dir trennen.“

„Aber genau das verstehe ich nicht. Warum? Und warum willst du dazu das Haus verkaufen?“

„Bleiben wir erst bei uns. Ich will herausfinden, ob wir uns noch lieben. Ich will spüren, dass es mir unerträglich ist, ohne dich zu leben. Und wenn du das Gleiche empfindest, dann hat unsere Liebe noch eine Chance. Eine neue Chance.“

Eric war fassungslos. Er hätte nie im Traum daran gedacht, dass Linda an ihrer Liebe zweifeln würde. Hatte er sie all die Jahre unterschätzt? Sie hatte sich doch nie beschwert? Warum jetzt so Knall auf Fall. Gerade jetzt, wo er doch selbst völlig am Boden war. Wo er sie doch eigentlich brauchte. Sie war doch sein einziger Halt. Wie konnte sie da von zeitweiliger Trennung sprechen? Himmel Herr Gott noch mal. Langsam wurde Eric wütend. Er sah wieder nur sich. Sein Leben sollte andere Bahnen nehmen? Nein. Er brauchte sein zu Hause als Kraftquell. Er bekam höllische Angst.

„Linda, ich liebe dich. Es wird alles wieder gut. Das verspreche ich dir. Lass uns hier bleiben. Bitte.“ In seinem Blick lag unheimliche Verzweiflung. Es fiel Linda schwer diesen Blick zu ertragen. Für sie gab es aber kein zurück mehr.

„Nein, Eric. Ich will in diesem Haus nicht mehr mit dir leben. Weder jetzt noch später. Ich werde mich von diesem Haus trennen. Du wolltest damals das Haus nicht. Meine Großeltern sind tot. Es gehört mir allein. Ich kann es dir nicht schenken. Eben sowenig Vivien. Und ich will es auch niemanden schenken. Ich werde es verkaufen.“
„Linda, ich verstehe das alles nicht. Du fährst alleine in den Urlaub und kommst mit dieser Wahnsinnsidee zurück. Du hast jemanden kennen gelernt? Richtig? Linda ich verzeihe dir.“ Natürlich, so muss es gewesen sein. Warum ist er nur nicht gleich auf diese Idee gekommen? Unerwartet kam wieder Hoffnung in ihm auf. Er würde Linda den Seitensprung verzeihen.

„Nein, Eric. Ich habe niemanden kennen gelernt. Verstehe doch einfach, ich will uns eine neue Chance geben. Wenn wir hier bleiben, wenn alles so bleibt wie bisher, wird sich nichts ändern. Ich werde ständig an die alten Zeiten mit den Kindern erinnert und werde wahrscheinlich immer traurig sein, weil sie nicht mehr da sind. Du kannst das nicht verstehen und wirst mir weiterhin keinen Beistand leisten können. Ich werde daran zugrunde gehen. Glaub mir. Wir werden uns das Leben zur Hölle machen. Du bist ständig weg und ich dümple vor mich hin. Ich will das nicht mehr. Ich habe dieses Szenario ständig vor Augen und es macht mir Angst. Auch deswegen muss ich hier raus.“

Eric war plötzlich in sich gekehrt. Er sackte zusammen. Mit letzter kraft nahm er noch ein Schluck Whisky. Vielleicht hatte Linda recht, vielleicht aber auch nicht. Er hatte höllische Kopfschmerzen. Er wollte nichts mehr hören und nichts mehr sagen.

Mit einem mal schoss eine unglaubliche Wut in ihm hoch, die er nicht mehr kontrollieren konnte. Er knallte sein Glas so heftig auf den Tisch, dass es zu Bruch ging.

„Ich muss hier auch raus,“ schrie er.

„Ja, geh nur. Geh nur wieder fort. Wir waren ja auch noch nicht fertig“, schrie Linda ihm hinterher.

Wie so häufig in letzter Zeit, trennten sie sich, ohne zu einem gemeinsamen Ergebnis gekommen zu sein. Sie konnten es nicht einmal in aller Ruhe zu Ende besprechen.

Linda war wieder einmal tief enttäuscht.

Eric rannte wieder ein mal weg.

Was hatte Linda eigentlich erwartet?

Verständnis?

Sie hatte es gehofft. Wiederum auch nicht. Sie hatte wenigstens erwartet, dass Eric ihre Beziehung genauso unerträglich empfand wie sie.

Was musste denn noch passieren?

Linda war erstaunt, dass sie immer noch ruhig auf dem Sofa saß. Sie ging alles noch einmal durch.

Nein sie würde keinen Rückzieher machen .

Mittlerweile war sie sich auch sicher, dass bei Eric eine andere im Spiel war. Kleinigkeiten summierten sich zu dieser Erkenntnis. Erstaunlicherweise berührte es sie gar nicht mal so sehr. Sie zweifelte schließlich auch an ihrer eigenen Liebe zu Eric.

Sie hatte ihn angelogen.

 

Linda ging nach oben, um ihren Koffer auszupacken. Eric hatte in der Woche seine gesamte Wäsche auf dem Boden verteilt. Es war nicht gerade wenig. Als Linda alles einsammelte, bemerkte sie, dass er sich neue Unterhosen gekauft hatte. Er hatte massenhaft Unterhosen. Auch so eine Kleinigkeit, dachte sie bedauerlich. Sie schüttelte den Kopf. Was sollte sie nur davon halten?

Wozu braucht man so viele neue Unterhosen?

Und sie? War sie besser? Darüber schmunzelte sie.

Das war wirklich ein erstaunliches Gewitter in der ersten Nacht.

Sie spürte an diesem Abend und in dieser Nacht, dass ihre fraulichen Reize begehrt wurden. Und genau diese wollte sie nun Eric neu präsentieren. Sie wollte wieder das Feuer bei ihm entfachen. Die Flamme sollte nicht nur lodern, sie sollte wieder brennen. Er sollte nicht nur ihren Körper lieben. Sie wollte nun insgesamt als Frau von ihm geliebt werden. Sie wollte nicht mehr nur so neben Eric her leben, sie wollte von ihm wahrgenommen werden, so, wie sie von Simon wahrgenommen wurde. Sie hoffte, dass durch die räumliche Trennung, sein Interesse an ihr wieder geweckt werden würde. Aber auch sie wollte wieder glühen und die Liebe für ihn in sich spüren. Wenn nicht, dann wüsste sie woran sie war.

Sie musste es wagen.

Zur Zeit fühlte sie sich nur körperlich mit Eric vereint. Es war ihr auf einmal eindeutig zu wenig. Ihr ist klar geworden, dass die Kinder all die Jahre einen großen Teil der Familie ausgemacht hatten und die Zweisamkeit darunter gelitten hatte. Nun fiel die Familie auseinander und alles wurde mit einem Schlag und mit voller Kraft augenscheinlich. Es schmerzte sie sehr, das feststellen zu müssen. Aber es war auch eine Chance.

Sie wollte sie nutzen.

Sie musste sie nutzen.

 

**********

 

Seit Lindas Rückkehr aus dem Urlaub gab es so etwas wie Waffenstillstand im Haus der Sandermanns.

Lindas Plan, das Haus zu verkaufen und getrennte Wohnungen anzumieten, lag in der Luft. Alle wussten davon und keiner wagte darüber ein Wort zu verlieren. Bis August war noch fast ein halbes Jahr Zeit. Bis dahin konnte viel passieren, dachte jeder.

Nur Linda dachte nicht so, denn es war schließlich ihr Plan. Sie ließ jedoch erst einmal ihre Idee wachsen und ruhen. Es ging ihr gut damit. Ihre Magenschmerzen ließen plötzlich nach. Sie hatte irgendwie einen inneren Frieden geschlossen, wusste, dass ihr in Zukunft etwas Neues bevor stand. Darauf freute sie sich, obwohl sie nicht wusste, wie das Neue aussehen würde. Sie war einfach gespannt. Sie fühlte, dass es besser werden würde. Etwas schlechteres als jetzt, würde sie nicht annehmen.

 

Eric beobachtete Linda mit Argwohn und traute sich nicht in Gedanken an Joanna ab zuschweifen. Zu sehr war er von der wahnsinnigen Idee seiner Ehefrau gefesselt. Ständig rauschten ihre Worte in seinen Ohren. Je mehr er darüber nachdachte, um so mehr musste er feststellen, dass sie Recht hatte. Er wollte es nur nicht zugeben. Weder zu sich selbst, noch in Worten zu Linda. Er fühlte täglich ihren fragenden Blick auf sich gerichtet. Er konnte ihr immer noch nicht antworten. Er wich ihr aus. Aber er dachte nach.

Sie spürten beide, dass sich etwas bewegte. Ganz langsam kam es in Gang. Alles noch ohne Bedeutung und ohne Auswirkung. Aber immerhin Bewegung. Eric bewegte sich ganz langsam in kleinen Schritten.

Linda setzte in aller Ruhe dagegen. Schneller, aber mit Bedacht. Sie wusste, dass sie noch Zeit hatte. Wochen verflossen. Aber ihr blieben noch gute vier Monate, um den Verkauf des Hauses vorzubereiten. Sie hatte keine Bedenken, einen guten Käufer zu finden. Es ging ihr letztendlich auch nicht um das Geld. Sie würde das erste Angebot annehmen. Sie hatte nicht vor, zu feilschen. Und sie wollte auch nicht, dass Eric dabei ein Wörtchen mitzureden hatte. Es war ihre Entscheidung, ihr Haus, ihr Verkauf. Sie war sich sicher, dass Eric irgendwann mit ihr reden würde. Sie konnte warten.

Sie wartete.

 

Vivien war genauso geschockt, wie ihr Vater, als sie erfuhr, was ihre Mutter vorhatte. Dass sie etwas vorhatte, hatte sie bereits auf dem Flughafen geahnt. Aber, dass sie sich so eine rigorose Veränderung wünschte, damit hätte Vivien nicht gerechnet. Sie konnte ihre Mutter aber irgendwie verstehen und sie schlug sich wortlos auf ihre Seite. Es passte für sie irgendwie zusammen. Schließlich wollte sie selbst reiß aus nehmen, weil sie die Spannung, die sich in diesem Haus zusammen gebrodelt hatte, nicht mehr ertragen konnte. Sie sehnte sich förmlich nach Befreiung und konnte es kaum noch abwarten bis August. Sie spürte täglich die unterschwellige Verfremdung, die sich zwischen ihren Eltern breit gemacht hatte. Sie sah den Entschluss ihrer Mutter als vernünftig an und hoffte sehr, dass ihre Mutter mit ihrer Entscheidung, die Liebe, die sie zwischen ihren Eltern seit sie denken konnte, kannte, wieder zurückholen könnte. Sie wünschte es sich sehr.

Vivien kam wieder besser mit ihrer Mutter in Kontakt. Sie fühlte sich von ihr weder geliebt, beachtet und verstanden. Dieses Gefühl war großartig und sie fühlte sich ihrer Mutter plötzlich ganz nah. Ob ihre Mutter, von der anderen Frau wusste? Wenn nicht wissen, dann doch wenigsten ahnen, hoffte Vivien.

Ihr Vater dagegen suchte keinen Kontakt, weder zu ihr noch zu ihrer Mutter. Sie erlebte ihn als trotzig und wiederum als sehr einsam. Fast tat er ihr leid.

Letztendlich blieb es jedoch für Vivien dabei, sie hatte es schwer zwischen ihren Eltern. Sie weinte abends oft, hatte sie doch beide lieb.

 

Für Tom brach nun endgültig das heile Familienhaus zusammen. Schon zu Weihnachten vermisste er das Familiengefühl, dass er in diesem Haus so geliebt hatte. Auch wenn er oft nur seine Ruhe haben wollte und ständig quer schlug, so hatte er sich doch immer sehr wohl bei seinen Eltern gefühlt. Auch seine Schwester liebte er als seine kleine Schwester. Er wurde das Gefühl einfach nicht los, dass mit seinem Auszug alles begann. Er sah immer noch das traurige Gesicht seiner Mutter und es ging ihm nicht aus dem Kopf.

Vor ein paar Tagen traf er seine Mutter in der Stadt. Er war mit dem Baby unterwegs und sah sie in einem Kaffee aus dem Fenster schauen. Ihre Freude war groß, als sie ihn entdeckte. Sie kam sofort aus dem Kaffee und umarmte ihn stürmisch. Tom kannte seine Mutter. In der Umarmung lag eine Hilflosigkeit. Er brauchte ihr nur in die Augen zu schauen und er wusste sofort, dass sie irgendetwas bedrückte. Dann erfuhr er, dass sie das Haus verkaufen wollte. So wie sie es erzählte, stand für ihn fest, dass es kein zurück mehr gab. Er konnte es aber nicht verstehen, weil seine Mutter ihm nur die Fakten mitteilte. Die Hintergründe zu erfragen, dazu hatte Tom keinen Mut. Das, was seine Mutter tat, war für ihn immer richtig und sinnvoll. Er liebte seine Mutter und hatten großen Respekt vor ihr. Sie musste sich etwas dabei gedacht haben. Vielleicht sollte er mit seinem Vater Kontakt aufnehmen? Oder lieber mit seiner Schwester? Darüber musste er noch einmal nachdenken. Es schmerzte ihn, dass er an den Ursprung seiner Kindheit bald nicht mehr zurückkehren konnte. Wenigstens das sagte er seiner Mutter. Er sah, dass sie ihn verstand. Er sah aber auch, dass sie für ihn keinen Rückzieher machen würde. Und er spürte irgendwie, dass seine Mutter gut daran tat, an sich zu denken. Mit Trauer aber dennoch mit einer liebevollen Umarmung verabschiedeten sich Mutter und Sohn. Sie spürten beide, dass sich ihre Lebenswege wirklich getrennt hatten.

Die kleine Elisa, die bis dahin friedlich in ihrem Wagen geschlummert hatte, bekräftigte das mit einem plötzlichen lauten Weinen.

 

Tom konnte den traurigen Blick seiner Mutter nicht vergessen. Er stand im Bad vorm Spiegel und schaute stumm vor sich hin.

Anabell betrachtete ihn schon eine ganze Weile, ohne, dass es ihm bewusst war. Sie wusste, dass sie ihm nicht helfen konnte. Sie fand die ganze Sache einfach übertrieben und wollte sich nicht in die familiären Unstimmigkeiten ihrer Schwiegereltern einmischen. Sie fühlte sich in ihrer eigenen kleinen Familie wohl und wollte sich wirklich nicht den Kummer anderer reinziehen. Ihre kleine Tochter nahm sie voll in Besitz und forderte sie heraus. Anabell wollte Mutter mit ganzem Herzen sein und Ehefrau mit voller Hingabe. Diese Aufgabe war ausreichend für sie und für die Probleme anderer fühlte sie sich nicht zuständig.

„Tom, deine Eltern kriegen das schon wieder hin. Du musst dich dafür nicht verantwortlich fühlen.“ Zärtlich strich sie ihm über seinen nackten Rücken. Sie spürte, dass seine Muskeln angespannt waren. Sie lehnte sich an seinen Oberkörper und genoss den männlichen Duft, den er ausströmte. Sie wollte ihn.

Bald.

Tom fing endlich an sich zu rasieren, blieb aber in seiner angespannten Position. Er wusste, dass Anabell recht hatte. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass er noch irgendetwas tun müsste. Er sah im Spiegel, dass Anabell scharf auf ihn war. Er musste lächeln. Auch er wollte sie.

Bald.

„Wenn du mit jemanden darüber reden willst und musst, dann treffe dich am besten mit deiner Schwester, Tom. Und nun beeile dich

, bevor unsere Tochter meine Milch braucht, ...

„... willst du mich ?“

„... genau, will ich dich.“

Der Flüssigkeitsaustausch von Vater zur Mutter und von Mutter zur Tochter klappte wie immer zeitlich gut abgestimmt. Die kleine Familie lächelte zufrieden und es folgte wieder eine ruhige Nacht.

Hier stimmte alles.

 

***

Für Eric wurde die Situation mit der Zeit immer unerträglicher. Er war einfach nicht in der Lage mit Linda zu reden. Er konnte seine Gefühle nicht in Worte fassen, er wollte nichts Falsches sagen. Er hoffte irgendwie auf ein Wunder. Aber es geschah kein Wunder.

Wie sollte es denn aussehen?

Was würde er sich denn wünschen?

Dass Linda einfach so bleiben sollte, wie sie immer war.

Dass sie ihm ständig und immer zur Seite stehen sollte, egal was er tat.

Dass Joanna ihm seine geheimen Träume erfüllen sollte.

Dass er zwischen den Frauen einfach so wechseln konnte, wie es ihm beliebte.

Er wusste selbst, dass diese Wünsche abartig waren, dass das alles so nicht ging. Er wusste selbst, dass er sich da etwas vormachte. Aber er wusste nicht, wie er aus dem Schlamassel heraus kommen sollte. Er hatte einfach keinen, dem er sich anvertrauen konnte. Er konnte Linda doch jetzt nicht von all seinen jahrelangen Betrügereien etwas erzählen. Das würde sie ihm nie verzeihen.

Vielleicht war ein Neuanfang ja gar nicht mal so schlecht?

Alles von ganz vorne. Und diesmal alles ganz anders.

Wie sollte das nur aussehen?

Eric war an seinem Lieblingsplatz und quälte sich mit diesen Fragen. Er war allein. Es regnete. Es störte ihn nicht, dass er schon völlig durchnässt war. Er merkte es gar nicht. Sein Kummer überwältigte ihn dermaßen, dass er jeglichen Bezug zur Realität verlor. Seine Gedanken schweiften ab. Er sah sich in den Armen der vielen Frauen, er roch verschiedene Düfte, er sah dicke Brüste vor sich, gespreizte Beine, rasierte Mösen, Buschwerk, schlanke Körper, sinnliche Münder. Er fühlte weiche Brüste, knetete sie, umschloss die harten Knospen mit seinen Lippen, sog an ihnen, wie ein Baby, strich mit seinen Händen über feste Haut, wühlte sich durch die schlängelnden Körper, tauchte ein in die sich ihm bietende feuchte Spalte, wand sich in ihr mit all seinem Kummer bis er sich in seiner Hose ergoss.

Fassungslos riss er seine Augen auf und blickte auf sich herab. Er ekelte sich. Zum ersten mal in seinem Leben bahnten sich Tränen der Verzweiflung aus seinen Augen und er ließ es geschehen.

Feuchtigkeit von oben und von unten.

Er lachte kurz hysterisch auf.

Dann weinte er wieder. Sein Körper erzitterte. Er wollte Joanna und liebte Linda. Es passte nicht zusammen und es konnte so nicht weitergehen. Linda wollte eine Entscheidung. Sie wollte eine Wende in ihrem gemeinsamen Leben. Zu Recht, dachte Eric.

Zu Recht.

Aber er konnte diese Entscheidung nicht treffen. Er hasste Endgültigkeit in seinem Leben. Denn wenn er sich jetzt für Linda entscheiden würde, dass wusste er ganz genau, dann wäre das eine Entscheidung für immer und ewig. Er konnte mit seinem Lodderleben, wie er es für sich bezeichnete, dann so nicht mehr weiter machen. Dass würde er Linda dann nicht mehr antun wollen.

Warum hatte er es bis jetzt getan und tun können?

Diese Frage stellte er sich, seit Linda mit ihrer Idee der zeitweiligen Trennung kam. Es führte ihn immer wieder zu ihrer Heirat zurück. Er sah wieder vor Augen, wie ihre Heirat zu Stande kam.

Natürlich war er damals in Linda verliebt. Sie war jung und hübsch. Er wollte sie besitzen. Er war stolz, dass er sie für sich erobern konnte. Er wollte auch mit ihr zusammen sein. Ein Weilchen. Oder ein wenig länger.

Aber für immer?

Das wollte er damals auf gar keinen Fall. Daran hatte er nicht im geringsten gedacht. Das passte nicht zu ihm. So früh wollte er sich noch nicht festlegen. Der plötzliche Tod ihrer Eltern, ließ ihm aber damals keine andere Wahl. Sein Verantwortungsbewusstsein ihr gegenüber siegte. In den ersten Jahren der Ehe hatte er sich oft verflucht, dass er der Heirat zugestimmt hatte. Dann kamen die Kinder und langsam gewöhnte er sich an alles. Auch an die Liebe mit Linda.

Bei diesem Gedanken wurde ihm aus unerklärlichen Gründen kalt. Er fasste jedoch nicht die Bedeutung dieser innerlichen Kälte, er blieb an dem Haus und der Heirat als Fakt hängen.

Ohne Heirat hätte Linda das elterliche Haus nicht bekommen. Es war ihr so verdammt wichtig. Und nun, was machte sie nun? Sie wollte es verkaufen. Sie wollte sich von allem trennen. Warum? Sie wollte einen Neuanfang. Einen Neuanfang mit ihm. Sie sah es als Chance. Aber warum eine zeitweilige Trennung? Was sollte besser werden? Machte sich Linda da nicht etwas vor? Warum war sie sich plötzlich ihrer Liebe nicht mehr sicher? Was sollte der ganze Mist?

Eric brachte das alles nicht zusammen. Er fand einfach keinen Sinn. Er konnte die Gedanken seiner Frau nicht nachvollziehen. Plötzlich kam ihn in den Sinn, dass er Linda überhaupt gar nicht kannte. Nach so vielen Jahren hatte er auf einmal das Gefühl, dass Linda eine Fremde für ihn war. Wollte er diese Fremde? Nein. Schnell wischte er diesen Gedanken wieder fort. Sie war keine Fremde. Sie hatte sich nur verändert. Die Frage, die er sich nun stellen musste, darin war sich Eric auf einmal ganz sicher, war diese, ob er Linda nun folgen wollte. Aber dabei würde es nicht bleiben. Er würde sich auch verändern müssen. Wollte er sich ihr zu Liebe verändern müssen? War das die alles entscheidende Frage, die er sich nun stellen müsste?

Ihm wurde noch kälter. Nun allerdings auch von außen. Der Regen hatte aufgehört. Er betrachtete stillschweigend den feuchten Fleck auf seiner Hose. Seine Haare hingen ihm klatsch nass ins Gesicht und tropfen ebenfalls auf die Hose.

Feuchtigkeit zu Feuchtigkeit, dachte er nun belustigt. Eine echte feuchte Möse wäre ihm jetzt lieber.

So war er. Er konnte seine Probleme ganz schnell einfach mit den Gedanken an eine andere Frau beiseite schieben. Und er wusste, dass genau das, sein Problem war. Und genau das, könnte er Linda bei einem Neuanfang nicht noch mal zumuten und antun. Das hätte sie dann nicht verdient.

Weil er sie liebte?

Was sollte er nur tun?

Liebte er sie?

Er stand auf und ließ die Fragen hinter sich.

Im Auto fand er zum Glück Umziehsachen. Er vertagte seine Entscheidung.

Er fuhr zu Joanna.

Unangekündigt.

Er fand Unterschlupf bei ihr. Sie hatte schon längst sehnsüchtig auf ihn gewartet. Er schlüpfte unter ihre Decke und fand die feuchte Möse, die er wollte und brauchte.

Und er fand diesmal eine Entschuldigung dafür.

Linda, du hast mich dazu getrieben, waren seine Gedanken, als er später unter der warmen Dusche stand.

 

***

Linda stand in der Küche und bereitete einen Apfelkuchen zu. Vivien aß gerne Apfelkuchen. Eric hätte lieber einen Käsekuchen, das wusste Linda. Aber ihre Tochter stand ihr zur Zeit näher als ihr eigener Ehemann.

Sie seufzte.

Also Apfelkuchen.

Während sie den Teig knetete, musste sie plötzlich an Simon denken.

Simon.

Es war das erste mal, dass sie an ihn dachte. Warum ihr ausgerechnet beim Teig kneten Simon in den Sinn kam, wollte ihr nicht so richtig klar werden. Trotzdem ließ sie sich gehen. Verträumt begann sie zärtlich den Teig in ihren Händen zu drücken.

Auf und zu. Von vorn und von hinten.

Sie dachte an seinen knackigen Körper. Sie versuchte sich an seinen Geruch zu erinnern. Fehlanzeige. Eric kam ihr in den Sinn. Sie wischte mit ihrer vermehlten Hand über ihre Stirn und verscheuchte somit ihre Gedanken an Eric. Er sollte jetzt nicht hier sein. Ihr Oberkörper bewegte sich im Takt des Knetens vor und zurück. Sie schloss die Augen. Wärme breitete sich in ihrem Körper aus. Der Teig war längst fertig, konnte sich aber einer längeren liebevollen Zuwendung erfreuen. Linda vergaß Zeit und Raum. Die Bilder jener Nächte kamen zurück. Klar und deutlich. Ein Zittern durchfuhr ihren Körper. Sie sah ihn vor sich sich.

Zärtlich.

Kraftvoll.

Begehrenswert.

Nicht zu verachten.

Sie sah ihre eigene Hingabe. Er nahm sie mit und sie ließ sich Mitnehmen. Sie hatte keine andere Wahl. Es gab keine andere Möglichkeit. Es musste so sein. Es war richtig so. Es war wunderschön.

Die Bilder jedoch, die sollten nie wiederkommen. Sie wollte sie vergessen. Die Bilder, die nun erneut, plötzlich und unerwartet, in ihr ein ungestümes Begehren auslösten, mussten verschwinden.

Sofort.

Ungestüm raffte sie den Teig zu einem Klumpen zusammen und knallte ihn mit voller Wucht gegen die Tür.

Weg.

Weit weg.

Der Teig klatschte von der Tür auf den Boden. Linda blickte erschrocken und völlig entgeistert auf den Teigklumpen.

Simon.

Das durfte nie wieder passieren. Die Gedanken an Simon durften nie wieder kommen. Nie wieder.

Langsam und noch ganz benommen bewegte sie sich vom Tisch in Richtung Tür. Sie war blass. Gerade als sie sich bücken wollte, kam Vivien zur Tür hinein und trat in den Teig. Sie erschrak und schrie auf. Auch in Linda löste sich plötzlich die Starre und sie schrie einfach mit.

Vivien kriegte sich als erste wieder ein. Sie bückte sich und hob den Teig auf. „Ist ja gut Mama. Ich habe keine Schuhe an und meine Socken sind sauber. Du kannst den Teig noch benutzen.“

Linda hatte mittlerweile auch aufgehört zu schreien. Sie stand aber immer noch blass und mit offenem Mund da. Plötzlich fing sie an zu lachen.

Vivien konnte nur mit dem Kopf schütteln. Ihre Mutter kam ihr sehr seltsam vor.

„Was macht der Teig überhaupt auf dem Boden?“, fragte Vivien immer noch fassungslos. Ihre Mutter lachte aber so herzhaft, dass sie einfach mit einstimmen musste.

Als wenn das alles nicht schon komisch genug gewesen wäre, setzte Eric noch einen drauf. Er kam genau in diesem Moment zur Haustür herein, als die beiden sich vor Lachen nicht mehr ein kriegten. Er steckte den Kopf zur Küchentür rein und sah die beiden mit dem Teig.

„Ich habe Apfelkuchen aus der Stadt mitgebracht, ihr braucht nicht backen.“

Linda musste noch mehr lachen und auch Vivien konnte nicht aufhören, obwohl sie keinen blassen Schimmer hatte, warum ihre Mutter so lachte.

Eric wusste nicht so recht, ob er sich von der Heiterkeit einfangen lassen sollte oder nicht. Konnte er das überhaupt nach seiner ersten intimen Begegnung mit Joanna?

Wie in Trance ging er von ihrer Wohnung zum Auto. Er kam an einer Bäckerei vorbei. Der leckere Duft holte ihn wieder zurück in die Gegenwart. Er musste Kuchen kaufen. Mit dem Kuchen in der Hand fühlte er sich wieder auf dem Boden der Realität. Was er vorher in den Händen gehalten hatte, war irgendwie nicht fassbar für ihn.

Nein. Eric wollte nicht wissen, warum die beiden lachten.

Er wollte nur irgendwie mit sich selbst klar kommen. Nach außen war er ganz ruhig und abgeklärt, aber innen war die Hölle los.

War das die Antwort auf die Entscheidung, die Linda wollte?

 

***

Vivien beendete die Schule mit einem Notendurchschnitt von 2,2. Sie war sehr zufrieden mit sich. Nun stand das große Abschlussfest bevor und Vivien brauchte nach Meinung von Linda ein pompöses Kleid.

Endlich, so fand Linda, gab es mal wieder eine schöne Aufgabe für sie. Endlich konnte sie ihre Gedanken mal in eine andere Richtung lenken. Es war aber gar nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatte. Vivien wollte kein Kleid. Sie war der Meinung, dass zu ihr kein Kleid passen würde und sie versuchte mit aller Kraft, es ihrer Mutter klar zu machen.

Sie waren bereits im dritten Laden und Vivien probierte das achte Kleid an. Sie hatte nun wirklich die Nase voll.

„Schau Mama, ich sehe fürchterlich in diesem Kleid aus. Ich sehe in jedem Kleid fürchterlich aus. Ich habe einfach nicht die Figur dazu. Begreife das doch endlich. Mir steht viel besser eine Hose. Deinetwegen ziehe ich dazu auch eine Bluse an. Mehr aber auch nicht. Bitte.“ Völlig hilflos stand Vivien in einem wirklich hübschen Kleid vor Linda. Aber Vivien hatte recht, musste sich Linda nun zum achten mal eingestehen, sie sah wirklich fürchterlich in diesem schönen Kleid aus. Obwohl sie rundliche weibliche Formen hatte, passte sie einfach in kein Kleid. Linda konnte es nicht begreifen.

Selbst die Verkäuferin in diesem Laden schüttelte mit dem Kopf und riet zu einer Hose. Vivien fiel ihr um den Hals, denn nun wusste sie, dass ihre Mutter nachgeben würde. Die Verkäuferin war sehr nett, verständnisvoll und sie hatte Ahnung. Sie kleidete Vivien perfekt ein. Vivien wirkte in dem Hosenanzug femininer als in jedem Kleid.

Linda war überrascht und sehr zufrieden mit dem Ergebnis.

Sie schlenderten nach dem Einkauf ausgelassen fröhlich durch die Einkaufspassage.

„Komm, lass uns noch ein Kaffee trinken. Und dann fahren wir nach Hause.“

Sie steuerten auf das Bistro zu und wählten sich zwei Plätze am Fenster. Während Linda die Getränke holte, hörte Vivien ungewollt das Telefonat einer Frau mit, welche hinter ihr saß. Sie sprach sehr laut und erwähnte ständig den Namen ihres Anrufers. Vivien dachte sich erst nichts dabei, aber als sie nur noch Eric hörte, drehte sie sich um. Da saß tatsächlich die Frau, die sie mit ihrem Vater zusammen gesehen hatte, die, die im Kino vor ihr gesessen hatte. Genau diese Frau telefonierte jetzt mit Eric hinter ihrem Rücken. Eric konnte nur ihr Vater sein. Vivien bekam Schweißausbrüche. Sie schloss die Augen und wünschte sich, dass das alles nicht wahr wäre. Als sie die Augen wieder öffnete, saß ihre Mutter neben ihr und die Frau hatte aufgehört zu telefonieren. Aber sie saß noch hinter ihr, dass spürte Vivien ganz deutlich. Sie durfte nur nicht wieder anfangen zu telefonieren und dabei den Namen Eric erwähnen, dachte Vivien beunruhigt. Diese Frau verdarb ihr nicht zum ersten Mal einen schönen Tag mit ihrer Mutter.

Sie verließen zur gleichen Zeit das Bistro. Linda stand für einen kurzen Augenblick genau neben ihr. Vivien dachte wieder, dass die beiden Schwestern sein könnten.

Warum tat ihr Vater nur so etwas? Sie hasste ihren Vater.

Sie wollte weg. Weit weg. Sie war froh, dass sie bald nach Paris fahren konnte.

 

Der Abschlussball war ein rauschendes Fest.

Vivien sah wunderschön aus.

Linda strahlte den ganzen Abend für Linda.

Eric ließ alles über sich ergehen.

Tom sagte ab. Er tat gut daran. Er ahnte, dass der ganze Auftritt nichts mit Familie zu tun hatte.

Es war ein rauschendes Fest für all die anderen.

Die drei Sandermanns waren froh, als es vorbei war.

 

***

Die Zeit plätscherte dahin.

Eric war öfter weg als sonst.

Das war auch eine Antwort auf Lindas Entscheidung.

Die Spannung zwischen ihnen wurde wieder spürbarer. Der Waffenstillstand währte nur kurze Zeit. Erics anfängliche kleine Bewegung kam zum Stillstand.

Linda plagten wieder zunehmend Magenschmerzen. Sie trank mehr als sonst und weinte in aller Stille. Sie fluchte und klagte in ihrem Haus, wenn keiner da war. Sie hasste Eric mit seiner Sturheit und seiner unglaublich dargestellten Überlegenheit ihr gegenüber. Sie wünschte sich den August herbei und hatte doch unglaubliche Angst davor. Sie setzte alles in den Neuanfang, hoffte auf die ersehnte zweite Chance.

Nur des nachts, wenn er von Reisen kam, gab es einen kurzen Augenblick, wo alles so war, wie immer. Er stellte seine Tasche ab und eilte zu ihr. Er zwängte sich zwischen ihre Beine, so wie immer.

Es war für beide beruhigend, dass es diesen Augenblick noch gab. Eine schmerzhafte Erlösung für beide. Sie fühlten es. Sie sagten nichts.

 

***

Eric fand zum wiederholten Mal Prospekte über Wohnungen auf dem Küchentisch. Ihm war klar, dass er sich damit auseinandersetzen musste. Linda hatte ihn schon des Öfteren daraufhin angesprochen. Sie wollte mit ihm geeignete Wohnungen für sich und für ihn suchen.

Wohnungen, getrennt voneinander, in der sie sich bei Besuchen beide wohl fühlen sollten und ihre Liebe wieder füreinander entdecken sollten.

Eric fand das nach wie vor absurd.

Würde er sie je verstehen können?

Er bezweifelte das.

Er musste sich eingestehen, dass er immer mehr zwischen Linda und Joanna hing und nicht mehr er selbst war. Er war unfähig, eine annähernd richtige Entscheidung für sich zu treffen. Er schob alles von sich. Er flüchtete noch mehr als sonst von einer Reise zur nächsten. Allerdings konnte er jetzt nicht mehr die Angebote der anderen Frauen annehmen. Er enttäuschte reihenweise die Damen. Daran merkte er, dass sein Leben anfing eine Wendung zu nehmen. Er wusste aber nicht, wohin er sich wenden sollte.

Linda.

Joanna.

Eines war aber sicher, er musste eine Entscheidung treffen. Und es war auch sicher, dass, egal wie er sich entscheiden würde, es eine Veränderung mit sich bringen würde. Damit hatte er sich langsam abgefunden. Aber er war immer noch wütend auf Linda, dass sie ihm diese Veränderung aufzwang.

Warum tat er sich so schwer, Linda zu beweisen, dass er sie liebte?

Er liebte sie doch?

Wenn er es sich recht bedachte, dann musste er sich eingestehen, dass es die Endgültigkeit war, die mit der Entscheidung einherging. Er hasste Endgültigkeit. Nichts anderes verlangte aber Linda von ihm. Er sollte sich zur Liebe bekennen. Wenn er das tun würde, ohne wenn und aber, so wie es Linda wollte, dann durfte er sie nie wieder betrügen. Das wäre er ihr dann weiß Gott schuldig.

Joanna.

Was sollte er dann mit Joanna machen?

Linda kam zum Frühstück und unterbrach Erics Gedanken. Sie sah ihn mit den Prospekten in der Hand. Sie sah auch, dass er mürrisch drein schaute, ließ sich davon aber nicht beeindrucken.

„Eric uns bleibt nicht mehr viel Zeit. In drei Monaten ist das Haus verkauft. Vivien fährt in 7 Wochen. Ihr muss auch meine Wohnung gefallen. Schließlich soll sie da auch einen Platz finden.“ Obwohl Linda bezweifelte und auch immer mehr innerlich fühlte, dass Vivien nicht mehr zu ihr zurückkommen würde, sprach sie es aus. Sie hoffte, damit ein bisschen mehr Druck auf Eric ausüben zu können.

„Dann such doch die Wohnungen mit Vivien aus. Was hindert dich daran? Ich nehme das, was ihr mir zukommen lasst.“ So wie er es sagte, so meinte er es auch in diesem Moment. Es war ihm einerlei, in was für einer Wohnung er wohnen sollte. Er würde sich in keiner wohl fühlen, ob er sie nun mit aussuchte oder nicht. Für ihn stand viel mehr in Frage.

„Eric, dass kannst du doch nicht im Ernst so meinen,“ empörte sich Linda. Sie stand immer noch in der Tür und stemmte nun kampflustig die Hände in die Hüfte.

„Doch. Es ist schließlich nicht meine Idee. Ich will hier bleiben.“

„Seit Wochen hangeln wir uns an diesem Thema lang und wir sind immer noch kein Stückchen weiter.“ Linda zog die Brauen hoch, holte tief Luft, um dann kopfschüttelnd auszuatmen.

„Ich kann dir auch sagen warum. Weil du dir etwas in den Kopf gesetzt hast und es auf Teufel komm raus durchführen willst. Dir ist es doch egal, was ich dazu sage. Gib es doch zu. Wundert es dich dann wirklich, dass du auch für die Ausführung alleine zuständig sein sollst. Mach es einfach und lass mich in Ruhe. So ist es dir doch sowieso am liebsten.“ Mit einer schwungvollen Handbewegung fegte Eric die Prospekte vom Tisch.

„Nein ist es nicht. Wann begreifst du das endlich? Ich will mit dir gemeinsam etwas Neues schaffen. Einen Neuanfang für uns.“

„Ach Linda, das ist doch lächerlich. Einen Anfang auf getrennten Wegen. Zeig mir mal irgend ein Paar, was so anfängt.“

„Eric begreife doch endlich. Wir fangen nicht an, wir fangen neu an. Es ist unsere zweite Chance. Wir können unmöglich hier in diesem Haus mit dieser Vergangenheit einen Neuanfang starten. Will das in deinen Dickschädel nicht rein?“

„Ich sagte doch, es ist deine Idee. Ich brauche keinen Neuanfang. Wer den Neuanfang will, bist du.“

Linda schloss die Augen. Für einen kurzen Moment kam sie ins Schwanken.

Sollte Eric Recht haben?

Würde sich vielleicht doch wieder alles einrenken?

Vielleicht würden sie sich ja doch gerade hier im Haus wieder neu finden können. Sie könnten ja auch hier etwas umgestalten und verändern?

Und warum haben sie es dann nicht schon längst getan?

Dann kamen ihr aber auch schlagartig die Erinnerungen aus ihrem Urlaub. Wie wohl und frei sie sich dort gefühlt hatte. Nein. Auf keinen Fall würde sie jetzt einen Rückzieher machen.

Niemals.

Sie musste alles hinter sich lassen, auch wenn sie damit Eric verlieren würde, ging es ihr schmerzhaft durch den Kopf.

„Also gut. Ich fange morgen an, auf Wohnungssuche zu gehen. Du kannst es dir bis dahin ja noch überlegen, ob du mit einsteigen willst.“ Linda musste sich beherrschen.

Als sich Linda an den Tisch setzte und sich Kaffee eingoss, verließ Eric die Küche. Für einen kurzen Moment trafen sich kalte Blicke. Von beiden Seiten.

Die Badezimmertür fiel krachend ins Schloss. Eric schnitt sich beim Rasieren. Er wusste nicht, wann ihm das zum letzten mal passiert war.

Er würde noch heute Joanna anrufen.

 

***

Joanna war froh, als Eric endlich bei ihr anrief und ein weiteres Treffen mit ihr verabredete. Sie wollte sich ihm nicht auf trängeln. Schließlich war er verheiratet. Das musste sie akzeptieren. Aber sie begehrte ihn, ohne Frage. Was er für sie empfand, konnte sie nicht so genau beurteilen. Auf alle Fälle begehrte er sie auch.

Begehren zu begehren. Alle mal gut für eine kleine Affäre. Wollte sie mehr?

Wollte er mehr?

Nach dem Anruf fand sie jedenfalls, dass er sie lange genug hatte warten lassen. Der Spannungsbogen war ausgereizt. Ihrerseits war die Sehne zum Zerreißen gespannt.

Die Sehnsucht nach Eric nahm seit Tagen Überhand.

Für Joanna war das ein neues Gefühl. Sie traute ihm nicht. So stark fühlte sie sich noch nie zu einem Mann hingezogen. Es erfreute sie, machte ihr aber auch unheimlich Angst.

Sie stand vorm Spiegel und betrachtete sich. In einer Stunde würde Eric da sein. Sie wollte, dass er wieder zu ihr nach Hause kam. Hier in ihrer vertrauten Umgebung wollte sie ihn wieder sehen. Hier würde sie stark sein, so hoffte sie. Hier würden ihr nicht wieder die Worte entfallen. Hier war alles perfekt. Wie beim letzten mal. Kurz aber schön war der unerwartete Besuch.

Sie lächelte sich zufrieden zu. Sie fand sich hübsch und anziehend zurecht gemacht.

Zurecht gemacht, zum ausziehen.

Sie wartete am Fenster auf ihn.

Sie sah ihn die Straße heraufkommen. Er hatte vor der Haustür keinen Parkplatz gefunden. Er kam mit eingezogenen Schultern und gesenkten Kopf daher. Niedergeschlagen?

Joanna zog für einen kurzen Augenblick die Stirn kraus. Sollte so ihr Traummann aussehen? Dann machte sich aber sofort ein Kribbeln in ihrem Bauch bemerkbar und sie eilte zur Tür.

Natürlich hatte er einen schönen Blumenstrauß dabei. Und eine Flasche Wein. So, wie jeder einfallslose Mann, dachte Joanna. Wieder ein Minuspunkt.

Und er sah irgendwie erbärmlich aus.

Joanna wusste nicht, wie sie ihn begrüßen sollte. Ihm schien es genauso zu gehen, dachte sie.

Hilflos sahen sie sich an. Dabei waren sie sich doch schon ganz nah gekommen. Aber gerade das schien anscheinend im Moment ihr größtes Problem zu sein. Sie dachten beide daran. Und konnten kein Wort sagen.

Alles lief komisch und linkisch ab. Joanna war enttäuscht. Schließlich saßen sie mit einem Glas Wein auf dem Sofa. Es blieb trotzdem eigenartig still zwischen ihnen. Verkrampft. Sie wagte sich nicht, ihm näher zu kommen.

Eric war tief in Gedanken versunken. Er fühlte sich nicht frei. Linda erschien ihm ständig mit den Prospekten in der Hand. Musste das jetzt sein, stöhnte er leise auf. Dabei sah Joanna so hinreißend aus. Er sah wie sie ihn anlächelte, wie graziös sie ihre schlanken Beine verschlungen hatte und wie reizend sie in ihrem Kleid aussah. Was sie wohl darunter trug? Trotzdem saß er wie ein Stein ihr gegenüber und wusste nicht so recht, wie er aus seiner Erstarrung herauskommen konnte.

Joanna versuchte sich gekonnt lässig zu geben, aber innerlich fragte sie sich wieder, was der Man auf ihrem Sofa von ihr wollte? So, wie er momentan dasaß, sah er ihr nicht danach aus, dass er an ihr ernsthaft interessiert sei. Sie hielt es nicht mehr aus und fragte Eric direkt, was mit ihm los sei.

Völlig unerwartet fing Eric an zu schluchzen. Er sank noch mehr in sich zusammen und hörte nicht mehr auf, am Körper zu beben.

Joanna starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

Das war ihr eindeutig zu viel. Sollte sie etwa einen Mann trösten? Das konnte und wollte sie nicht. Auf keinen Fall. Sie war fassungslos.

Oder war etwas schlimmes passiert? Mit seinen Kindern?

Sie holte einen Schnaps. Den brauchte anscheinend nicht nur Eric, sondern vor allem sie. Joanna wusste nicht ob sie Mitleid oder Abscheu empfinden sollte. Zum Glück riss sich Eric nach dem Schnaps ein wenig zusammen. Joanna erwartete eine Erklärung. Statt dessen fing Eric richtig an zu Jammern. Er heulte sich im wahrsten Sinne des Wortes bei ihr über seine Frau aus, die nach seiner Meinung, sein Leben umkrempeln wollte.

Joanna blickte ihn nur an und sagte kein Wort. Eric nahm das als stille Anteilnahme und redete sich alles von der Seele. Endlich hatte er jemanden, der ihn zuhörte. Er nutzte diese Chance in vollen Zügen.

Joanna schenkte ihm ein Glas Schnaps nach dem anderen ein und trank ein zweites mit. Ohne Alkohol, so sagte sie sich, könnte sie das alles nicht ertragen. Sie hatte sich für diesen Abend etwas völlig anderes vorgestellt.

Einen Bogenschützen, der sie kraftvoll in den siebten Himmel schoss. Und was hatte sie jetzt vor sich sitzen?

Ein erbärmliches Nichts.

Ein Jammerlappen von Mann.

Was sollte sie nur tun?

Sie hörte schon längst nicht mehr zu und hatte ihren Blick schon längst von diesem ach so wundervollen Eric Sandermann abgewandt, als sie plötzlich eine warme Hand an ihrem Oberschenkel spürte. Sanft glitt sie unter ihr Kleid. Wie vom Donner gerührt, ließ sie es geschehen und machte ihr sogar den Weg frei. Wie von alleine gaben ihre Beine nach und gehorchten dem leichten Druck der Hände. Nun nahm sie auch wieder wahr, dass er endlich aufgehört hatte zu reden. Sie wollte ihn nie wieder hören, aber die Hände, die sollten ihr Werk noch zu Ende führen. Sie schloss die Augen, denn sie wollte auch die Person, die zu diesen Händen gehörte, nicht sehen.

Sie konnte ihn nicht wegschicken, ihr Körper hätte das nicht ausgehalten. Er war programmiert seit Tagen auf diese Begegnung. Und er sollte nicht enttäuscht werden. Sie fing an zu schweben. Anfangs dachte sie noch an den harten Aufprall danach. Sie wusste bereits, dass es kein danach geben würde. Nur für ihren Körper wollte sie es tun und zulassen. Sie hielt die Augen geschlossen. Sie ließ sich mitreißen. Sie lenkte ihre Gedanken um. Sie gab ihren Körper und nahm seinen Körper voller Leidenschaft.

Eric strich sanft über ihr erhitztes Gesicht und legte seinen Arm um ihre nackte Taille. Joanna brauchte noch einen kleinen Moment, um sich wieder zu finden. Es hallte noch angenehm in ihr nach. Sie war froh, dass Eric immer noch seinen Mund hielt. Sie öffnete kurz die Augen und sah sein überaus friedliches Gesicht vor sich. Sie konnte es nicht ertragen. Nach diesem jämmerlichen Auftritt war er für sie als Mann gestorben. Wenn sie schon einen Mann zu sich ließ, dann sollte es auch ein Mann sein.

Ein männlicher Mann.

Ein starker Mann.

Ein Mann zum anlehnen.

Und nicht anders herum. Nicht bei ihr. Sie schloss schnell wieder die Augen. Wie sollte sie ihm das nur sagen? Sie wandte sich von ihm ab. Plötzlich kam Ekel in ihr hoch. Sie wusste nicht, warum sie so übertrieben reagierte. Aber sie reagierte so. Sie konnte nichts dagegen machen.

„Eric, bitte zieh dich an und geh. Sofort. Und komme nie wieder. Und rufe mich auch nicht mehr an. Bitte.“ Joanna sprach die Worte mit geschlossenen Augen und sie wollte ihre Augen erst wieder öffnen, wenn Eric nicht mehr da sein würde. Bevor er etwas sagen konnte, bat sie ihn noch, ihr keine Szene zu machen.

„Das war`s mit uns, Eric. Aus Schluss und Ende.“

Eric noch benommen von Schnaps und lieblichen weiblichen Gerüchen erhob sich langsam und fing an, sich anzuziehen. Er gehorchte anstandslos. Er war jedoch wie betäubt.

„Warum, Joanna? Was habe ich falsch gemacht?“

Joanna konnte nicht mehr an sich halten. Immer noch zur Wand gedreht, schrie sie ihn plötzlich an.

„Fang bloß nicht wieder an zu heulen. Zieh dich an und verschwinde. Aber plötzlich.“ Es tat ihr im gleichen Atemzug leid. Sie wollte ihm aber nicht erklären müssen, was es für sie bedeutete mit einem Mann zusammen zu sein und dass sie, gerade weil sie auch Frauen begehrte, nicht so einen Mann haben wollte, wie er es gerade war, nämlich ein in ihren Augen weiblicher Mann. Wenn, dann wollte sie einen richtigen Mann haben. Einen Mann, der sich eben gerade ausnahmslos durch seine Männlichkeit auszeichnete. Aber was bot er ihr? Kaum zu glauben. In diesem Moment schwor sie sich, nie wieder einen Mann an sich ran zu lassen. Angeekelt war sie nicht fähig, sich ihm zuzuwenden. Sie spürte diesen Ekel so heftig, dass sie würgen musste.

Eric gab sich geschlagen und verließ die Wohnung.

Niedergeschlagen.

Als er sein Auto aufschließen wollte, merkte er, dass er betrunken war. Er ging auf die andere Straßenseite und fand keine Hundert Meter weiter ein Hotel. Er checkte ein und ging ohne etwas wahrzunehmen auf das Zimmer. Er setzte sich auf die Bettkante und blieb sitzen.

Einfach nur sitzen.

Er betrachtete seine Schuhe, wippte mit den Füßen auf und ab und ließ sich nach einer Weile nach hinten kippen. Er sah über sich eine hässliche runde Lampe. Er schloss die Augen und stöhnte tief. Runder praller Arsch, dachte er. Er lachte kurz auf.

Was hatte er nur falsch gemacht?

Er ließ den Abend noch einmal vor seinem inneren Auge ablaufen. Er sah Joanna in ihrer weiblichen Vollkommenheit. Straffe Brüste, zum anfassen gemacht. Schlanke Beine, elegant übereinander geschlagen. Lächeln, pure Schönheit.

Seinen erbärmlich jämmerlichen Auftritt sah er nicht. Ihm kam auch nicht in den Sinn, darüber nachzudenken, ob Joanna was von Linda wissen wollte.

Joanna.

Er wusste wirklich nicht, was er falsch gemacht hatte.

Er traute sich jedoch nicht, sie anzurufen und nachzufragen. Sie hatte es ihm untersagt.

Und er traute sich auch nicht, nach Hause zu gehen.

Bald würde es dieses zu Hause sowieso nicht mehr geben.

Bald würde er eine eigene Wohnung haben, wo ihn seine Frau besuchen wollte.

Bald würde er seine Frau in ihrer eigenen Wohnung besuchen.

Diese Gedanken machten ihn krank.

Er wollte und konnte sich nicht an diese Gedanken gewöhnen.

Niemals, schrie er.

Niemals, hauchte er.

Niemals, weinte er ins Kissen.

Er weinte zum zweiten mal an diesem Abend.

Ihm kam alles so hoffnungslos vor.

Er wollte sterben.

Nie mehr aufwachen.

Nur noch die Augen schließen.

Erst mal schlafen.

 

***

Linda stand vor ihrem unvollendetem Gemälde. Es schrie sie an und es zuckte ihr förmlich in den Händen, weiter daran zu arbeiten. Sie spürte aber zu große Wut in sich. Wut, um das Gemälde verderben zu können. Und das wollte sie nicht. Dazu war es zu schön.

Sie krallte ihre Fingernägel in ihre Handflächen, bis es weh tat. Es sollte wehtun. Nur so konnte sie sich besänftigen. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie konnte einfach nicht verstehen, warum ihre Betthälfte heute Nacht leer geblieben war.

Eric war nicht auf Reisen.

Eric war in der Stadt.

Eric war nicht bei ihr.

Es war die erste Nacht ihrer Ehe, in der er sich ohne Grund von ihr fern hielt.

Wie sollte sie das nur verstehen?

War das das Ende?

Hatte sie ihn von sich getrieben?

War ihre Idee der räumlichen Trennung wirklich so absurd?

Nein.

Nach wie vor stand sie voll dahinter. Nach wie vor wollte sie herausfinden, ob ihre Liebe wirklich noch Bestand hatte.

Und nun das.

Konnte sie ihren Test gleich abblasen?

Hatte er ihn schon nicht bestanden, bevor es los ging? Würde sich so ein verliebter Ehemann verhalten? Ein Ehemann überhaupt? Egal ob verliebt oder nicht? Konnte sie nicht erwarten, dass er ihr Bescheid geben würde, wenn er nicht nach Hause kommen würde?

Vielleicht war ihm ja etwas passiert?

Dieser Gedanke kam ihr erst jetzt am Morgen. Plötzlich. In Sekundenschnelle rauschten ihr die Bilder jenes Morgens durch den Kopf, wo die Polizei vor ihr stand und den Tod ihrer Familie bekannt gab.

Schlagartig wurde ihr schlecht. Niemals wollte sie je so eine Situation noch einmal erleben. Sie schloss die Augen und schrie innerlich.

Schnell kehrte jedoch ihre innerliche Ruhe wieder zurück. Sie spürte mit Sicherheit, dass Eric nichts passiert war.

Ihre Sorge galt eher dem Fakt, dass sie nicht so recht wusste, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte, wenn er vor ihr stehen würde.

Sollte sie sein Fernbleiben ignorieren, oder sollte sie ihm eine Szene machen? Angestrengt dachte sie nach.

Plötzlich merkte sie die Schmerzen in ihren Handflächen. Sie öffnete langsam die Hände und sah die tiefen Nagelspuren in ihrer Haut. Sie strich abwesend darüber. Der Schmerz verging schnell.

Ihr innerer Schmerz blieb.

Sie nahm gedankenverloren einen Pinsel. Er lag schwer in ihrer Hand. Nein. Sie war nicht fähig auch nur einen geraden Pinselstrich zu ziehen. Sie legte den Pinsel wieder beiseite. Dennoch betrachtete sie eingehend ihr Gemälde. Es gefiel ihr. Es spiegelte genau ihren Zustand wider. Sie erkannte sich in ihrer Verletzlichkeit, die sie als ihre größte Schwäche interpretierte, und in ihrem Aufbegehren als ihrer nun vermeintlichen Stärke. Sie wollte diese Stärke nicht wieder einbüßen. Sie fühlte sich zur rechten Seite ihres Gemäldes stark hingezogen. Die kräftigen Farben und die deutlich aufwärts zeigende Richtung ihres abstrakten Gebildes ließen sie plötzlich selbst größer werden. Sie straffte ihre Schultern nach hinten, atmete tief durch, schloss die Augen und fühlte, wie die Kraft in ihr wuchs. Die Kraft, die ihr recht geben sollte, dass sie auf dem richtigen Weg war.

Als sie ihre Augen wieder öffnete, lächelte sie leise vor sich hin und nickte zustimmend. Sie strich sanft über ihr Gemälde und sog noch einmal die Kraft in sich ein.

Entschlossen verließ sie wenige Minuten später ihr Haus. Ihr Haus, das bereits verkauft war.

 

Genauso kraftvoll und selbstsicher mietete sie drei Stunden später zwei Wohnungen an. Eine schöne große Vier-Raumwohnung für sich und Vivien und eine kleine Drei-Raum-Wohnung für Eric.

Um Eric zu besuchen, brauchte sie genau eine halbe Stunde. Und Eric konnte in einer halben Stunde bei ihr sein. Sie war sich absolut sicher, dass sie genau das Richtige getan hatte.

Das Richtige für sich.

Eric wollte es so.

Er hatte keinen ernsthaften Versuch unternommen sie von ihrem Plan abzuhalten. Er hatte ihr keine Alternativen geboten. Letztendlich hatte er sich ihr bockig und wortlos gefügt.

Eric musste es nun so nehmen.

Linda fühlte sich immer noch stark.

Ihre wurde bewusst, dass das nach ihrem Urlaub ihre zweite eigene Entscheidung war, die sie mit aller Kraft für sich durchsetzte. Sie dachte endlich einmal an sich. Sonst hatte sie immer nur alles für ihre Familie getan.

Es fühlte sich gut an.

Sie musste immerzu lächeln.

Pausenlos.

Sie war stolz auf sich.

Mit den Verträgen in der Hand saß sie in der Küche bei einer Tasse Kaffee. Eric war immer noch nicht da. Keine Nachricht. Ihm war also nichts passiert.

Sie warte auf ihn. Sie war sich sicher, dass er bald kommen würde. Und sie war sich auch sicher, dass er ihre Freude nicht teilen würde. Sie wollte sich aber nicht beirren lassen. Nun nicht mehr.

Nach einer weiteren Stunde des Wartens ließ sie beide Verträge auf dem Küchentisch liegen und machte sie bereit für einen ausgiebigen Spaziergang.

Sie hoffte, dass es keinen Streit geben würde. Schließlich sollte sie es so machen. Eric hatte ihr dazu die Macht erteilt.

Kampflos?

 

Kampflos.

Ohne Widerrede ließ sich Eric am nächsten Tag seine neue Wohnung zeigen.

Ohne Widerrede schaute er sich Lindas neue Wohnung an.

Sein Blick war leer und er ließ Lindas Redeschwall über sich ergehen. Sie hatte bereits einen Plan, wie alles aussehen sollte. Sie redete ohne Pause und ihr Elan machte Eric immer wütender. Er sagte jedoch kein Wort.

Als Vivien ihn dann jedoch in ihrem kindlichen Übermut fragte, ob er sich denn überhaupt nicht freuen würde, verließ er augenblicklich den Raum. Er konnte das alles nicht mehr ertragen und auch nicht mehr aushalten. Er schlug die Tür hinter sich zu.

Was verlangten sie nur von ihm?

Warum hatte er sich nicht gewehrt?

Wie konnte es nur zu diesem Zustand kommen?

Schwer atmend stand er im Flur. Er war fassungslos.

Linda hatte kein Wort über sein nächtliches Wegbleiben verloren. Er hatte nichts zu seiner Entschuldigung hervorgebracht. Sie präsentierte ihm statt dessen freudestrahlend zwei Wohnungen.

Er schlug mit der flachen Hand gegen die Wand und lehnte dann resigniert den Kopf an die Stelle. Er hörte Linda immer noch reden. Ihre Stimme war freudig aufgeregt.

Was dachte sie nur zu finden ?

Was erhoffte sie sich?

Was trieb sie zu diesem Entschluss?

Eric war zu müde, um weiter darüber nachzudenken. Mit hängenden Kopf verließ er das Haus, in welchem bald Linda wohnen würde.

Es blieb nicht mehr viel Zeit.

Wieder wünschte er sich einfach nur zu schlafen und nicht mehr aufzuwachen.

Wieder fanden sich des Nachts diese zwei Körper, die sich am Tage überhaupt nichts zu sagen hatten und auseinander liefen, die in ihrem Denken und Fühlen momentan unterschiedlicher nicht sein konnten.

Dennoch passten sie zueinander.

Dennoch brauchten sie sich.

Sie mussten sich austauschen.

Ihre Körper sprachen wortlos immer weiter die gleiche Sprache. Sie hielten zueinander.

Miteinander.

Eric unterschrieb den Vertrag.

Kampflos.

 

***

Die Sonne wärmte Erics Rücken. Er war mit seinem Sohn und seiner Enkelin an seinem Lieblingsplatz.

Eigentlich wollte er friedlich im Garten sitzen, aber da lag schon Linda im Liegestuhl. Er wollte nicht gequält neben ihr seine freie Zeit verbringen. Er wusste ganz genau, dass sie ein Gespräch gewollt hätte. Ihm war nicht danach. Er wollte sie nicht enttäuschen.

So weit ist es also schon gekommen, dachte er ein wenig verzweifelt. Ihm wurde schmerzlich bewusst, dass ihm das Haus und der Garten fehlen würde.

Und Linda?

Ja auch Linda.

„Hier verbringst du also manchmal ganz alleine ein paar Stunden“, stellte Tom nüchtern fest. Er fand den Platz ausgesprochen schön und wunderte sich, dass sein Vater diesen Platz für sich geheim hielt.

Elisa hielt friedlich ihren Mittagsschlaf im Wagen ab und schmatzte nur ab und zu ein wenig. Ihr Nuckel wackelte in ihrem kleinen Mund hin und her. Eric musste Lächeln. Seine Enkelin erinnerte ihn an Vivien. Als sie ein Baby war, ging er oft mit ihr spazieren und schaute stundenlang in ihren Wagen. Er sehnte sich plötzlich nach dieser Zeit zurück.

Da stimmte die Welt noch.

Da war Linda noch willig, gefügig und verliebt.

Jetzt kam sie ihm wie eine störrische Ziege vor.

Warum konnte er sie nicht einfach an ihren Hörnern packen und dem Garaus ein Ende machen?

Er wollte nicht weiter darüber nachdenken. Er wollte einfach einen schönen Nachmittag mit seinem Sohn und seiner Enkelin verbringen.

„Ja. Auch ein Mann braucht mal seine Ruhe und muss nachdenken. Mein Vater hat mich hierhergebracht. Und nun bringe ich dich hierher. Vielleicht brauchst du ja auch irgendwann mal einen Ort der Besinnung. Dieser eignet sich hervorragend dazu.“

Ihre Blicke schweiften über die kleine Stadt unter ihnen. Eric war sich sicher, dass sein Sohn momentan glücklich war. Er schien im siebten Himmel zu schweben. Eric konnte an seiner Schwiegertochter auch nichts aussetzen. Die Familie schien perfekt zu sein. Auch seine Familie war einmal perfekt. Oder bildete er sich das nur ein?

War er immer glücklich mit Linda? Von Anfang an? Wieder gingen seine Gedanken einen anderen Weg, als er wollte. Tom holte ihn zurück.

„Ich kann für ein Jahr in die Staaten gehen. Ich habe Anabell noch nichts davon gesagt. Ich weiß es seit drei Tagen. Das Angebot ist Top. Ich wäre dumm, wenn ich es ausschlagen würde.“ Tom schaute seinen Vater nicht an. Er sagte diese Worte in die Weite hinaus. So, als wenn sie nicht wieder zurückkommen sollten. So, als wenn er sie loswerden wollte. Dabei drückte ihn diese schwere Entscheidung seit drei Tagen. Er wusste, dass er sich entscheiden musste. Er wusste nur nicht wie.

Sie saßen lange schweigend nebeneinander bis Eric endlich etwas sagte.

„Rede mit Anabell. Ihr könnt die Entscheidung nur zusammen treffen. Ihr seid eine Familie. Wenn du dich alleine entscheidest, dann entscheidest du es nur für dich. Und egal wie es später einmal kommen wird, du wirst bereuen, dass du Anabell nicht mit einbezogen hast. Du bist nicht mehr alleine, du kannst nicht nur an dich denken. Und Anabell wird es dir übel nehmen, wenn du ganz alleine die Entscheidung triffst. Und mein Rat zu der ganzen Sache, nimm sie mit oder bleib bei ihr.“ Eric hatte lange überlegt, bevor er diese Worte an seinen Sohn richtete. In dem Moment, in dem er sie sagte, wusste er, dass er selbst so nie gehandelt hatte.

„Und wenn sie mich gehen lässt?“

„Ist es das, wovor du Angst hast?“

„Wenn ich ehrlich bin, ja. Ich würde gerne gehen, will sie aber nicht verlassen. Wenn sie mich gehen lässt, dann würde ich denken, dass sie mich verlässt. Ich kann es drehen und wenden, wie ich will, ich komme zu keinem Entschluss. Mal sage ich mir, unsere Liebe ist stark genug, sie hält es aus. Dann sage ich mir wieder, wenn man sich liebt, dann trennt man sich doch nicht für ein Jahr. Es ist zum Verzweifeln.“

„Ja. Letztendlich kann ich dir auch nicht sagen, was die richtige Entscheidung ist. Wichtig ist nur, dass ihr sie gemeinsam fällen müsst und sie muss aus dem Herzen kommen. Ihr müsst beide dabei ein gutes Gefühl haben. Dann passt und stimmt es. Hört sich abgedroschen an, ist aber so. Glaube mir, da spricht dein alter Vater aus Erfahrung.“ Im stillen sagte er sich allerdings zum zweiten mal, dass er diese abgedroschene Phrase nie beherzigt hatte. Eric legte seinem Sohn den Arm um die Schulter. Tom zuckte überrascht zusammen und auch Eric war fast peinlich berührt über seine spontane Eingebung, seinen Sohn so zu berühren. Er ließ aber seinen Arm liegen und in beiden kam plötzlich so etwas wie ein Zusammengehörigkeitsgefühl hoch. Ein Fleisch, ein Blut. Sie lächelten sich an und verstanden.

„Ich denke ich weiß, was du meinst. Danke Vater.“

„Lass mich wissen, wie ihr euch entscheidet. Du kannst mich ja dann in meiner Wohnung besuchen.“ Erics Blick verdüsterte sich schlagartig. Tom merkte es sofort.

„Ich kann Mutter nicht verstehen. Ehrlich. Wie kann sie nur unser Haus verkaufen?“

„Rechtlich gesehen ist es ihr Haus.“

„Es geht mich ja nichts an, aber was ist passiert?“

Auf diese Frage erhielt Tom aber nur ein resigniertes Schulterzucken. Ihm war aber irgendwie klar, dass die Gründe seiner Mutter genau mit dieser Haltung seines Vaters zu tun hatten. Er hatte nie Schuld und wenn doch, dann würde er sie auch nicht so schnell zugeben. So kannte er seinen Vater. Und in dieser Hinsicht hatte er nun letztendlich auch kein Mitleid mit ihm. So wie sein Vater ihm vor wenigen Minuten den Arm um die Schulter gelegt hatte, so klopfte er ihm jetzt wohlwollend auf den Rücken.

Du machst das schon, dachte er dabei.

 

********

Der Sommer war vorbei.

Vivien war in Paris und Linda hielt den ersten Brief von ihr in den Händen.

Sie musste weinen, obwohl sie nun wusste, dass es ihrer Tochter dort gefiel und sie kein Heimweh hatte.

Vielleicht gerade deshalb?

Sie machte sich Vorwürfe. Sie hatte in der letzten Zeit immer mehr den Eindruck gewonnen, dass Vivien nur weg wollte, weil sie ihr mit ihrer eigenen Unbeständigkeit keine zuverlässige Mutter mehr war. Immer mehr kam ihr zum Bewusstsein, dass ihre Tochter für sie in der letzten Zeit nicht mehr, wie sonst immer, die erste Geige gespielt hatte. Erst seit sie weg war, dämmerte es ihr. Vivien musste es irgendwie auch so empfunden haben, dachte Linda. Sie hatten nie darüber gesprochen. Ganz tapfer hatte sich Vivien am Flughafen verabschiedet, ohne Tränen.

Sie hatte sich nicht mehr umgedreht. Sie ging, als wenn sie alles hinter sich lassen wollte.

Linda stand mit dem Brief am Fenster ihres neu eingerichteten Arbeitszimmers und schaute in den vor ihr liegenden Park. Sie beobachtete wie eine alte Dame mit ihrem Hündchen einer Pfütze auswich. Mit wackligem Schritt balancierte sie über den engen Streifen trockener Erde und schaffte es gerade noch so über die unebene Fläche zu kommen. Linda freute sich für die alte Dame mit ihrem Hündchen. Ebenso gut hätte sie auch ausrutschen können. Für einen kurzen Augenblick war sie ein wenig abgelenkt.

Sie ging durch die Zimmer ihrer Wohnung. Sie hatte sich schön eingerichtet. Schlicht aber elegant. Hell und fließend ging alles in einander über und ließ ihr genug Raum.

Freiraum.

Sie fühlte sich wohl in ihren eigenen vier Wänden.

Sie fühlte sich aber nicht frei und glücklich, wie sie es wollte und wie sie es erwartet hatte.

Sie fragte sich ständig, warum ihr der Neuanfang so schwer fiel. Sie hatte es doch so gewollt. Sie hatte es sich doch so reiflich überlegt und war fest entschlossen, dass ihre Zufriedenheit und ihr Glück nur so wieder zurückkommen könnte.

Und nun?

Sie gestand sich ein, dass sie nicht den Mut hatte, es auszuleben. Sie redete sich immer noch ein, dass sie kein Recht dazu hatte, diese Entscheidung zu treffen, dass es ihr nicht zustand, so über ihre Ehe zu entscheiden. Sie nahm die gesamte Verantwortung auf sich und belastete sich zunehmend damit. Obwohl sie sich immer wieder sagte, dass sie Eric genug Möglichkeiten gegeben hatte, sich zu widersetzen. Sie musste sich von dieser Last befreien. Das wusste sie.

Und sie hatte Angst.

Verdammte Angst.

Sie hatte Angst, dass Eric sie verlassen würde.

Aber war es nur diese Angst? Hatte sie nicht auch Angst vor dem Ergebnis ihrer eigenen Entscheidung? Sie war sich selbst nicht mehr sicher, wohin ihr Weg sie führen würde. Was würde sie machen, wenn alles anders kommen würde?

Sie sah schon längst nicht mehr die Sicherheit, dass alles wieder so werden würde, wie es mal war. So sollte es ja auch nicht mehr werden. Sie wollte schließlich eine Veränderung. Sie hoffte aber auf eine Veränderung angepasst an dem, was einmal war. Was wäre aber, wenn dieses es war einmal nicht mehr herbeizuführen war? Wenn es verloren war?

Wenn sie es beide nicht mehr wollten?

Sie konnte es sich nicht so recht vorstellen, aber immer mehr liefen ihre Gedanken in diese Richtung. Sie sträubte sich dagegen, aber ihr Inneres signalisierte ihr, dass sie sich nicht sperren sollte.

Seufzend verließ sie Viviens Zimmer. Noch einmal blickte sie sich um und betrachtete das schöne Zimmer. Sie hatten es gemeinsam eingerichtet. Vivien hatte ihren Platz bei ihr. Das war mehr als genug, stellte sie befriedigt fest. Entschlossen schloss sie die Tür von Viviens Reich.

 

Es war Sonntagvormittag.

Für den Abend hatte sich Eric angekündigt. Er kam oft zu ihr. Fast täglich, wenn er nicht auf Tour war. Er erweckte den Eindruck, dass er bei ihr sein wollte. Spätestens am Morgen schickte sie ihn wieder weg.

Warum?

Sie fühlte sich nicht begehrt.

Sie fühlte sich nicht als etwas Besonderes.

Sie fühlte sich nur genommen.

Sie hatte das Gefühl, dass er sich einfach wieder bei ihr festsetzte, nur weil sie seine Frau war und nur weil es bei ihr so bequem war. Sie wollte aber, dass er mit Lust zu ihr kam, genauso wie sie die Lust verspürte, wenn sie zu ihm ging. Sie wollte diese Freiheit wieder spüren, die Aufregung und die Besonderheit ihrer Liebe. Sie vermisste es immer noch bei Eric. Sie fühlte sich wie ein Gebrauchsgegenstand.

Sie wollte das Prickeln aber wieder heraufbeschwören. Nicht nur in sich, sondern auch in Eric. Aber Eric bedrängte sie einfach zu sehr. Sie fand, dass er sich alles zu einfach machte. Er jammerte und winselte, um wieder mit ihr zusammen zu sein. Es war ihr zu wenig. Es war einfach nicht das, was sie wollte, was sie vermisste, was sie spüren wollte, was sie brauchte.

Wie sollte sie ihm das nur verständlich machen, worauf es ihr wirklich ankam?

Wusste sie denn selbst, was für sie der ausschlaggebende Moment sein würde, woran sie erkennen würde, dass sie sich wirklich lieben würden bis in alle Ewigkeit? Und vor allem, dass die zweite Chance sich auch lohnen würde bis in alle Ewigkeit?

Kann denn eine Liebe halten bis in alle Ewigkeit?

Hatten sie sich denn wirklich geliebt?

Sie hatte nur diese eine Liebe zum Vergleich.

Und die eine Nacht mit Simon.

Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Die Nacht mit Simon brachte sie ja erstmalig auf den Gedanken, dass die Liebe mit Eric erlöscht war.

Diese Nacht brachte alles ins Rollen.

Simon war das Zünglein an der Waage.

Er spielte aber keine Rolle.

Sie wollte Simon nicht.

Nein.

Sie wollte das besondere Etwas, was sie mit Simon gespürt hatte, genau das wollte sie auch wieder mit Eric spüren. Genauso und viel stärker hatte sie nämlich in der ersten Nacht mit Eric gefühlt. Und dann immer so weiter. Aber irgendwann war das besondere Gefühl weg.

Eingeschlafen.

Eingeschlafen?

Nach der Nacht mit Simon wurde ihr bewusst, dass dieses besondere Gefühl zwischen ihr und Eric seit Ewigkeiten nicht mehr da war. Und genau das war es, was ihr Sorgen machte.

Wo war dieses Gefühl hin?

Wo war es geblieben?

War es ganz weg?

Gehörte aber genau dieses besondere Gefühl nicht immer dazu?

Würde es zwischen ihnen jemals wieder kommen?

Dieses einzigartige prickelnde Gefühl, dass den Körper überflutet bei der kleinsten Berührung?

Sie hatten es doch erlebt. Es musste doch noch da sein. Würde sie es wieder wecken können? Wenigstens ein bisschen? Würde ein bisschen reichen?

Bis in alle Ewigkeit?

Linda war im Wohnbereich. Sie starrte auf das einzige Foto, welches sie von Eric auf einem kleinen Bücherbord stehen hatte. Sie wollte ihn, ohne Frage. Aber sie wollte sich und ihn, sich gemeinsam, nicht so nebeneinander.

So eingeschlafen.

So ein bisschen.

Die Fragen und Feststellungen liefen wie eine Endlosschleife in immer neuen Varianten in ihrem Kopf herum.

Was war nur schief gelaufen in all den Jahren?

Wann hatte alles angefangen?

Warum haben sie nichts bemerkt?

Linda musste wieder weinen. Sie hatte längst aufgegeben, sich dagegen zu wehren. Es kam manchmal unverhofft und sie ließ es zu.

Sie nahm im Schaukelstuhl Platz und weinte hemmungslos. Sie sehnte sich nach Geborgenheit, Wärme und Liebe. Sie fühlte eine Leere in sich und gar keine Zuversicht. Sie sah ihre weiße Leinwand vor sich und hatte überhaupt keine Idee mit was sie sie füllen könnte. Sie schloss die Augen und sah nichts.

Plötzlich fühlte sie sich unglaublich schwer.

Sie sank immer tiefer in den Schaukelstuhl hinein.

Wie hineingepresst und festgehalten fühlte sie sich.

Tief abgesackt.

Sie musste immer heftiger weinen.

Sie sah Bilder des Anfangs.

Sie und Eric.

Verliebt bis über beide Ohren.

Kein Blick für etwas anderes.

Weiß.

Schnee.

Der Winterurlaub der Familien musste ihrer ersten Nacht weichen.

Eric ich liebe dich.

Nimm mich.

Liebe mich.

Sie liebten sich.

Liebten sie sich?

Sie liebte ihn.

Liebte er sie?

Oder begehrte er sie nur?

Sie zitterte.

Ich wollte ihn.

Er wollte mich.

Wir wollten uns.

Fünf schöne Tage und Nächte fanden ein jähes Ende.

... auf der Autobahn einen schweren Verkehrsunfall, den sie alle drei nicht überlebt haben...

Bleib bei mir.

Lass mich jetzt nicht allein.

...die Schnapsflasche aus der Hand, zerschellte auf den Fliesen und bespritzte die Schuhe der Polizisten.

...Scherbenhaufen...wurden weg gekehrt.

Scherbenhaufen...

unter den Teppich kehren?

Über ihre Gedanken schlief Linda ein. Als sie wieder erwachte fühlte sie sich nicht besser. Sie fror. Sie war eiskalt.

Ihr war eiskalt. So kalt war ihr schon lange nicht mehr.

Sofort dachte sie wieder an Eric.

Würde Eric sie wieder erwärmen können?

Würden sie sich wieder füreinander erwärmen können?

Sie waren ein Paar.

Ein Paar, dass sich paart, dachte Linda traurig.

Mehr nicht.

Sie zog ihre Knie zu sich ran und verharrte in dieser Stellung.

Liebte sie denn Eric? Oder machte sie sich die ganze Zeit nur etwas vor? Wollte sie ihn nur lieben, weil sie dachte, dass sie ihn liebte?

Ihr wurde vor Schrecken noch kälter. Sie hoffte so sehr, dass ihre Liebe einfach nur zur Gewohnheit geworden war. Wie alles letztendlich immer zur stink normalen Gewohnheit wird.

Tag ein, Tag aus.

Jeder Handgriff, unablässige Wiederholung.

Unablässige Liebe?

Liebe auf Zuruf?

Liebe auf Abruf?

Liebe überhaupt?

Liebe nur der Liebe wegen?

Linda schwirrte der Kopf. Solche Gedanken kamen ihr immer häufiger und ließen sie nicht mehr los. Irgendetwas musste dran sein.

Die Frage der Liebe wurde ihre zentrale Frage.

Seit der Nacht mit Simon.

Wäre das doch bloß nicht geschehen. Vielleicht hätte sie sich dann nie die Frage gestellt. Oder doch?

Dieses eine Wort, es sagt sich so leicht daher, murmelte sie vor sich hin.

Liebe.

Erst jetzt merkte sie, dass sie unheimlichen Hunger hatte und mit Entsetzen stellte sie fest, dass es bereits später Abend war.

Eric wollte doch kommen.

Eric kam aber nicht.

Eric sagte auch nicht ab.

Musste er absagen?

Sie rief ihn an.

Eric war nicht erreichbar.

Linda ging erschöpft, hungrig und frierend ins Bett.

Sie wollte nicht mehr nachdenken.

Sie wollte sich keine Gedanken mehr machen. Sie zog sich die Decke über den Kopf. Langsam erwärmte sie sich. Ihr Blut rauschte durch ihren Körper. Sie hörte es förmlich und sie fühlte wie es ihre Gedanken wegspülte. Weit weg.

Sie wurde leer.

Immer leerer.

 

***

Leer war auch die Autobahn des Nachts.

Eric raste am äußersten Geschwindigkeitslimit seinem Ziel entgegen. Er wollte noch vor Mitternacht bei seinem Freund ankommen. Kurz entschlossen packte er am Abend seine Tasche, setzte sich in sein Auto und fuhr los.

Er wusste, dass Linda auf ihn wartete. Er konnte diesen Besuchen aber nichts mehr abgewinnen. Er fühlte sich dazu gezwungen und was noch viel schlimmer war, er fühlte sich geduldet. Er konnte es nicht mehr ertragen von seiner eigenen Frau weggeschickt zu werden. Er konnte es immer weniger verstehen und er wollte es auch nicht mehr verstehen. Er war an seinen Grenzen angelangt. Er wollte diesen Schwachsinn beenden.

Sofort.

Er wusste nicht was Linda von ihm wollte, was sie mit dieser räumlichen Trennung bezweckte. Und langsam wusste er auch nicht mehr, ob er überhaupt noch etwas von Linda wollte. Alles brach mit einem mal zusammen. Alles in ihm schrie nach Weglaufen.

Weg, weg, weg.

Weg von Linda.

Er drückte das Gaspedal durch, er wollte so schnell wie möglich den Abstand zwischen sich und Linda vergrößern.

So weit ist es also schon gekommen, dachte er verbittert.

Zu allem Unglück fiel ihm plötzlich auch wieder Joanna ein. Die war auch nicht viel besser, stöhnte er laut auf. Erst schlief sie mit ihm und dann schickte auch sie ihn einfach weg, ohne Begründung. Er hatte seitdem nichts mehr von ihr gehört.

Weg von Joanna.

Weg von den Frauen.

Sein ausgeschaltetes Handy ließ er zu Hause. Er wollte nicht nur weg von Linda, sondern er wollte auch nicht erreichbar sein für Linda. Fast schon bereute er seinen Entschluss. Ohne Handy kam er sich plötzlich nackt vor.

Er steigerte sich regelrecht in seine Wut.

Sie sollte nicht wissen, wo er war.

Sie sollte Angst kriegen.

Sie sollte sich Sorgen um ihn machen.

Sie sollte verdammt noch mal endlich zur Besinnung kommen.

Blöde Kuh.

Er schimpfte im Auto leise vor sich hin. Er machte sich Luft.

Er fühlte sich im Recht.

Wie immer.

Langsam wurde ihm wohler zu Mute.

Langsam wurde sein Auto langsamer.

Er erreichte sein Ziel noch vor Mitternacht.

Er erreichte immer sein Ziel.

Das wäre doch gelacht.

 

Sein Freund erwartete ihn schon. Sie mussten nicht viel reden. Sie kannten sich aus der Schulzeit und waren immer füreinander da. Es hatte sich eine solide und stabile Männerfreundschaft zwischen ihnen entwickelt. Sie sahen sich alle Jahre einmal.

Sascha hatte eine Italienerin geheiratet. Sie bewirtschafteten gemeinsam mit ihren Eltern eine Bäckerei im Süden Italiens, nicht weit vom Meer entfernt. Sascha liebte dieses anstrengende aber freie Leben und hatte es nie bereut, seiner Frau zu folgen.

Er zeigte Eric sein Zimmer und ließ ihn erst mal alleine. Eric war ihm dankbar dafür. Völlig erschöpft und müde ließ er sich ins Bett fallen. Es dauerte nicht lange bis ihn der Schlaf hinwegraffte.

Tief und fest.

Auszeit.

 

Eric erwachte am späten Vormittag. Die Sonne schien gleißend hell in sein Zimmer und er wunderte sich, dass er nicht früher aufgewacht war.

Er war durchgeschwitzt. Sein T-Shirt klebte widerlich an ihm und er roch seinen eigenen männlich herben Schweiß. Er ekelte sich vor sich selbst. Schnell stand er auf und ging in das kleine Bad, welches gleich neben dem Zimmer lag. Eric kannte sich aus. Er hatte schon einige male hier genächtigt. Er stand unter der Dusche und genoss den harten Strahl auf seinem Körper.

Er musste an Linda denken. Ob sie schon sein Verschwinden bemerkt hatte? Schließlich hatte sie ihn gestern Abend erwartet. Ob sie ihn angerufen hatte? Gewiss.

Mit einem zufriedenen Lächeln trocknete er sich ab. Er wusste nicht genau warum, aber er empfand tiefe Schadenfreude.

 

Von Saschas Frau Luna erfuhr er später, dass sein Freund unterwegs war, um die Backwaren auszufahren. Er würde erst in ein paar Stunden wieder da sein.

Eric war nicht enttäuscht. Im Gegenteil. Wie immer hatte er wenig Lust zum Reden. So konnte er seine Erklärung, warum er so Hals über Kopf hier erschienen war, noch ein wenig hinauszögern.

Er nahm sich ein Rad aus dem Schuppen und fuhr zum Meer. Er hätte auch zu Fuß gehen können, weit war das Meer nicht entfernt. Aber er wollte schnell am Meer sein. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass jede Sekunde zählen würde.

Als er das Meer sah, beruhigte er sich schlagartig. Es waren nur wenige Menschen am Strand.

Spaziergänger.

Das Meer lag mit einer unglaublichen Schönheit vor ihm. Nicht still und ruhig, sondern kleine weiße Schaumkronen schmückten bewegte Wellen, die sich aufrollten und ergossen. Es hatte etwas vorwärtsdrängendes an sich aber dennoch strahlte das Meer eine wohltuende Sicherheit auf ihn aus.

Eric fühlte sich überwältigt.

Er suchte sich eine geschützte Stelle hinter einer Sanddüne aus und legte sich in den Sand. Er schloss die Augen und konnte ohne Mühe einschlafen. Das Rauschen des Meeres wiegte ihn den Schlaf. Es klang in seinen Ohren wie ein Schlaflied. Sanft und mitreißend.

Er wurde durch Kinderlachen geweckt. Innerlich stöhnend öffnete er die Augen.

Kinder.

Eric erhob sich langsam aus seinem Versteck. Er blickte zum Wasser. Fünf Kinder, im Alter um die acht Jahre, vergnügten sich in den Wellen. Bei den Sachen der Kinder saß eine Frau mit einem Buch in der Hand. Sie las aber nicht darin, wie Eric feststellte, sondern schaute über die Kinder hinweg in die Ferne. Sie hatte langes schwarzes Haar und war für eine Italienerin ziemlich blass. Eric beobachtete ihr Profil und stellte fest, dass sie wunderschön war.

Vollkommen faszinierend.

Sie war nicht allzu weit von ihm entfernt. Eric war sich sicher, dass sie nicht bemerkte, dass sie beobachtet wurde. Er fand, dass sie traurig aussah. Ihr Blick war durchweg traurig. Sie saß da und bewegte sich nicht.

Abwesend.

Wunderschön.

Die Kinder schrien im Wasser und winkten zu ihr hinüber. Aber das schien sie irgendwie nicht zu bemerken. Eric vergewisserte sich, dass die Kinder nur Spaß machten und nicht in Gefahr waren. Sein Blick schweifte wieder zurück zur Frau. Je länger er sie anschaute, um so mehr erregte sie ihn. Sie schien mit ihm auf einer Welle zu schwimmen.

Auf der Welle der Sinnlosigkeit.

Er konnte seinen Blick nicht mehr von ihr wenden. Sie fesselte ihn und er wusste nicht warum. Er fühlte sich zu ihr hingezogen und konnte sich nicht rühren. Mit Erschrecken stellte Eric fest, dass er eine Erektion bekam.

Nicht jetzt, dachte er verärgert. Es erschien ihm völlig unpassend. Er dachte überhaupt nicht in die sexuelle Richtung. Er stellte sich diese Frau ausnahmsweise mal nicht nackt vor. Aber sie machte ihn an. Anders. Auf einer anderen Ebene. Er musste schlucken. Er wusste nicht wie ihm geschah.

Er legte sich wieder zurück in den Sand und schloss die Augen. Er genoss dieses Gefühl. Es fühlte sich leicht an. Berauschend. Das Gefühl der Männlichkeit übermannte ihn jedoch und nahm immer mehr Oberhand an. Er konnte es nicht beiseite schieben, obwohl er ganz genau spürte, dass es fehl am Platze war. Er wollte das andere schöne Gefühl festhalten. Es entglitt ihm immer mehr. Er wurde traurig darüber und es fing an, ihn zu schmerzen, dass er das Gefühl nicht halten konnte. Es schmerzte ihn nicht körperlich, sondern es schmerzte ihn vor allem im tiefsten Innern. Das Gefühl kam nicht umsonst, es schien ihm etwas sagen zu wollen, da war sich Eric sicher. Um so mehr versuchte er, es zurückzuholen. Es grummelte noch ein wenig in ihm und piekte ihn an. Er spürte es, konnte es aber nicht mehr aufgreifen. Es zeigte sich kurz und war dann auch schon wieder weg. Nur seine Erektion war geblieben. Ärgerlich stieß Eric einen lauten Atemzug aus. Ein Handgriff und weg war sie, die unerwünschte Nebenreaktion.

Als er die Augen öffnete, waren die Kinder und die Frau fort.

Eric fühlte sich benommen. Fast sehnsuchtsvoll suchte er den Strand nach den Kindern und der dazugehörigen Frau ab. Es war weit und breit keine Menschenseele zu sehen.

Er musste fast weinen.

Linda.

Linda?

 

***

Eric.

Eric?

Jeden Morgen musste Linda an Eric denken. Seit einer Woche hatte sie nichts mehr von ihm gehört, konnte ihn nicht erreichen.

Sie war in seiner Wohnung gewesen, weil sie dachte, dass ihm etwas passiert sein könnte. Obwohl ihr der Gedanke sofort fremd war, wollte sie sich später keine Vorwürfe machen müssen. Er war wie vermutet einfach nicht da und sie konnte auch nichts auffälliges entdecken. Als sie vom Reisebüro erfuhr, dass er keine Tour hatte, war sie sich ziemlich sicher, dass er weg war. Sein Handy hatte sie erst später gefunden.

Im ersten Moment war sie sauer und wütend.

Wie konnte er einfach abhauen, ohne ihr etwas zu sagen?

Je mehr sie darüber nachdachte, um so enttäuschter wurde sie jedoch. Er hatte sie wieder einmal im Stich gelassen. Es tat ihr weh. Unheimlich weh.

Sie wusste nicht, ob sie ihm das je verzeihen konnte oder gar wollte. Fühlte sie sich sonst dem Ertrinken nahe, kam es ihr diesmal so vor, als dass sie ertrank.

Sie ertrank in ihren eigenen Tränen.

Am Ende wusste sie nicht mehr, worüber sie überhaupt weinte.

Weinte sie um Eric, oder weinte sie um sich?

Weinte sie um die Vergangenheit, die sie nicht mehr hatten?

Weinte sie um die Gegenwart, die sie nicht greifen konnte?

Weinte sie um die Zukunft, die ihr so unendlich weit entfernt und nicht realistisch vorkam?

Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie weinen musste. Egal was sie tat, ständig rollten ihr die Tränen übers Gesicht. Schon tagelang.

Sie fluchte wieder lauthals, bekam wieder Magenschmerzen, zitterte, schlief schlecht und wenig, nahm sich selbst nicht ernst und fing an zu verloddern. Ihr Blick wurde in sich gekehrt und sie fing an sich zu hassen.

Alles nur wegen Eric.

Alles nur wegen Simon.

Oder alles nur wegen ihren Selbstzweifeln?

Sie verfluchte ihren Zustand.

Sie musste malen.

Es zog sie fast magisch in ihr Arbeitszimmer.

Sie malte ein Bild unter Tränen. Ihr Inneres war aufgewühlt, schrie erbärmlich, machte sie ganz krank. Ihre Hände jedoch waren Hände bereit, ganz in Ruhe und ohne Wut das Gefühl aus ihrem Körper auf die Leinwand zu zaubern. Es wurde mit Abstand ihr schönstes Bild. Aus dem tiefsten Schwarz entpuppte sich in Zeitlupe ein Schmetterling, der sich den Weg in eine leuchtend helle Zukunft bahnte. Es kam von Herzen. Es sprudelte aus ihr heraus in einem Zug. Sie spürte plötzlich die Bewegung in sich und vollendete es in ihrem Werk. Bild und Gefühl waren eins. Sie war beeindruckt. Beeindruckt von sich und ihrem Bild.

Das Bild fand seinen Platz in der Diele. So hatte sie es jederzeit im Blick. Der Weg in die Wohnung und aus der Wohnung heraus führte sie an diesem Bild vorbei. Das Bild gab ihr ständig den Impuls sich zu öffnen, sich zu spüren, sich wichtig zu nehmen, sich nicht unterkriegen zu lassen und vor allem, sich nicht klein zu machen. Sie sagte sich immer mehr, dass sie nicht an der Liebe, oder was immer sie mit Eric verbunden hatte, zerbrechen wollte. Sie war sich sicher, dass einen Weg aus dem dunklen Loch, indem sie sich jetzt befand, finden würde. Sie wollte sich so wie der freie Schmetterling fühlen.

Tage später schrieb sie in ihr Tagebuch.

Wir hielten uns fest.

Jahrelang.

Ich habe dich festgehalten.

Du konntest dich bewegen.

Ich habe mich festhalten lassen von dir.

Ich habe mich nicht bewegt.

Es ist an der Zeit, dass ich mich bewege.

Nach diesen Zeilen wurde ihr bewusst, dass die Waage nie im Gleichgewicht war. Eric hatte alle Freiheiten der Welt. Er schwebte oben, seine Waagschale war in ihren Augen mit einer Leichtigkeit gefüllt, mal mit mal ohne ihn. Ihre dagegen, zog nach unten, kam ihr schwer vor mit ihrer eigenen Trägheit besetzt.

Zu keiner Zeit war jemals Gleichgewicht in dieser Waage, musste sie mit Bitternis feststellen. Eric dominierte ihre Beziehung und sie ließ sich dominieren.

Jahrelang.

Unbewusst.

Unbeweglich.

Aus Liebe?

Sie hatte etwas verpasst.

Jahrelang.

Sie wollte nachholen.

Nein.

Sie musste nachholen.

Wieder gemeinsam mit ihm?

Mit jemand anderem?

Oder gar allein?

Das war die Frage mit dem großen Fragezeichen.

 

***

Eric konnte die Frau am Strand nicht vergessen. Sie war ihm allgegenwärtig auf eine ganz andere Art und Weise. Sie war nicht vorrangig das Lustobjekt Frau für ihn.

Er gab ihr einen Namen.

Diamant.

Er hatte Ehrfurcht vor ihr.

Sie war etwas Besonderes.

Diamant.

Er musste zu ihr. Er musste sie sehen. Er musste sie aufsaugen.

Sie saß jeden Tag an der gleichen Stelle mit einem Buch in der Hand und beaufsichtigte die Kinder. So sah es jedenfalls aus. In Wahrheit war sie jedoch weit weg mit ihren Gedanken. Sie wusste, dass die Kinder ihrer Beaufsichtigung nicht bedurften. Die Kinder wussten, dass sie das wusste aber sie wussten auch, dass sie ohne Beaufsichtigung nicht durften. Ihre bloße Anwesenheit ließ die Kinder gehorchen. Sie sagte nie ein Wort zu ihnen, sondern regelte alles mit ihren Augen. Sie hatten einen Packt geschlossen. Freiheit auf beiden Seiten.

Sie brauchten sich gegenseitig.

Eric war sich sicher, dass Diamant ihn schon längst wahrgenommen hatte. Der Strandabschnitt schien ein weitgehend unbesuchter zu sein. Er hatte sich stillschweigend in ihr Gebiet eingeschlichen und sie akzeptierte ihn stillschweigend. Er wagte nicht, sich ihr zu nähern. Er spürte, dass er seinen Raum nicht verlassen und ihren Raum nicht betreten durfte. Es würde sonst alles zwischen ihnen verändern, sagte ihm sein inneres Gefühl.

Eric war überrascht, dass seine inneren Gefühle ihn so sehr beeindruckten, dass er sich auch daran hielt. Er blieb oben bei den Dünen. Was ihn jedoch noch mehr überraschte, was, dass ihm die anscheinend zugewiesene Distanz zu Diamant reichte. Sie strahlte eine Energie aus, die ihn besänftigte. Obwohl er zu ihr wollte, fand er Ruhe an seinem Platz und er gab sich voll und ganz dieser Ruhe hin. Die Vormittage am Strand wurden ein fester Bestandteil seines Tagesablaufs. Schon am Abend freute er sich auf den nächsten Tag.

Der Tag sollte mit Diamant beginnen.

Eric nahm die Distanz zwischen ihnen nicht als Distanz wahr, sondern als unglaubliche Nähe, die sie beide verband.

Pünktlich zwölf Uhr verließ Diamant täglich mit der Kinderschar den Strand. Eric folgte ihr nicht, um herauszufinden wohin sie ging. Er ließ ihr die Zeit zum Abgang. Er wusste, dass sie wieder kommen würde.

Sein Diamant.

 

Er fragte auch seinen Freund Sascha nicht nach dieser Frau. Sie sollte weiter wortlos als Diamant um ihn herum schweben. Er brauchte das. Sie lenkte seine Gedanken in andere Richtungen. So, wie sie still und schweigend dasaß und mit sich beschäftigt war, so fing auch Eric an, sich über sich Gedanken zu machen. Erst sträubte er sich dagegen, aber langsam, ganz langsam ließ er es zu, dass sich sein Blick nach innen richtete.

Er fragte sich, warum er in seinem Leben immer den Drang hatte, seinen Ort zu verlassen, um dann wieder zurückzukommen. Hier am Strand hatte er erstmalig das Gefühl, sesshaft werden zu wollen. Er war ständig traurig, wenn er gehen musste. Es drängte ihn nicht weg. Er fand es schön. Er wollte bleiben.

Woran lag es?

Lag es an Diamant?

Diamant.

Warum wollte er immer von zu Hause weg?

Weg von Linda?

Und warum ist er immer wieder zu ihr zurückgekommen?

Zurück zu Linda?

Warum hatte er Linda so oft vergessen können und sich anderen Frauen hingeben können? Oder sich von anderen Frauen nehmen lassen?

Warum ging ihn Joanna so tief unter die Haut?

Was war an ihr so anders als bei Linda?

Warum hatte er Linda das alles angetan, wenn er sie doch liebte?

Er war sich doch sicher, dass er Linda liebte.

Aber warum reichte die Liebe nicht aus, um ihr treu zu sein?

Eric verzweifelte nicht. Er stellte sich ganz ruhig den Fragen. Er sammelte die Fragen in seinem Kopf. Er wollte eine Antwort darauf finden. Ihm war bewusst, dass er es Linda schuldig war. Sie wollte eine Entscheidung und sie würde eine Entscheidung bekommen.

Er brauchte aber Zeit.

Diesmal wollte er sich richtig entscheiden.

Er stellte ganz nüchtern fest, dass sie ihn nicht verlassen wollte. Sie hatte sich lediglich eine Bedenkzeit erbeten, weil sie, es klang ihm förmlich noch in den Ohren, herausfinden wollte, ob sie sich noch lieben würden. Was für eine blöde Frage, hatte er damals gedacht. Aber jetzt schien sie ihm irgendwie berechtigt.

Auf einmal wollte er es auch für sich herausfinden.

 

Wie fast jeden Abend saß Eric draußen im Garten. Sascha gesellte sich zu ihm. Luna war mit Freundinnen unterwegs und so konnten sie endlich einmal allein und ungestört miteinander reden. Sie tranken selbst gemachten Wein eines Nachbarn. Eric fühlte sich wohl und zufrieden.

Anders.

Wieder kam ihn der Gedanke, dass er nicht weg wollte.

Als wenn Sascha seine Gedanken lesen konnte, setzte er genau an diesem Punkt an.

„Ich will ja nicht unhöflich sein, Eric, aber wie lange willst du noch bleiben? Ich meine nicht, dass du hier nicht willkommen bist, ich denke da eher an deine Frau.“

Eric nickte nur. Er wusste, dass diese Frage irgendwann einmal kommen musste. Er antwortete jedoch nicht.

„Weißt du eigentlich, dass ich deine Frau nie kennen gelernt habe? Und wenn ich mich recht entsinne, hast du auch kaum von ihr erzählt. Warum? Warum hast du sie eigentlich nie mit hierher gebracht?“

„Sie weiß gar nicht, dass ich dich manchmal für ein paar Tage besucht habe. Sie dachte immer ich sei auf Tour“, gab Eric kleinlaut bei. Plötzlich kam er sich schäbig vor. Er schaute an seinem Freund vorbei in die Ferne, als wenn ganz weit hinten Linda auftauchen könnte.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst.“

„Doch.“

„Hast du noch mehr Geheimnisse, von denen sie nichts weiß?“ Sascha wollte immer schnell zum Ziel kommen und war für seine direkte Art bekannt. Eric fand das eher angenehm.

„Eine ganze Menge.“

Dann erzählte Eric seinem Freund von den gefüllten Betten auf seinen Touren.

„Es fing ganz harmlos an. Ehrlich. Erst ein nettes Lächeln, dann ein paar Küsse und irgendwann hatte ich sie dann auch im Bett. Ich konnte gar nichts dagegen tun. Du glaubst gar nicht, wie sich die Weiber ins Zeug legen können. Nicht nur die allein stehenden, die verheirateten sind die Schlimmsten.“

Sascha war sprachlos. Er schüttelte dauernd den Kopf. Er konnte sich das überhaupt nicht vorstellen.

„Du übertreibst, so wie wir Männer das immer tun, oder?“

„Ich wäre froh, wenn es so wäre. Nein. Es ist alles wahr. Bis jetzt habe ich noch nie mit jemanden darüber gesprochen. Ich hätte es tun sollen, vielleicht wäre mir dann selbst klar geworden, was für ein Arschloch ich doch bin.“

„Und deine Linda hat all die Jahre nichts davon gemerkt? Das glaub ich nicht.“

„Wie sollte sie, ich habe sie doch immer geliebt. Ich war immer unverändert der Selbe. Sie konnte gar nichts merken.“

„Nein. Nein. Nein. Nein. Das bildest du dir nur ein.“

„Nein.“

„Und warum will sie sich dann von dir trennen, Eric?“

„Will sie ja gar nicht. Sie will unserer Liebe eine zweite Chance geben. Das ist alles nicht so einfach zu erklären und hat einen anderen Grund. Jeder sieht es, glaube ich, anders. Wir haben uns in der letzten Zeit nicht mehr so gut verstanden. Ich glaube Linda hat es nicht verkraftet, dass unser Sohn ausgezogen ist. Damit fing meiner Meinung nach jedenfalls alles an. Sie fing an zu trinken und wir stritten uns nur noch. Und genau in dieser Zeit habe ich mich ausgerechnet auch noch sehr zu einer anderen Frau hingezogen gefühlt. Ich glaube fast, ich habe mich in sie verliebt. Aber es ist vorbei.“ Eric erzählte Sascha dann die ganze Geschichte mit Joanna. Sascha starrte seinen Freund an und konnte kaum glauben, was er hörte.

„Eric, du machst Sachen. Und nun?“

„Keine Ahnung. Ich brauche noch Zeit. Und damit kommen wir zurück zur Ausgangsfrage, wie lange ich noch bleiben will. Du siehst der Kreis schließt sich wieder.“

„Das ist wieder typisch für dich. So kenne ich dich. Aber mein lieber Freund, so einfach ist das diesmal nicht.“

„Ich weiß. Ich muss wirklich ernsthaft darüber nachdenken. Ich habe auch schon angefangen. Also du meinst, ich kann noch bleiben?“

„Solange du willst.“

„Gut. Sehr gut. Ich fahre dann morgen zurück und hole mir noch ein paar Sachen. Ich danke dir, Sascha.“

„Nichts zu danken. Aber in deiner Haut möchte ich nicht stecken.“ Fast mitleidig schaute er Eric an.

„Sag mal, kann ich Euch dann nicht in der Bäckerei helfen?“

„Willst du bei uns einziehen? So war das mit dem Bleiben aber nicht gemeint.“ Sie mussten beide lachen.

„Also gut. Ich frag den lieben Hausdrachen, wie du dich nützlich machen kannst.“

Sie saßen noch eine Weile schweigend nebeneinander, bevor Sascha ins Haus ging. Er musste wieder zurück in die Bäckerei, die Arbeit wartete.

Eric schaute in den sternenklaren Nachthimmel, suchte und fand einige Sternbilder. Darin kannte er sich ein wenig aus. Er hätte in diesem Moment gerne mit Diamant am Strand gestanden und hätte ihr eng umschlungen den Sternenhimmel nahe gebracht. Er musste seufzen. Schon wieder vernebelte eine Frau seinen Geist, während seine Frau zu Hause auf ihn wartete.

Zweite Chance.

Warum konnte er Linda nicht treu sein?

Eric nahm sich noch ein Glas Wein und dachte nach, wie so oft in letzter Zeit.

Er war ihr von Anfang an nicht treu, musste er sich eingestehen. Es wurde aber erst jetzt für ihn eine ernstzunehmende Frage.

Frauen.

Er war, soweit er sich zurück erinnern konnte, immer von Frauen umschwärmt worden. Schon als kleines Kind war er der Liebling seiner vielen Tanten. Küsschen da, Umarmung dort. Auf jeder Feier rissen sie sich förmlich um den kleinen süßen Eric. In der Schulzeit ging es genauso weiter. Er konnte sich manchmal gar nicht retten von den vielen kleinen Briefchen, die ihm zugesteckt wurden. In seiner Jugendzeit traf er sich häufig mit zwei Mädels gleichzeitig. Es machte ihn kaum etwas aus, wenn sie sich dann wegen ihm die Augen ausweinten. Er brauchte nie Angst zu haben, dass seine Arme ins Leere griffen. Dann kam die Zeit, wo ihm langsam alles zu viel wurde mit den sich für ihn ausziehenden Mädchen und genau in dieser Zeit traf er Linda.

Linda.

Eric schaute in den Sternenhimmel und vertiefte sich weiter in seine Erinnerungen.

In einer Diskothek sah er sie zum ersten mal. Sie stand allein mit einem Glas Gin-Tonic an einen Pfeiler gelehnt und wiegte sich im Takt der lauten Musik. Er wusste sofort, dass sie eine von der Sorte der Schüchternen war.

Eric musste schmunzeln, als er an den Abend zurückdachte. Genau in diesem Augenblick fiel eine Sternschnuppe vom Himmel. Obwohl er über sich und Linda nachdachte, kam ihm beim Anblick der Sternschnuppe Diamant in den Sinn. Er kräuselte die Stirn. Er schob den Gedanken an Diamant wieder zurück und versuchte den Faden seiner Erinnerungen wieder aufzunehmen.

Er konnte sich noch genau erinnern, was sie an hatte. Sie sah blendend in dem hellblauen Sommerkleid aus. Ihre Figur war tadellos. Sie war die erste Frau, die ihn ohne Kuss gehen ließ. Das war damals eine ganz neue Erfahrung für ihn und sie stachelte ihn dermaßen an. Er wusste, dass er sie wieder sehen wollte. An diesem Abend lag er alleine in seinem Bett und träumte von Linda. Er ging wieder in die Diskothek und traf sie. Sie waren den ganzen Abend zusammen. Eric wusste noch genau, dass er sich sehr bemüht hatte, ihr näher zu kommen und dass er schon fast an ihrer schüchternen Zurückweisung verzweifelte. Er war es einfach nicht gewohnt, aber er fand es irgendwie rührend. Sie war so zart, so kindlich und so rein. Er wollte sie haben und er wollte ihr die Zeit lassen, die sie brauchte. Er spürte damals, dass er nur so bei ihr landen konnte. Und er lag genau richtig. Als er aufhörte zudringlich zu sein, fing sie an sich ihm zu zuwenden und zu öffnen. Ihm kam die Zeit unendlich lang vor, aber er hatte sich im Griff. Er hatte sich bemüht und er wollte die Nuss knacken. Dass sie noch Jungfrau sein würde, hatte er geahnt, dass sie es dann wirklich war, hatte ihn beglückt. Er würde nie den glückseligen Blick in ihren Augen vergessen, den sie ihm danach schenkte. Das hatte er so noch nicht erlebt. Das war alles irgendwie mehr als Sex, aber an mehr wollte er nicht denken. Jedenfalls dachte er an diesem Abend auch bei Linda nicht an eine langfristige Beziehung. Dann kam aber alles anders. Drei Tage später verlor Linda ihre gesamte Familie.

Jedes mal wenn Eric an diesen Augenblick zurück dachte, bekam er eine Gänsehaut. Auch jetzt strich er sich wieder über seine Arme. Er blickte in den Garten und ging wieder zurück in die Vergangenheit.

Er sah sich als jungen Studenten mit dem jungen Mädchen, dass mit einem Schlag alles verloren hatte. Was hätte er denn tun sollen? Er konnte doch nicht einfach gehen, wie bei all den anderen? Sie hatte ihm seine Unschuld geopfert. Sie liebte ihn. Er brachte es einfach nicht fertig, Linda in dieser Situation im Stich zu lassen. Er tröstete sie und sie kamen sich näher und näher. Ihm wurde bewusst, dass er in etwas hineinschlitterte, was er so nicht geplant hatte. Er konnte aber auch nicht behaupten, dass er sich dagegen gesträubt hätte. Nein. Er fand schon, dass es gepasst hatte. Irgendwie. Linda war anziehend, und er hatte durchaus auch etwas übrig für sie. Aber er hatte es sich so nicht ausgesucht. Ob er bei Linda geblieben wäre, wenn dieser Unfall nicht passiert wäre, konnte er nicht mit Sicherheit sagen.

Während er darüber nachdachte, hielt er liebevoll einen runden Stein, den er von der der Terrasse aufgehoben hatte, umschlossen in seinen Händen. Plötzlich kam es ihm so vor, als wenn er Linda immer nur liebevoll und sanft festgehalten und beschützt hatte.

Festgehalten, damit sie nicht an ihrem Kummer zerbrach.

Festgehalten an ihrem Platz, damit ihr nichts passieren konnte.

Er fühlte eine Enge in sich. Er musste schlucken und straffte seine Schultern nach hinten. Ihm wurde jetzt klar, warum er immer weg musste.

Es war nämlich nicht sein Platz.

Von Anfang an spürte er immer so etwas wie geraubte Freiheit in sich. Und diese Freiheit musste er sich zurückerobern, diese Freiheit musste Linda ihm zugestehen. Schließlich hatte sie ihm diese Freiheit geraubt. Sie sollte ihm dankbar dafür sein, dass er sie beschützt hatte und bei ihr geblieben war. Er hätte ja auch gehen können.

Eric schleuderte den Stein in den Garten. Er war erschüttert über die Wahrheit. Er formte seine Gedanken in Worte, die er leise vor sich her brummelte. Worte, die eigentlich an Linda gerichtet waren, die aber so nicht bei ihr ankommen würden. Sie flogen dem italienischen Sternenhimmel entgegen und verschwanden.

Was bin ich nur für ein mieser Kerl.

Es tut mir leid Linda.

Du willst wissen, ob wir uns noch lieben. Ich weiß nicht, ob ich dich jemals richtig geliebt habe.

Ich bin damals bei dir hängen geblieben, damit du nicht am Tod deiner Familie zerbrichst.

Ich habe dich damals geheiratet, damit du das Haus behalten kannst.

Ich habe damals alles für dich getan, aus Gefälligkeit, nicht aus Liebe.

In all den Jahren ist daraus wohl auch keine Liebe geworden.

Was suche ich sonst ständig bei anderen Frauen?

Die Liebe?

Linda du bist mein ein und alles. Glaube mir. Ohne dich kann ich nicht sein. Du bist ein Teil von mir geworden. Aber es reichte mir nie aus. Du merkst nun selbst, dass etwas fehlt.

Die Liebe.

Du willst sie zurückholen.

Ich will sie erst finden.

Meine Suche hat nie aufgehört.

Ja, ich glaube ich suche die Liebe.

Ich habe die Liebe noch nicht gefunden.

Und trotzdem ist es schön mit dir.

Es tut mir leid.

Wenn Linda diese Worte gehört hätte, wäre sie entsetzt gewesen.

Die Wahrheiten hätten sie erschlagen.

 

Eric fuhr zurück nach Deutschland. Diesmal langsam, nicht auf der Überholspur. Er hatte keine Eile. Im Gegenteil, er hatte Angst. Er hatte Angst vor der Begegnung mit Linda.

Er fühlte sich schmutzig im tiefsten Inneren ihr gegenüber.

Die Zeit am Strand, in Diamants Gegenwart, hatte ihn in seine Tiefen geführt. Niemals im Leben hätte er geahnt, dass er dazu fähig sein könnte. Diamant schien ihn regelrecht aufzufordern sich zu besinnen. Mehr noch. Mit ihrem ruhigen durchdringenden Blick, den sie ihn in den letzten Tagen beim Kommen und Gehen zuwarf, schien sie ihm auch noch zu sagen, dass er seinen Frieden finden solle.

Den hatte er noch nicht gefunden.

Er würde noch bleiben müssen.

Er würde ihn finden.

Ganz sicher.

Er wollte es.

Diamant nahm ihn wahr.

 

Schneller als gedacht stand er vor seiner Wohnungstür. Er sah sofort, dass Linda da gewesen war. Auf dem Tisch lag ein Zettel.

Melde dich. Wir müssen reden.

Eric nahm zögernd sein Handy zur Hand, welches neben dem Zettel lag.

Er konnte nicht. Noch nicht.

Später, sagte er sich.

Wütend steckte er sein Handy ein. Er packte seine Sachen, mehr als nötig. Er wurde zunehmend aggressiver. Es lag an der Wohnung, darin war er sich sicher.

Es war nicht sein Platz.

Auch diesen Platz hatte er sich nicht selbst ausgesucht. Diesen Platz hatte Linda für ihn geschaffen.

Linda.

Linda ich hasse dich.

Linda ich brauche dich.

Linda ich liebe dich nicht.

Linda ich kann dir nicht in die Augen sehen.

Linda ich habe nur schmerzende Antworten für dich.

Eric wusste nicht, was er tun sollte. Sein Schmerz zerriss ihn fast. Er hatte sich fest vorgenommen Linda einen Besuch abzustatten. Aber plötzlich fühlte er sich nicht dazu in der Lage. Er kam sich ihr gegenüber so verlogen und falsch vor, dass er keinen Mut aufbringen konnte, seinen Vorsatz in die Tat umzusetzen. Er hatte es fast schon geahnt.

Er musste wirklich noch seinen inneren Frieden finden.

Ich kann nicht.

Diese drei Worte schrieb er neben Lindas fünf Worten.

Ich kann nicht.

Dann verließ er nach gerade mal dreißig Minuten fluchtartig die Wohnung und fuhr wieder los.

Er kam an Toms Wohnung vorbei und sah Licht in der Küche. Er hielt an und klingelte. Anabell öffnete die Tür. Tom war nicht zu Hause und Elsa schlief. Es wurde ein kurzer Besuch, aber er erfuhr von Anabell, dass Tom nicht in die Staaten ging. Es war eine gemeinsame Entscheidung, wie Anabell mehrmals betonte. Eric freute sich darüber. Gemeinsam hörte sich gut an.

Gemeinsam.

Er fuhr auch an Lindas Wohnung vorbei.

Aber eben nur vorbei.

Vorbei?

Er spürte ihre Gegenwart. Es tat ihm weh. Fast hätte ihn sein körperliches Verlangen nach ihrem Fleisch übermannt und ihn zu ihr geführt.

Seine Frau.

Seine Linda.

Sie waren über fünfundzwanzig Jahre ein Paar.

Sie teilten ein Vierteljahrhundert ihr Leben miteinander. Sie hatten zwei wundervolle Kinder.

Und jetzt sollte sich herausstellen, dass das alles ein Irrtum war?

Eric konnte es nicht fassen.

Er musste sich auf den Straßenverkehr konzentrierte sich. Als er aber auf der Autobahn war schweiften seine Gedanken aber wieder ab zu dem Irrtum.

Was war ein Irrtum?

Bis jetzt war er die ganze Zeit wütend auf Linda gewesen, weil sie alles ins Rollen gebracht hatte. Ständig hatte er gedacht, warum sie nicht alles so lassen konnte, wie es war. Es war doch alles in Ordnung. Aber jetzt musste er auch für sich feststellen, dass eben nicht alles in Ordnung war.

Ja, Linda hatte recht, in ihrer Beziehung fehlte etwas.

Ja, er hätte es weiter übersehen.

Ja, er wäre nicht darüber gestolpert.

Ja,er hätte bis an sein Lebensende mit Linda seine Zeit in dem Haus verbracht.

Er hätte nicht gemerkt, dass er selbst getrieben war, von der Suche nach dem Etwas, was ihnen fehlte.

Liebe.

Er sollte Linda dafür dankbar sein, dass sie den Fehler entdeckte und so weitsichtig blickte.

Ja, das sollte er.

Fast wäre Eric auf einen Laster aufgefahren. Ein lautes Hupen holte ihn auf die Straße zurück. Tief erschrocken lenkte er den nächsten Parkplatz an und genehmigte sich eine Kaffepause.

Linda ließ ihn nicht los.

Er musste daran denken, dass sie immer von einem neuen Anfang für beide sprach. Nun kam es jedoch ganz anders für sie.

Ob sie auch mal daran gedacht hatte, dass es eine neue Chance für jeden Einzelnen bedeuten könnte? Oder nur eine neue Chance für Einen sein könnte und der andere bliebe enttäuscht und gebrochen zurück?

Ob sie das wohl getan hatte?

Melde dich. Wir müssen reden.

Wenn ich nur könnte, dachte Eric wieder und drückte sein Gaspedal durch.

Es zog ihn fort von seiner Linda.

Weit fort.

Fort.

 

Stunden später fühlte er sich wieder angekommen. Er fuhr sofort zum Strand, obwohl er wusste, dass Diamant nicht da war.

Sie musste auch nicht da sein.

Sie sollte auch nicht da sein.

Er spürte ihre Präsenz auch so.

Diesmal wollte er sich an ihren Platz setzen.

Er nahm ihn für sich ein und fühlte sich wohl.

Er wurde ganz ruhig und spürte, dass er bald dazu fähig sein würde, eine Entscheidung zu treffen.

Er fühlte sich bereit.

 

Als er vom Strand zurück kam, fand er Sascha und Luna im Garten.

„Na du Herumtreiber. Wie war es in Deutschland“, fragte Luna.

Ein Blick zu Sascha verriet ihm, dass Luna Bescheid wusste. Sascha hatte keine Geheimnisse vor seiner Frau, das hätte Eric wissen müssen. Aber es war ihm recht so. Schließlich wollte er eine Weile bei ihnen bleiben.

„Ich habe nicht den Mut gehabt, zu meiner Frau zu gehen“, gab Eric kleinlaut zu.

„Das ist nicht gut. Das wird dir deine Frau nicht verzeihen. Das verzeiht keine Frau. Glaube mir.“ Luna sagte es mit einer solchen Bestimmtheit, dass es Eric durch Mark und Bein fuhr. Er blickte ihr in die Augen und sah, dass sie die Wahrheit sprach.

„Du bist ein Feigling, Eric. Und du gibst ihr Recht, dass sie sich deiner Liebe nicht sicher sein kann. Punkt. Denke darüber nach. Und nun sei herzlich willkommen in unserem Haus.“ Luna lächelte ihm zu. Eric war sehr angetan von Saschas Frau. Diese klare Ansage tat ihm erstaunlicherweise gut.

„Danke Luna. Ich weiß das zu schätzen.“

„Aber ganz untätig wirst du hier nicht sein. Du wolltest uns helfen? Hier ist deine Aufgabe.“ Sie pfiff laut durch die Zähne und aus der hinteren Gartenecke kam ein Hund angestürmt. Er stürzte sich auf Luna und riss sie fast vom Hocker. Lachend nahm sie ihn in ihre Arme und zog ihn an den Ohren.

„Hey du Wilde. Da drüben sitzt dein Herrchen. Darf ich Euch bekannt machen? Das ist Lorry. Das ist Eric. Und nun ab mit dir.“ Sie gab Lorry einen Schubs in Erics Richtung und ermunterte beide, Bekanntschaft miteinander zu machen.

Sascha hielt sich schmunzelnd zurück und war froh, dass nicht er das Herrchen von Lorry sein musste. Obwohl er sie recht niedlich fand, aber für Hunde hatte er nichts, aber auch gar nichts, übrig.

Eric stellte sich ein wenig unbeholfen an, aber irgendwie funkte es zwischen Tierchen und Herrchen. Luna war beglückt.

Eric schaute sie fragend an.

„Lorry ist ein Jack Russel Terrier. Sie gehört der Mutter einer Freundin von mir. Ihr ist die Hündin zu wild und Lorry kann ihren Bewegungsdrang bei der alten Frau nicht ausleben. Sie tut mir einfach leid, die Kleine. Ich habe mich breit schlagen lassen und ihr angeboten, mich um sie zu kümmern. Ich dachte, hier bei uns hat sie es allemal besser. Und nun bist da und Lorry wird deine Herausforderung werden. Nimmst du an?"

„Na, dann komm mal her Lorry. Wir werden das schon hinkriegen, wir zwei oder?“ Eric klopfte Lorry zart in die Flanken und Lorry ließ es sich gefallen. Sie nahmen es alle als Zustimmung an.

„Na, dann. Viel Spaß ihr beiden. Sascha komm, wir müssen los. Die Hochzeitsgesellschaft wartet auf unsere Torten.“

Sascha klopfte Eric auf die Schulter und folgte Luna bereitwillig.

Eric betrachtete seine neue Freundin Lorry. Sie hatte tiefbraune Augen, die ihn fast schon mit einer hingebungsvollen Zuneigung anblickten. Sie hielt ihren Kopf zur linken Seite geneigt und schien zu fragen, was nun? Ihr Fell war ein wenig rauh. Es fühlte sich gut an, empfand Eric. Sie war weiß mit braun und an der linken Seite hatte sie einen kleinen schwarzen Fleck. Lorry war viel Hund in bildhübscher Verpackung. Eric verliebte sich auf Anhieb in die Hündin und sie spürte das. Sie schmiegte sich an ihn und blieb bei ihm. Ihre Freundschaft begann ohne Hindernisse.

Von nun an begleitete Lorry Eric auf Schritt und Tritt. Sie war endlich wieder ein Begleithund, so wie sie es sein sollte. Eric sah ihr an, dass sie sich bei ihm wohl fühlte und nach zwei Tagen konnte er sich schon gar nicht mehr vorstellen, wie es ohne sie war.

Er gewöhnte sich an, jeden Morgen am Strand zu joggen. Lorry mit ihrem ausgesprochenen Bewegungsdrang folgte ihm freudig. Sie war ein richtiges Energiebündel und Eric ließ sich von ihr anstecken. Er fühlte sich in Lorrys Gegenwart so wohl, wie nie zuvor.

 

Eric war sich anfangs nicht sicher, wie Diamant auf Lorry reagieren würde. Schließlich brachte er einen weiteren Eindringling in ihr Reich mit. Er hielt Lorry dicht an seiner Seite und erklärte ihr, dass Diamant eine ganz besondere Frau sei. Eine Frau, die man nicht stören durfte, in deren Umgebung man leise sein musste. Als wenn Lorry ihn verstehen würde, blieb sie ganz still, so wie sein Herrchen. Eric war beeindruckt und blickte ihr dankend in die Augen.

Nachdem Diamant sah, dass Hund und Herrchen im Einklang waren, nickte sie ihm nach einer Weile zu und billigte auch Lorry. Sie war diesmal ohne die Kinder da.

Das erste mal.

Sie las wieder in einem Buch. Aber die meiste Zeit starrte sie aufs Meer. Punkt zwölf verließ sie wieder ihren Platz.

Wie immer.

Lorry zuckte kurz auf, weil sie dachte, sie würden ihr folgen. Eric hielt sie zurück und war wirklich beeindruckt von der Intelligenz seiner Hündin. Als Dank für ihre Zurückhaltung spielte er dann ausgelassen, wie ein kleines Kind, mit ihr. Lorry brachte ihn zum Lachen. Er wusste nicht, wann er das letzte mal so herzhaft gelacht hatte. Es tat ihm so gut.

Als sich Diamant entgegen ihrer Gewohnheit noch einmal umblickte, war sie tief berührt von diesem Bild. Ihr liefen Tränen übers Gesicht und sie spürte ihre abgrundtiefe Traurigkeit noch stärker.

 

Die nächsten drei Tage wartete Eric umsonst auf Diamant. Er fing an, sich Sorgen zu machen. Sie fehlte ihm. Da konnte ihn auch Lorry mit ihrem Spieltrieb nicht ablenken.

Zu allem Übel hatte er auch noch eine SMS von Linda erhalten. Kurz und knapp.

Warum?

Eric musste einen Abendspaziergang machen. Er fand keine Ruhe. Es war schon reichlich spät. Lorry sprang wie wild um seine Beine. Sie wollte noch mal so richtig loslegen, wie beim joggen. Aber Eric war nicht nach joggen zu Mute.

Er wollte nur nachdenken.

Warum?

Eric bückte sich zu Lorry und sagte leise zu ihr, dass es nur ein ruhiger Spaziergang werden würde. Sie knurrte, passte sich dann aber dem langsamen Schritt von Eric an. Sie gingen in Richtung Meer.

Eric dachte an Linda.

Warum?

Das warum konnte so vieles bedeuten.

Warum kannst du nicht reden?

Warum bist du nicht bei mir vorbeigekommen?

Warum rufst du mich nicht an?

Warum sagst du mir nicht wo du bist?

Weil ich selber nicht weiß, was ich dir sagen soll.

Weil ich ein Feigling bin.

Weil ich noch Zeit brauche.

Weil ich nicht gefunden werden möchte.

Und weil ich dir nicht weh tun möchte.

Und weil ich Angst vor der Wahrheit habe.

Verdammt. Linda. Warum musst du auf einmal so viele Fragen aufwerfen?

Warum jetzt?

Wie kommst du darauf nach über 25 Jahren unser gemeinsames Leben in Frage zu stellen?

Ich frage mich.

Was ist passiert?

Was habe ich falsch gemacht?

Was konnte ich dir nicht geben?

Was ist in deinem Urlaub mit dir passiert?

Was lässt dich daran zweifeln, dass wir nicht so weiter zusammen sein können wie bisher?

Was fehlt dir?

Was fehlt mir?

Was hat uns gefehlt?

Warum jetzt?

Fragen über Fragen wirbelten in Erics Kopf umher. Tief gebückt mit gesenktem Kopf lief er die ganze Zeit neben Lorry her. Er hatte keinen Blick für die Natur um sich herum. Selbst Lorry spürte die Abwesenheit seines Herrchen und fühlte sich vernachlässigt. Sie knurrte still vor sich hin.

Immer mehr wurde ihm zur Gewissheit, dass die Zeit mit Linda dem Ende zuging. Immer mehr spürte er, dass er es sogar so wollte. Er wusste nur nicht, ob er seinen Gefühlen auch trauen konnte. Es kam ihm so absurd vor. Dann wiederum auch logisch. Nein, das war alles irgendwie nicht fassbar. Er wollte es nicht wahrhaben.

Er traute sich noch nicht, die Wahrheit auszusprechen.

Seine Antworten auf die vielen Fragen waren deutlich. Zu deutlich auf einmal, dass es ihn erschütterte. Eine tiefe Traurigkeit machte sich in ihm breit. Er hatte sich sein ganzes Leben noch nie so traurig gefühlt.

Es tut mir alles so leid, flüsterte er leise vor sich hin. Wahnsinnig leid.

Er hob seinen Kopf und schaute weit nach vorne in Richtung Meer. Er wollte fast schon umkehren, aber seine Gedanken wühlten in dermaßen auf, dass er einfach weiter ging. Für Lorry war der langsame Spaziergang keine Herausforderung. Sie konnte noch stundenlang neben ihn her trotten.

Sie kamen zum Strandaufgang. In Gedanken nannte Eric ihn immer unseren gemeinsamen Strandaufgang. Er schaute von den Dünen zum Meer. Er konnte es kaum glauben. Unten am Wasser stand Diamant.

Diamant.

Zu dieser Zeit?

Sie stand mit dem Rücken zu ihm. Eric bedeutete Lorry leise zu sein. Sie gehorchte ihm aufs Wort.

Eric und Diamant standen in einer Linie und schauten beide in die gleiche Richtung.

Weit hinaus aufs Meer.

Jeder in seinen eigenen Gedanken versunken.

Diamant mischte sich in Erics Gedanken mit ein. Er nahm sie intensiv wahr. Er sah sie vor sich stehen.

Aufrecht, wie eine Statue. Ihre Haare flatterten im Wind.

Ihr weißes Kleid hing fließend von ihren Schultern herab. Eric konnte ihre zarte Gestalt darunter erkennen. Zerbrechlich.

Zerbrechlich, wie unsere Ehe, dachte er voller Wehmut. Weit schweifte sein Blick in die Ferne. Über Diamant hinweg. Frachter zogen am Horizont dahin.

Friedlich.

Friedlich ließ er seinen Kummer aus sich fließen, schickte ihn auf Reisen. Er wurde ganz ruhig und war innerlich dennoch ganz in Bewegung. Friedlich ließ sich Eric mitnehmen. Weit weg. Nach vorn.

Auch Diamant ging nach vorn. Ganz langsam geradeaus noch vorn ins Wasser.

Eric nahm ihre Bewegung wahr. Es passte zu seinen Gedanken. Vorwärts gehen. Er sah zu, wie Diamant mit langsamer fließender Bewegung ins Meer ging.

Elegant.

Geschmeidig.

Zielstrebig.

Sie zögerte nicht.

Er war hingerissen.

Hypnotisiert.

Er verfolgte sie angespannt. Seine Gedanken waren vollständig auf das Vorwärts gerichtet. Ihre Bewegung fügte sich passend dazu ein. Vorwärts. Ohne Halt.

Sein Mund öffnete sich, als wenn er schreien wollte. Es kam aber kein Ton aus ihm heraus.

Es sollte vorwärts gehen. Die Qual sollte ein Ende haben.

Erstarrt blickte er ihr hinterher.

Diamant bewegte sich weiter hinab in die Tiefe. Ihr Kleid bauschte sich ein wenig auf in dem leicht bewegtem Meer. Sie teilte das Wasser mit ihren Händen auseinander, um sich den Weg zu bahnen.

Sie sieht aus wie ein Engel, dachte Eric benommen. In ihm zerrte etwas, er konnte sich aber nicht bewegen. Fasziniert beobachtete er Diamant.

Tiefer und Tiefer glitt sie ins Meer.

Gleich wird sie ihre Arme ausstrecken und sich der Oberfläche hingeben.

Gleich wird sie langsam ins Meer hinein gleiten.

Sanft und geschmeidig werden ihre Schwimmbewegungen sein.

Das Meer wird sie aufnehmen, umgeben und tragen.

Wie eine leichte Feder wird sie dahin schwimmen.

Eric war ganz eingenommen und hingerissen von seiner Vorstellung.

Lorry zuckte kurz neben ihn auf, blieb dann aber still, genau wie sein Herrchen.

Wie kann sie nur in diesem Kleid schwimmen?

Wird es sie nicht behindern?

Ist das Wasser nicht zu kalt?

Diamant.

Du wirst frieren.

Wie in Zeitlupe erwachte Eric aus seiner hingebungsvollen Träumerei.

Er starrte aufs Meer und sah nichts.

Fassungslos.

Er konnte nicht begreifen, was geschehen war, was sich vor ihm abspielte.

Wo war sie?

Warum schwamm sie nicht?

Wollte sie etwa tauchen?

Dann ging ein tiefer Ruck durch ihn.

Sie wollte ganz sicher nicht tauchen.

Abtauchen wollte sie.

Und dann im weißen Kleid auf dem Meer dahintreiben.

Nicht nackt gefunden werden.

Seine Gedanken überschlugen sich. Wertvolle Zeit verstrich. Endlich kam Bewegung in ihn. Wie von Sinnen rannte er dem Meer entgegen. Der Strand war breit. Das Meer kam ihm unendlich weit entfernt vor.

Zu weit, um sie zu retten?

Sie war immer noch nicht aufgetaucht.

Warum machte sie so etwas?

Sie wollte es mit aller Kraft vollenden. Sie stieß sich nicht vom Boden ab, um wieder Luft zu atmen. Das Meer sollte sie verschlucken. Es sollte sie festhalten und nicht mehr loslassen. Genauso wollte sie es. So hatte sie es tagelang geplant. Mit einem Buch in der Hand als Tarnung.

Eric stürzte sich ins Wasser. Lorry an seiner Seite. Warum musste der Weg zu ihr so weit sein? Er hastete sich vorwärts. Wie konnte er nur glauben, dass sie schwimmen gehen wollte? Im weißen Kleid geht doch keiner schwimmen.

Endlich erreichte er die Tiefe. Endlich konnte er untertauchen. Endlich sah er sie. Nur noch noch drei Schwimmzüge und er riss sie nach oben.

Sie war leicht wie eine Feder.

Sie wehrte sich nicht.

Er zog sie aus dem Wasser und trug sie ans Land. Sie sah aus wie ein Engel. Mit geschlossenen Augen lag sie in seinen Armen. Er spürte, dass sie noch lebte. Er war ganz ruhig und unheimlich glücklich. Wie eine Welle rauschte es durch seinen Körper und hielt ihn gefangen. Er musste für einen kurzen Augenblick die Augen schließen, um seine Tränen zurückzuhalten. Als er sie sanft auf den Boden legte, spuckte sie Wasser und öffnete die Augen.

Sie sah enttäuscht aus.

„Warum?“

Zum zweiten mal stellte ihm eine Frau an diesem Tag diese verdammte Frage.

Warum?

„Ich wollte wissen, wie du heißt“, flüsterte er noch ganz benommen von seinem Gefühl und ihrer Schönheit.

„Sina.“

„Gut, Sina. Soll ich dich dann jetzt wieder zurückbringen?“ Eric schaute in Richtung Meer. Das warum brachte ihn dermaßen aus der Fassung, dass er fast glaubte Sina sei eine Meerjungfrau.

„Ein warmes Bad wäre mir jetzt lieber. Du kannst mich nach Hause bringen.“ Sinas Stimme war tonlos und erschöpft. Sie versuchte sich aufzurichten, schaffte es aber nicht. Sie sank zurück und schloss die Augen. Sie blieb einfach regungslos liegen.

Eric stellte fest , dass sie als Italienerin gut deutsch sprach. Und er merkte plötzlich, dass er erbärmlich fror. Auch Sina war ganz starr vor Kälte.

„Wo ist dein zu Hause?“, fragte er leise.

„Links.“

„Lorry, komm schnell. Wir gehen nach links.“ Eric nahm Sina auf den Arm und ging, oben bei den Dünen angelangt, nach links. Lorry folgte ihm aufgeregt, als wenn sie ein Abenteuer witterte.

Es war ein Weg, den er noch nicht kannte. Links. Es ging steil bergab. Er war freudig überrascht, dass nach einer scharfen Rechtskurve ein einsames Cottage zu sehen war. Er wusste, dass er Sina dorthin bringen musste.

Eric öffnete die Tür. Es war keiner zu Hause. Sina lebte also alleine hier? Hier in dieser gottverlassenen Gegend?

„Wohin?“, fragte er kurz. Er stand in einem großen engen Raum. Es sah ein wenig liederlich aus, fand er. Oder überladen? Dass er sich darüber Gedanken machte, wunderte ihn.

Sina gab keine Antwort. Sie lag ruhig in seinem Arm und hielt die Augen immer noch geschlossen. Es machte nicht den Anschein, als wenn sie bereit wäre, sie zu öffnen.

Eric legte sie behutsam aufs Sofa.

„Sina?“

Sina wollte nicht reagieren. Sie wollte ihre Augen noch nicht öffnen. Sie wollte nicht da sein, wo sie gerade war.

„Sina?“

Eric bekam wieder keine Antwort. Er schaute in ihr Gesicht. Sie sah aus, als wenn sie schlief. Ihre Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Eric war sich sicher, dass sie nicht in Gefahr war. Er spürte es.

Er stand vor ihr und schaute in ihr Gesicht. Er konnte seine Augen nicht von ihrem Gesicht wenden. Plötzlich fiel ihm ein, dass Sina immer noch ihr nasses Kleid an hatte. Sie musste genauso frieren, wie er selbst. So konnte er sie nicht liegen lassen.

„Sina. Du musst dein Kleid ausziehen.“

Wieder nichts. Sie wollte kein Kontakt mit ihm aufnehmen.

Verzweifelt ließ Eric seinen Blick über ihren Körper gleiten. Ihm stockte der Atem. Ihr weißes Kleid war quasi durchsichtig. Die Brustwarzen waren klein und dunkel und durchbohrten den dünnen Stoff. Ihr Bauch war flach und bewegte sich kaum. Erschrocken stellte er fest, dass sie keinen Slip trug. Mehr gäbe es auch nicht zu sehen, wenn sie nackt wäre, durchfuhr es Eric. Kurz entschlossen fasste er den Saum des Kleides und zog es nach oben über ihren Kopf. Es war ein wenig beschwerlich. Eric erwartete ein protestieren.

Nichts.

Sina ließ geschehen und öffnete nicht einmal die Augen. Sie war kalt und feucht. Eric erspähte schnell das Bad. Er holte ein Handtuch und fand zu seiner Freude ein langes T-Shirt auf dem Wannenrand. Er zog es ihr unter großer Mühe an. Er wagte es kaum, sie anzufassen. Sina machte wieder keine Anstalten sich zu rühren, etwas zu sagen oder gar die Augen zu öffnen.

Eric betrachtete sie für einen kurzen Moment. Liebevoll legte eine Decke über sie, die zerknüllt am Ende des Sofas lag. Wieder durchfuhr ihn ein Gefühl der Glückseligkeit. Zufrieden lächelte er.

Erst jetzt merkte er wieder, dass er selbst nass war und unheimlich fror. Er blickte sich ratsuchend um.

„Du kannst hier bleiben. In der Truhe sind Sachen. Du kannst aber auch gehen“, hörte er Sina leise sagen, als wenn sie seine Gedanken lesen konnte. Ihre Augen blieben geschlossen und sie bewegte sich nicht.

Eric entschied sich zu bleiben. Er fand in der Truhe Alt-Männer-Sachen, frisch und sauber. Er konnte sich aber nicht durchringen, davon etwas anzuziehen. Er spürte, dass er müde und erschöpft war. Neben der Truhe hing ein Telefon. Er rief Sascha an und sagte ihm, dass er sich keine Sorgen um ihn und Lorry machen solle.

Dann ging er ins Bad, hängte seine nassen Sachen auf, schlang ein Handtuch um seine Hüften und ging zurück in den Wohnraum. Er nahm sich eine Decke und setzte sich in den Sessel. Lorry kuschelte sich an seine Beine.

Warum wollte sie sich das Leben nehmen?

Diese Frage beschäftigte ihn noch ein Weilchen, dann schlief er aber schnell ein.

Als Sina sicher war, dass ihr Retter schlief, öffnete sie endlich die Augen. Da saß er nun der vermeintliche Held und schlief. Sie wollte das alles nicht glauben. Da war sie schon fast am Ziel, um ihrer jahrelangen Qual endlich ein Ende zu setzen und dann kam er daher und nahm sich das Recht, ihr alles zu zerstören. Es hatte ihr soviel Kraft gekostet. Ob sie jetzt noch einmal den Mut aufbringen würde, es zu tun? Sie schloss wieder die Augen. Sie wollte kein Licht sehen. Sie wollte die Dunkelheit. Sie war dem endlosen schwarz schon zum Greifen nahe gewesen. Sie hatte es schon fast gespürt.

Und nun?

Nun würde wieder ein neuer Tag beginnen.

 

Eric erwachte. Er war ganz benommen. Im ersten Moment wusste er nicht, wo er war. Sein Rücken tat ihm weh von der unbequemen Schlafstellung im Sessel. Er schaute aus dem Fenster und sah die Sonne scheinen. Langsam kamen ihm die Erinnerungen an den gestrigen Abend.

Sina im Wasser, Sina in seinem Arm, Sina nackt vor ihm auf dem Sofa.

Sina.

Lorry.

Sie waren beide nicht da. Angsterfüllt sprang er aus dem Sessel und schrie nach Sina. Decke und Handtuch fielen nach unten. Er nahm es gar nicht wahr, zu groß war seine Sorge, dass Sina wieder zum Meer gegangen sein könnte.

„Ja doch. Ich bin ja da.“ Sina lugte um die Ecke mit einer Tasse in der Hand. Sie sah den nackten Eric und musste schmunzeln.

Eric atmete erleichtert aus.

„Dann zieh dir mal etwas an und komm zum Frühstück.“ Sina verschwand wieder hinter der Ecke und hantierte mit Geschirr herum.

Peinlich berührt schlich Eric sich ins Bad. Lediglich seine Unterhose war trocken. Ihm blieb nichts anderes übrig, als so spärlich bekleidet bei Sina zum Frühstück zu erscheinen.

„Dir hat wohl nichts gefallen aus der Truhe meines Opas?“

Eric schüttelte nur mit dem Kopf. Sina schmunzelte immer noch. Eric konnte nichts sagen. Er war fassungslos, dass die Frau vor ihm nach einem Selbstmordversuch schmunzelte und so tat als wenn nichts gewesen wäre.

„Na ja, dann sind wir uns wenigsten quitt“, sagte Sina und schaute ungeniert auf Erics Hose. Eric verstand. Dann glitt ihr Blick an seinem Körper hinauf und ihre Augen schauten lang und tief in seine. Eric spürte, dass es mit diesem tiefen Blick nicht mehr um die Nacktheit ging, das schien ihr nebensächlich zu sein. Der Blick wollte in sein Inneres eindringen. Eric hielt ihm stand. Mit einer kurzen Handbewegung und einem tiefen stöhnen lud sie ihm zum Frühstück ein. Eric nahm dankend an. Sie saßen sich schweigend gegenüber. Sina ergriff als erste das Wort.

„Ich weiß nicht, ob ich dir danken soll oder ob ich dich verfluchen soll.“ Sie lehnte sich zurück und schaute Eric mit traurigem Blick an.

„Nein, sei still. Sag nichts. Ich weiß, was du wissen willst. Ich werde es dir erzählen. Ich denke du hast ein Recht darauf. Wie heißt du überhaupt?“

„Eric“, sagte er knapp. Sie nahm ihn die Luft zum atmen. Zum anderen wunderte er sich wieder, dass sie so gut deutsch sprach, traute sich aber nicht zu fragen. Er vermutete, dass er es erfahren würde.

„Eric. Ein schöner Name.“ Versonnen blickte Sina aus dem Fenster. Versonnen und traurig, wie Eric fand.

„Also gut Eric. Gestern vor genau 33 Jahren war die Hochzeit meiner Mutter. Sie sollte die Frau eines wohlhabenden italienischen Bankiers werden. Sie wurde von ihrem eigenen Vater quasi geopfert, um den jahrelangen alten Streit zwischen den Familien endlich zu schlichten.

Keiner wusste, dass meine Mutter eine versteckte Tochter hatte. Eine Tochter, die in einem ihrer vielen Deutschlandaufenthalten gezeugt und geboren wurde. Ich war damals vier Jahre alt und wohnte hier, weit genug weg von meiner Mutter, bei den Leuten, die für mich Oma und Opa waren. Meine Mutter besuchte mich zwei bis dreimal im Jahr. Mehrmals ging es nicht. Alles musste geheim bleiben und jeder Besuch war ein großes Risiko. Von meinem Vater habe ich nie etwas erfahren.

Die Hochzeit war für meine Mutter eine Katastrophe und meine Oma wollte sie retten. Sie dachte, wenn sie mit mir bei der Hochzeit auftauchen würde, würde die Hochzeit nicht stattfinden. Was für ein fataler Irrglaube und Fehler der alten Frau.

Ich weiß noch, wie ich mit meinem kleinen Terrier, er war übrigens genauso süß wie deine kleine, von meiner Oma in die Kirche geschoben wurde. Meine Mutter erbleichte und schien einer Ohnmacht nahe zu sein. Dann ging alles drunter und drüber. Es war ein Geschrei und Gejammer zu hören. Es begann eine wüste Schlägerei zwischen den Familien. Mein Hund lief, aus einem mir unbegreiflichen Grund, zu meiner Mutter und wurde plötzlich in der Luft zerfetzt. Der Schuss hallt heute noch in meinem Kopf und ich sehe immer noch das viele Blut.

Endlich erkannte meine Oma ihren Fehler und ich weiß nicht mehr wie, aber sie schaffte es, unbemerkt mit mir zu entkommen. Es nahm keiner die Verfolgung nach uns auf, aber wir lebten anfangs immer in Angst und Schrecken, dass wir irgendwann einmal gefunden werden.

In der Zeitung wurde von der Hochzeitstragödie berichtet. Ich sah meine Mutter auf der Titelseite.

Und einen Sarg.

Meine Oma weinte bitterlich und ich wusste, dass meine Mutter nie wieder zu mir kommen würde. Sie starb, wie mein Hund, auf ihrer Hochzeit. Die Bilder gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Aber ich habe gelernt damit zu leben. Nur manchmal überkommt es mich und ich will nicht mehr.“ Sina machte eine Pause. Sie legte einen Finger auf ihren Mund und schüttelte mit dem Kopf. Sie wollte keine Fragen hören.

Eric verhielt sich still. Sina goss beiden Kaffee nach und sprach weiter.

„Vor ein paar Tagen sah ich dich mit deinem Terrier am Strand spielen. Ihr wart so glücklich und in Harmonie, dass es mir das Herz brach. Ich sah mich wieder als Kind mit meinem Terrier hier am Strand spielen. Ich war einmal genauso glücklich wie ihr. Mich erdrückte die Traurigkeit darüber, dass ich dieses Glück seit dem Tod meines Terriers und meiner Mutter nicht mehr hatte. Alles kam wieder hoch, mit doppelter Kraft. Der Jahrestag rückte immer näher und ich wurde immer depressiver. Ich sagte mir, diesmal gehst du ins Meer, gehst der Dunkelheit entgegen und findest den Weg zu deiner Mutter und deinem Hund. Ich komme seit Jahren hierher, um den Entschluss in die Tat umzusetzen. Wenn du nicht gekommen wärst, würde ich jetzt hier nicht mehr sitzen. Ich weiß wirklich nicht, ob ich darüber traurig oder glücklich sein sollte.“

Sina schaute wieder aus dem Fenster. Sie hatte alles gesagt.

„Geh jetzt. Ich will alleine sein.“

„Darf ich wieder kommen?“

„Ja. Und bring Lorry mit.“

 

Natürlich würde er wieder kommen.

Eric hätte am liebsten gleich an der Tür gerufen: Hallo Sina, ich bin wieder da.

Er fing an zu laufen. Er strahlte vor Glück. Übermütig sprang er in die Luft und vollführte einen regelrechten Freudentanz. Lorry ließ sich anstecken. Auch sie jaulte und sprang an ihrem Herrchen hoch. Erschöpft ließ sich Eric in den Sand fallen. Er balgte sich mit Lorry und ließ sich von ihr ablecken. Sie waren beide glücklich.

Glücklich.

Anders konnte es Eric nicht bezeichnen. Das Lächeln wich nicht mehr aus seinem Gesicht.

Sina.

Sie lebte weiter.

Er wollte sie kennen lernen.

Sie.

Nicht vorrangig ihren Körper, sondern sie als Person. Er brannte förmlich darauf, alles von ihr zu erfahren. Jedes kleinste Detail ihres Leben interessierte ihn. Seit Tagen beobachtete er sie am Strand und war fasziniert von ihr. Er fühlte sich zu ihr hingezogen und nun war er an ihr dran. Nun wollte er sie nicht mehr loslassen. Nun wollte er in ihr Leben eindringen.

Eric schloss die Augen und gab sich dem Rauschen des Meeres hin.

Zufriedenheit machte sich breit.

Nichts drängte ihn.

Keine Sorgen quälten ihn.

Er ließ sich immer tiefer fallen. Er hätte nie geglaubt, dass er das könnte. Aber er konnte. Er konnte sich spüren. Und das was er spürte, war unglaublich gut. Er war ganz im Einklang mit sich, seinen Gedanken und Gefühlen.

Sein Körper entspannte sich.

Das Meer rauschte.

Lorry schlummerte.

 

Es folgten wunderschöne Tage.

Jeden Morgen joggte Eric mit Lorry an seiner Seite.

Jeden Morgen stand er verschwitzt vor Sinas Tür.

Jeden Morgen wurde er mit einem Lächeln empfangen.

Jeden Morgen duschte er bei ihr, während sie das Frühstück zubereitete.

Jeden Morgen saß er mit ihr am Tisch und erfuhr aus ihrem Leben.

Stück für Stück.

Sie war bereit, ihm alle Fragen zu beantworten. Er hatte viele Fragen.

Er vergaß sich und sein Leben.

Er vergaß Linda.

 

Sina war Restauratorin und arbeitete in Deutschland. Sie war aber auch viel Zeit hier in ihrem Land, wie sie es nannte. Sie hätte gern Kontakt zu ihrem Vater und deren Familie. Sie kannte sie aber nicht und fand keine Spur. Ihre Mutter hatte alles gelöscht.

„Und du?“ , fragte Sina eines Tages.

„Was und ich?“

Sina lächelte. Eric liebte dieses Lächeln. Sie lächelte mehr mit ihren Augen. Ihr Lächeln war wohldosiert und es steckte immer eine Portion Verständnis und Wissen darin. Es munterte Eric auf und gab ihm Sicherheit.

„Wovor läufst du weg?“

„Warum denkst du, dass ich vor etwas weglaufe?“

„Du kommst erschöpft bei mir an und holst dir Kraft.“

„So siehst du das?“

„Ist es nicht so?“

Eric war überrascht. So hatte er die ganze Sache noch gar nicht betrachtet. Aber Sina hatte einerseits recht. Je mehr er lief, um so weiter entfernte er sich von der ausstehenden Antwort auf Lindas Frage: warum? Er hatte sie schon fast vergessen.

Sie, die Frage.

Sie, Linda.

Andererseits kam er gerade mit dieser Entfernung der Antwort ganz nahe.

Eric stand auf und ging zum Fenster. Draußen lag Lorry faul in der Sonne. Draußen schien alles in Ordnung zu sein. Aber diese Frage wirbelte auf einmal drinnen in seinem Körper groben Staub auf. Wut kam hoch. Wut über sein eigenes Unvermögen Klarheit zu schaffen. Er merkte richtig wie vom Magen die Wut in seinen Hals stieg. Er schlug mit seiner geballten Faust auf das Fensterbrett und ließ die Wut mit einem kurzen Schrei heraus. Er drehte sich um und schaute in Sinas ruhige Gesicht. Es machte ihn plötzlich noch wütender.

„Du denkst eine Menschenkennerin zu sein, ja?“, herrschte er sie plötzlich an.

Sina blieb weiter ruhig, gelassen.

„Nur weil ich jogge, denkst du ich laufe vor meinen Problemen davon, ja?“

„Warum regst du dich eigentlich so auf? Wenn es nicht so ist, dann sag doch einfach, wie es ist. Entschuldige bitte, dass ich gefragt habe. Ich wollte dir wirklich nicht zu nahe treten.“

Es trat eine lange Pause ein.

Eric blieb am Fenster stehen und schaute hinaus. Er nahm aber irgendwie nichts wahr.

Für Sina spielte diese Pause keine Rolle. Sie spürte, dass sie Eric getroffen hatte und sie wusste, dass er noch Zeit brauchte. Sie stand auf und ging zu ihm. Sacht legte sie ihre Hand auf seine Schulter. Es war die erste Berührung ihrerseits. Sie schaute ihn an. Sie schaute ihn lange an.

„Du musst mir nichts sagen, Eric.“

Eric spürte wieder diesen verständnisvollen Blick auf sich ruhen. Diese Tiefe in diesem Blick faszinierte ihn. Wie am Strand fühlte er wieder diese Verbundenheit mit dieser Frau. Er nahm ihre Hand von seiner Schulter und hielt sie fest. Sie fühlte sich gut in seiner Hand an. Er wollte sie nicht mehr loslassen und sie wollte nicht losgelassen werden. Eric wurde wieder ruhig. Ganz ruhig.

Sinas Berührung ließ ihn dahinschmelzen. Er fühlte sich so unglaublich sicher bei ihr. Angenommen.

„Es tut mir leid, Sina. Komm setze dich. Ich will dir von mir erzählen.“

Dann erzählte er Sina seine Geschichte. Sie hörte ihm zu und stellte keine Fragen. Sie ließ alles auf sich wirken und versuchte, sich in ihn und in seine Frau zu versetzen. Als Eric fertig war, lächelte sie ihn an.

„Was?“, entfuhr es Eric. Er erkannte wieder dieses Wissen in ihrem Lächeln.

„Du wirst herausfinden, was für dich richtig ist.“

„Das versuche ich ja schon die ganze Zeit.“
„Ich weiß. Als ich dich das erste mal am Strand sah, wusste ich, dass du mit dir kämpfst. Ich habe dich an meiner Seite gelassen, weil auch ich mit mir kämpfte. Zwei Menschen, die nicht im Einklang mit sich sind, kommen sich nicht in die Quere. Die lassen sich in Ruhe. Die stören sich nicht gegenseitig. Sie spüren das und akzeptieren das. Auch Lorry hat uns verstanden. Braves Hündchen. Ich mag sie.“

„Ja, ich weiß was du meinst. Genau das habe ich auch gespürt.“ Eric empfand wieder das Zusammengehörigkeitsgefühl zu Sina.

„Und nun?“, fragte er.

„Was und nun? Du erwartest doch nicht etwa, dass ich dir einen Rat gebe?“

„Nein?“

„Nein, Eric. Lass dir einfach Zeit. Du nimmst dir doch schon ein paar Wochen die Zeit. Du wirst zu einem Ergebnis kommen, wenn du willst. Früher oder später.“

„Hm.“

„Wirst du morgen wieder kommen?“

„Ja.“

 

***

Seit Zwei Monaten war Eric jetzt weg.

Linda wusste nur, dass Eric zwischendurch einmal in seiner Wohnung war.

Ich kann nicht, hatte er ihr auf den Zettel geschrieben.

Er hatte Tom besucht und war dann an ihrem Haus vorbeigefahren. Sie war sich sicher. Ganz sicher. Es machte sie traurig.

Tief traurig.

Oder wütend?

Nein.

Traurig.

Linda stand am Fenster und schaute den Regentropfen zu, wie sie an der Fensterscheibe nach unten liefen. Manche fanden ganz schnell ihren Weg. Kaum angekommen, rauschten sie rasant schnell, ohne Verweildauer, in die Tiefe. Andere verweilten ein wenig länger an der Fensterscheibe, ließen sich Zeit, warteten und liefen dann auf verschlungenen Wegen mit eigener Kraft alleine hinunter. Dann gab es welche, die blieben einfach sitzen, warteten, um dann von anderen aufgefangen und mitgenommen zu werden.

Linda fühlte sich spontan zu den stecken gebliebenen hingezogen. Das hatte etwas tröstliches. Oder gar etwas romantisches? Sie schienen zu sagen:

Ich warte auf dich.

Nimm mich mit auf deinem Weg.

Aber was nützte es Linda. Sie stand allein am Fenster und keiner kam.

Regentropfen.

Sie dachte an Eric.

Eric hatte für sie nur drei Worte übrig.

Ich kann nicht.

Linda wusste immer noch nicht, wo er sich aufhielt. Eigentlich war es ihr auch egal. Sorgen machte sie sich keine. Sie fühlte sich nur so unglaublich leer und unverstanden.

Warum machte er das mit ihr? Nach so langer Zweisamkeit hätte sie mehr erwartet. Viel mehr.

Sie hatte nun nur noch ein Wort übrig.

Warum?

Mehr konnte sie dazu nicht sagen. Sie hatte versucht Eric auf seinem Handy zu erreichen. Er rief nicht zurück. Es blieb ihr nichts weiter übrig, als ihm eine SMS zu schicken.

Sie hatte auf ihre Einwortfrage immer noch keine Antwort erhalten.

Warum konnte er nicht mit ihr reden? Alles was sie wollte, war lediglich Klarheit. Sie konnte diese nagende Ungewissheit nicht mehr ertragen.

Die Abende allein zu Hause machten sie fertig. Sie hatte keine Lust mehr zum Malen.

Ihre Ideen hatten sich erschöpft.

Sie war erschöpft.

Sie konnte nur noch stumpfsinnig in ihrem Schaukelstuhl sitzen.

Stundenlang.

Sie wollte stark sein. Sie schaffte es nicht.

Sie fiel wieder in eine tiefe Krise.

Sie hatte längst keine Lust mehr zum Nachdenken. Sie fing wieder an zu trinken. Mehr als sonst. Die Stille und Einsamkeit machten sie nicht nur fertig sondern langsam auch verrückt.

Mann weg.

Kinder weg.

Die Ungewissheit allerdings war noch viel schlimmer.

Als sie dann erstmalig jedoch dermaßen die Kontrolle über sich verlor und im Erbrochenem erwachte, ging ein tiefer Ruck durch ihren Körper. Sie schwor sich, nie wieder in so einen erbärmlichen Zustand abzurutschen.

Nie wieder.

Sie ekelte sich vor sich selbst und fand sich abstoßend. Sie empfand tiefen Hass auf sich selbst. Sie entleerte alle Wein- und Schnapsflaschen und kaufte sich keine neuen mehr.

Ihren Kummer wurde sie allerdings dadurch immer noch nicht los. Sie musste immer noch viel weinen und kam dem Abgrund eher immer näher, als dass sie sich von ihm entfernte. Ihren Zustand empfand sie weiterhin als erbärmlich. Sie fühlte, wie sie immer weiter abrutschte. Aber irgendwie wollte sie ganz tief unten ankommen. Dort musste sie hin. Erst dort wäre ihr Weg zu Ende.

Sie hatte den Schuldigen noch nicht gefunden.

Musste sie einen Schuldigen finden?

Ja.

Nur so konnte sich alles für sie klären. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich ständig im Kreis nach unten drehte. Sie musste endlich aus dieser Drehbewegung heraus kommen. Dabei konnte ihr nur Eric helfen. Sie brauchte ihn. Er musste ihrem Leben eine andere Richtung weisen. Dann könnte sie sich wieder nach oben drehen. Glaubte sie.

Aber Eric war nicht da.

Eric meldete sich nicht.

Eric konnte nicht reden.

Linda wandte sich vom Fenster ab. Es hatte mittlerweile aufgehört zu regnen. Sie nahm sich ihre Jacke und ging raus. In der Diele verharrte sie an ihrem Bild mit dem aufstrebenden Schmetterling.

Sie lächelte. Sie lächelte immer, wenn sie an dem Bild vorbei ging. Aber diesmal spürte sie etwas in sich. Die Bewegung der Regentropfen an der Fensterscheibe hatte sie irgendwie inspiriert. Es kribbelte plötzlich in ihr und sie setzte sich in Bewegung.

Linda machte einen ausgiebigen Spaziergang. Als sie zurückkam, wusste sie, was zu tun war.

Sie musste raus aus ihren vier Wänden.

Auf was sollte sie warten?

Auf wen sollte sie warten?

 

12 Stunden später saß sie im Flieger. Sie hob ab und hoffte, dass sie damit den Abflug schaffte. Sie schaute nach unten und empfand den Boden unter sich als den tiefen Abgrund, dem sie nun entfloh. Sie wollte zurückkehren mit einer neuen Sicherheit in sich.

Sie wählte genau den Ort, an dem sie ihren Entschluss getroffen hatte, ihre Ehe den Prüfstand zu unterziehen. Linda war schon immer ein wenig abergläubisch und sie hoffte, dass sie genau dort eine Antwort finden würde.

 

Linda schaute auf das Meer.

Vor 8 Monaten saß sie schon einmal auf dieser Bank.

Sie erinnerte sich daran, dass sie damals fröstelte. Sie erinnerte sich auch an das Gespräch mit Simon und die darauf folgenden Nächte. Wäre ihr Simon nicht begegnet, dann würde sie jetzt noch mit Eric in ihrem Haus leben und alles wäre so wie immer. Plötzlich musste sie aber auch wieder an die Nacht mit dem fremden Duft in ihrer Nase denken.

Simon war gar nicht der wahre Grund, der zu ihrer Entscheidung geführt hatte, kam ihr in den Sinn. Es hatte schon viel viel früher angefangen zu brodeln in ihrem Inneren.

Verdammt.

Wieder die Frage, wann hat alles angefangen?

Wütend stand sie auf. Sie spürte wieder ihren krampfenden Magen. Heftig. Sie musste sich unbedingt beruhigen. Außerdem stellte sie fest, dass sie viel zu warm angezogen war. Nach ihrer Ankunft war sie sofort zum Meer gegangen. Sie ging langsam zurück zum Hotel. Sie wollte eine Dusche nehmen und sich umkleiden.

An der Rezeption erkannte sie den netten jungen Mann vom März. Ihr huschte ein Lächeln übers Gesicht, als sie ihren Zimmerschlüssel in Empfang nahm.

„Frau Sandermann?“

„Ja.“

„Entschuldigen sie bitte. Ich habe eine Nachricht für Sie.“

„Für mich? Das kann nicht sein. Keiner weiß, dass ich hier bin.“

„Ich weiß. Das mag jetzt für Sie komisch klingen, aber Herr Koch hat mich im März angefleht, eine Nachricht für Sie aufzubewahren.“

„Herr Koch?“

„Ja. Herr Simon Koch.“

„Ah ja?“

„Er hat mit Engelszungen versucht, ihre Adresse von mir zu erhalten. Sie können sich natürlich auf unsere Diskretion verlassen.“

„Hm.“

„Er ließ nicht locker, bis ich dann letztendlich eine Nachricht von ihm an Sie annahm. Ich freue mich, dass Sie wieder zu Besuch bei uns sind und ich Ihnen die Nachricht übergeben kann. Herr Koch war sich sicher, dass Sie wiederkommen würden.“

Der Portier kramte aus einer Schublade einen verschlossenen Briefumschlag hervor und übergab ihn Linda. Linda nahm ihn völlig überrascht entgegen und bedankte sich förmlich.

Sie schwebte in ihr Zimmer.

Simon Koch.

Seit März lag in diesem Hotel eine Nachricht von Simon Koch für sie bereit. Linda konnte es nicht fassen. Sie legte den Brief auf den Tisch und fing an ihren Koffer auszupacken. Sie schwitzte. Ihr fiel wieder ein, dass sie duschen wollte. Sie tat es.

Der Brief wartete. Er hatte so lange gewartet. Nun kam es auf weitere zehn Minuten auch nicht mehr an.

Linda hatte Angst.

Linda hatte ein Kribbeln im Bauch.

Linda war aufgeregt.

Sie stand im Zimmer der Verführung und schaute auf das Bett, welches ihren und Simons Körper vereinigt hatte.

Sie schloss die Augen.

Sie würde lügen, wenn sie sagen würde, sie hätte Simon ganz und gar vergessen. Aber sie hatte ihn vergessen, indem sie nicht an ihn dachte. Sie wollte ihre Liebe zu Eric wieder finden, die durch die Nacht mit Simon in Frage gestellt wurde.

Linda spürte wieder die angenehme Wärme in ihrem Bauch und sie fühlte wieder die starken Hände auf ihrem Körper.

Simons Hände.

Es durch rieselte sie, dass sie sich selbst festhalten musste. Sie schlang ihre Arme um ihren Bauch und blieb wie angewurzelt stehen. Sie hätte nicht gedacht, dass eine Nachricht von Simon sie dermaßen aus der Fassung bringen konnte.

Sie nahm den Brief und öffnete ihn. Sie wusste nicht, was sie erwarten sollte. Sie faltete langsam mit zitternden Händen das Papier auseinander.

Wenn du mich anrufst, werde ich kommen. Egal wohin.

Simon.

Linda ließ sich aufs Bett fallen. Einen Moment lang konnte sie an gar nichts denken. Dann dachte sie nur noch an Simon. Sie stöhnte leise auf.

Was sollte sie nur machen?

Mit einem mal wurde ihr klar, dass sie jetzt eine Entscheidung treffen musste. Sie musste nicht nur eine Entscheidung treffen, nein, sie musste die Entscheidung treffen. Die Entscheidung, in welche Richtung ihr weiteres Leben gehen sollte.

Weiter mit Eric, weiter ohne Eric, weiter mit einer neuen Bekanntschaft oder weiter alleine?

Irgendwann musste ja mal der Moment kommen, wo sie diesen Entschluss fassen müsste. Sie betrachtete das Stück Papier.

10 Wörter.

1 Komma.

3 Punkte.

Eine gerade Zahl.

Zwei ungerade Zahlen.

Alles zusammen eine gerade Zahl.

14.

14 geteilt durch 2.

7.

Linda stöhnte auf. Ihr Zahlenspiel fiel nicht gerade gut aus. Ungerade Zahlen mochte sie nicht. Es war keine Lieblingszahl dabei. Endergebnis 7. Das sah alles schwierig aus. So kam sie nicht weiter.

Wie sah es mit ihrem Bauchgefühl aus?

Sie mochte Simon. Sie fühlte sich bei ihm wohl. Aber reichte das?

Sollte sie ihn deshalb anrufen?

Die Nachricht lag 8 Monate zurück. Sie konnte längst nicht mehr aktuell sein. Aber das herauszufinden, reizte Linda auf einmal.

Sollte sie ihn deshalb wirklich anrufen?

Nein. So kam sie auch nicht weiter. Sie musste sich endlich klar werden, ob sie sich und Eric noch eine zweite Chance geben wollte. Wenn sie sich dafür entscheiden würde, dann würde sie Simon auf gar keinen Fall anrufen. Aber genau diese Entscheidung hatte sie noch nicht getroffen.

Warum hatte sich Eric nur noch nicht bei ihr gemeldet?

Linda ging alles noch einmal durch. Zum Hundertsten mal.

Brauchte sie eigentlich Eric für ihre Entscheidung? War nicht gerade sein Rückzug ein Teil der Antwort. Sie sah darin eine derartige Missbilligung ihrer Person und trotzdem war sie bis jetzt bereit zu warten. Sollte sie jetzt aufgeben?

Sie sagte sich immer wieder, dass man einer Person, die man liebt, so etwas nicht antat. Nach so vielen Ehejahren geht man nicht einfach fort und sagt nicht wohin. Das macht man nicht und das lässt man sich auch nicht gefallen. Wo ist da die Basis des Vertrauens? Der Grundpfeiler einer Ehe. Ihr Grundpfeiler Nummer eins. Lindas Kopf hatte es längst verstanden, aber ihr Herz konnte es nicht fassen.

Nun hielt sie eine Nachricht von einem ihr fast fremden Mann in den Händen, der, sollte sie den Worten Glauben schenken, auf sie wartete und egal wohin, zu ihr kommen wollte.

Sollte sie wirklich ihre Ehe beenden wollen?

Sollte sie wirklich Eric ziehen lassen wollen?

Sollte sie wirklich etwas Neues beginnen wollen?

Es fiel ihr schwer zu glauben, dass sie immer mehr in diese Richtung dachte. Aber sie dachte genau in diese Richtung. Seit langem, wie ihr auf einmal bewusst wurde.

Diese Ehe war keine Ehe mehr.

Sie hatte es sich in der letzten Zeit wirklich nicht leicht gemacht. Sie ging nun wieder ihre Ehe von Anfang an durch. Sie kam wieder zu dem Schluss, dass sie und Eric lediglich miteinander lebten und nicht miteinander liebten. Ihre eigene anfängliche Verliebtheit ging irgendwann über, oder gar unter, in den normalen Alltagstrott mit den unzähligen Aufgaben einer Mutter und Hausfrau. Sie schliefen ständig miteinander im Rausch ihre Gefühle. Das war keine Liebe. Das war ein Festklammern. Mehr nicht. So sah es Linda mittlerweile.

Eric kam und ging, wie es für ihn passte. Sie hatte nie das Gefühl, dass sie irgendwann gefragt wurde. Das alles wurde ihr erst nach und nach bewusst und sie war fassungslos über ihre schwache Persönlichkeit. Sie wollte das alles nicht mehr so. Sie wollte endlich als Frau wahrgenommen werden. Sie hatte plötzlich den Eindruck, dass sie für Eric immer noch die kleine süße Linda von damals war, die ihre Eltern verloren hatte und seinem Schutz bedurfte.

Wie Eric alles sah, das hätte sie zu gerne gewusst. Er enthielt sich aber seiner Stimme.

Letztendlich war es egal, wie er empfand, dachte sie nun. Schon allein ihre Haltung, da war sie sich auf einmal ohne Fragezeichen ganz sicher, ließ ihre Ehe und Liebe erblassen.

Sie wollte aber die Liebe für sich und Eric. Sie hatte wirklich gedacht, dass sie die Liebe mit Eric in den Händen gehalten hatte.

Sie fing wieder an zu weinen.

Ihr wurde nun auf einmal klar, dass sie in letzter Zeit immer um ihre nicht erwiderte Liebe geweint hatte. Sie hatte kein schlechtes Leben mit Eric, aber es war nicht die Liebe, die sie miteinander verband.

Es war keine Liebe.

So deutlich wie in diesem Augenblick hatte sie es noch nie gefühlt. Der Satz hämmerte sich felsenfest in ihr Hirn ein. Es tat unglaublich weh. Sie war sich sicher, dass sie ihn nicht mehr löschen konnte.

Es war keine Liebe.

Würde sie denn die große Liebe noch finden? Die Liebe getragen und gefühlt von beiden Seiten?

Auf einmal verspürte sie eine unglaubliche Sehnsucht nach der großen Liebe, dass sie sie unbedingt erleben wollte. Mit Eric hatte es nicht geklappt und nun war sie sich auch sicher, dass sie es mit ihm auch nicht mehr schaffen würde, diese beidseitig getragene Liebe zu finden.

Warum ihr auf einmal diese Eingebung kam, wusste sie nicht. Sie wusste aber, dass sie nun eine Entscheidung treffen konnte. Sie kam aus tiefsten Herzen, gemischt mit ein wenig Bauchgefühl.

Binnen kürzester Zeit, jedoch mit viel mühevoller Vorarbeit, traf sie nun endlich die Entscheidung.

Sie würde sich, ohne wenn und aber, von Eric trennen. Egal was er ihr sagen würde, ihr Entschluss stand nun fest. Sie war sich sicher, dass sie den Entschluss nicht mehr anzweifeln würde. Sie war sich ganz sicher. Vollkommen sicher.

Linda Sandermann. Du hast es geschafft.

Sie legte Simons Zettel aus der Hand.

Auf einmal fühlte sie sich glücklich. Ihr war, als wenn eine Zentner schwere Last von ihr genommen wurde. Die quälende Last drückte nicht mehr auf ihren Schultern, drückte nicht mehr im Magen. Sie fühlte sich befreit von ihr.

Linda liefen immer noch Tränen übers Gesicht. Langsam ging sie ins Bad und schaute in den Spiegel. Sie lächelte und sie sagte sich, dass es Glückstränen wären.

Sie fühlte keinen Hass und keinen Groll auf Eric und sie fühlte sich auch nicht traurig. Sie hatte jetzt das Ergebnis ihrer monatelangen Kämpfe vor sich und war damit zufrieden.

Was wollte sie mehr?

Nach einer ausgiebigen Dusche fiel sie erschöpft aufs Bett und ein langer, tiefer, erholsamer Schlaf übermannte sie.

 

Linda erwachte und sie fühlte sich wohl.

Es war ein schöner Herbsttag. Die Sonne schien. Mit Blick auf die Strandpromenade, rekelte sie sich vorm offenen Fenster. Sie sah den Brief von Simon und dachte an ihre Entscheidung. Es fühlte sich immer noch gut in ihrem Körper an.

Sie flüsterte leise Erics Namen.

Eric.

Keine Tränen, keine Wut, kein Hass, keine Trauer.

Eric.

Sie hatte auch nicht das Gefühl, dass sie bei ihm sein wollte. Er tat ihr auch nicht leid. Es regte sich nichts unangenehmes in ihrem Körper, bei dem Gedanken an Eric.

Sie schloss die Augen. Das tat sie immer, wenn sie einen Moment festhalten wollte und überprüfen wollte, ob ihr Gefühl auch wirklich stimmte. Sie hatte gelernt, sich diese Zeit zu nehmen.

Sie sah sich, wie sie ein Buch zuklappte und liebevoll darüber strich. Sie stellte das Buch behutsam in ein Regal. Nicht gleich voran, aber auch nicht in die hinterste Ecke.

Mittig.

Da sollte es stehen. Da stand es gut. Es war ausgelesen. Es war ein gutes Buch. Sie würde sich nun ein neues Buch suchen.

Linda lächelte über diese Eingebung. Sie stimmte.

Sie stimmte sie fröhlich.

Linda nahm ihr Handy und versuchte Eric zu erreichen. Wie immer ergebnislos. Wenigstens sprang diesmal die mailbox an.

Eric wir treffen uns nächsten Samstag um 16.00 im Stadtcafe. Linda.

Sie war sich sicher, dass er kommen würde. Sie stellte keine Frage, wie sonst immer. Sie legte fest. Eric würde verstehen, dass es ihr ernst damit war. Sie hatte keine Angst vor dem Treffen. So klar, war sie sich schon lange nicht mehr.

Als sie ihr Handy beiseite legte, sah sie wieder Simons Brief. Der Brief wollte beantwortet werden.

Aber wollte sie schon?

Sie wollte irgendwie.

Ein bisschen.

Sie wählte Simons Nummer. Insgeheim hoffte sie, dass er nicht ran ging. Ein wenig zitterte sie.

„Simon.“

„Hallo, hier ist Linda.“

„Linda, ich glaub es nicht. Seit wann hast du meine Nachricht?“

„Seit heute.“

„Du bist jetzt in dem Hotel?“

„Ja.“

„Willst du mich wieder sehen?“

„Ja.“

„Soll ich kommen?“

„Ja.“

„Gut. Ich bin heute Abend bei dir.“

„Ja.“

„Schön. Ich freue mich auf dich.“

„Ich auch.“

„Bis dann.“

„Ja, bis dann.“

Linda klappte ihr Handy zu und klappte fast zusammen. Sie brauchte Frühstück und einen extra starken Kaffee.

 

Wenige Minuten später war sie im Restaurant. Sie hätte jetzt gerne jemanden zum Reden an ihrer Seite gehabt. Sie saß alleine am Tisch und schaute aus dem Fenster. Obwohl es nicht kalt war, wärmte sie sich an ihrer Kaffeetasse.

Oder wollte sie sich nur an irgendetwas festhalten?

Sie fühlte sich stark aber trotzdem machte sich eine unbegreifliche Angst in ihr breit. Ihr wurde flau im Magen, sie konnte gar nichts essen. Sie schob ihren Teller beiseite. Dabei sah am Buffet alles so lecker aus und sie hatte ihre Freude bei der Auswahl. Eine Klappe verschloss ihren Magen.

Linda betrachtete die noch anwesenden Gäste, um sich ein wenig abzulenken. Besonders angetan war sie von einem alten Opi, wie sie ihn liebevoll in Gedanken nannte. Er saß auch am Fenster und schaute die ganze Zeit traurig hinaus. Er war klein und in sich zusammengefallen, aber irgendwie hielt er sich sehr würdevoll. Linda fühlte sich zu ihm hingezogen, weil er auch der einzige Gast war, der alleine am Tisch saß. Kurz entschlossen nahm sie ihre Tasse und ging zu dem alten Mann hinüber. Sie setzte sich ihm gegenüber und sagte kein Wort. Sie schaute genauso aus dem Fenster, wie er.

„Was führt Sie zu mir, Gnädigste?“, fragte er plötzlich.

Linda musste lächeln. Jetzt wusste sie, warum sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Er strahlte mit seiner Haltung die Vergangenheit aus. Eine Vergangenheit, die neugierig machte.

Linda ließ sich entführen. Sie sah für einen kurzen Moment, wie er galant um die Hand seiner Frau anhielt, wie das Ehepaar herrschaftlich speiste und wie sie geziert miteinander redeten.

Er schien es jedoch völlig zu ignorieren, dass diese Vergangenheit längst vorbei war. Selbst mit seiner Sprache untermalte er Lindas Eindruck.

Aber in seinen Augen fand Linda die Spur einer tiefen Trauer. Trauer um die Frau, die nicht mehr da war? Ganz sicher, dachte Linda. Würde er sonst alleine hier sitzen? Oder wartete er nur auf sie? Was sollte sie auf seine altertümliche Frage antworten?

„Darf ich diesen schönen Morgen mit Ihnen teilen?“ Mit dieser Antwort passte sie sich dem Sprachgebrauch des alten Herrn ein wenig an. Sie musste über sich schmunzeln.

„Aber gewiss, junges Fräulein.“ Er schaute sie kurz an und nickte ihr freundlich entgegen mit einem angedeuteten Diner.

Linda war entzückt. Nun musste sie sich fast ein Lachen unterdrücken. Es wäre aber fehl am Platz gewesen, sie spürte es. Sie saßen sich weiter still gegenüber und Linda fing an, diese Ruhe zu genießen.

Sie waren mittlerweile die letzten Gäste am Frühstücksbuffet, aber es drängte sie beide noch längst nicht, ihren Platz zu verlassen.

In der Gegenwart des alten Herrn verlangsamte sich die Zeit. Linda ließ sich fallen. Nun merkte sie, dass der alte Mann gar nicht traurig war. Er war eher gelassen zufrieden. Tief in sich. Wie konnte das sein? Linda war sich sicher, dass seine Frau tot war. Sie wäre sonst hier. Alte Ehepaare lassen sich nicht so lange alleine. Schon gar nicht im Hotel. Ob er Linda von seiner Frau erzählen würde? Sollte sie sich trauen und ihn danach fragen? Machte man so etwas? Sie musste ihn so aufdringlich fragend angeschaut haben, dass er es merkte.

„Womit kann ich Ihnen dienen, Fräulein?“

„Sandermann.“

„Mit was?“

„Ich heiße Linda Sandermann.“

„Ja. Natürlich. Also Fräulein Sandermann, was führt sie zu mir?“

„Frau Sandermann.“

„Frau Sandermann. Ihnen liegt doch etwas auf dem Herzen, oder? Wie kann ich ihnen behilflich sein?“

„Mir behilflich sein?“ Plötzlich drehte sich alles um. Machte sie sich gerade noch Gedanken über das Leid des alten Mannes, kam ihr eigenes Gefühlschaos mit einer Macht zurück. Für einen kurzen Moment war es verschwunden. Eine kleine Frage konnte alles wieder hervorholen.

Linda musste weinen. Langsam flossen die Tränen aus ihren Augen. Der alte Mann traf sie tief ins Herz. Sie musste plötzlich an ihren Vater denken. Ob er ihr geholfen hätte?

„Kindchen, nun beruhigen sie sich mal. Das bin ich nicht gewohnt, dass jemand in meiner Gegenwart weint.“

„Entschuldigung.“ Linda hörte sofort auf. Es war ihr wirklich peinlich. Am liebsten wäre sie gegangen. Der alte Mann hätte es bestimmt verstanden. Aber irgendetwas hielt sie zurück. Sie blieb sitzen. Er reichte ihr ein schneeweißes gebügeltes Taschentuch.

„Meine Elisabeth hat nie geweint. Obwohl sie am Ende große Schmerzen gehabt haben musste. Ich habe ihre Hand gehalten, als sie von mir ging und habe ihr versprochen, dass ich auch nicht weinen werde. Ich habe ihr außerdem versprochen, alles so weiter zu machen, wie wir es immer getan haben und wenn meine Zeit zu Ende ist, dann werde ich zu ihr kommen. Wir warten gegenseitig auf uns. Das haben wir uns versprochen. Es macht mich glücklich zu wissen, dass sie auf mich wartet. Und sie kann sich sicher sein, dass ich kommen werde. 60 Jahre waren wir nie getrennt. Das ist nun meine erste lange Zeit getrennt von ihr. Ich spüre sie aber an meiner Seite. Täglich. Könnten sie mir wohl noch eine Tasse Kaffee holen? Schwarz mit Zucker. Das darf Elisabeth aber nicht wissen. Ich habe doch Diabetes.“

Linda stand wie in Trance auf und holte den gewünschten Kaffee. Sie hätte jetzt lieber einen Cognac getrunken, füllte sich aber auch noch einen Kaffee ein. So eine rührende Geschichte. Am liebsten hätte sie wieder geweint. Sie wollte aber nun genauso wenig weinen wie Elisabeth.

„Ihnen geht es wieder besser, Frau Sandermann“, bemerkte der alte Mann. „Sie wollten doch wissen, wie es um mich steht, stimmt`s? Ganz so senil wie ich daher komme, bin ich nicht. Aber nun müssen sie mir auch erzählen, warum sie geweint haben. Ohne Grund weint man nicht, junge Frau.“

Linda musste sich sammeln. Gerührt rührte sie in ihrem Kaffee. Was sollte sie sagen? Das sie eine Ehe beenden wollte und vielleicht etwas Neues beginnen würde? Konnte sie das dem Opi mit seiner Geschichte erzählen? Würde er das verstehen können, wo seine tote Elisabeth noch täglich neben ihm verweilte? Linda war sich nicht sicher. Unterschiedlich gefühlte Gefühle machten das Leben aus, ging es ihr durch den Kopf. Sie spürte wieder, dass ihr Gefühl richtig war. Sie wollte den Opi nicht anlügen.

„Ich werde meinen Mann verlassen. Verurteilen Sie mich bitte nicht dafür.“

„Warum sollte ich, Kindchen. Wenn er es verdient hat, dann müssen sie es tun. Meine Elisabeth und ich, wir hatten nie einen Grund uns zu trennen.“

„Das ist schön, dass es so etwas gibt. Bei uns war wohl nicht immer alles gut. Ich kann nicht mehr anders. Aber trotzdem bin ich ihm nicht böse.“ Linda kam wieder das Bild vom zugeschlagenen Buch, dass im Regal ruhte. Es sah schön aus. Friedlich.

„Und hier treffen sie einen anderen Mann?“

„Wie kommen Sie darauf?“, fragt Linda verblüfft.

„Sie sehen nicht traurig aus, eher erwartungsvoll.“

„Das sieht man mir an?“

„Ich sagte doch, dass ich nicht ganz so senil bin, wie ich aussehe. Es steht Ihnen gut, Frau Sandermann. Nur zu.“

Nun musste Linda doch lachen. Der alte Opi war eben wundervoll.

„Also habe ich recht. Werde ich ihn noch sehen? Morgen nach dem Frühstück reise ich ab.“

„Ja, dann wahrscheinlich morgen beim Frühstück.“

„Frau Sandermann, ich darf mich empfehlen. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen noch.“ Sprach es, stand auf, reichte ihr die Hand und verbeugte sich.

Linda war sprachlos und fühlte sich wieder ein bisschen in die Vergangenheit zurück versetzt. Immerhin bekam auch sie eine leichte Verbeugung hin.

Sie blieb noch ein paar Minuten und ging dann auf ihr Zimmer. Sie betrachtete sich im Spiegel.

Sah sie wirklich erwartungsvoll aus?

Sie fand eher, dass sie müde aussah und auf einmal fühlte sie sich auch total erschöpft. Sie legte sich aufs Bett und dachte an Elisabeth und ihren wundervollen Mann. Auch so kann es gehen, unendlich, bis in alle Ewigkeit. Nicht vom Weg abkommen. Auch sie wollte nicht vom Weg abkommen. Sie wollte ihn sogar noch einmal von vorne beginnen. Nun war sie aber nicht mehr bereit auf diese Unendlichkeit zu bauen. Nun wollte sie ihren Weg verlassen und wollte einen neuen Weg gehen. Sie fing an, sich darüber zu freuen. Sie rekelte sich zufrieden und schlief noch ein mal ein.

Als sie aufwachte, blinkte ihr Handy. Es konnte eine Nachricht von Eric oder von Simon sein.

Simon.

Ich bin da.

Linda staunte, dass sie diese Nachricht ruhig und gelassen zur Kenntnis nahm. Sie ging vor 10 Minuten ein. Sie beeilte sich und wunderte sich, dass sie so lange geschlafen hatte. Es war bereits 18.00 Uhr.

In der Empfangshalle war Simon nicht zu sehen. Im Restaurant auch nicht. An der Rezeption wollte Linda nicht fragen. Dann konnte er nur noch an der Bank, ihrem ersten Treffpunkt sein. Linda schaute noch einmal in den großen Spiegel und verließ das Hotel.

Sie sah ihn schon von weitem. Mit ausgebreiteten Armen und ausgestreckten Beinen saß er ganz entspannt auf der Bank und blickte aufs Meer.

Linda blieb stehen und betrachtete ihn. Nun wurde sie nervös. Nun fing das Zittern an. Am liebsten wäre sie still und heimlich wieder davongeschlichen. Aber genau in diesem Moment, als wenn Simon ahnen würde, dass sie hinter ihm stand, drehte er sich zu ihr um und lächelte ihr einladend entgegen.

Linda stockte der Atem. Bleib ganz ruhig, sagte sie sich. Nicht rot werden und lass dir was vernünftiges einfallen. Oder sag lieber gar nichts. Geh einfach zu ihm hin und sag guten Tag.

Simon stand auf und gab ihr die Hand.

Nichts weiter.

Linda war ein wenig irritiert über diese kühle Begrüßung. Sie setzte sich zu ihm und wartete ab.

Vor 8 Monaten saßen sie hier gemeinsam auf der Bank.

Was konnte in 8 Monaten nicht alles passieren?

Das Telefonat sagte gar nichts darüber aus. Sie wollten sich lediglich wieder sehen. Plötzlich hatte Linda ein ungutes Gefühl.

Was hatte sie eigentlich gedacht?

„Wie geht es dir?“, fragte sie leise.

„Warum hast du mir damals nicht gesagt, wo ich dich finden kann?“

Linda schloss die Augen. Sie wusste sofort, was diese Frage bedeutete. Sie holte tief Luft und stöhnte leise.

„Damals war ich noch nicht bereit dazu.“ Linda merkte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Bitte nicht weinen, flehte sie sich an. Bitte nicht. Und sag was Simon. Bitte.

„Ich habe lange Zeit an dich gedacht. Sehr lange. Auch Eva hat immer wieder nach dir gefragt. Sie fand dich toll. Ich hatte sie in der letzten Zeit oft bei mir. Und ihre Mutter. Wir sind uns wieder näher gekommen, sehr nahe gekommen.“ Die letzten Worte sprach Simon sehr leise.

Sie hallten in Lindas Ohren. Ihr Kopf wollte zerspringen. Das durfte doch nicht wahr sein. Sie musste sich verhört haben. Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

Sie saßen schweigend auf der Bank. Simon gab ihr ein Taschentuch. Warum hatten Männer immer Taschentücher in ihren Hosentaschen, obwohl sie nie weinten?

„Warum bist du dann gekommen, Simon? Warum?“ Linda war gespannt, ob Simon ihre Warumfrage beantworten wollte. Wieder eine Warumfrage. War sie dazu verdonnert Warumfragen zu stellen?

„Ich wollte dich wieder sehen, Linda. Immer. Du bist mir nicht aus dem Kopf gegangen. Glaube mir. Das mit Evas Mutter, mit meiner Frau, das ist einfach wieder so passiert. Ich weiß nicht, warum ich sie wieder zu mir gelassen habe. Vielleicht, weil es sich Eva so sehr wünschte. Sie fragte ständig, ob wir nun wieder eine Familie wären.“

„Und du? Willst du diese Familie?“

„Diesmal stellst du aber die direkten Fragen, Linda.“

„Ich weiß. Ich kann keine Unklarheiten mehr ertragen. Seit unserer Begegnung steht meine Ehe auf dem Prüfstand. Gestern, als ich deine Nachricht in den Händen hielt, habe ich meinen endgültigen Entschluss gefasst. Ich werde mich von meinem Mann trennen. Er weiß es nur noch nicht.“ Sie konnte ihre Entscheidung wieder ohne Trauer aussprechen. Es war ihr wirklich ernst mit dieser Entscheidung. Der Weg für alles neue stand ihr offen. Wollte sie den Weg mit Simon beginnen? Wenn ja, dann war dieser Weg allerdings gleich am Anfang mit einem Hindernis belegt.

Simon nahm ihre Hand.

Endlich dachte Linda. Sie brauchte jetzt diese Hand. Sie wollte diese Hand.

Ihre Hand fügte sich gut in seine.

„Du bist mir noch eine Antwort schuldig, Simon.“
„Ich weiß. Damals hast du mir auch nicht alle Fragen beantwortet.“

„Doch. Nur nicht sofort.“

„Dann lass mir auch noch Zeit. Komm her, du frierst ja.“ Simon nahm Linda in den Arm.

„Das tut mir unheimlich gut, Simon. Halt mich einfach nur fest. Das reicht mir schon.“

Sie mussten nichts mehr sagen.

Was sollten sie auch sagen?

Da saßen nun zwei Eheleute auf einer Bank, deren Wege sich gekreuzt hatten.

War es gut, dass sich ihre Wege gekreuzt hatten?

Sie stellten sich beide unabhängig voneinander die gleiche Frage. Sie lag förmlich auf der Hand. Was sollten sie nun miteinander anfangen? Machte es einen Sinn, einen gemeinsamen Weg zu suchen? Oder sollten sie sich nur ab und an mal kreuzen?

Die Wege.

„Simon, ich habe Hunger.“

„Das ist gut. Das ist etwas handfestes. Damit kann ich gut etwas anfangen. Ich kenne hier ein kleines gemütliches Fischrestaurant. Magst du Fisch?“

„Aber ja. Gerne.“

Hand in Hand gingen sie die Strandpromenade entlang. Sie kamen wie ein altes Ehepaar daher. Keiner sah ihnen an, das sie keins waren.

Linda hätte schreien können. Sie war verzweifelt. Zutiefst verzweifelt. Sie sehnte sich plötzlich nach Mann. Sie hielt einen an der Hand, der nicht ihrer war. Sie hatte einen, der ihr nicht mehr genügte. Was konnte noch Schlimmeres passieren?

Ob das Fischgericht alles retten konnte? Es musste schon sehr lecker sein.

Sie musste über ihre Gedanken lächeln.

Es wurde ein schöner Abend. Linda fühlte sich wie in einem kleinen Abenteuer gefangen. Genauso, wie beim ersten mal. Simon brachte sie zum Lachen und sie gaben sich beide dem Augenblick hin. Das Essen schmeckte vorzüglich, wie Simon es versprochen hatte.

Vergessen war die Ehefrau.

Vergessen war der Ehemann.

Vergnügt gingen sie zum Hotel zurück.

Schmunzelnd wurden sie vom Portier begrüßt.

Der Überbringer der Nachricht.

Der Mitwisser.

Der Diskrete.

Sie kehrten noch in die Bar ein und wählten beide gleichzeitig den Tisch hinten in der Ecke.

Alles wie beim ersten Rendezvous.

Linda überkam wieder der Wunsch nach Nähe. Sie quälte sich.

Sie hätte Simon gerne berührt. Sie traute sich nicht.

Sie hätte Simon gerne geküsst. Sie traute sich nicht.

Oder konnte sie nicht?

Im Hinterkopf spukte Simons Frau. Sie zerrte an Lindas Nerven. Sie brachte Linda aus dem Gleichgewicht. Sie lenkte Linda ab. Sie ließ Linda erstarren.

„Linda? Was willst du trinken?“ Simon und die Kellnerin schauten sie fragend an.

„Hm? Ja. Irgendwas schönes. Das, was du auch trinkst.“

Simon bestellte die gleichen Trink's, wie beim ersten Rendezvous.

„Na, was war das denn eben? Da war aber eben jemand ganz weit weg“, stellte Simon belustigt fest.

„Simon. Was ist mit deiner Frau? Liebst du sie?“

„Linda.“

„Nein. Nicht, Linda. Antworte. Du musst doch wissen, ob du sie liebst?“ Linda schaute Simon mit einem flehenden Blick an, der alles und nichts sagen konnte. Sie musste diese Frage stellen. In einem war sie sich nun sicher, wenn man bei dieser Frage ins Zweifeln kam und sie nicht sofort ohne wenn und aber mit Ja beantworten konnte, dann hat die Liebe Ecken und Kanten. Ob die Liebe den Ecken und Kanten stand hält, dass steht auf einem anderen Blatt. Sie hatte sich schließlich monatelang mit dieser Frage beschäftigt.

„Nein.“

„Was nein?“ Erics Nein kam mit einer zeitlichen Verzögerung daher, so dass Linda die Frage dazu über ihre eigenen Gedanken schon wieder vergessen hatte.

„Nein, ich liebe meine Frau nicht.“

„Nein?“

„Nein.“

„Das sagst du so? Und sie? Sie liebt dich.“

„Ja. Oder nein. Ich weiß es nicht. Ich meine, sie ist nicht zu mir gekommen und hat gesagt, Simon ich liebe dich.“

„Aber ihr wohnt wieder zusammen?“

„Nein. Sie bringt Eva und holt Eva. Manchmal bleibt sie über Nacht, obwohl sie nicht müsste. Das hat sie sonst nicht getan. Sie bringt mir das Kind aber immer öfter. Das Kind soll beim Vater sein, meint sie. Und ich bin der Vater. Und ich bin ihr Mann. Plötzlich erinnert sie sich auch wieder daran."

„Warum machst du das, Simon?“ Linda konnte es irgendwie verstehen, aber irgendwie auch wiederum nicht.

„Man verdammt. Linda. Es ist eben so. Eva ist mein Kind. Ich liebe Eva. Ich will sie nicht wieder verlieren. Kannst du das nicht verstehen?“

"Ja. Das kann ich verstehen. Sehr gut sogar. Ich habe schließlich auch zwei Kinder. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich sie vermisse und wie sehr ich sie liebe.“ Lindas Stimme klang unglaublich liebevoll und traurig.

„Wieso vermisse? Was ist passiert?“, fragte Simon zurückhaltend. Auf einmal fiel ihm auf, dass er von Lindas Familie fast gar nichts wusste. Beim letzten mal hatte er fast ausschließlich über sich erzählt und Linda hatte ihm aufmerksam zugehört. Auch am heutigen Abend hatte er noch nicht viel von ihr erfahren, lediglich, dass sie sich von ihrem Mann trennen wollte. Er schaute ihr fragend ins Gesicht.

Linda erzählte Simon von Toms Auszug, vom Hausverkauf, von den getrennten Wohnungen, von ihrem gescheiterten Versuch ihre Liebe neu aufleben zu lassen und davon dass Eric verschwunden war und Vivien in Frankreich war.

„Oi. Das ist ja allerhand. Nun verstehe ich auch deine Frage nach der Liebe. Natürlich ist die Frage nach der Liebe eine Entscheidende. Aber hat immer alles mit Liebe zu tun? Braucht man die Liebe zum zusammenleben?“

„Wenn ich mir die Frage so gestellt hätte, dann hätte ich nichts verändern brauchen. Wir haben gut gelebt ohne Liebe. Ach Simon, du glaubst gar nicht, wie viele Varianten von Fragen ich mir gestellt habe und wie unterschiedlich ich darauf reagiert habe. Ja und Nein, hin und her. Letztendlich habe ich eine Antwort gefunden und diese Antwort ist nun für mich die Richtige. Wie Eric meine Antwort findet, weiß ich noch nicht. Ich wette mit dir, dass er anderer Meinung ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass alles reibungslos abläuft. Aber vielleicht irre ich mich auch.“

„Warum hast du alles in Frage gestellt, Linda? Wegen der Nacht mit mir?“

„Nein. Oder doch. So einfach ist das nicht. Es kam mehr zusammen. Sagen wir mal so, die Nacht mit dir hat mir die Augen geöffnet. Und ich bin froh darüber.“

Simon wirkte auf ein mal ein wenig angespannt und spielte nervös an seinem Glas herum. Es blieb Linda nicht verborgen. Dann musste sie plötzlich lachen.

„Simon, entspann dich. Denkst du etwa ich will dich jetzt gleich heiraten?“

„So ähnlich, ja.“

Linda hörte gar nicht mehr auf zu lachen und steckte Simon mit ihrer Heiterkeit an.

„Nein, im Ernst Linda. Warum hast du mich heute morgen angerufen?“

„Deine Nachricht war wie eine Einladung. Und du? Warum bist du gekommen?“

„Wir nehmen das ganze als Einladung. Das klingt gut.“

Sie sahen sich an und sie waren sich einig.

Einladung.

Ladung.

Abschuss.

Wie würde sie einschlagen?

Linda betrachtete Simon und verfiel in den Fehler ihn mit Eric zu vergleichen. Das hätte sie nicht tun sollen. Sie merkte es sofort. Hinter jeder Bewegung, hinter jedem Satz sah sie plötzlich Eric. Sie wollte es nicht, sie wehrte sich dagegen, aber wie ein kleines Teufelchen hüpfte Eric ständig hinter Simon auf und nieder und hob den Zeigefinger.

„Lass uns gehen.“ Linda wollte dem Spuk entfliehen. Bleib hier, flehte sie das kleine Teufelchen an. Sie hätte es am liebsten an den Hörnern gepackt und in die Ecke geworfen.

Simon sollte es recht sein. Mehr und mehr gewann er wieder Gefallen an Linda. Er mochte ihre ruhige Art und ihr Lächeln. Es schien ihn zu verzaubern. Fand er seine Frau abgehoben, laut und zänkisch, fand er bei Linda genau das Gegenteil. Das gefiel ihm wesentlich besser. Er wollte es sofort eintauschen. Für einen kurzen Augenblick.

Ihre Zimmer lagen gegenüber.

„Ich bin in 10 Minuten bei dir, Linda.“ Er fragte nicht, ob sie es wollte. Er wusste, dass sie es wollte.

Linda nickte. Sie wollte nicht gefragt werden. Sie wollte, dass er wusste, dass sie es wollte.

 

Simon brauchte die 10 Minuten zur Besinnung. Er musste eine kleine Pause zwischen sich und Linda einlegen. Der Zug fuhr ihm dann doch irgendwie zu schnell. Monatelang stand er auf dem Abstellgleis und nun rauschte er rasant durch die Nacht. Ihm wurde fast schwindlig. Er musste kurz raus treten und sich abkühlen.

Und er musste noch den Geruch seiner Frau von seinem Körper waschen. Zu unerwartet startete der Zug. Ohne Vorankündigung. Als Lindas Anruf kam, ging seine Frau gerade aus der Tür.

Eva.

Sie schlich sich still und heimlich wieder in sein Leben. Wie selbstverständlich nahm sie wieder Besitz von ihm. Simon konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie sie damals verschwand. Auch still und heimlich. Sie nahm das Kind mit und ließ ihn allein. Später kam ein Brief. Aus dem Ausland. Nichts sagend. Keine Erklärung. Ein paar Fotos, alle Jahre wieder aus immer anderen Städten. Für Simon kam das alles wie ein schlechter Traum daher. Er wollte es nicht fassen. Er vergrub sich in Arbeit und ließ sich manchmal von einem fremden Schoß trösten.

Und nun? Nun sah er sich einer geballten Weiblichkeit gegenüber. Frau und Kind im Doppelpack und eine reizende Linda dazu.

Was sollte er damit anfangen?

Zur Abschreckung ließ er kaltes Wasser über seinen Körper laufen. Hastig schlang er das Badetuch um seine Mitte und sprang auf den abfahrenden Zug. Er wollte ihn nicht verpassen.

 

Linda wusste nicht, was sie in den 10 Minuten machen sollte. Unschlüssig stand sie am Fenster.

Sollte sie sich bereitwillig ins Bett legen? Angerichtet zum Vernaschen?

Wollte sie sich langsam ausziehen lassen? Stück für Stück?

Was machte sie überhaupt?

Eilig hüpfte sie in die Dusche.

Eilig huschte sie zur Tür, als es klopfte.

Zwei nackte Personen eingehüllt in hoteleigenen Handtüchern standen sich unbeholfen gegenüber. Plötzlich schlich sich Befangenheit in den Raum. Simon kam es gelegen. Der Zug wurde somit von ganz allein langsamer. Das war ihm recht so. Er konnte damit die Lage besser übersehen.

Sanft strich er Linda ein paar Wassertropfen von der Schulter.

Sanft schmiegte sie sich an ihn.

Sanft berührten sich ihre Lippen.

Sanft küssten sie sich.

Sanft schob er sie in Richtung Bett.

Alles passierte sanft und langsam. Sie ließ sich von Simon in die Mitte des Bettes dirigieren. Es rauschte in ihren Ohren. Das Orchester sollte anfangen zu spielen. Der Dirigent schaute ihr in die Augen. Sie spielte die erste Geige. Sie wusste es . Sie wollte auch die erste Geige sein. Aber die Saiten fingen nicht an zu vibrieren. Sie gaben keinen Ton von sich. Sie waren gespannt aber nicht bereit, in Schwingung zu kommen. Der Dirigent schaute sie ratlos an. Der Stock ragte in die Höhe und schien zu mahnen. Die Geige blieb stumm.

„Es tut mir leid, ich kann nicht.“ In Lindas Augen glitzerten Tränen.

Simon wusste nicht, was er sagen sollte.

„Nimm mich einfach nur in den Arm und halt mich fest.“ Diesen Satz fand Linda in den Filmen und Romanen immer äußerst kitschig. Zum Augen verdrehen. Dass sie diesen Satz selbst einmal sagen würde, wäre ihr nie im Traum eingefallen. Es gab tatsächlich Situationen, wo dieser Satz haargenau passte, dachte sie enttäuscht.

Langsam entspannte sie sich. Simon bemerkte es. Sie wurde wieder beweglicher und anschmiegsamer. Er fand es schon seltsam, wie sie auf einmal still und steif vor ihm lag und so gar nicht bereit für ihn war. Er konnte sich keinen Reim darauf machen.

Er fing an, sie sacht zu streicheln. Er musste es einfach tun. Sie war so warm und weich. Und tatsächlich regte sie sich. Simon merkte, dass es ihr gefiel. Er konnte weiter machen. Sie schnurrte wie ein Katze. Er merkte aber auch, dass sie passiv blieb. Ihre Hände suchten nicht seinen Körper. Simon wurde immer ratloser. Was sollte das bedeuten? Er hörte auf, sie zu liebkosen. Vielleicht wollte sie ja doch nicht?

Es war ganz still.

Linda kämpfte mit sich. Teufelchen Eric hatte sich bei ihr festgesetzt. Es schrie immerzu: Ich habe dich noch nicht freigegeben. Kannst du nicht abwarten?

Und es schien recht zu haben. Linda wollte auf einmal abwarten. Sie wollte nicht fremdgehen. Nicht noch ein zweites mal. Sie wollte frei sein. Genießen in Freiheit. Es war ihr auf einmal unheimlich wichtig.

Nur so konnte sie neu anfangen.

Nur so wollte sie neu anfangen.

Nun lag sie aber mit Simon im Bett. Sie wollte ihn. Aber das Teufelchen ließ es nicht zu.

Warum hatte sie mit dem Anruf bei Simon nicht warten können? Warum hatte sie sich nicht mit ihm nach der Aussprache mit Eric treffen können? Warum war sie so voreilig?

Sie fing an, mit ihrem Gewissen zu Händeln.

Sie durfte keine Hand anlegen, aber sie durfte sich handhaben lassen.

Sie wendete sich Simon wieder langsam zu. Sie nahm seine Hände und und führte sie an ihrem Körper entlang. Simon fing an mit ihr zu spielen. Seine Hände machten es gut. Sie schob sich ihnen nun ganz entgegen. Sie durften alles mit ihr tun. Seine Hände.

Fingerspiele.

Sie wurde durch das Teufelchen zurückgehalten.

Simon versuchte Linda für sich zu gewinnen, er konnte nicht verstehen, was sie mit ihm tat, besser gesagt, nicht mit ihm tat.

Er durfte sie anfassen. Nur anfassen.

Er musste sie und sich anfassen.

Er konnte es nicht fassen.

„Es tut mir leid.“

Der Zug rollte weiter für Simon. Er ließ sich erschöpft davontragen.

Linda tat es wirklich leid.

Ob Simon das verstehen würde?

 

Als Linda am Morgen die Augen öffnete, war sie überrascht, dass Simon wach neben ihr lag. Er schien darauf gewartet zu haben, dass sie endlich erwachte.

Was sollte sie ihm nur sagen?

Sie machte die Augen einfach wieder zu.

„So kommst du mir nicht davon, Linda.“ Simons Stimme klang nicht wütend, eher fragend.

„Ich konnte nicht. Ich konnte das Eric nicht antun. Er war zu nah bei mir. Kannst du das verstehen?“

„Ich weiß nicht.“

Linda kuschelte sich an ihn. Sie waren beide immer noch nackt und ihre warme Haut ließ ihn erzittern.

„Und jetzt?“, fragte Simon.

„Jetzt auch noch.“

„Schade.“

„Ich hätte dich nicht anrufen dürfen, Simon.“

Abrupt richtete sich Simon auf und schob Linda von sich.

„Warte. Lass mich doch ausreden“, empörte sich Linda über die ruppige Bewegung. „Ich hätte erst die Sache mit Eric klären müssen. Danach hätte ich dich anrufen sollen. Simon, es tut mir wirklich leid, dass ich dich ...“

„.. alles hab alleine machen lassen“, vollendete Simon Lindas Satz. Er hielt ihr seine Hände vors Gesicht und sagte, „guck dir diese Hände an. Die haben dich und mich beglückt.“ Dann nahm er ihr Gesicht in beide Hände, zog sie an sich ran und küsste sie leidenschaftlich.

„So. Und nun ist alles gut. Fahr nach Hause, kläre alles mit Eric und ruf mich an, wenn du wirklich frei bist. Noch mal, mache ich so etwas nicht mit mir, wenn du neben mir liegst.“

„Ja. Danke.“ Dann musste Linda lachen.

Die Nummer war eine wirklich komische Nummer.

„So. Linda. Nun ist genug gelacht auf meine Kosten. Buchen wir ab unter der Rubrik der genarrte Liebhaber. Ich geh jetzt frühstücken.“

 

Linda erblickte gleich ihren alten Opi im Restaurant. Er saß wie am Vortag an seinem Tisch und blickte aus dem Fenster. Sie erzählte Simon von ihrer Begegnung mit ihm. Ab und zu lächelte er zu ihnen hinüber. Er schien es nicht eilig zu haben. Er war längst fertig mit seinem Frühstück. Der Tisch war abgeräumt.

Linda wollte sich von ihm verabschieden. Sie wusste auch schon wie.

„Darf ich Ihnen noch eine Tasse Kaffee, schwarz mit extra viel Zucker geben?“

„Aber gewiss doch, Elisabeth, du bist heute sehr zuvorkommend. Ich danke dir Liebes.“ Als Linda den Kaffee vor ihm abstellte, nahm er ihre Hand und küsste sie. Linda war verblüfft. Sie blickte in liebevolle Augen, die weit entfernt waren und etwas anderes sehen mussten. Ihr war klar, dass er die ganze Zeit, während er aus dem Fenster geblickt hatte, nur an seine Elisabeth gedacht haben musste. Nun war sie für ihn da. Sie wollte ihm die Illusion nicht nehmen. Er schien ihr in dem Moment zu weit weg zu sein.

„Ich warte auf dich“, sagte sie leise.

„Ich werde bald kommen, Elisabeth“, antwortete er, bereits wieder aus dem Fenster blickend.

Linda entfernte sich langsam vom Tisch mit Tränen in den Augen. Die tiefe Liebe der beiden rührte sie zutiefst.

Der Schmerz, so einer Liebe weit entfernt zu sein, traf sie genauso tief.

Sie war ganz benommen. Sie wünschte sich, dass der alte Mann bald bei seiner Elisabeth sein würde. Eigentlich war er schon bei ihr. Ihm würde der Abschied aus dieser Welt sicher nicht schwer fallen, dachte Linda.

Abschied.

Simon kam ihr mit seinem Gepäck entgegen.

Sie sahen beide nicht glücklich aus. Linda begleitete ihn zum Auto.

Sie wussten sich nichts mehr zu sagen.

Es war alles gesagt.

Jedes Wort war überflüssig.

Sie küssten sich.

Was die Zukunft für sie bereit hielt, wussten sie in diesem Moment beide nicht.

 

***

Lorry spitzte die Ohren als Erics Handy die Stille durchdrang. Sie waren gerade mit dem Joggen fertig und ruhten sich noch ein wenig am Strand aus, bevor sie zu Sina gehen wollten.

Wer, außer Linda würde ihm eine SMS schicken?

Mürrisch holte Eric sein Handy aus seiner Hosentasche. Warum hatte er es nur wieder an sich genommen? Er verfluchte sich dafür, dass er es nicht in Deutschland gelassen hatte. Nun fiel ihm auch wieder die immer noch unbeantwortete Frage ein.

Warum?

Langsam fand er darauf seine Antwort. Er war ihr schon ganz nahe.

Eric wir treffen uns nächsten Samstag um 16.00 im Stadtcafe. Linda.

Bis dahin müsste er also endgültig die Antwort finden.

Er kraulte Lorry hinter den Ohren. Sie schaute ihn an, als wenn sie fragen wollte, was los sei. Eric musste lachen. Er war wirklich froh, dass er Lorry hatte. Ohne Lorry würde er bestimmt nicht jeden Morgen joggen gehen. Es machte ihn frei in seinen Gedanken und gab ihn eine unglaubliche innerliche Ruhe. Er redete viel mit Lorry. Er redete sich alles von der Seele. Und Lorry hörte geduldig zu. So viel hatte er die ganzen Jahre nicht mit Linda gesprochen. Er sah ein, dass es ein Fehler war, sich zurückzuziehen, sich den anfallenden Diskussionen zu entziehen. Aussprachen mussten sein. Er hatte sich diese immer vom Hals gehalten, hatte sich widerspenstig dagegen gesträubt. Er sah ein, dass er Linda mit ihrem Redebedarf allein gelassen hatte. Nur weil er seine Ruhe zu Hause haben wollte, durfte sie nicht reden. Er hatte wahrlich immerzu nur an sich gedacht.

Hatte er sich eigentlich irgendwann einmal Gedanken darüber gemacht, wie es Linda ging? Wie es ihr wirklich ging, mit ihm, mit den Kindern?

Gefragt hatte er sie nie danach, da war er sich sicher. Er verließ sich immer nur darauf, was er sah.

Schaute sie nicht immer glücklich aus?

Warum sollte er sich Sorgen machen?

Sie konnte ihm doch sagen, wenn ihr etwas fehlte oder sie etwas brauchte. Warum sollte er sich darum kümmern? Bei den Gedanken kam er sich nun Linda gegenüber äußerst schäbig vor. Er hatte sich wahrlich nie richtig für Linda interessiert. Er hatte nie innere Anteilnahme für Linda verspürt. Sie war da, das war gut und mehr nicht.

All die Jahre war sie einfach nur da für ihn.

Er berauschte sich an ihren Körper und ließ sie wieder allein für sich.

Und er blieb auch allein für sich.

Warum war er nur so anspruchslos?

Er tingelte durch die Welt und nahm einfach alles nur mit. Warum auch anders? Ihm lag schließlich immer alles vor den Füßen. Frauen nicht ausgeschlossen.

Und nun hatte Linda plötzlich dieses Leben mit ihm satt. Machte ihn aufmerksam, dass sie mehr wollte.

Lebte sie selbst die ganze Zeit ohne Ansprüche mit ihm zusammen?

Was hatte ihr die Augen geöffnet?

Eric wollte es gar nicht wissen. Er war nur froh, dass es bei ihr geklickt hatte. Wer weiß, sagte er sich, wie lange wir sonst so weiter gemacht hätten? Er hätte gewiss nie so tief und innig über sein Leben nachgedacht, wenn Linda nicht die Bremse gezogen hätte. Er war ihr dankbar dafür.

Er würde es ihr sagen.

Und nun?

Eric war sich sicher, dass es die von Linda gewünschte zweite Chance nicht mehr geben wird.

Er war nicht mehr bereit dazu.

Auch das würde er ihr sagen.

Das alles würde er Linda sagen müssen.

Ob sie das verstehen würde?

Nächsten Samstag, 16.00, Stadtcafe.

Dort würde er ihr alles erklären müssen. Er spürte Angst und Erleichterung in sich.

Er schaute aufs Meer.

Wie viele Stunden hatte er hier gesessen und über sich nachgedacht?

Wie viele Stunden hatte er hier gelitten und war verzweifelt und erschüttert über sich.

Er ließ hier Stunden um Stunden sein ganzes Leben an sich vorbeiziehen und erkannte seine eigenen Schwachstellen.

Nun ist er zu einem Ergebnis gekommen.

Ein gutes Vierteljahrhundert mit seiner Frau würde nun zu Ende gehen. Es machte keinen Sinn es fortzuführen.

Er wollte sich und ihr eine neue Chance geben.

Keine gemeinsame neue Chance.

Er wollte sich von ihr trennen.

Er war ganz ruhig bei diesen Gedanken und spürte eine tiefe innere Zufriedenheit.

 

Sina beobachtete Eric und Lorry aus dem Küchenfenster, als sie auf das Cottage zukamen. Eric schien ihr in Gedanken versunken aber auch irgendwie glücklich.

Seit einigen Tagen spürte sie, dass Eric den Kampf nach der Suche eines neuen Weges für sich wieder verstärkt aufgenommen hatte. Sie kannte den Anlass nicht, aber sie kannte seine Geschichte, seine ganze Geschichte.

Er kam ihr dabei wie ein kleiner verspielter Junge vor. Sie hörte aus allem heraus, dass er trotz seines doch schon reifen Alters, noch nie bewusst eine Sache ernst genommen hatte, geschweige denn sich selbst. In ihren Augen hatte er immer nur genommen, vom geben schien er nicht viel zu halten. Anfangs war es ihr ein Rätsel, dass dieser Mann, Ehemann und Vater zweier Kinder war. Sie konnte auch diese Ehefrau nicht verstehen, die alles mit sich machen ließ. Dann wurde ihr aber bewusst, dass die unterschiedlichen Charaktere der beiden es möglich machte, dass die Beziehung so eine Beziehung wurde.

Sie stellte sich dazu den jungen charmanten Lebemann und das junge schüchterne Mädchen, welches ihre gesamte Familie mit einem Schlag verloren hatte, vor. Es war ein undenkbar schlechter Start für eine Beziehung.

Nachdem, was sie von Eric wusste, wurde ihr nach und nach klar, dass das Ehepaar sich aus diesen Unglück heraus einen Halt aufgebaut hatte. Sie brauchten beide diesen Halt, bauten ihn über Jahre hinweg aus und gewöhnten sich daran. Es war und konnte nicht die Erfüllung ihrer Wünsche sein. Für Eric weniger, als für Linda.

Für Sina war augenscheinlich, dass in dieser Ehe die Liebe fehlte. Sie war sich sicher, dass sie fehlte, dass sie von beiden nur herbei geschwindelt wurde. Von Eric mehr als von Linda. Eric liebte nicht und Linda wollte lieben.

Sina wünschte sich sehr, dass Eric mit seinem inneren Kampf ihrem Ergebnis ein Stückchen näher kam. Sie hütete sich , ihn zu beeinflussen. Er sollte von alleine herausfinden, wohin ihn sein Weg führen sollte.

Sie hatte sich in Eric verliebt.

Ernsthaft verliebt.

Verträumt schaute sie ihm entgegen. Sie sah sich in seinen Armen dahinschmelzen. Sie spürte eine wohlige Wärme in sich aufsteigen. Ihr Atem ging schneller und tiefer als gewöhnlich, sie musste leise aufstöhnen.

Sie durfte und wollte es ihm nicht zeigen.

Sie war sich auch noch viel zu unsicher.

Sie hatte mit der Liebe noch keine Erfahrung.

Tiefe Gefühle waren ihr fremd.

Aber sie spürte auf einmal tief.

Und es berauschte sie.

Sie hatte aber große Angst davor, denn sie setzte Liebe mit Dauer in unmittelbaren Zusammenhang. Dauer hatte in ihrem Leben jedoch kein Platz. Deswegen kam für sie immer nur Hingabe für den Moment in Frage.

Kurz und schmerzlos.

Atemberaubend und schön.

Höhepunkt ohne Fall.

Keine Liebe.

Bis in alle Ewigkeit.

Sie hatte die Dunkelheit im Visier.

Das Ende konnte ganz plötzlich kommen.

War gewollt. Jahr für Jahr.

Kein Platz für Liebe vorgesehen.

Aber das Ende blieb auch dieses Jahr wieder unerreichbar für sie.

Dank Eric.

Eric.

Eric rückte ihre Dunkelheit ins Abseits.

Sie hatte seit Tagen nicht mehr daran gedacht.

Er brachte Licht in ihr Leben und Wärme in ihren Körper.

Sie fühlte sich von ihm gehalten seit dem Moment, als er sie aus dem Wasser getragen hatte. Sie musste sich eingestehen, dass sie während des Abgangs auf eine Rettung von außen gehofft hatte. Sie kam und sie war sich sicher, dass es irgendetwas mit Anziehung zu tun hatte.

Sie täuschte sich selten.

Wieder stöhnte sie leise auf.

Wollte sie nun der Liebe einen Platz in ihrem Leben gewähren?

Wollte sie die Liebe zulassen?

Sina stöhnte wieder.

Eric war immer noch draußen und spielte mit Lorry. Sie sah ihm aber an, dass ihn etwas beschäftigte. Er sah immer noch gedankenverloren aus.

Sina war sich sicher, dass er an seine Frau dachte. Er sollte auch an seine Frau denken. Er sollte sie neu finden oder er sollte sie frei lassen. Sina wünschte sich so sehr, dass er endlich einen Entschluss fassen würde.

Dann wäre er nicht mehr gefangen in sich.

Dann wäre er nicht mehr in sich gekehrt.

Dann würde er auch endlich wieder seine Umwelt mt anderen Augen betrachten.

Hoffte Sina.

Seine Gegenwart fing an, sie zu schmerzen. Sie wollte plötzlich nicht mehr nur oberflächlich von ihm wahrgenommen werden.

Sie wollte mehr.

Sie musste noch warten.

Sie würde noch warten.

 

Eric sah Sina am Küchenfenster stehen. Sie vertrieb schlagartig seine Gedanken. Er lächelte ihr zu. Sie lächelte verhalten zurück. Sein Blick blieb bei ihr hängen.

Sie sah irgendwie anders aus.

Oder sah er sie irgendwie anders?

Ihr Blickkontakt war anders.

Selbst Lorry spürte eine Veränderung. Sie hörte abrupt auf, an Eric hochzuspringen. Ihr Kopf wackelte zwischen Eric und Sina hin und her. Sie knurrte unwillig und fing plötzlich an, an ihrem Herrchen herum zuzerren.

„Was ist Lorry? Ich bin doch für dich da.“ Eric bückte sich, nahm ihren Kopf in beide Hände und drückte sein Gesicht in ihr Fell. Dann schaute er wieder zum Fenster. Sina stand immer noch da und lächelte.

Er freute sich auf sie. Immer mehr.

Sollte er es ihr sagen?

Eigentlich müsste sie es doch wissen, dachte er.

Würde er sonst jeden Tag zu ihr kommen?

Er lächelte zurück. Dann ging er zu ihr. Er steifte diesmal bei der Begrüßung ihren Arm.

Er bildete sich ein, dass sie ihm entgegen kam.

Sie tat es wirklich.

Er stand in der Dusche und spürte, dass sie an der Tür lauschte.

Sie tat es wirklich.

Sie spürten an diesem Morgen beide, dass sich etwas verändert hatte. Sie kamen sich näher. Beide hatten plötzlich das Bedürfnis sich zu berühren. Sie trauten sich jedoch beide noch nicht, ihrem Impuls zu folgen.

Ihre Blicke sprachen dafür.

Ihre Hände hielten sich zurück.

Sina genoss die prickelnde Spannung. Sie hatte ein positives Gefühl. Sie bekam warme Hände, sie jubelte innerlich, sie musste an sich halten. Ihre Augen strahlten vor Freude.

Konnte Eric das sehen?

Würde Eric das verstehen?

Eric sah es und Eric verstand es. Erstaunlicherweise fühlte er sich ganz ruhig dabei. Er spürte die Gewissheit in sich, dass er nichts überstürzen müsste.

Sina würde ihm nicht davon laufen.

Sina würde auf ihn warten.

Er fühlte sich glücklich.

Es begann alles ganz langsam zwischen ihnen.

Tagelang trafen sie sich wortlos am Strand.

Es zog ihn zu ihr hin.

Sie ließ seine Nähe zu.

Er fand sie zum richtigen Zeitpunkt, als sie ihrem Leben ein Ende setzen wollte.

Und nun war er ihr täglich nahe.

Er spürte, dass sie sich gegenseitig anzogen.

Er würde warten, bis der richtige Moment kommen würde.

 

Beim gemeinsamen Frühstück erzählte er ihr, dass er eine Nachricht von Linda erhalten hatte.

„Deswegen sahst du so in dich gekehrt aus.“

„Sie will mich nächsten Samstag treffen.“

„Das ist doch gut.“ Sina fühlte sich durch diese Nachricht erleichtert. Endlich ging etwas vorwärts. Sie versprach sich viel von der Begegnung der Ehepartner. Sie hatten sich lange nicht gesehen. Hatten beide genug Zeit zum nachdenken. Sie war sich sicher, dass ein Ergebnis zu Stande kommen würde. Sie spürte auch, dass Eric eine Entscheidung wollte. Der Zustand nagte an ihm, es war ihm an zu sehen.

Wie würde sich Eric aber entscheiden? Und was würde seine Frau wollen? Würde es Krieg oder Frieden geben?

Neben der anfänglichen Erleichterung mischte sich Angst. Auf einmal wollte sie so sehr, dass er sich für sie entscheiden würde.

Sie senkte ihren Blick, damit er ihre Verzweiflung nicht sehen konnte. Ihre Hände zitterten. Sie nahm sie vom Tisch und drückte sie fest aneinander. Sie betete heimlich.

„Da, wo alles mit uns begann.“ Es klang wie die Fortführung seiner voran gemachten Aussage. Eric schaute dabei nicht zu Sina, sondern aus dem Fenster.

Er wusste nicht, was er von dem Treffpunkt halten sollte. Warum im Stadtcafe, wo früher ihre Discothek war?

Was bezweckte Linda damit?

Wollte sie ihn weich kochen?

Wollte sie auf die Tränendrüsen drücken?

Oder würde alles ganz anders kommen, wie er es vermutete?

Was vermutete er überhaupt?

Vielleicht wollte sich Linda ja auch von ihm trennen?

Das wäre schließlich möglich. Vorstellen konnte er es sich jedoch nicht.

Eric blieb mit seinem Blick in der Ferne, als wenn er dort finden würde, was er suchte. Er wusste, dass das Wunschdenken war.

Sina sagte nichts. Innerlich stöhnend, dachte sie wütend, typisch Frau.

Sie will ihn zurück. Sie will ihn zurück. Sie will ihn zurück.

Warum wählte sie sonst den Ort, wo alles begann?

Würde sie es nicht genauso machen? Mit den Worten, weißt du noch, versuchen ihn zurückzuholen?

Aus Erics Erzählungen erschien ihr Linda abhängig von ihm und kraftlos. Das würde dann genau zu ihr passen.

Aber vielleicht dachte sie ja auch falsch? Vielleicht war Linda eine ganz andere Frau? Dann würde immerhin noch die kleine Chance bestehen, dass Linda sich vielleicht von ihm trennen wollte?

Und Eric? Was wollte Eric eigentlich?

Sina wusste es nicht. Sina wusste gar nichts.

Sie betete wieder heimlich unterm Tisch und blieb still.

„Ich muss einfach geduldig bis nächsten Samstag abwarten. Ich bin bereit.“ Mit dieser Feststellung schaute Eric Sina lächelnd in die Augen. Zu gerne hätte er ihre Hände in seine genommen, aber sie lagen nicht griffbereit auf dem Tisch. Schade.

Sina traute sich nicht ihn zu fragen, was er damit meinte, dass er bereit wäre. Es konnte so vieles bedeuten.

Auch sie musste geduldig abwarten.

 

***

Linda gönnte sich noch ein paar Tage in Malaga.

Nach Simons Abreise erschien es ihr jedoch irgendwie sinnlos. Anfangs wusste sie nichts mit sich anzufangen. Sie flatterte wie ein verschrecktes Vögelchen von einem Ort zum anderen. Langsam, nur ganz langsam fand sie zu einer inneren Ruhe zurück, die ihr das Bleiben ermöglichte. Sie skizzierte viel, spazierte durch die Gegend, saß viel in Cafés, beobachtete Leute und versuchte sich ein paar spanische Wörter einzuprägen.

Sie fing an sich wohl zu fühlen.

Sie brauchte es für sich. Sie musste mit ihrer Entscheidung ins reine kommen, damit sie einen neuen Weg einschlagen könnte. Sie wusste es. Nur zu deutlich hatte sie es in den Armen von Simon gespürt.

Jedes mal, wenn sie daran dachte, wollte sie vor Pein im Erdboden versinken. Das Bild, wie Simon händeringend um sie und sich selbst bemüht war, würde sie nie vergessen. Sie war gleichzeitig stiller Genießer und Zuschauer einer männlichen Masturbation. Dass das alles für Simon ein Alptraum gewesen sein musste, war ihr allemal klar. Trotzdem musste sie jedes mal, nachdem die Pein in ihr abgeklungen war, über dieses Bild lächeln. Sie konnte es schließlich nicht mehr rückgängig machen, sie musste in dem Moment ihren Gefühle Folge leisten. Sie war froh, dass Simon sie verstehen konnte und aus allem kein Drama machte.

Im Gegenteil.

Er hatte sie tief beeindruckt. Sie war wirklich froh, dass Simon so ein fein fühlender Mann war. Sie dachte viel an ihn, mehr als ihr lieb war.

Und sie dachte auch an Eric. Natürlich an Eric.

Sie hatte diesmal sogar von ihm eine Nachricht erhalten. Kurz und knapp.

Ich werde da sein.

Sie wäre auch ohne diese Nachricht zum Stadtcafe gefahren.

Samstag. 16.00 Uhr.

Das war der Zeitpunkt, an dem sie ihre Trennung von Eric vollziehen wollte. Egal ob mit oder ohne ihn. Das war für sie beschlossene Sache. Und es fühlte sich immer noch richtig an.

Sie war sich sicher.

Absolut sicher.

 

An ihrem letzten Tag ging sie noch einmal in das kleine Fischrestaurant, in dem sie mit Simon war. Ihr Tisch war leider besetzt. Sie hätte sich am liebsten auf den Stuhl gesetzt, auf dem Simon gesessen hatte. Sie musste dauern zu diesem Tisch schauen. Das junge Paar, dass dort saß, hielt sich an den Händen und schaute sich tief in die Augen. Linda erfreute sich an diesem Glück.

Simon ging ihr nun wirklich nicht mehr aus dem Kopf.

Sie fand ihn interessant.

Sie fand ihn charmant.

Sie fühlte sich geschmeichelt an seiner Seite.

Sie konnten gut miteinander reden.

Sie waren eins, wenn sie zusammen waren.

All das, da war sich Linda jedoch sicher, würde im Alltag wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. All das würde im Alltag in dieser Intensität so nicht funktionieren.

Deswegen würde sie es nicht ausprobieren wollen im Alltag. Alles in ihr sträubte sich dagegen.

Sie wollte Simon intensiv haben.

Intensiv.

Nicht im Alltag.

Linda stöhnte laut auf. Sie wurde den anderen Besuchern des Restaurants scheel angeschaut. Sie hatte sie ganz vergessen. Auch ihr Essen war mittlerweile nur noch lauwarm. Darüber ärgerte sie sich nun doch. Sie schob es beiseite.

Plötzlich kam ihr wieder die große Liebe in den Sinn.

Mit dieser Einstellung konnte sie die große Liebe wohl kaum finden.

Oder doch?

Liebe.

Eric ich liebe dich.

In Gedanken sprach sie mehrmals den Satz vor sich hin.

Eric ich liebe dich.

Nichts in ihr regte sich.

Eric ich liebe dich.

Nichts.

Ich habe ein grünes Kleid an.

Das gleiche Gefühl wie, bei Eric ich Liebe dich.

Stille.

Pause.

Zaghaft.

Simon ich liebe dich.

Entsetzt riss Linda die Augen ganz weit auf.

 

***

Sie hatte noch noch drei Tage Zeit bis Samstag.

Linda war aufgeregt. Würde sie die richtigen Worte für Eric finden?

Es regnete in Strömen.

Linda hatte keinen Tränen mehr in sich für Eric.

Das war gut so.

Eric war noch nicht in der Stadt. Seine Fenster waren noch zugezogen.

Er hatte noch drei Tage Zeit bis Samstag.

 

Vivien hatte einen dicken Brief geschickt. Fotos von sich und ihrem neuen Freund aus Paris, der ein Norweger war. Sie schwärmte von ihrer großen Liebe.

Worte, die Linda sehr bekannt vorkamen. Worte, die sie selbst gesprochen hatte und an denen sie seiner Zeit auch fest geglaubt hatte. In ihr regte sich mütterlicher Beschützerinstinkt. Liebevoll strich sie über ein wunderschönes Foto, auf dem sich beide anhimmelten.

Meine kleine, dachte sie, ich wünsche dir viel Glück.

Was sie wirklich traurig stimmte, war, dass Vivien Weihnachten nicht nach Hause kommen konnte und wie Linda allerdings auch ahnte, nicht kommen wollte. Jedenfalls schrieb sie, dass ihre Gastfamilie sie brauchte. Sie hatten drei kleine Kinder und konnten sich das Fest ohne Vivens Hilfe nicht vorstellen.

Weihnachten in Familie.

Bei der Vorstellung, dass es für sie keine Familie geben würde zu Weihnachten, musste sie weinen.

Sie strich Weihnachten aus dem Kalender. Das letzte Weihnachten war schon eine Katastrophe, erinnerte sie sich.

Dieses Jahr würde es einfach kein Weihnachten für sie geben.

Sie würde es überstehen.

 

***

Sina und Eric gingen Hand in Hand am Strand spazieren. Ganz von allein fanden sich ihre Hände. Sie wollten es beide zum gleichen Zeitpunkt. Sie waren nicht überrascht.

Lorry hüpfte wie ein lustiges kleines Kind zwischen ihnen hin und her und wedelte freudig mit dem Schwanz. Sie fühlte sich wohl bei ihren Hundeeltern. Ihre anfängliche Eifersucht hatte sich schnell gelegt. Sie musste auf nichts verzichten.

Es war Freitag.

Morgen in aller frühe würde Eric nach Deutschland fahren und sich mit Linda treffen.

Samstag. 16.00 Uhr. Stadtcafe.

Sina spürte, dass Eric seine Entscheidung getroffen hatte. Er ruhte anders als sonst ganz friedlich in sich. Dennoch wusste sie immer noch nicht, ob sie mit dieser Entscheidung leben konnte.

Sie drückte seine Hände.

Er erwiderte ihren Druck.

Sie fühlte sich auf einmal unglaublich glücklich.

Sie sprachen beide kein Wort.

 

***

Samstag. 16.00 Uhr. Stadtcafe.

Linda war fünf Minuten zu früh am Treffpunkt. Sie suchte den Parkplatz nach Erics Auto ab. Nichts zu sehen. Er würde sich wie immer verspäten, dachte sie ärgerlich. Sie hätte erwartet, dass er wenigstens nach so langer Zeit einmal pünktlich sein würde. Sofort rief sie sich ins Gedächtnis, dass sie gar nichts erwarten wollte. Sie hatte auch versucht, in den letzten Tagen nicht an das Treffen mit Eric zu denken. Sie wollte sich keine Worte zurechtlegen. Sie wollte, dass alles so kommen würde, wie es kommen sollte. In ihrem Inneren war sie klar und deutlich, das musste reichen. Sie war sich sicher, dass sie Eric das auch so ohne einstudierte Sätze verständlich rüber bringen konnte. Sie war sich nur nicht sicher, wie er reagieren würde.

Sie schaute sich um.

Wo sollte sie auf ihn warten?

Letztendlich blieb sie am Eingang stehen. Von da aus hatte sie einen weiten Blick über den Parkplatz. Sie würde Eric kommen sehen und genau das wollte sie. Sie wollte nicht plötzlich von ihm überrascht werden. Ganz plötzlich fing sie an zu zittern, obwohl sie gar nicht fror. Sie gestand sich nun doch ein, dass sie aufgeregt war. Sehr aufgeregt sogar. Sie versuchte sich abzulenken. Sie fing an zu zählen. Immer bis Hundert. Bei 22 sah sie Erics schwarzen VW um die Ecke kommen. Sie hätte ihn auch am Klang erkannt. 22 war eine gute Zahl. Linda lächelte zufrieden und behielt das Auto im Blick.

Eric schien es nicht eilig zu haben. Bedächtig wie immer, suchte er einen guten Parkplatz aus. Linda wusste, dass er nun im Auto noch einige Zeit brauchte, um seine Sachen an sich zu nehmen. Brieftasche, Handy, noch ein Kaugummi und der Blick in den Spiegel durfte auch nicht fehlen. Sie spielte in Gedanken Erics Abläufe, die sie jahrelang verfolgt hatte, ab. Seine langsame Art im Auto brachte sie so manches mal zur Raserei. Genau zum richtigen Zeitpunkt, wie sie es vermutet hatte, öffnete sich die Autotür.

Eric sah gut aus. Braungebrannt. Schlank. Männlich. Man könnte sich glatt noch einmal in ihn verlieben, dachte Linda für einen kurzen Augenblick.

Man könnte.

Eric sah Linda sofort am Eingang stehen. Lächelnd ging er auf sie zu. Ihr Haar war dunkler und kürzer. Es fiel ihm sofort auf. Er fand, dass es ihr gut stand. Sie hatte abgenommen. Das hätte nicht sein müssen, dachte er. Ihre Rundungen waren immer genau richtig platziert.

Eric fand seine Frau als Frau anziehend, wie immer.

Sie standen sich gegenüber.

Fest im Blick.

Ohne Worte.

Ohne körperlichen Kontakt.

Sie spürten beide sofort, dass etwas unüberbrückbares zwischen ihnen stand. Dass, was für beide vor wenigen Augenblicken noch als Frage stand, nämlich, ob der jeweils andere in die Trennung einwilligen wird, wandelte sich nach diesem kurzen Blickkontakt für beide in eine bejahende Feststellung um.

Eric wird in die Trennung einwilligen, dachte Linda.

Linda wird mit meinem Geständnis umgehen können und die Trennung akzeptieren, dachte Eric.

Sie brannten beide auf die Aussprache.

Sie hatten aber beide Angst vor der Aussprache.

Als sich ihre Blicke wiederholt trafen, spürten sie, dass es nicht einfach werden würde. Aber jeder sah in dem anderen den festen Willen.

Sie gingen ins Stadtcafe. Seit Jahren war Linda nicht mehr hier gewesen. Sie war verblüfft, als sie die Tür öffnete. Es hatte sich lediglich in seiner Raumausstattung verändert. Der Grundriss mit all seinen Nischen und Pfeilern war immer noch so, wie sie es in Erinnerung hatte.

„Weißt du noch...?“, hob Linda an. Sie konnte nicht weitersprechen. Sie fühlte sich plötzlich um Jahre zurückversetzt. Sie hörte die alten Klänge und sie sah sich an dem Pfeiler stehen, hinten rechts in der Ecke. Ein prickeln durchzog ihren Körper. Es schmerzte. Sie konnte kaum atmen, so intensiv holte sie alles zurück. Da sie bei dem Anblick abrupt stehen bleiben musste, lief Eric auf sie auf. Ihre Körper stießen aufeinander und machte sie beide für einen kurzen Augenblick sprachlos.

„Ja, ich weiß noch. Du hattest ein blaues Kleid an und standest da hinten rechts an dem Pfeiler. Unschuldig und schüchtern.“

„Ich war unsterblich in dich verliebt.“ Linda schaute zum Pfeiler, sie konnte Eric nicht ins Gesicht blicken. Sie sehnte sich so stark an diese Zeit zurück, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie wäre am liebsten davongerannt. Es ging nicht, Eric stand hinter ihr und drängte sie nach vorne. Er umfasste ihren Arm und schob sie in die kleine Nische, die hinter dem Pfeiler war. Tatsächlich war ihr Tisch frei. Und hätte Linda gewusst, dass Eric dafür gesorgt hatte, hätte sie erst recht geweint. Der Erinnerungsschmerz überflutete sie mit aller Kraft. Erschöpft ließ sie sich in den Sessel fallen.

Das alles entging Eric nicht. Er wollte etwas liebes zur ihr sagen, ließ ihr aber lediglich nur ein wenig Zeit zur Erholung. Wehmütig dachte er, dass er seiner Frau in wenigen Minuten das Herz brechen würde. Nach all den Jahren. Sie musste es erfahren. Er wollte sie nicht mit einer Lüge verlassen.

„Du hast mich damals verrückt gemacht. Ich war heiß auf dich und wollte dich.“

„Du hast mich bekommen.“

„Ja. Ich habe dich bekommen.“ Eric schaute Linda lange in die Augen. Erst wich sie ihm aus, aber dann hielt sie seinem Blick stand. Sie spürten, dass die Stunde der Wahrheit vor ihnen stand. Zur Bestätigung nickten sie beide.

„Ich nehme einen Cognac zum Kaffe,“ sagte Linda ausweichend. Sie bestellte nicht gerne. Eric sollte es ein letztes mal für sie tun.

Er tat es. Er war froh, dass er ihr wenigstens etwas gutes tun konnte. Dann begann er leise und langsam zu sprechen.

„Linda, ich habe lange über uns nachgedacht. Und viel länger über mich selbst. Ich muss dir danken, dass du mir die Augen geöffnet hast. Du verdienst es, die ganze Wahrheit zu erfahren. Wenn du alles über mich weißt, wirst auch du keine zweite Chance mehr wollen.“

Linda zuckte kurz zusammen. Damit war für sie bereits alles gesagt, nur noch nicht erklärt.

„Woher bist du dir so sicher, dass ich eine zweite Chance mit dir haben möchte?“

„Möchtest du nicht?“ Eric schaute sie verwundert an. Nein, sicher war er sich nicht, ob sie die zweite Chance immer noch wollte. Aber er hätte mehr vermutet, dass sie es wollte, als dass sie es nicht wollte. Vielleicht sollte er ihr dann doch nicht alles erzählen, schoss es ihn durch den Kopf? Doch, er wollte. Er wollte klaren Tisch machen, denn er wollte sich hinterher endlich wieder selbst zufrieden ins Gesicht schauen.

„Nein, möchte ich nicht. So schnell ist es also gesagt. Eric, ich möchte mich von dir trennen.“ Linda war erstaunt, dass sie diesen Satz emotionslos von sich geben konnte. Schnell und sicher kam er ihr von den Lippen. Nach gerade ein mal fünf Minuten, war das Wichtigste von ihrer Seite aus gesagt. Ohne Drama. Nach über 25 Jahren.

„Ja. Gut.“ Eric war für einen Moment fassungslos. Er trank mit einem Zug seinen Cognac aus.

„Du fragst mich nicht warum?“

„Du wirst es mir sagen, vermute ich.“

„Ja, werde ich. Aber erst will ich hören, was du mir sagen wolltest.“ Gelassen lehnte sich Linda in den Sessel zurück. Vor ein paar Minuten fühlte sie sich noch erschöpft und nun war sie auf einmal ganz ruhig. Ihre Stimmung wechselte von Minute zu Minute. Sie nahm Eric nun genauer in Augenschein.

Ja, er sah gut aus, stellte sie fest.

Ja, es regte sich immer noch etwas in ihr.

Urplötzlich fiel ihr die letzte Nacht mit Simon ein. Sie konnte sich ihm nicht so hingeben, wie sie wollte, weil sie sich Eric noch verbunden fühlte. Sie musste den Abschluss finden. Hier und heute. Sie wollte es aus tiefsten Herzen. Nein, sie wollte keine Zukunft mehr mit Eric.

Es war vorbei.

Dann dachte sie an ihr verinnerlichtes Bild des zugeklappten Buches. Sie sah es im Regal stehen. Plötzlich wollte sie es noch einmal berühren.

Zum Abschluss.

Ein letztes mal.

Unbewusst leckte sie sich über ihre Lippen.

Sinnlich.

Verträumt.

Lächelnd.

Sie wartete auf seine Antwort.

Mein Gott sie sieht hinreißend aus, durchfuhr es Eric. Verflixt aber auch. Wie sie über ihre Lippen leckt. Diese Sinnlichkeit. Was soll das?

Er atmete tief aus.

„Also gut. Lass es mich dir erklären. Ich werde es zumindest versuchen. Ob du mich verstehen kannst, weiß ich nicht, hoffe es aber. Linda, es tut mir leid dir nach all den Jahren sagen zu müssen, dass ich dich nicht liebe. Dass ich dich von Anfang an nicht geliebt habe. Dass ich in all den Jahren ständig auf der Suche nach der Liebe war. Glaube mir bitte eins, es ist mir erst jetzt klar geworden. Hättest du mich nicht fortgeschickt, ich wäre nie darüber gestolpert. Ich hätte mir nie die Frage gestellt. Ich hätte mit dir bis an mein Lebensende so weiter zusammen gelebt.“

Diese Worte rissen Linda aus ihrer bequemen Haltung. Entsetzt starrte sie Eric an, konnte aber nichts sagen. Sofort fiel sie jedoch wieder nach hinten zurück. Sie musste mehrmals schlucken. Damit hatte sie nicht gerechnet. Das war knallhart.

„Und, hast du sie jetzt gefunden, die Liebe?“

„Ja.“

Auch der Hieb saß. Sie schaute zu ihrem Cognacglas. Es war leer. Eric verstand. Er bestellte ihr einen zweiten.

„Erkläre es mir. Du bist es mir schuldig.“ Ihre Worte klangen tonlos. Sie wollte nun aber alles wissen. Zu lange hatte sie gelitten, es sollte nicht umsonst gewesen sein. Sie hatte die Frage der Liebe selbst bis ins kleinste Detail für sich untersucht. Sie war fast froh, dass es Eric auch getan hatte. Vielleicht konnte sie ihre Erklärung mit seiner in Einklang bringen. Sie hoffte es. Sie brauchte einen klaren Schlussstrich, sie wollte ohne Fragezeichen ihre Beziehung mir Eric beenden. Sie war darauf eingestellt, sie hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass Eric ihr auf den Kopf zu sagen würde, dass er sie nicht geliebt hätte. Aber fühlte sie sich nicht ständig ungeliebt?

Sie hatte sich also nicht getäuscht. Sie hatten also wirklich die ganze Zeit ohne Liebe nebeneinander her gelebt?

Wie bitter.

Was für eine Zeitverschwendung, durchfuhr es Linda. Aber trotzdem eine schöne Zeitverschwendung.

Linda drehte sich alles im Kopf. Sie konnte das alles irgendwie nicht verstehen. Sie schaute bittend zu Eric, dass er weiter reden sollte. Sie wusste, dass es ihm schwer fiel über seine Gefühle zu reden. Aber nun musste er es tun. Sie musste das alles zusammenbringen und verstehen.

„Linda, glaube mir, es war nicht einfach für mich, alles zu verstehen. Schließlich warst du diejenige, die an unserer Liebe gezweifelt hatte. Von heute auf morgen. Ich war wütend auf dich und konnte nicht begreifen, warum du alles kaputtmachen wolltest. Es war doch immer alles schön zwischen uns. Aber dann fing ich an nachzudenken und begriff, dass ich mir selbst die ganzen Jahre etwas vorgemacht habe. Linda, so hart wie das jetzt klingt, ich habe dich damals nicht aus Liebe geheiratet, sondern aus einem Verantwortungsbewusstsein heraus. Ich wollte dir beistehen, damit du das Haus bekommst. Ich wollte dich beschützen, du warst noch so jung. Ich wollte dich nicht verletzen. Ich konnte dich doch nicht alleine lassen. Nun weiß ich, dass es ein Fehler war.“

Linda saß regungslos in ihrem Sessel.

Seine Heirat war also ein Fehler. Das musste sie erst einmal verdauen. Aber klar, wenn er sie von Anfang an nicht geliebt hatte, dann war die Heirat natürlich ein Fehler.

Und ihre Heirat?

Sie hatte ihn aus Liebe geheiratet.

Liebe. Liebe. Liebe.

Es rauschte in ihren Ohren. Scheibchenweise fügte sie Erics Worte zu einem Ganzen zusammen. Langsam fing sie auch an seine Worte richtig zu verstehen. Das war dann also die Erklärung für ihre unerfüllte Liebe. Ganz einfach. Sie fühlte sich ungeliebt, weil er sie gar nicht geliebt hatte. Über 25 Jahre. Unglaublich. Wie blind war sie eigentlich? Erkläre weiter, dachte sie.

„Du warst immer gut zu mir.“

„Ich habe dich geliebt Eric, ich war nicht nur gut“, hauchte Linda dazwischen.

„Ja. Ich weiß. Das macht es mir gerade nicht leichter. Ich habe mich bei dir auch immer wohlgefühlt, du warst mein ein und alles, glaube mir. Und trotzdem hat es mich immer wieder von dir weggetrieben. Ich konnte es selbst nicht verstehen.“

Dann erzählte er ihr schweren Herzens, mit stockender Stimme von seinen Affären, bis hin zu Joanna.

Sie litten beide.

Linda weinte still vor sich hin.

Eric legte immer wieder eine Pause ein, aber Linda erlöste ihn nicht von seiner Qual. Sie wollte alles hören. Sie musste alles hören. Der Leidensweg sollte beendet werden. Sie wollte alles verstehen.

„Und nun hast du deine Liebe gefunden?“ Linda erinnerte sich, das das Eric bereits gesagt hatte.

„Ich war die ganze Zeit bei Sascha in Italien. Dort habe ich sie getroffen. Sie lebt teilweise in Italien und teilweise hier in Deutschland.“

„Das interessiert mich nicht. Ich würde eher wissen wollen, woran du erkannt hast, dass du sie liebst?“ Bei dieser Frage, glaubte Linda ersticken zu müssen. Sie hätte nie geglaubt, dass sie die hysterische Frage aller verlassenen Frauen, was hat sie, was ich nicht habe, selbst einmal stellen müsste.

„Sie hält mich fest.“

Ihre Blicke drifteten auseinander. Sie brauchten beide Zeit um das Gesagte zu verdauen.

Linda schloss die Augen und legte ihre Hände vors Gesicht.

Erics Offenbarung traf sie tief. Sehr tief. Aber es erklärte ihr alles. Ihr Bild rundete sich ab. Der Kreis schloss sich. Sie fühlte sich nun endgültig in ihrem Entschluss bestätigt.

Es war vorbei.

Tränen rannen ihr in die Hände. Sie musste weinen, weil sie wusste, dass es trotz alledem eine schöne Zeit mit Eric war. Auch wenn Eric sie nie geliebt hatte, wie sie nun wusste, war er trotzdem immer ein lieber Mann. Sie hatten eine schöne Zeit zusammen. Eine schöne Zeit ohne gemeinsame Liebe.

Bis auf das letzte leidvolle Jahr.

Sie schaute kurz auf. Es war ihr nicht peinlich, dass sie weinte. Sie ließ ihre Tränen einfach weiter laufen. Als sie Eric, der eigentlich hätte glücklich sein können, weil er ja nun die Liebe gefunden hatte, traurig neben sich sah, empfand sie auf einmal großes Mitleid mit ihm. Es kam ganz plötzlich und aus tiefsten Herzen.

„Es tut mir leid für dich, dass du all die Jahre so rastlos warst.“

Eric schaute sie entgeistert an.

„Wie kannst du so etwas sagen, nach alldem, was ich dir angetan habe?“

„Eric, wir wissen beide, dass wir uns heute trennen werden. Und wir sind beide unabhängig voneinander zu diesem Entschluss gekommen. Das ist gut so. Du hast mir in meiner Krise nicht beigestanden. Du hast mich fallen gelassen. Du warst nicht da für mich. Wenn wir uns geliebt hätten, dann hätten wir sie gemeinsam überwunden. Haben wir aber nicht. Ich wollte uns beiden eine zweite Chance geben, um vor allem herauszufinden, wie weit es mit unserer Liebe steht. Sei doch froh, du hast für dich dabei das Richtige herausgefunden. Du hast mich nie geliebt.“ Linda wandte wieder den Blick von Eric ab.

Er sah so verdammt gut aus.

Er war ihr Mann.

„Und du? Du hast mich doch geliebt. Was hat dich dazu gebracht, mich verlassen zu wollen.“ Auf einmal fiel Eric auf, dass sie die ganze Zeit nur über ihn geredet hatten.

Was war mit Linda?

„Auch ich hatte viel Zeit zum Nachdenken, nicht nur du. Eins ist mir dabei klargeworden.“ Linda machte eine kurze Pause. Erics durchdringender Blick nahm ihr den Atem. Sie fuhr bedächtig fort.

„Kurz und gut, unsere Liebe war ein Missverständnis. Dazu passt dein Geständnis, dass du mich gar nicht geliebt hast, ja hervorragend. Aber das wusste ich ja bis jetzt nicht. Mir ist bewusst geworden, dass man in einer Liebe die guten und die schlechten Seiten des anderen akzeptieren muss. Es sollte ein Gleichgewicht herrschen und Liebe verlangt Gnade. Diesen Zustand haben wir nicht erreicht, denn hätten wir ihn erreicht, dann würden wir uns sicher und stark fühlen. Wir tun es aber beide nicht. Du fühlst dich bei mir nicht sicher geborgen und ich fühle mich weder sicher noch stark bei dir. Es ist schief gelaufen, lange Zeit, ohne dass wir es bemerkten. So konnte keine unverwüstliche und ewige Liebe zwischen uns entstehen. Wir können beide unser Ehegelöbnis, bis dass der Tod Euch scheidet, nicht einhalten. Du hast mich sehr verletzt, Eric. Ich kann dir nicht verzeihen. Mit ist klar geworden, dass ich an deiner Seite immer die kleine Linda geblieben bin. Ich will sie nicht mehr sein. Ich muss jetzt endlich meinen eigenen Weg finden. Ich lass dich gehen und du lässt mich gehen.“ Linda hoffte, dass sich Eric mit dieser Antwort zufrieden geben würde. Sie wollte ihm nichts von Simon erzählen.

Simon sollte ein Geheimnis bleiben.

Eric hörte Linda gebannt zu. Er konnte dem nichts weiter hinzufügen. Linda hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Er fühlte sich ganz klein.

„Linda, du bist wirklich eine großartige Frau. Ich danke dir für alles.“

Spontan nahm er ihre Hände in seine. Sie ließ es geschehen. Es breitete sich Wärme zwischen ihnen aus. Sie ließen sich einfangen.

Mann und Frau.

Linda wusste nicht, was sie denken sollte. Eigentlich hätte sie entsetzt sein müssen über ihren Mann, der sie nie geliebt hatte und jahrelang betrogen hatte. Mehr war sie jedoch über sich entsetzt, dass sie das all die Jahre nicht gemerkt hatte. Sie wollte ihr glückliches Bild ihrer zurückliegenden Ehe aber nicht zerstören. Sie hatte nur das letzte Jahr ihre Ehe als unerträglich empfunden. Ein zermürbendes Ehejahr konnte sie verkraften. Mehr wollte sie nicht mehr. Es war nun vorbei. Das Buch konnte nun wirklich geschlossen werden. Sie musste es nur noch ins Regal stellen. Das war ihre letzte Aufgabe.

Eric war ganz benommen. Linda wollte gehen. Sie wollte, dass er sie gehen ließe. Jahrelang ließ sie ihn gehen. Jahrelang kam er immer wieder zurück. Bei ihr war er sich nun sicher, dass sie nie wieder zurück kommen würde.

Die Tragweite der Endgültigkeit die plötzlich im Raum stand überraschte sie beide. Ihre Hände umklammerten sich immer fester.

Sie wussten beide, dass das Ende ihrer Ehe besiegelt war.

Einvernehmlich.

Trotz dieser Einvernehmlichkeit machte sich Verzweiflung breit auf beiden Seiten.

Ihre Blicke trafen sich.

Es musste nur noch abgeschlossen werden.

Sie zögerten beide.

Ihre Blicke trafen sich.

Sie standen auf und verließen das Stadtcafe. Sie überquerten die Straße und gingen gemeinsam in das nächste Hotel.

Herr und Frau Sandermann.

Zimmer 6.

Sie mussten es tun.

Einvernehmlich.

Eric wollte Linda noch einmal besitzen. Dann konnte er mit Sina die Liebe beginnen. Er war froh, dass er Sina noch nicht berührt hatte. Die Liebe stand unter einen guten Vorzeichen.

Linda dagegen wollte Eric den letzten Rest ihrer Liebe geben, um frei zu sein für den nächsten Mann. Ob es Simon sein würde, sie wusste es nicht zu sagen.

Ohne Worte tauchten sie voller Hingabe ein letztes mal ab in ihre Seelen und gaben sich ihre Körper mit letzter Kraft, um einen vollkommenen Abschluss zu erreichen.

Der Schlüssel passte ein letztes mal ins Schloss.

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 04.07.2015

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